Spuren legen, Spuren lesen, Spuren verwischen: Transparenz und

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Spuren legen, Spuren lesen, Spuren verwischen: Transparenz und
Konrad Paul LIESSMAN (Universität Wien)
Spuren legen,
Spuren lesen,
Spuren
verwischen:
Transparenz und
Intimität im
digitalen
Zeitalter
Es gehört zu den faszinierenden Eigenheiten des digitalen Zeitalters, daß sich
in ihm einige der
spektakulärsten Wünsche
und Utopien der Menschen offenbar mühelos
verwirk-lichen lassen.
„Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das
Leben, / Der täglich sie erobern muß. / Und so verbringt, umrungen von
Gefahr, / Hier Kindheit,
Mann und Greis sein tüchtig Jahr. / Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn, /
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
/ Verweile doch, du bist so
schön! / Es kann die Spur
von meinen Erdetagen /
Nicht in Äonen untergehn.
– / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß' ich jetzt den
höchsten Augenblick.“1)
Nicht nur Goethes alternder Faust
wollte, daß die Spur von seinen Erdentagen nie verschwinden sollte, es
ist sogar dieser Moment, der über sein
Schicksal entscheidet. Denn immerhin hatte er mit dem Teufel gewettet,
daß dieser seine Seele bekommen
sollte, wenn es in seinem Leben einen
Augenblick gäbe, von dem er sich
wünschte, daß er ewig dauern solle:
„Werd' ich zum Augenblicke sagen: /
Verweile doch! du bist so schön! /
Dann magst du mich in Fesseln
schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn! / Dann mag die Totenglocke schallen, / Dann bist du deines
Dienstes frei, / Die Uhr mag stehn,
der Zeiger fallen, / Es sei die Zeit für
mich vorbei!“ Und darauf antwortete
bekanntlich Mephisto: „Bedenk es
wohl, wir werden's nicht vergessen.“2)
Es spricht für die Weitsicht des alten
Goethe, daß er Faust jenen Augenblick, wenn auch nur als Vorgefühl,
genießen läßt, in dem dieser glaubt,
durch eine technische Großleistung –
die Landgewinnung – sich im Gedächtnis der Menschen unsterblich
gemacht zu haben. Seine Spur wird
nicht vergehen, weil er sie und damit
sich in die Erdoberfläche selbst eingeschrieben hat. Das digitale Zeitalter
macht nun aus jedem von uns einen
kleinen Faust, wenn auch oft auf einer
ziemlich trivialen Ebene. Wir müssen
nicht mehr technische Großleistungen
vollbringen, die das Antlitz der Erde
verändern – obwohl wir das auch gerne tun -, um eine unauslöschliche
Spur zu hinterlassen, es genügen ein
paar Einkäufe mit der Kreditkarte,
eine paar Gespräche mit einem Mobiltelephon, der Besuch einer Bank und
ein paar heitere Stunden beim Surfen
im Netz oder das Versenden einiger
belangloser E-Mails, um in den verschiedenen Datenbanken digitale Informationspartikel, und damit eine
prinzipiell unauslöschliche Spur hinterlassen zu haben.
Natürlich: Spuren zu hinterlassen, war
immer ein Bestreben des Menschen,
hob ihn heraus aus dem konturlosen
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Fluß der Zeit, sicherte ihm wenigstens
ein kleines Stück Unsterblichkeit.
Solche Spuren waren aber Resultat einer individuellen Anstrengungen, waren der bewußte Versuch, einem Ort,
einer Umgebung, einem Milieu einen
Stempel aufzudrücken, der länger
sichtbar sein sollte als die Zeitspanne
der eigenen Anwesenheit. Aber: Leben selbst bedeutet schon Spuren zu
hinterlassen, und wenn man darauf
achtet, sind diese Lebensspuren von
Menschen auch erkennbar. Dass vom
Menschen nicht alles verschwindet,
dass manches im Gedächtnis bleibt,
tradiert wird, daß vieles als materielles Residuum die Zeiten überdauert,
hat überhaupt so etwas wie das historische Bewußtsein möglich gemacht.
