Spuren legen, Spuren lesen, Spuren verwischen: Transparenz und
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Spuren legen, Spuren lesen, Spuren verwischen: Transparenz und
Konrad Paul LIESSMAN (Universität Wien) Spuren legen, Spuren lesen, Spuren verwischen: Transparenz und Intimität im digitalen Zeitalter Es gehört zu den faszinierenden Eigenheiten des digitalen Zeitalters, daß sich in ihm einige der spektakulärsten Wünsche und Utopien der Menschen offenbar mühelos verwirk-lichen lassen. „Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß. / Und so verbringt, umrungen von Gefahr, / Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. / Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft' ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn. – / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.“1) Nicht nur Goethes alternder Faust wollte, daß die Spur von seinen Erdentagen nie verschwinden sollte, es ist sogar dieser Moment, der über sein Schicksal entscheidet. Denn immerhin hatte er mit dem Teufel gewettet, daß dieser seine Seele bekommen sollte, wenn es in seinem Leben einen Augenblick gäbe, von dem er sich wünschte, daß er ewig dauern solle: „Werd' ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn! / Dann mag die Totenglocke schallen, / Dann bist du deines Dienstes frei, / Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, / Es sei die Zeit für mich vorbei!“ Und darauf antwortete bekanntlich Mephisto: „Bedenk es wohl, wir werden's nicht vergessen.“2) Es spricht für die Weitsicht des alten Goethe, daß er Faust jenen Augenblick, wenn auch nur als Vorgefühl, genießen läßt, in dem dieser glaubt, durch eine technische Großleistung – die Landgewinnung – sich im Gedächtnis der Menschen unsterblich gemacht zu haben. Seine Spur wird nicht vergehen, weil er sie und damit sich in die Erdoberfläche selbst eingeschrieben hat. Das digitale Zeitalter macht nun aus jedem von uns einen kleinen Faust, wenn auch oft auf einer ziemlich trivialen Ebene. Wir müssen nicht mehr technische Großleistungen vollbringen, die das Antlitz der Erde verändern – obwohl wir das auch gerne tun -, um eine unauslöschliche Spur zu hinterlassen, es genügen ein paar Einkäufe mit der Kreditkarte, eine paar Gespräche mit einem Mobiltelephon, der Besuch einer Bank und ein paar heitere Stunden beim Surfen im Netz oder das Versenden einiger belangloser E-Mails, um in den verschiedenen Datenbanken digitale Informationspartikel, und damit eine prinzipiell unauslöschliche Spur hinterlassen zu haben. Natürlich: Spuren zu hinterlassen, war immer ein Bestreben des Menschen, hob ihn heraus aus dem konturlosen 6 Fluß der Zeit, sicherte ihm wenigstens ein kleines Stück Unsterblichkeit. Solche Spuren waren aber Resultat einer individuellen Anstrengungen, waren der bewußte Versuch, einem Ort, einer Umgebung, einem Milieu einen Stempel aufzudrücken, der länger sichtbar sein sollte als die Zeitspanne der eigenen Anwesenheit. Aber: Leben selbst bedeutet schon Spuren zu hinterlassen, und wenn man darauf achtet, sind diese Lebensspuren von Menschen auch erkennbar. Dass vom Menschen nicht alles verschwindet, dass manches im Gedächtnis bleibt, tradiert wird, daß vieles als materielles Residuum die Zeiten überdauert, hat überhaupt so etwas wie das historische Bewußtsein möglich gemacht. Und wenigstens geht die Kriminalistik davon aus, daß es keine spurlose Aktivitäten des Menschen gibt. Zumindest theoretisch gilt, daß das perfekte Verbrechen, das keine Spuren hinterläßt, unmöglich ist, und spurlos zu verschwinden bedeutete immer schon die Ausnahme, manchmal allerdings auch