Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh
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Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh
Johannes Tröger Kulturkritik und Utopie Johannes Tröger Kulturkritik und Utopie Das Denken rechter katholischer Intellektueller in Deutschland und Großbritannien 1918–1939 FERDINAND SCHÖNINGH Umschlagabbildung: Wikimedia Commons Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-78447-6 VORWORT Die letzten Zeilen, die es am Ende einer langen Zeit des Forschens und Formulierens zu schreiben gilt, bereiten die größte Freude. Ich hoffe, in ihnen ein wenig von der Dankbarkeit ausdrücken zu können, die ich denen gegenüber empfinde, die mich intellektuell geprägt und materiell unterstützt haben, die mich weiter begleitet haben, als ich hätte hoffen oder verlangen können. In erster Linie danke ich meinen Hochschullehrern: Professor Klaus Hildebrand, meinem ersten Doktorvater, in dem ich einen vollständigen Professor alter Universität kennenlernen durfte. Professor Dominik Geppert, der nach Klaus Hildebrands schwerer Erkrankung mit Engagement und ehrlichem Interesse die Betreuung übernahm. Er hat mich nicht nur umfassend unterstützt, sondern mir auch den Freiraum gegeben, wenigstens den Versuch zu unternehmen die Arbeit zu schreiben, die mir vorschwebte. Dr. Christoph Studt, der mich mit gleichbleibender Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft von meinem ersten Proseminar an der Universität Bonn bis hin zum Status des Kollegen begleitet hat. Professor Joachim Scholtyseck, der so freundlich war, die Zweitkorrektur zu übernehmen und mir im Rigorosum die entscheidende Frage zu stellen. Nicht weniger dankbar bin ich den Freunden und Kollegen, mit denen ich im Oberseminar und danach diskutiert und zusammengesessen und am Lehrstuhl gearbeitet habe. Einige seien hier genannt: Patrick Bormann, Nina Schnutz, Peter Beule, Dr. Holger Löttel, Arno Becker, Ismail Kutbay, Benedikt Wintgens und Alma Hannig. Ebenso wichtig waren viele Freunde und Begleiter neben der Universität. Meinen Freunden Antoine Kopp und Andreas Schnermann, durch die ich jeweils ganz andere Welten kennengelernt habe, und Margot Metter, die mit stetigem Interesse und Wärme bei der Sache war, sei hiermit gedankt. Meinen Freunden Dr. Thomas Wolf und Dr. Thomas Vollmer danke ich für die vielen Stunden vor, während, zwischen und nach Seminaren und Vorlesungen, in denen Vertiefung und Abschweifung immer wieder neue Blicke geöffnet haben. Von ihnen habe ich mindestens ebenso viel gelernt wie von vielen Dozenten. Besonderen Dank verdienen meine Freunde Dr. Hans-Christian Crueger und Albrecht Metter. Dr. Hans-Christian Crueger hat neben seiner Berufstätigkeit immer die Zeit gefunden, Kapitel um Kapitel mit großer Aufmerksamkeit zu lesen, zu korrigieren und Mut zu machen. Albrecht Metter hat die Fertigstellung erst ermöglicht, indem er mich immer wieder ermuntert, als intelligenter Gesprächspartner gedient und mir mit einem Schreibtisch in seiner Firma, der ameria GmbH in Heidelberg, Raum und Gemeinschaft gegeben hat. Seinen Angestellten, die mittlerweile Kollegen geworden sind, danke ich ebenfalls. Der größte Dank gilt schließlich meiner Familie: Meiner Schwester Dr. Ursula Tröger, die immer mehr von meinen Fähigkeiten gehalten hat als ich selbst, und vor allem meinen Eltern, Ursula und Dr. Gert Tröger, die mich mit großer Geduld in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit, vom ersten Satz bis heute unterstützt haben und unterstützen. Ihnen ist diese Arbeit von ganzem Herzen gewidmet. Kotelow, im Dezember 2015 Johannes Tröger INHALT 1. EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Theorie, Methode und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. ORDNUNGSIDEEN I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.1 Welt- und Menschenbild zwischen Modernekritik und Religion, zwischen Anti-Individualismus und Organismus . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.2 Geschichtsbild zwischen Narrativen des Niedergangs und der Idealisierung des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. ORDNUNGSIDEEN II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ordnungen der Wirtschaft zwischen radikaler Kritik an Kapitalismus und Planwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ordnungen des Politischen zwischen Liberalismus- und Parlamentarismuskritik, zwischen Diktatur und früher Totalitarismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ordnungen des Äußeren zwischen Nation und Mitteleuropa, christlichem Abendland und Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. GESTALTUNGSIDEEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Gestaltungen der Wirtschaft zwischen »Distributive State« und ständischer Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gestaltungen des Politischen zwischen starkem Staat und