Und wenigstens geht die Kriminalistik davon aus, daß es keine spurlose
Aktivitäten des Menschen gibt. Zumindest theoretisch gilt, daß das perfekte Verbrechen, das keine Spuren
hinterläßt, unmöglich ist, und spurlos
zu verschwinden bedeutete immer
schon die Ausnahme, manchmal allerdings auch eine Utopie. Wer keine
Spuren hinterläßt, ist allerdings in einem sozialen Sinn so gut wie tot –
denn jeder Akt der Kommunikation
hinterläßt eine Spur.
Die digitale Revolution stellt also
auch in diesem Sinn, wie so oft,
nichts Neues dar. Aber sie greift vorhandene Tendenzen auf, verstärkt sie
und objektiviert sie in einem Maße,
das völlig neue Qualitäten und Perspektiven eröffnet. Wer bislang etwa
die Reise, die ein Mensch gemacht
hat, anhand seiner hinterlassenen
Spuren rekonstruieren wollte, mußte
sich durch Ansichtskarten, Briefe und
Tagebucheintragungen wühlen und
sich vor allem auf das Gedächtnis von
Menschen verlassen, denen der Reisende vielleicht begegnet war: Kellner, Geschäftsleute, Rezeptionisten,
Fahrscheinverkäufer, Bankbeamte,
Reisegefährten. Ein Gutteil der Spuren des Alltags, die wir bislang fabrizierten, hinterließen wir im Gedächtnis anderer Menschen. Die Digitalisierung der wesentlichen Aktivitäten
und Transaktionen unseres Lebens
Transparenz und Intimität im digitalen Zeitalter
und unserer Kommunikation und die
Möglichkeit der vollständigen Archivierung dieser Daten läßt das Gedächtnis als Boden für die Spur eines
Menschen allerdings nahezu überflüssig werden. Was für das digitale Archiv schlechthin gilt, gilt für die Lebensspur eines Menschen in besonderem Maße: Menschliches Gedächtnis
wird ausgelagert. Kein Kellner muß
sich erinnern können, es genügt, die
Daten der Kreditkartenabbuchungen
in die Hände zu bekommen; keine
Postkarten müssen gesucht werden, es
genügt ein Zugang zu den E-Mails;
keine Bekannten müssen befragt werden, es genügt ein Protokoll der
Telephongespräche; kein Bankbeamter muß sich an ein Gesicht erinnern,
die elektronische Spur der finanziellen
Transaktionen spricht für sich; keine
Erinnerungsvermögen und keine
Menschenkenntnis wird nötig sein, um
in Zukunft über den Lebenswandel
und Gesundheitszustand eines Menschen etwas zu erfahren – ein Blick
auf seine Krankenversicherungschipkarte wird genügen.
Natürlich: für sich genommen besagt
die Archivierung einer digitalisierten
Kommunikation oder Transaktion wenig. Wirklich interessant wird es,
wenn man die Möglichkeit der Kontinuität von Datenaufzeichnungen über
einen längeren Zeitraum und die Möglichkeit der Verknüpfung von Daten
aus unterschiedlichen Aktivitätssegmenten, also die Konvergenz der Daten, ins Auge faßt. Allein die Protokolle der Abbuchungen einer Kreditkarte
über Jahre hinweg ergeben einen
ziemlich präzisen Eindruck vom
Kaufverhalten, und damit von den
Präferenzen eines Kunden; vernetzte
man diese Daten mit den Protokollen
seiner Telephongespräche, seiner Internetaktivitäten, seiner Flugbuchungen, bekäme man vielleicht sogar Einsicht in seinen E-Mail-Verkehr, seine
Steuererklärungen, seine Gesundheitsdaten und in die Ergebnisse seines Gen-Tests, gewönne man ein
ziemlich transparentes Bild eines
Menschen. Seine soziale Lage, seine
berufliche Situation, seine sexuellen
Präferenzen, seine Eß- und Trinkgewohnheiten, seine Krankheiten und
Krankheitsdispositionen, seine Lebenserwartung, seine Reisen und deren Motive, sein generelles Konsumverhalten, seine Vorlieben und seine
Aversionen, seine kommunikative
Kompetenz – all das und noch einiges
mehr läge offen zu Tage und ließe sich
zueinander in Beziehung setzen. Wohl
wüßten wir noch immer nicht genau,
was dieser Mensch denkt und fühlt,
aber auch darüber könnte man etwas
erfahren, wenn man aus abfragbaren
Daten die entsprechenden Schlüsse
zieht. Beherrscht man die Kunst, aufbereitete Datenspuren zu interpretieren und zu deuten, kann dies zu interessanten Einblicken und Informationen führen – über Lesegewohnheiten
etwa lassen sich problemlos politische
Präferenzen erschließen, über Daten,
die das Freizeitverhalten betreffen,
lassen sich emotionale Dispositionen
eruieren, aus Protokollen der
Tätigkeiten an einem Computerarbeitsplatz lassen sich ziemlich genaue
Kenntnisse über Fleiß, Konzentrationsfähigkeit und Belastbarkeit eines
Menschen gewinnen.