eine Utopie. Wer keine Spuren hinterläßt, ist allerdings in einem sozialen Sinn so gut wie tot – denn jeder Akt der Kommunikation hinterläßt eine Spur. Die digitale Revolution stellt also auch in diesem Sinn, wie so oft, nichts Neues dar. Aber sie greift vorhandene Tendenzen auf, verstärkt sie und objektiviert sie in einem Maße, das völlig neue Qualitäten und Perspektiven eröffnet. Wer bislang etwa die Reise, die ein Mensch gemacht hat, anhand seiner hinterlassenen Spuren rekonstruieren wollte, mußte sich durch Ansichtskarten, Briefe und Tagebucheintragungen wühlen und sich vor allem auf das Gedächtnis von Menschen verlassen, denen der Reisende vielleicht begegnet war: Kellner, Geschäftsleute, Rezeptionisten, Fahrscheinverkäufer, Bankbeamte, Reisegefährten. Ein Gutteil der Spuren des Alltags, die wir bislang fabrizierten, hinterließen wir im Gedächtnis anderer Menschen. Die Digitalisierung der wesentlichen Aktivitäten und Transaktionen unseres Lebens Transparenz und Intimität im digitalen Zeitalter und unserer Kommunikation und die Möglichkeit der vollständigen Archivierung dieser Daten läßt das Gedächtnis als Boden für die Spur eines Menschen allerdings nahezu überflüssig werden. Was für das digitale Archiv schlechthin gilt, gilt für die Lebensspur eines Menschen in besonderem Maße: Menschliches Gedächtnis wird ausgelagert. Kein Kellner muß sich erinnern können, es genügt, die Daten der Kreditkartenabbuchungen in die Hände zu bekommen; keine Postkarten müssen gesucht werden, es genügt ein Zugang zu den E-Mails; keine Bekannten müssen befragt werden, es genügt ein Protokoll der Telephongespräche; kein Bankbeamter muß sich an ein Gesicht erinnern, die elektronische Spur der finanziellen Transaktionen spricht für sich; keine Erinnerungsvermögen und keine Menschenkenntnis wird nötig sein, um in Zukunft über den Lebenswandel und Gesundheitszustand eines Menschen etwas zu erfahren – ein Blick auf seine Krankenversicherungschipkarte wird genügen. Natürlich: für sich genommen besagt die Archivierung einer digitalisierten Kommunikation oder Transaktion wenig. Wirklich interessant wird es, wenn man die Möglichkeit der Kontinuität von Datenaufzeichnungen über einen längeren Zeitraum und die Möglichkeit der Verknüpfung von Daten aus unterschiedlichen Aktivitätssegmenten, also die Konvergenz der Daten, ins Auge faßt. Allein die Protokolle der Abbuchungen einer Kreditkarte über Jahre hinweg ergeben einen ziemlich präzisen Eindruck vom Kaufverhalten, und damit von den Präferenzen eines Kunden; vernetzte man diese Daten mit den Protokollen seiner Telephongespräche, seiner Internetaktivitäten, seiner Flugbuchungen, bekäme man vielleicht sogar Einsicht in seinen E-Mail-Verkehr, seine Steuererklärungen, seine Gesundheitsdaten und in die Ergebnisse seines Gen-Tests, gewönne man ein ziemlich transparentes Bild eines Menschen. Seine soziale Lage, seine berufliche Situation, seine sexuellen Präferenzen, seine Eß- und Trinkgewohnheiten, seine Krankheiten und Krankheitsdispositionen, seine Lebenserwartung, seine Reisen und deren Motive, sein generelles Konsumverhalten, seine Vorlieben und seine Aversionen, seine kommunikative Kompetenz – all das und noch einiges mehr läge offen zu Tage und ließe sich zueinander in Beziehung setzen. Wohl wüßten wir noch immer nicht genau, was dieser Mensch denkt und fühlt, aber auch darüber könnte man etwas erfahren, wenn man aus abfragbaren Daten die entsprechenden Schlüsse zieht. Beherrscht man die Kunst, aufbereitete Datenspuren zu interpretieren und zu deuten, kann dies zu interessanten Einblicken und Informationen führen – über