subsidiärer Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Gestaltungen des Äußeren zwischen nationalen Interessen und der »Christian Civilisation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 92 110 136 155 155 172 185 5. FAZIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Aufsätze und Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Aufsätze und Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 209 209 212 217 217 225 7. PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 1. EINLEITUNG 1.1 GEGENSTAND, QUELLEN UND FORSCHUNGSSTAND In der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens, erschienen 1929, zeichnete Ernst Jünger »das Bild von Kriegern, die in Bürgerzimmern kampieren, oder von Explosivstoffen, die in den Fächern von Krämerläden gelagert sind. Höchst merkwürdige Erscheinungen bilden sich so heraus, etwa von Mystikern, die sich der fachwissenschaftlichen Terminologie des 19. Jahrhunderts bedienen, von Revolutionären innerhalb konservativer Parteien, von Anarchisten, die allem Anschein nach auf dem Gebiete der Astrophysik oder der Atomtheorie produktiv tätig sind.«1 Nicht die wirtschaftliche oder politische Krise der Zwischenkriegszeit, so lassen sich Jüngers Worte interpretieren, war das entscheidende Problem, sondern eine dahinter liegende geistige Krise, die sich in den grundlegenden Verschiebungen von Ideen, Positionen und Funktionen manifestierte. Althergebrachte Denkmuster schienen die Welt nicht mehr erfassen zu können. Die Raster der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus befanden sich nicht mehr in Übereinstimmung mit einer veränderten Realität, und so ging es »weniger um neue Gedanken oder um ein neues System« als um die möglichst präzise Beschreibung dieser »neue[n] Wirklichkeit«2. Dem komplexen Geflecht der Deutungen steuerte Jünger die Figur des »Arbeiters« bei, den er aber nicht als soziale Figur, sondern bezeichnenderweise durch eine spezifische geistige Haltung und Erfahrung bestimmte. Im »Arbeiter« brachte der Autor der Stahlgewitter die Zeit auf einen Begriff, der vor allem die Dynamik spiegelte, die an die Stelle der vermeintlichen Statik früherer Epochen getreten war. Das Gefühl, in unsicheren Zeiten zu leben, war im Europa der Zeit allgemein verbreitet, auch wenn der Blick in die Zukunft mal optimistischer, mal pessimistischer ausfiel. Die Zahl der Deutungen der Krise, der Einsichten in ihre Tiefe und Natur, der Antworten, die formuliert wurden, ist überwältigend. Eine der möglichen Lesarten, in sich wiederum vielfach verzweigt und gebrochen, steht hier im Mittelpunkt und wird mit den Mitteln der Ideengeschichte untersucht: das Denken rechter katholischer Intellektueller in Deutschland, Österreich und England. Bei der Wahrnehmung der Verschiebungen, die nach neuen Begriffen und Modi der Beschreibung verlangten, handelte es sich allerdings nicht um ein nach dem Ersten Weltkrieg plötzlich auftauchendes Phänomen. Philipp Blom hat die ausgedehnten Suchbewegungen und grundlegenden Konflikte zwischen verschiedenen Weltdeutungen und ihren je eigenen Gestaltungsversuchen in seiner Darstellung der Jahre 1900 bis 1914 mit dem Begriff des »taumelnden Kontinents« beschrieben und damit auf eine Kontinuität über den Weltkrieg hinweg verwiesen. 1 2 Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, mit einem Vorwort von Michael Klett, 3. Aufl., Stuttgart 2000, S. 96. [EA 1929] Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1982, S. 9. [EA 1932] 10 1. Einleitung »Ob durch Sozialismus, Erziehungsreform oder Nudismus, ob durch Theosophie oder freie Liebe, etwas mußte sich verändern, es mußte Regeln geben, die nicht von den Militaristen und Maschinen diktiert worden waren. Es war die Suche nach einem dritten Weg, politisch zwischen Kapitalismus und Sozialismus, philosophisch zwischen Rationalismus und konventioneller Religiosität, sozial zwischen Spießermoral und Hedonismus.«3 Die Linie lässt sich von dort noch weiter in die Vergangenheit führen. Bei Reinhart Koselleck ist die Zeit zwischen 1750 und 1850/1870 als Epochenschwelle zwischen Früher Neuzeit und Moderne eine entscheidende »Sattelzeit«, in der sich neue Begriffe herausbilden und ein neues, auf Wandel ausgerichtetes historisches Zeitverständnis entsteht.4 Die Dominanz eines christlichen Weltverständnisses, das seine Priorität wiederum im Verlauf von Jahrhunderten gegenüber anderen Deutungen erkämpft hatte, wird freilich schon seit dem 16. Jahrhundert durch politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen langsam aufgelöst. Ihre Bedeutung erlangen diese Prozesse vor allem als direkte Vorgeschichte der Gegenwart, sie können als die »große Erzählung«5 – wahlweise im Kleid der Erfolgs- oder Verfallsgeschichte – verstanden werden, an deren Ende die Moderne steht. In der longue durée betrachtet fallen sie in die Kategorie der Verdichtungsphasen einer grundlegenden Dynamik menschlicher Entwicklung, die auf Dauer alle