Entscheidend wird also die Konvergenz der Datenströme und deren
Kontrolle sein. Ohne einen Menschen
auch nur ein einziges Mal gesehen zu
haben, kann man auf diesem Wege
mehr über ihn wissen als er selbst.
Die wenigsten Menschen zum Beispiel führen genau Buch über ihr
Kaufverhalten. Sie wären erstaunt,
wenn man ihnen dabei auffallende
Kontinuitäten und Präferenzen vorrechnete. Natürlich ist die Sammlung
und Verarbeitung solcher Daten verlockend, vor allem in einem Bereich,
der sich ein wenig euphemistisch
„Kundenbetreuung“ nennt. Die Bündelung der von einem Menschen gelegten elektronischen Spuren ergibt
nicht nur ein ziemlich präzises Verhaltensprofil, sondern erlaubt im Gegenzug, auf dieses Profil tatsächlich
mit maßgeschneiderten Angeboten
zu reagieren. Ein Unternehmen, das
zum Beispiel elektrischen Strom produziert, wäre wohl schlecht beraten,
einen Kunden, von dem man aufgrund aller verfügbaren Daten weiß,
daß er die Grünen wählt, nur in Vegetarischen Restaurants ißt, und, wie
man aus einer Kreditkarten-Buchung
der ÖBB entnehmen kann, zur Grenzblockade gegen Temelin mit dem
Zug angereist ist, mit einem großzügigen Angebot von Atomstrom zu locken. Personalisierung der Kundenbetreuung und Angebotspaletten heißen die Zauberworte.
Allerdings: für die Beschaffung von
Information über Präferenzen und
Einstellungen von Menschen, um ihnen persönliche, punktgenaue, und
deshalb unwiderstehliche Angebote
zu machen, kannte man früher auch
noch ein anderes Wort: ausspionieren. Das ganze erinnert ein wenig an
den umsichtigen Vertreter, der sich
zuerst bei der Nachbarschaft über die
Situation und die Neigungen eines
potentiellen Kunden erkundigt, bevor
er mit der Tür ins Haus fällt. Und so
wie beim klassischen Vertreter und
Kundenbetreuer ist auch bei der digital verdichteten Kundenkommunikation der Grat zwischen akzeptierter
Beratung und Hilfe und unangenehmer Aufdringlichkeit ein äußerst
schmaler. Ohne die Vorteile einer individuell zugeschnittenen und gezielten Kommunikation mit dem Kunden
zu leugnen, sei doch davor gewarnt,
im ersten Überschwang der Informationen, über die man nun verfügt, den
Kunden mit Angeboten zu überschütten, die dieser auch als Einbruch in
seine Intimsphäre empfinden könnte,
vor allem dann, wenn zwischen ihm
und dem Unternehmen noch kein
Vertrauensverhältnis besteht.
Tatsächlich betrifft die skizzierte Entwicklung nicht nur das Verhältnis
zwischen Unternehmen und ihren
Kunden, sondern hat auch eine weitreichende gesellschaftspolitische Dimension. Jenseits der Frage nach den
geänderten Beziehungen zwischen
Kunden und Dienstleistern, zwischen
Bürgern und den Behörden, deutet
sich durch die Digitalisierung aller
Informationsströme ein neuer, grund-
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Konrad Paul LIESSMAN (Universität Wien)
legender „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ an. Das Verhältnis zwischen
privatem Leben und öffentlicher
Existenz ändert sich damit gravierend, und wir kehren, überspitzt formuliert, zu einer Weise der öffentlichen Präsenz und Durchsichtigkeit
zurück, wie sie die mittelalterliche
Dorfgemeinschaften auszeichneten,
wo es kaum Möglichkeiten gab, sein
privates Leben vor den Augen der
Dorföffentlichkeit zu verbergen. Die
vielzitierte Formel vom „globalen
Dorf“, mit der Marshall McLuhan vor
Jahrzehnten das elektronische Zeitalter einbegleitete, ist richtig und gerade bedrohlich. Seit Jahrhunderten
verlassen die Menschen aus guten
Gründen die Dörfer, um in der Anonymität der Großstädte unterzutauchen und dort, unbemerkt von der Öffentlichkeit, ihren privaten Vorlieben
nachzugehen. Unter den Bedingungen der digitalen Transparenz finden
wir uns tatsächlich in einer weltweiten Dorfsituation wieder. Nichts
bleibt unbemerkt.