Lesegewohnheiten etwa lassen sich problemlos politische Präferenzen erschließen, über Daten, die das Freizeitverhalten betreffen, lassen sich emotionale Dispositionen eruieren, aus Protokollen der Tätigkeiten an einem Computerarbeitsplatz lassen sich ziemlich genaue Kenntnisse über Fleiß, Konzentrationsfähigkeit und Belastbarkeit eines Menschen gewinnen. Entscheidend wird also die Konvergenz der Datenströme und deren Kontrolle sein. Ohne einen Menschen auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben, kann man auf diesem Wege mehr über ihn wissen als er selbst. Die wenigsten Menschen zum Beispiel führen genau Buch über ihr Kaufverhalten. Sie wären erstaunt, wenn man ihnen dabei auffallende Kontinuitäten und Präferenzen vorrechnete. Natürlich ist die Sammlung und Verarbeitung solcher Daten verlockend, vor allem in einem Bereich, der sich ein wenig euphemistisch „Kundenbetreuung“ nennt. Die Bündelung der von einem Menschen gelegten elektronischen Spuren ergibt nicht nur ein ziemlich präzises Verhaltensprofil, sondern erlaubt im Gegenzug, auf dieses Profil tatsächlich mit maßgeschneiderten Angeboten zu reagieren. Ein Unternehmen, das zum Beispiel elektrischen Strom produziert, wäre wohl schlecht beraten, einen Kunden, von dem man aufgrund aller verfügbaren Daten weiß, daß er die Grünen wählt, nur in Vegetarischen Restaurants ißt, und, wie man aus einer Kreditkarten-Buchung der ÖBB entnehmen kann, zur Grenzblockade gegen Temelin mit dem Zug angereist ist, mit einem großzügigen Angebot von Atomstrom zu locken. Personalisierung der Kundenbetreuung und Angebotspaletten heißen die Zauberworte. Allerdings: für die Beschaffung von Information über Präferenzen und Einstellungen von Menschen, um ihnen persönliche, punktgenaue, und deshalb unwiderstehliche Angebote zu machen, kannte man früher auch noch ein anderes Wort: ausspionieren. Das ganze erinnert ein wenig an den umsichtigen Vertreter, der sich zuerst bei der Nachbarschaft über die Situation und die Neigungen eines potentiellen Kunden erkundigt, bevor er mit der Tür ins Haus fällt. Und so wie beim klassischen Vertreter und Kundenbetreuer ist auch bei der digital verdichteten Kundenkommunikation der Grat zwischen akzeptierter Beratung und Hilfe und unangenehmer Aufdringlichkeit ein äußerst schmaler. Ohne die Vorteile einer individuell zugeschnittenen und gezielten Kommunikation mit dem Kunden zu leugnen, sei doch davor gewarnt, im ersten Überschwang der Informationen, über die man nun verfügt, den Kunden mit Angeboten zu überschütten, die dieser auch als Einbruch in seine Intimsphäre empfinden könnte, vor allem dann, wenn zwischen ihm und dem Unternehmen noch kein Vertrauensverhältnis besteht. Tatsächlich betrifft die skizzierte Entwicklung nicht nur das Verhältnis zwischen Unternehmen und ihren Kunden, sondern hat auch eine weitreichende gesellschaftspolitische Dimension. Jenseits der Frage nach den geänderten Beziehungen zwischen Kunden und Dienstleistern, zwischen Bürgern und den Behörden, deutet sich durch die Digitalisierung aller Informationsströme ein neuer, grund- 7 Konrad Paul LIESSMAN (Universität Wien) legender „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ an. Das Verhältnis zwischen privatem Leben und öffentlicher Existenz ändert sich damit gravierend, und wir kehren, überspitzt formuliert, zu einer Weise der öffentlichen Präsenz und Durchsichtigkeit zurück, wie sie die mittelalterliche Dorfgemeinschaften auszeichneten, wo es kaum Möglichkeiten gab, sein privates Leben vor den Augen der Dorföffentlichkeit zu verbergen. Die vielzitierte Formel vom „globalen Dorf“, mit