Versuche einer Konservierung von Zuständen, jeden Wunsch nach einer Statik der Verhältnisse konterkariert. So gehört die »Sattelzeit« zu denjenigen Epochen, denen Wirkmächtigkeit über sich selbst hinaus zugeschrieben wird, die bestimmte Standards und Ordnungen des Denkens für nachfolgende Generationen begründen, manchmal für Jahrhunderte, wie es Karl Jaspers für die von ihm mit dem später viel diskutierten Terminus »Achsenzeit«6 bezeichnete Phase von 800 bis 200 v. Chr. behauptete. Eine solche Qualität hatten die Jahre zwischen 1918 und 1939 für Europa freilich nicht, sie markieren aber aus ideengeschichtlicher Perspektive eine – je nach Ländern in verschiedener Intensität und zeitlicher Ausdehnung – bemerkenswerte historische Konstellation. Die Veränderung wirtschaftlicher Bedingungen, das Ende von Monarchien, die schleichende Auflösung politischer Traditionen und die Verschiebung von Macht innerhalb von Gesellschaften führten zu einer »Pattsituation der politischen Kräfte«7, die den Blick auf ein großes Experimentierfeld der Ideen, auf die »Experimente zwischen den Kriegen«8, öffnet, auf dem das Alte neben dem Neuen immer noch vertreten scheint. Einiges sticht hervor, anderes versinkt bereits im Halbschatten der Geschichte, doch kaum etwas fehlt. In den Arrangements verschwimmen dabei die gewohnten Ordnungen, es treffen radi3 4 5 6 7 8 Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München 2009, S. 250. S. z.B. Reinhart Koselleck, »Einleitung«, in: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe, 15 Bde., Stuttgart 1979, Bd. 1, S. XIII-XVII, hier S. XV. Der Begriff der »großen Erzählung« oder des »Metanarrativs« stammt von Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 7. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949. Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 86. So der Titel des Kapitels über die Zwischenkriegszeit in Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter, S. 85-154. 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand 11 kale Experimenteure auf Epigonen, Neuerer auf Verfechter verschiedener Traditionen, Pluralisten auf Verfechter absoluter Wahrheiten, manchmal kommunizieren sie auf überraschende Weise, und in der genaueren Analyse erweist sich manche fast automatisch getroffene Zuordnung als problematisch. In dieser Situation eines »rasenden Stillstands«9 hatte jenseits der Inhalte, so scheint es, nur ein Grundsatz Bestand: Jede Weltdeutung, alle Pläne konnten mit aller Härte vertreten werden, ohne dass ihre Vertreter die Ächtung oder die vollkommene Marginalisierung im Diskurs hätten fürchten müssen. Versteht man den Diskurs im Sinne Michel Foucaults »als eine Ordnung […], die den mit diesem Diskurs vertrauten Subjekten das gemeinsame Denken, Sprechen und Handeln erlaubt«10, dann war zumindest in der Weimarer Republik an die Stelle eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses ein »Fundamentaldissens«11 getreten. Die »Grenzen des Sagbaren« waren in politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen weitgehend verschwunden, ersetzt durch eine Vielzahl immer wieder interagierender Teildiskurse. Die Kontroll- und Ordnungsfunktionen des Diskurses versagten. Die laut Foucault in der Gesellschaft herrschende Angst »vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen, unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses«12, diese Angst wirkte nicht mehr als Movens einer engeren Beschränkung. Ideenkomplexe, die einen in Auflösung begriffen, die anderen im Entstehen, changierten zwischen Rückschritt und Fortschritt, Beharrung und Bewegung, wurden zersetzt und neu zusammen gesetzt. Der Streit endete aber nicht bei den Inhalten, sondern ging immer auch um Standards und Typen des Denkens, manchmal um alles oder nichts, und kaum eine Haltung konnte ganz und gar zum gesicherten Bestand gerechnet werden. In der Verflüssigung konnte jede Kritik schnell zur radikalen Systemopposition geraten, und die Wahrnehmung tiefgreifenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Wandels steigerte die Intensität des Krisenempfindens, das vielleicht nicht universell war, aber doch zu einem der Grundzüge der Zeit geriet.13 Die Weimarer Republik hat Detlev Peukert durchaus treffend als die »Krisenjahre der Klassischen Moderne«14 gedeutet. Unter katholischen Intellektuellen war nicht nur von einer »politischen Krise der Gegenwart«15 9 10 11 12 13 14 15 Der Begriff des »rasenden Stillstands« ist dem Titel der Übersetzung eines Essays von Paul Virilio entlehnt: Paul Virilio, Rasender Stillstand. Essay, München, Wien 1992. Im Original spricht Virilio von der »inertie polaire«. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M., New York 2008, S. 67. Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, 2. Aufl., München 2015, S. 95. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 12. Aufl., Frankfurt a.M. 2012, S. 33. Zum Begriff der Krise s. Thomas Mergel, »Krisen als Wahrnehmungsphänomene«, in: Ders. (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Eigene und fremde Welten 21, Frankfurt, New York 2012, S. 9-22. Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987. Karl [Carl] Muth, »Res publica. Gedanken zur politischen Krise der Gegenwart«, in: Hochland 24/1 (1926/27), S. 1-14. Muth, Gründer und von 1903 bis 1932 Hauptschriftleiter der Zeitschrift Hochland, gehörte zu denjenigen katholischen Intellektuellen, die Demokratie und Weimarer Verfassung verteidigten: »Die Krise ist nicht von heute und nicht von gestern, sie begann vielmehr mit dem Augenblick, da nach dem Erwachen aus der ersten Betäubung durch die Niederlage und nach dem Gefühl der Sicherheit unter dem Schutz der Weimarer Verfassung sich bei denen, die nichts 12 1. Einleitung die Rede, sondern gleich von einer »Crisis of Our Civilization«16. In mehr als einem europäischen Land implodierten die Diskurse schließlich, wurden per Dekret von oben, mit den Mitteln der Gewalt und der Zensur, auf bestimmte, in ihrem Wahrheitsanspruch absolute Ideen eingegrenzt. Die Suche nach den Ursachen der Krise und des Niedergangs endete dann oft weniger bei vermeintlich harten wirtschaftlichen oder politischen Faktoren als bei Fragen des richtigen oder falschen Bewusstseins, das wahlweise als zu statisch oder zu dynamisch, als zu fortschrittlich oder zu reaktionär begriffen werden konnte. Krisen sind nicht nur auch, sondern vielleicht vor allem Wahrnehmungsphänomene.17 Was noch vor dem Ersten Weltkrieg von einer Mehrheit als feste, überzeitliche Position verstanden worden war, erwies sich häufig als temporärer Haltepunkt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Schritt für Schritt, wenigstens was die überlebenden und neu geschaffenen liberalen Demokratien anging, wieder ein relativ höheres Maß an diskursiver Stabilität erreicht, der Pluralismus als Grundlage marginalisierte diejenigen Subjekte, die eine absolute Wahrheit für sich in Anspruch nahmen. Genau das, was man cum grano salis als eine ideengeschichtliche Sonderstellung der Zwischenkriegszeit bezeichnen könnte, macht sie zu einem methodischen und theoretischen Experimentierfeld für die Ideengeschichte. Nicht nur »›Weimar‹ spielte uns in kurzer Zeit und in rasantem Tempo die faszinierenden und die fatalen Möglichkeiten unserer modernen Welt vor.«18 So kann ein in der Ideengeschichte trotz vielfältiger Bemühungen immer noch vorhandener Hang zur exklusiven Behandlung einer eng limitierten Anzahl von größeren Ideenkomplexen unterlaufen werden. Eine in dieser Weise angelegte Ideengeschichte darf sich nicht, wie lange Zeit üblich, auf die Ausnahmegestalten, die besonders originellen oder gar innovativen Denker beschränken. Die Frage, ob ein Denken als systematisch gelten kann, muss sie in ihrer Auswahl zunächst einmal ebenso wenig interessieren wie der realhistorische Einfluss. Sie sollte vielmehr nach den Durchschnittstypen suchen, nicht denen, die den Durchschnitt der gesamtgesellschaftlich vorhandenen Meinungen repräsentieren, sondern die in der Qualität ihrer Auffassungen und Deutungen die Widersprüche, Grenzen und Lücken spiegeln. Dieser Absicht entsprechend steht in der vorliegenden Studie eine Reihe deutscher, österreichischer und englischer Intellektueller im Zentrum, deren Denken zwecks einer vorläufigen Orientierung als »rechts« und »katholisch« etikettiert wird. Dabei geht es allerdings weder um eine Intellektuellengeschichte oder Sozialgeschichte der Intellektuellen noch im engeren Sinne um einen Beitrag zur Katholizismusforschung. Im Zentrum steht die Annahme, dass sich das Denken des Intellektuellen wie das aller anderen Menschen auch aus der doppelten Notwendigkeit der Weltbewältigung und der damit eng zusammenhängenden Bestimmung der eigenen Position in dieser Welt speist. Das bestimmende Merkmal des Intellektuellen ist die 16 17 18 gelernt und nur zu viel vergessen haben, auch schon der Wille regte, dieser Verfassung das Vertrauen des Volkes zu entziehen.« (S. 1). Hilaire Belloc, The Crisis of Our Civilization, London u.a. 1937. S. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 1997. Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik, S. 12. 