Um die Bedeutung dieses Wandels zu
verstehen, genügt vielleicht der Hinweis, daß „Privatheit“ und das damit
verbundene Recht auf eine
„Privatsphäre“ eine relativ späte, und
durchaus hart erkämpfte Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft
war. Der Sphäre des Öffentlichen,
nicht zuletzt auch in einem politischen und gesellschaftlichen Sinn,
wurde die Sphäre des Privaten gegenübergestellt, in der nicht die Belange
des Gemeinwohls, des Staates, der lokalen oder überregionalen Gemeinschaften und der beruflichen
Tätigkeiten im Mittelpunkt standen,
sondern das einzelne Individuum mit
seinen Interessen und Beziehungen
für sich bleiben konnte. Der „Privatmann“ war ursprünglich derjenige
gewesen, der kein öffentliches Amt
bekleidete und keinem bürgerlichen
Beruf nachging – aufbewahrt ist dieser Sinn bis heute noch in Begriffen
wie „Privatgelehrter“ oder „Privatdozent“. Erst allmählich, und das war
eine der Voraussetzungen für die zunehmende Individualisierung der Ge-
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sellschaft, setzte sich so etwas wie ein
Recht auf Privatheit durch, das heißt,
es bildete sich eine Sphäre der Privatangelegenheiten, die von öffentlichen Interessen nicht beschränkt oder
gesteuert werden sollten – vor allem
auch, aber nicht nur, im Bereich von
Sexualität, Freundschaft und Familie.
Unsere Begriffe von Freiheit und
Glück sind ganz grundlegend an diese Möglichkeit, in einer privaten
Sphäre zu leben, gebunden.
Die digitale Transparenz läßt diesen
Begriff von Privatheit erodieren. Wo
immer mehr Daten zur Verfügung
stehen und miteinander vernetzt werden können, wird es immer schwieriger, die klassischen Ansprüche auf
Privatheit zu verteidigen. Das muß
noch nicht bedeuten, daß in die Art
und Weise, wie Menschen ihr Leben
organisieren, unmittelbar eingegriffen wird; aber es bedeutet, daß wir
immer mehr darüber wissen und
dementsprechend – als Dienstleistungsunternehmen, als Behörde, aber
auch schlicht als Zeitgenosse – darauf
mit Angeboten, aber auch Forderungen reagieren können. Die Entwicklung, soweit sie sich schon abzeichnet, ist dabei durchaus von spannenden Ambivalenzen gekennzeichnet.
Einerseits ist die Frage, wer in welcher Weise Zugriff auf die überall archivierten Daten hat, zu einem brennenden Problem geworden. Dies ist
letztlich eine politische Frage. Die
Gesellschaften müssen das Maß ihrer
Transparenz festlegen, es müssen
Kriterien erarbeitet werden, was von
wem gewußt und verwendet werden
darf. Zur Zeit scheint zumindest noch
ein Konsens darüber zu herrschen,
daß personenbezogene Daten, die
Rückschlüsse auf genetische und pathologische Dispositionen erlauben,
die Krankheitsbilder und die Lebenserwartung eines Menschen betreffen,
weder in die Hände von Arbeitgebern
noch in die von Versicherungsanstalten kommen sollten. Fraglich, wie
lange dieser Konsens hält, wie lange
es gelingt, diese Dimensionen von
Privatheit den Interessen von Unter-
nehmen und Verwaltung zu entziehen. Ebenso scheint allerdings auch
ein Konsens darüber zu bestehen, daß
die Datenspuren, die ein Mensch, der
sich den elektronischen Kommunikations- und Vertriebstechniken anvertraut, überall hinterläßt, keinen besonderen Schutz genießen müssen.