der Marshall McLuhan vor Jahrzehnten das elektronische Zeitalter einbegleitete, ist richtig und gerade bedrohlich. Seit Jahrhunderten verlassen die Menschen aus guten Gründen die Dörfer, um in der Anonymität der Großstädte unterzutauchen und dort, unbemerkt von der Öffentlichkeit, ihren privaten Vorlieben nachzugehen. Unter den Bedingungen der digitalen Transparenz finden wir uns tatsächlich in einer weltweiten Dorfsituation wieder. Nichts bleibt unbemerkt. Um die Bedeutung dieses Wandels zu verstehen, genügt vielleicht der Hinweis, daß „Privatheit“ und das damit verbundene Recht auf eine „Privatsphäre“ eine relativ späte, und durchaus hart erkämpfte Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft war. Der Sphäre des Öffentlichen, nicht zuletzt auch in einem politischen und gesellschaftlichen Sinn, wurde die Sphäre des Privaten gegenübergestellt, in der nicht die Belange des Gemeinwohls, des Staates, der lokalen oder überregionalen Gemeinschaften und der beruflichen Tätigkeiten im Mittelpunkt standen, sondern das einzelne Individuum mit seinen Interessen und Beziehungen für sich bleiben konnte. Der „Privatmann“ war ursprünglich derjenige gewesen, der kein öffentliches Amt bekleidete und keinem bürgerlichen Beruf nachging – aufbewahrt ist dieser Sinn bis heute noch in Begriffen wie „Privatgelehrter“ oder „Privatdozent“. Erst allmählich, und das war eine der Voraussetzungen für die zunehmende Individualisierung der Ge- 8 sellschaft, setzte sich so etwas wie ein Recht auf Privatheit durch, das heißt, es bildete sich eine Sphäre der Privatangelegenheiten, die von öffentlichen Interessen nicht beschränkt oder gesteuert werden sollten – vor allem auch, aber nicht nur, im Bereich von Sexualität, Freundschaft und Familie. Unsere Begriffe von Freiheit und Glück sind ganz grundlegend an diese Möglichkeit, in einer privaten Sphäre zu leben, gebunden. Die digitale Transparenz läßt diesen Begriff von Privatheit erodieren. Wo immer mehr Daten zur Verfügung stehen und miteinander vernetzt werden können, wird es immer schwieriger, die klassischen Ansprüche auf Privatheit zu verteidigen. Das muß noch nicht bedeuten, daß in die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben organisieren, unmittelbar eingegriffen wird; aber es bedeutet, daß wir immer mehr darüber wissen und dementsprechend – als Dienstleistungsunternehmen, als Behörde, aber auch schlicht als Zeitgenosse – darauf mit Angeboten, aber auch Forderungen reagieren können. Die Entwicklung, soweit sie sich schon abzeichnet, ist dabei durchaus von spannenden Ambivalenzen gekennzeichnet. Einerseits ist die Frage, wer in welcher Weise Zugriff auf die überall archivierten Daten hat, zu einem brennenden Problem geworden. Dies ist letztlich eine politische Frage. Die Gesellschaften müssen das Maß ihrer Transparenz festlegen, es müssen Kriterien erarbeitet werden, was von wem gewußt und verwendet werden darf. Zur Zeit scheint zumindest noch ein Konsens darüber zu herrschen, daß personenbezogene Daten, die Rückschlüsse auf genetische und pathologische Dispositionen erlauben, die Krankheitsbilder und die Lebenserwartung eines Menschen betreffen, weder in die Hände von Arbeitgebern noch in die von Versicherungsanstalten kommen sollten. Fraglich, wie lange dieser Konsens hält, wie lange es gelingt, diese Dimensionen von Privatheit den Interessen von Unter- nehmen und Verwaltung zu entziehen. Ebenso scheint allerdings auch ein Konsens darüber zu bestehen, daß die Datenspuren, die ein Mensch, der sich den elektronischen Kommunikations- und Vertriebstechniken anvertraut, überall hinterläßt, keinen