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand 13 umfassende Bemühung um Publikation des eigenen Denkens, was für den Historiker die Möglichkeit der genauen Untersuchung historischer Varianten von Denkprozessen bietet. Der Katholizismus ist auch in diesem Sinne nicht der primäre Untersuchungsgegenstand, sondern wird methodisch als tertium comparationis verstanden, inhaltlich als wichtiges, aber nicht exklusives ordnendes Schema in diesen Prozessen beschrieben. Er kann schon deswegen nicht der alleinige Ausgangspunkt sein, weil nicht immer eindeutig zu bestimmen ist, ob die kritische Haltung zur Gegenwart der Zwischenkriegszeit ein Ergebnis katholischer Überzeugungen war, oder ob der Glaube als Reaktion auf ein tiefes Unbehagen an den Entwicklungen der Zeit entstand. Zudem ließen sich im Katholizismus nicht alle Antworten auf die Probleme der Zeit finden. Zunächst sind zwei Fragen zu beantworten. Warum gerade das Denken rechter katholischer Intellektueller? Warum überhaupt ein Vergleich, und dann gerade der Vergleich zwischen Deutschland und Österreich auf der einen, England auf der anderen Seite? Es scheint auf den ersten Blick nicht unbedingt naheliegend, das rechtskatholische Denken zu untersuchen, es ist weder in einer offenkundigen Weise stilbildend geworden, noch gilt es gemeinhin als besonders treffender Ausdruck seiner Zeit. Der Einfluss auf politische und wirtschaftliche Entwicklungen blieb, soweit sich dies überhaupt messen lässt, relativ gering. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte – was Großbritannien betrifft – der »intensity of antiCatholic prejudice« eine »insubstantiality of Catholic intellectual life«19 entsprochen. Zwar nahmen die Vorurteile in der Folgezeit ab, und es entwickelte sich ein, auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommenes, katholisch geprägtes intellektuelles Leben, angefacht von den Schriften des Konvertiten und späteren Kardinals John Henry Newman (1801-1890) und ab Ende des 19. Jahrhunderts bestimmt vor allem durch G.K. Chesterton (1874-1936) und Hilaire Belloc (1870-1953).20 Die Möglichkeiten politischer Einflussnahme blieben aber bedingt durch die schmale demographische Basis21 und das Mehrheitswahlrecht 19 20 21 Patrick Allitt, Catholic Converts. British and American Intellectuals Turn to Rome, Ithaca, London 1997, S. 42. Eine zeitgenössische Bestätigung dieser Sicht s. z.B. bei dem katholischen Journalisten Martin Turnell, »Our Debt to Chesterton«, in: Arena 2/1 (1937), S. 73-79. Die Bedeutung beider Autoren ist nach Turnell kaum zu überschätzen: »They accomplished two important things. They actually brought the existence of the Catholic Church to the notice of the man in the street. […] For Catholics themselves they performed a different, but not less important service. They began to write at a time when Catholicism, far from being the fashionable religion it has since become, was still regarded as a social stigma or a private mania. The fact that Catholicism was suddenly championed by two writers whose names were known all over England and whose works were on every stall freed the uneducated and half-educated Catholic from his ›inferiority complex‹ and gave him a ›superiority complex‹. In other words, Chesterton and Belloc put Catholicism on the map, brought it within the horizon of the ordinary man.« (S. 74) In der Zwischenkriegszeit wuchs die Zahl der Katholiken in England und Wales stetig von geschätzt 1.890.018 im Jahr 1918 auf 2.375.196 im Jahr 1939 und damit von etwa 5% auf fast 6% Anteil an der Gesamtbevölkerung. S. dazu Robert Currie; Alan D. Gilbert; Lee Horsley, Churches and Churchgoers. Patterns of Church Growth in the British Isles since 1700, Oxford 1977, Tabelle A5, S. 153, Fn. S. 153-155. 14 1. Einleitung beschränkt.22 Im politischen Spektrum Großbritanniens fehlten darüber hinaus die Anschlussmöglichkeiten. Die traditionelle Verbindung mit konservativen politischen Kräften war auf Grund des fortgesetzten antikatholischen Ressentiments der Tories schwierig, wenn auch nicht unmöglich, und auch ein Zusammengehen mit der in der Zwischenkriegszeit aufstrebenden Labour Party hätte nicht die Durchsetzung einer christlichen Politik erlaubt.23 So blieb es bei einzelnen katholischen Abgeordneten, die sich vor allem in den Reihen der Liberal Party fanden. Deren prominentester Vertreter vor dem Ersten Weltkrieg, Hilaire Belloc, zwischen 1906 und 1910 Abgeordneter für den Wahlkreis Salford South, ist gleichzeitig ein bezeichnendes Beispiel für die Schwierigkeiten katholischer Politik in England. Als »a man of principle who put the practice of his faith before his party loyalty«24 geriet Belloc von Anfang an in Konflikt mit seiner eigenen Partei. Andere mochten sich in die britische Politik einfügen, für Belloc war das Ergebnis seines vierjährigen Abstechers eine lebenslange, tiefe Abneigung gegen den Parlamentarismus seiner Zeit, der er in einem 1911 in Zusammenarbeit mit Cecil Chesterton, dem 1918 verstorbenen jüngeren Bruder Gilbert K. Chestertons, verfassten Buch polemischen Ausdruck verlieh: »The House of Commons has ceased to be an instrument of Government. Its ancient functions have been killed under the prolonged and continuous action of hypocrisy. It affords to-day […] no more than an opportunity for highly lucrative careers.