Wer eine Kreditkarte benutzt, signalisiert damit zumindest im Prinzip sein
Einverständnis mit der Möglichkeit,
die damit anfallenden Datenmengen
zu interpretieren und zu verwenden,
vorausgesetzt, er kann annehmen,
daß dies nicht zu seinem Nachteil geschieht.
In unserer Medienkultur lassen sich
aber auch Entwicklungen beobachten, die offensichtlich darauf hinauslaufen, die Menschen an den Zustand
der Transparenz zu gewöhnen. Der
Erfolg von Reality-Shows wie Big
Brother oder Taxi Orange läßt sich
zum Teil sicher auch damit erklären,
daß solche Sendungsformate ganz bewußt die Frage nach dem Verschwinden der Intimität provozieren. Die
Lust, die Zuseher offenbar aus dem
Beobachten der alltäglichen Verrichtungen anderer Menschen gewinnen,
die Gelassenheit, mit der diese sich
beobachten lassen, läßt den Schluß
zu, daß der Mensch der elektronischen Kommunikationskultur offenbar ein geringeres Bedürfnis nach
Wahrung seiner Intimsphäre hat als
das klassische bürgerliche Individuum. Man kann es auch anders sagen:
es ist eigentlich überraschend, daß
wir die Errungenschaften des Privaten nahezu widerstandslos bereit sind
aufzugeben. George Orwell hatte Big
Brother noch als totalitäres Bedrohungspotential imaginiert – heute
wird derselbe universelle Beobachtungs- und Transparenzanspruch als
Lusterlebnis verbucht.
Allerdings: es gibt auch Gegenentwicklungen, die in den modernen Medien selbst angelegt sind. Gerade die
elektronischen Kommunikationsmedien ermöglichen auch völlig neue
Formen der Individualisierung und
Anonymisierung. Schon die Möglich-
Transparenz und Intimität im digitalen Zeitalter
keit, aus Daten von Kunden deren subjektives Kaufverhalten zu rekonstruieren, stellt einen weiteren Schritt zur Individualisierung dar. Angebote werden so zunehmend nicht mehr auf ein
indifferentes Publikum, sondern auf
streng definierte Käufergruppen, aber
eben auch auf Einzelpersonen abstimmt. Das alte Privileg des begüterten Bürgers, sich auch in den Zeiten
der industriellen Massenproduktion
seine Bedürfnisse durch maßgeschneiderte Schuhe und Anzüge zu befriedigen, erlebt durch die Digitalisierung
eine massenhafte Renaissance.
Die Schnelligkeit, mit der heute Unmengen von Daten verarbeitet werden
können, erlaubt es, Individualität
massenhaft zu produzieren. Die modernen Technologien erlauben es zum
Beispiel, daß gerade Massenmedien
ihren Kunden die Möglichkeit anbieten können, sich ihre Zeitung oder ihr
Fernsehprogramm individuell zusammenzustellen. Und die Internetprotokolle, die eifrig das Benutzerverhalten
registrieren und dem Nutzer unaufgefordert auf Angebote verweisen, die
in seine Interessengebiete fallen, tun
zumindest so, als ginge es ihnen darum, die Besonderheit des Einzelnen
zu unterstützen. Inwiefern damit allerdings nur die Illusion von Individualität bedient wird, während tatsächlich
auch und gerade bei diesen Verfahren
durch den Modus der Technologie
selbst der Geschmack normiert, der
Intellekt synchronisiert und die Bedürfnisse vereinheitlicht werden, bleibe einmal dahingestellt.
Neben diesen vielleicht mit Vorsicht
zu genießenden Individualisierungsangeboten eröffnet das digitale Zeitalter noch eine ganz andere Form der
Intimität: die anonyme Kommunikation. Was bislang nur als Sujet von
eher schlechten Romanen bekannt
war, wird nun zu einer selbst alltäglichen Kommunikationsstrategie: die
falsche Identität. War man in der Regel bei den bisherigen Formen der
Kommunikation – von Angesicht zu
Angesicht, im Briefverkehr oder am
Telephon – gezwungen, seine Identi-
tät preiszugeben, so erlauben es die
avancierten Kommunikationsformen,
sich mit virtuellen, auch ständig
wechselnden Identitäten auszustatten, um im Cyberspace gleichsam unter falscher Flagge zu segeln und zu
vagabundieren.