besonderen Schutz genießen müssen. Wer eine Kreditkarte benutzt, signalisiert damit zumindest im Prinzip sein Einverständnis mit der Möglichkeit, die damit anfallenden Datenmengen zu interpretieren und zu verwenden, vorausgesetzt, er kann annehmen, daß dies nicht zu seinem Nachteil geschieht. In unserer Medienkultur lassen sich aber auch Entwicklungen beobachten, die offensichtlich darauf hinauslaufen, die Menschen an den Zustand der Transparenz zu gewöhnen. Der Erfolg von Reality-Shows wie Big Brother oder Taxi Orange läßt sich zum Teil sicher auch damit erklären, daß solche Sendungsformate ganz bewußt die Frage nach dem Verschwinden der Intimität provozieren. Die Lust, die Zuseher offenbar aus dem Beobachten der alltäglichen Verrichtungen anderer Menschen gewinnen, die Gelassenheit, mit der diese sich beobachten lassen, läßt den Schluß zu, daß der Mensch der elektronischen Kommunikationskultur offenbar ein geringeres Bedürfnis nach Wahrung seiner Intimsphäre hat als das klassische bürgerliche Individuum. Man kann es auch anders sagen: es ist eigentlich überraschend, daß wir die Errungenschaften des Privaten nahezu widerstandslos bereit sind aufzugeben. George Orwell hatte Big Brother noch als totalitäres Bedrohungspotential imaginiert – heute wird derselbe universelle Beobachtungs- und Transparenzanspruch als Lusterlebnis verbucht. Allerdings: es gibt auch Gegenentwicklungen, die in den modernen Medien selbst angelegt sind. Gerade die elektronischen Kommunikationsmedien ermöglichen auch völlig neue Formen der Individualisierung und Anonymisierung. Schon die Möglich- Transparenz und Intimität im digitalen Zeitalter keit, aus Daten von Kunden deren subjektives Kaufverhalten zu rekonstruieren, stellt einen weiteren Schritt zur Individualisierung dar. Angebote werden so zunehmend nicht mehr auf ein indifferentes Publikum, sondern auf streng definierte Käufergruppen, aber eben auch auf Einzelpersonen abstimmt. Das alte Privileg des begüterten Bürgers, sich auch in den Zeiten der industriellen Massenproduktion seine Bedürfnisse durch maßgeschneiderte Schuhe und Anzüge zu befriedigen, erlebt durch die Digitalisierung eine massenhafte Renaissance. Die Schnelligkeit, mit der heute Unmengen von Daten verarbeitet werden können, erlaubt es, Individualität massenhaft zu produzieren. Die modernen Technologien erlauben es zum Beispiel, daß gerade Massenmedien ihren Kunden die Möglichkeit anbieten können, sich ihre Zeitung oder ihr Fernsehprogramm individuell zusammenzustellen. Und die Internetprotokolle, die eifrig das Benutzerverhalten registrieren und dem Nutzer unaufgefordert auf Angebote verweisen, die in seine Interessengebiete fallen, tun zumindest so, als ginge es ihnen darum, die Besonderheit des Einzelnen zu unterstützen. Inwiefern damit allerdings nur die Illusion von Individualität bedient wird, während tatsächlich auch und gerade bei diesen Verfahren durch den Modus der Technologie selbst der Geschmack normiert, der Intellekt synchronisiert und die Bedürfnisse vereinheitlicht werden, bleibe einmal dahingestellt. Neben diesen vielleicht mit Vorsicht zu genießenden Individualisierungsangeboten eröffnet das digitale Zeitalter noch eine ganz andere Form der Intimität: die anonyme Kommunikation. Was bislang nur als Sujet von eher schlechten Romanen bekannt war, wird nun zu einer selbst alltäglichen Kommunikationsstrategie: die falsche Identität. War man in der Regel bei den bisherigen Formen der Kommunikation – von Angesicht zu Angesicht, im Briefverkehr oder am Telephon – gezwungen, seine Identi- tät preiszugeben, so erlauben es die avancierten