«25 Diese Befunde spiegeln sich auch in der Forschung zum britischen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, die sich vor allem auf die Ideen- und Intellektuellengeschichte konzentriert hat. Besonders hervorgetan hat sich in diesem Bereich der amerikanische Historiker Jay P. Corrin, der in verschiedenen Schriften ein besonderes Augenmerk auf die Schriftsteller und Publizisten Gilbert K. Chesterton und Hilaire Belloc lenkte und in einer umfassenden Studie über das Verhältnis katholischer Intellektueller zur Demokratie den Eindruck einer geschlossenen antidemokratischen Front in der Zwischenkriegszeit zu korrigieren 22 23 24 25 Dem entspricht auch die weitgehende Abwesenheit Großbritanniens in der Forschung zum politischen Katholizismus. S. z.B. Michael P. Fogarty, Christliche Demokratie in Westeuropa 1820-1953, Freiburg u.a. 1959; Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1986; Wolfram Kaiser; Helmut Wohnout (Hgg.), Political Catholicism in Europe 1918-1945, London, New York 2004. Die Existenz einer englischen Variante des Sozialkatholizismus wurde hingegen früh auch schon im Ausland wahrgenommen. S. Karl Waninger, Der soziale Katholizismus in England, Apologetische Tagesfragen 14, München-Gladbach 1914. Versuche, die Politik der Tories zu beeinflussen, bezogen sich vor allem auf außenpolitische Fragen, wie sie beispielsweise im Rahmen der Zeitschrift English Review, die sich an konservative Gegner der Politik Stanley Baldwins richtete, vorkamen. Die English Review war zwar keine katholische Zeitschrift, hatte aber mit Douglas Jerrold einen katholischen Herausgeber. S. dazu auch den Hinweis bei Christina Bussfeld, »Democracy versus Dictatorship«: Die Herausforderung des Faschismus und Kommunismus in Großbritannien 1932-1937, Paderborn u.a. 2001, S. 32 und – allgemeiner – Bernhard Dietz, Neo-Tories. Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929-1939), Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 71, München 2012, S. 146-150. Joseph Pearce, Old Thunder. A Life of Hilaire Belloc, San Francisco 2002, S. 109. Hilaire Belloc; Cecil Chesterton, The Party System, London 1911, S. 185. 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand 15 versuchte.26 Eng verbunden damit ist die Frage der Konvertiten, die in Großbritannien vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine zunehmend bedeutsame Rolle unter den Intellektuellen spielten.27 Eine systematische Darstellung rechtskatholischer Ideen der Zwischenkriegszeit liegt dabei lediglich ansatzweise im Rahmen von Untersuchungen der Ideologie der britischen Rechten zwischen 1918 und 1939 vor.28 Die untergeordnete Rolle von Katholiken als politischen Akteuren wird hingegen in den Forschungen zu radikalen rechten politischen Bewegungen in Großbritannien deutlich.29 Typisch ist zudem das oftmals auch literaturwissenschaftlich geleitete Interesse an denjenigen Protagonisten des katholischen Intellektuellenmilieus, denen ein bedeutenderes literarisches Nachleben beschieden war.30 Zu nennen wären hier wiederum Gilbert K. Chesterton31, Evelyn Waugh32, Autor des mehrfach verfilmten Romans Brideshead Revisited, und in gewissem Maße auch Hilaire Belloc33. Ein gestalterischer Einfluss auf die Politik lässt sich am ehesten für Österreich belegen. Wie in anderen katholisch geprägten Ländern erlebten antikapitalistisch und antiliberal ausgerichtete ständestaatliche und korporative Modelle seit der Krise der späten 1920er Jahre durchaus eine Renaissance, aber auch hier »überlagerten die autoritären Implikationen der verhängnisvollen Übergangs- und Ver26 27 28 29 30 31 32 33 S. Jay P. Corrin, G. K. Chesterton & Hilaire Belloc. The Battle Against Modernity, Athens, London 1981; ders., Catholic Intellectuals and the Challenge of Democracy, Notre Dame/Indiana 2002. S. Patrick Allitt, Catholic Converts und Adam Schwartz, The Third Spring. G.K. Chesterton, Graham Greene, Christopher Dawson, and David Jones, Washington D.C. 2005. S. G.C. Webber, The Ideology of the British Right 1918-1939, London, Sydney 1986. Hierzu auch Alan Sykes, The Radical Right in Britain. Social Imperialism to the BNP, Basingstoke 2005, in zeitlich weiterer Perspektive, und Bernhard Dietz, »Gab es eine ›Konservative Revolution‹ in Großbritannien? Rechtsintellektuelle am Rande der Konservativen Partei 1929-1933«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 607-638, mit verkürztem Zeitraum. Beide Untersuchungen behandeln die katholische Rechte allerdings nur am Rande und nicht als eigenständige Richtung. S. Arnd Bauerkämper, Die »radikale Rechte« in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 93, Göttingen 1991. Für einen umfassenderen Blick auf die katholische Literatur in Großbritannien seit Mitte des 19. Jahrhunderts s. Ian Ker, The Catholic Revival in English Literature, 1845-1961. Newman, Hopkins, Belloc, Chesterton, Greene, Waugh, Notre Dame/Indiana 2003. Die früheste umfassende Biographie Chestertons: Maisie Ward, Gilbert Keith Chesterton, London 1944, und dies., Return to Chesterton, London 1952. Spätere Biographien: Dudley Barker, G.K. Chesterton. A Biography, London 1973; Michael Finch, G.K. Chesterton. A Biography, London 1986; Michael