Der Erfolg, den solche Verfahren in
Chat-Rooms offensichtlich haben,
läßt ebenfalls Rückschlüsse auf einige Entwicklungen unserer Gesellschaft zu. Einerseits spiegeln und
verstärken diese Strategien den allgemeinen Trend nach wechselnden und
multiplen Identitäten. Viele von uns
verstehen sich als Designer ihrer Lebensentwürfe, zu denen es gehört,
daß man nicht mehr auf eine berufliche, weltanschauliche, ethnische oder
sexuelle Identität festgelegt wird.
Was in der realen Kommunikation
gar nicht so leicht zu bewerkstelligen
ist – wir erwarten von unseren Mitmenschen allemal ein gewisses Maß
an Kontinuität –, läßt sich im spielerischen Kontext des Cyberspace problemlos durchexerzieren. Ich kann
dann sein, wer ich will, ohne daß jemand weiß, wer ich bin. Die Möglichkeit, anonym im Netz zu agieren,
erlaubt dann allerdings auch ein Fluten der Phantasie, für die es nichts
Unvorstellbares mehr gibt.
Solche Anonymisierung kann allerdings auf Dauer nur in der spielerischen Variante der Virtualität gelingen. An allen Schnittstellen zur Realität – und die wichtigste ist allemal
noch jene, an der Zahlungen stattfinden – hört sich meist der Spaß auf.
Aber das identitätsverwirrende Anonymisierungsspiel im virtuellen
Raum kann auch als eine Reaktion
auf die Tendenz der digitalen Gesellschaft, alles zu protokollieren und zu
speichern, verstanden werden. In einer Welt, in der wir unzählige Spuren
unserer Existenz im digitalen Raum
hinterlassen, die präzise über uns
Auskunft geben, macht es auch und
besonders Spaß, solche Spuren wieder zu verwischen oder falsche Spuren zu legen. Eine Gesellschaft, die
sich selbst ein Höchstmaß an Trans-
parenz verordnet, muß damit rechnen, daß ihre Mitglieder alles daran
setzen werden, mit denselben technischen Mitteln ein Höchstmaß an
Täuschungskompetenz zu erlangen.
Wer auf solche Transparenz als Marketinginstrument setzt, sollte aufpassen, daß er dabei nicht selbst Opfer
einer Fiktion wird.
Goethes Faust hatte davon geträumt,
daß die Spur von seinen Erdentagen
auch in Äonen nicht untergehen werde. Nach diesem Ausruf stirbt Faust
bekanntlich, hochbetagt, und Mephisto kommentiert diese Situation
trocken: „Ihn sättigt keine Lust, ihm
gnügt kein Glück, / So buhlt er fort
nach wechselnden Gestalten; / Den
letzten, schlechten, leeren Augenblick, / Der Arme wünscht ihn festzuhalten. / Der mir so kräftig widerstand, / Die Zeit wird Herr, der Greis
hier liegt im Sand. / Die Uhr steht
still.“3) Es macht Sinn, in diesem Zusammenhang an diese Sätze zu erinnern. Möglich, daß alle Spuren, die
wir hinterlassen, nichts sind als eine
Kette von letzten, schlechten, leeren
Augenblicken, über die wir vergessen
haben, daß auch über uns die Zeit
einst Herr werden wird. Fausts Seele
konnte bekanntlich im letzten Moment noch gerettet werden, weil sich
Gretchen, seine ehemalige Geliebte,
für ihn einsetzte. Er hatte, wie drastisch auch immer, in ihrem Herzen
eine Spur hinterlassen. Die digitalen
Archive, denen wir uns anvertrauen
und die die Spuren unseres Erdendaseins aufbewahren, werden dann,
wenn es mit uns so weit sein wird, auf
ewig stumm bleiben.
Vortrag im Rahmen des Wiener
Energieforum 2001 „Konvergenz versus Transparenz“ am 4. April 2001 im
Palais Ferstl
Fußnoten:
1) J.W.v. Goethe, Faust II. Hamburger
Ausgabe Bd. 3, S. 348
2) J.W.v. Goethe, Faust I. Hamburger
Ausgabe Bd. 3, S. 57
3) J.W.v.Goethe, Faust II, Hamburger
Ausgabe Bd. 3, S. 349
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