Kommunikationsformen, sich mit virtuellen, auch ständig wechselnden Identitäten auszustatten, um im Cyberspace gleichsam unter falscher Flagge zu segeln und zu vagabundieren. Der Erfolg, den solche Verfahren in Chat-Rooms offensichtlich haben, läßt ebenfalls Rückschlüsse auf einige Entwicklungen unserer Gesellschaft zu. Einerseits spiegeln und verstärken diese Strategien den allgemeinen Trend nach wechselnden und multiplen Identitäten. Viele von uns verstehen sich als Designer ihrer Lebensentwürfe, zu denen es gehört, daß man nicht mehr auf eine berufliche, weltanschauliche, ethnische oder sexuelle Identität festgelegt wird. Was in der realen Kommunikation gar nicht so leicht zu bewerkstelligen ist – wir erwarten von unseren Mitmenschen allemal ein gewisses Maß an Kontinuität –, läßt sich im spielerischen Kontext des Cyberspace problemlos durchexerzieren. Ich kann dann sein, wer ich will, ohne daß jemand weiß, wer ich bin. Die Möglichkeit, anonym im Netz zu agieren, erlaubt dann allerdings auch ein Fluten der Phantasie, für die es nichts Unvorstellbares mehr gibt. Solche Anonymisierung kann allerdings auf Dauer nur in der spielerischen Variante der Virtualität gelingen. An allen Schnittstellen zur Realität – und die wichtigste ist allemal noch jene, an der Zahlungen stattfinden – hört sich meist der Spaß auf. Aber das identitätsverwirrende Anonymisierungsspiel im virtuellen Raum kann auch als eine Reaktion auf die Tendenz der digitalen Gesellschaft, alles zu protokollieren und zu speichern, verstanden werden. In einer Welt, in der wir unzählige Spuren unserer Existenz im digitalen Raum hinterlassen, die präzise über uns Auskunft geben, macht es auch und besonders Spaß, solche Spuren wieder zu verwischen oder falsche Spuren zu legen. Eine Gesellschaft, die sich selbst ein Höchstmaß an Trans- parenz verordnet, muß damit rechnen, daß ihre Mitglieder alles daran setzen werden, mit denselben technischen Mitteln ein Höchstmaß an Täuschungskompetenz zu erlangen. Wer auf solche Transparenz als Marketinginstrument setzt, sollte aufpassen, daß er dabei nicht selbst Opfer einer Fiktion wird. Goethes Faust hatte davon geträumt, daß die Spur von seinen Erdentagen auch in Äonen nicht untergehen werde. Nach diesem Ausruf stirbt Faust bekanntlich, hochbetagt, und Mephisto kommentiert diese Situation trocken: „Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glück, / So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten; / Den letzten, schlechten, leeren Augenblick, / Der Arme wünscht ihn festzuhalten. / Der mir so kräftig widerstand, / Die Zeit wird Herr, der Greis hier liegt im Sand. / Die Uhr steht still.“3) Es macht Sinn, in diesem Zusammenhang an diese Sätze zu erinnern. Möglich, daß alle Spuren, die wir hinterlassen, nichts sind als eine Kette von letzten, schlechten, leeren Augenblicken, über die wir vergessen haben, daß auch über uns die Zeit einst Herr werden wird. Fausts Seele konnte bekanntlich im letzten Moment noch gerettet werden, weil sich Gretchen, seine ehemalige Geliebte, für ihn einsetzte. Er hatte, wie drastisch auch immer, in ihrem Herzen eine Spur hinterlassen. Die digitalen Archive, denen wir uns anvertrauen und die die Spuren unseres Erdendaseins aufbewahren, werden dann, wenn es mit uns so weit sein wird, auf ewig stumm bleiben. Vortrag im Rahmen des Wiener Energieforum 2001 „Konvergenz versus Transparenz“ am 4. April 2001 im Palais Ferstl Fußnoten: 1) J.W.v. Goethe, Faust II. Hamburger Ausgabe Bd. 3, S. 348 2) J.W.v. Goethe, Faust I. Hamburger Ausgabe Bd. 3, S. 57 3) J.W.v.Goethe, Faust II, Hamburger Ausgabe Bd. 3, S. 349 9