Coren, Gilbert. The Man Who Was G.K. Chesterton, London 1988; Joseph Pearce, Wisdom and Innocence. A Life of G.K. Chesterton, London u.a. 1996. Auch in jüngerer Zeit ist das Interesse nicht abgeflaut: Ian Ker, G.K. Chesterton. A Biography, Oxford 2011. Detailliertere Untersuchungen zu Chestertons Katholizismus und religiöser Entwicklung liefern David W. Fagerberg, The Size of Chesterton’s Catholicism, Notre Dame/Indiana u.a. 1998, und William Oddie, Chesterton and the Romance of Orthodoxy. The Making of GKC, 1874-1908, Oxford 2008. S. z.B. Selina Hastings, Evelyn Waugh. A Biography, London u.a. 1994; John H. Wilson, Evelyn Waugh. A Literary Biography, 2 Bde., Madison/Wisconsin 1996-2001. Eine intensive Beschäftigung mit Waughs politischem Denken leistet allerdings erst Douglas Lane Patey, The Life of Evelyn Waugh. A Critical Biography, Oxford u.a. 1998. Schon kurz nach Bellocs Tod 1953 erschien Robert Speaight, The Life of Hilaire Belloc, New York 1957 (auch London 1957). Anhaltendes Interesse zeigt sich bei A.N. Wilson, Hilaire Belloc, London 1984 und dem bereits zitierten Joseph Pearce, Old Thunder. 16 1. Einleitung fassungsgesetze den Korporatismus von unten fast gänzlich.«34 Der Versuch einer politischen und wirtschaftlichen Verwirklichung des Ständestaats blieb also Episode und wurde von einem mächtigeren und systematisch gewaltsam vorgehenden Gestaltungswillen, dem nationalsozialistischen, beendet. Für Deutschland liegt der Fall anders. Zwar war der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung hier wesentlich größer als in Großbritannien, dennoch blieben sie eine Minderheit. Hinzu kam, dass der Rückhalt der Zentrumspartei bei der katholischen Bevölkerung zunehmend bröckelte. Zum einen schien die weitgehende Gleichstellung der Katholiken in der Weimarer Republik die Notwendigkeit einer katholischen Partei in Frage zu stellen, zum anderen ließ der bei aller Reserviertheit schließlich doch republiktreue Kurs die Unterstützung abschmelzen. Im intensiv geführten »Verfassungsstreit« offenbarte sich überdies eine Uneinigkeit unter katholischen Politikern und Intellektuellen über die Staatsform, die Deutschland nach 1918/19 und darüber hinaus annehmen sollte.35 In Bayern ersetzte die Bayrische Volkspartei das Zentrum, konservativer gesinnte Katholiken wie der Historiker Martin Spahn fanden eine neue Vertretung im Reichskatholikenausschuss der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP), durch den wenigstens bis zum Regierungseintritt der DNVP 1925 das Wahlverhalten katholischer Wähler deutlich beeinflusst wurde.36 Das Zentrum konnte »in der Weimarer Republik eine wichtige Rolle spielen, aber diese machte einen ständigen politischen Kraftakt nötig, da sich die Partei weder auf eine eindeutige Mehrheit des katholischen Volksteils stützen, [sic] noch neue Kräfte dazu gewinnen konnte.«37 Tatsächlichen politischen Einfluss in der Weimarer Republik übte also nur das Zentrum aus, auch wenn es oft nicht mehr um die Umsetzung einer spezifisch katholischen Politik, sondern nur um die Vermittlung zwischen verschiedenen Kräften des politischen Spektrums ging.38 Die politische Pluralisierung ging einher mit einer bereits deutlich vor dem Ersten Weltkrieg einsetzenden »inneren Pluralisierung des katholischen Milieus und seiner gesellschaftlichen Positionierung«39, die sich über die Theologie hinaus aus der »Auseinandersetzung mit der modern gewordenen Welt«40 ergab. Weder die eher links noch die rechts oder konservativ ausgerichteten katholischen Gruppierungen und intellektuellen Strömungen konnten aber ihre Ideen in entscheidender Weise umsetzen. 34 35 36 37 38 39 40 Elke Seefried, Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933-1938, Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 147, Düsseldorf 2006, S. 39, s. auch S. 31-48. S. Stefan Gerber, »Der Verfassungsstreit im Katholizismus der Weimarer Republik. Zugänge und Untersuchungsfelder«, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 359-393. S. Larry Eugene Jones, »Catholics on the Right. The Reich Catholic Committee of the German National People’s Party 1920-1933«, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 221-267, hier S. 266. Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 221. Zur Entwicklung des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik s. z.B. Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, S. 217-247, und Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918-1945, Paderborn u.a. 1992, S. 86-118. Claus Arnold, »Katholische ›Gegenintellektuelle‹ und kirchlicher Antimodernismus vor 1914«, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klassischen Moderne, Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 66, München 2009, S. 21-38, hier S. 21. Thomas Ruster, Die verlorene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik, Paderborn u.a. 1994, S. 13. 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand 17 Aus dem mangelnden direkten Einfluss auf politische Entscheidungen lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres eine generelle Bedeutungslosigkeit ableiten. Gerade für Intellektuelle liegt, soweit sich nicht die Vermittlung von Ideen im direkten Austausch mit Entscheidungsträgern nachweisen lässt, die Wirkung ohnehin eher auf der Ebene des Diskurses. Mit ihren öffentlichen Einlassungen prägen sie in einem gewissen Maße Grenzen und Möglichkeiten und haben damit Anteil an der Formierung von Haltungen und Meinungen. In diesem Sinne hat Kurt Sontheimer die Vertreter des rechten antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik denn auch nicht mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt, sieht sie aber in der Rolle der geistigen Wegbereiter der Machtübernahme: »Das antidemokratische Denken hat […] nicht allein der Weimarer Demokratie geistig den Boden entzogen und die Selbstbehauptung dieser Demokratie erschwert, es hat einen Teil der Deutschen auch gefügig gemacht für den nationalsozialistischen Staat, nachdem viele schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik durch die Wirkung der antidemokratischen Ideen willig gemacht worden waren, Hitlers Partei zu wählen.«41 In ähnlicher Weise sind die Wirkungen rechter katholischer Diskurse in der Weimarer Republik eingeschätzt worden. Klaus Breuning zumindest versuchte in seiner umfassenden ideengeschichtlichen Studie zur Bedeutung des Reichsbegriffs für die Katholiken der Weimarer Republik, Die Vision des Reiches, nachzuweisen, dass die Theologisierung des Reichsgedankens »in den Jahren zwischen Demokratie und Diktatur […] als politische Theologie ungewollte Zubringerdienste für das Dritte Reich [leistete]. Darüber hinaus haben Umfang und Intensität der katholischen Reichsideologie vielen Zeitgenossen den Blick dafür getrübt, die achristliche Usurpation der Reichsidee in jenem Imperium Teutonicum aeternum rechtzeitig zu durchschauen«42. Erst spät hätten die Katholiken erkannt, dass ihre an mittelalterliche Formen angelehnte Vorstellung des Reiches mit dem Dritten Reich der Nationalsozialisten nicht gemeint gewesen war. Während die Frage, ob der Nationalsozialismus tatsächlich »achristlich« war, wie es Breuning erklärt, seit dem ersten Erscheinen der Studie im Jahr 1969 vielfältig diskutiert wurde,43 hat seine Bewertung des Einflusses rechten oder konservativen katholischen Denkens weitgehend Bestand. Sie bleibt aber ihrer Natur nach eine zwar wohlbegründete, jedoch an Hand der Quellen nur schwer verifizierbare Vermutung. Das liegt schon daran, dass nicht nur Katholiken und andere religiös denkende Menschen die Wucht, mit welcher der Nationalsozialismus 41 42 43 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Aufl., München 1994, S. 315. Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934), München 1969, S. 321 – s. dazu auch Gabriele Clemens, Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Reihe B: Forschungen 37, Mainz 1983, S. 101. Speziell auf den Katholizismus bezogen s. Derek Hastings, Catholicism and the Roots of Nazism. Religious Identity and National Socialism, Oxford u.a. 2010. In allgemeiner Hinsicht s. z.B. Richard Steigmann-Gall, The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity 1919-1945, Cambridge u.a. 2003; Ders., »The Nazi’s ›Positive Christianity‹: a Variety of ›Clerical Fascism‹?«, in: Totalitarian Movements and Political Religion 8 (2007), S. 315-327, und die intensive Auseinandersetzung mit Steigmann-Galls Thesen im Journal of Contemporary History 42,1 (2007). 18 1. Einleitung seinen Machtanspruch in Deutschland nach 1933 durchsetzte, unterschätzten. Der Anteil, den die Reichsideologie neben anderen Faktoren wie der Erfahrung wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit an der Zustimmung oder Mitläuferschaft weiter Teile der Bevölkerung hatte, lässt sich darüber hinaus kaum bestimmen. Im Unterschied zu der auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg institutionell kaum gebundenen intellektuellen Rechten bestand für den Katholizismus in der Bundesrepublik die Notwendigkeit historischer Klärung und schließlich kritischer Auseinandersetzung. Nicht nur aus akademischem Interesse verspürten auch Katholiken selbst das Bedürfnis, grundlegende Fragen des Verhältnisses von Katholizismus und Demokratie und das Verhalten der Kirche und einzelner Katholiken vor dem und während des Dritten Reiches zu untersuchen. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es vor allem Vertretern der Kirche selbst, das Bild einer eindeutigen Opposition zwischen Katholischer Kirche und nationalsozialistischem Regime zu verfestigen, und tatsächlich waren die Kirche im Ganzen und einige Geistliche im Besonderen hohem Druck und Verfolgung ausgeliefert gewesen, die katholischen Laienorganisationen waren aufgelöst worden.44 Seit den 1960er Jahren entwickelte sich die Forschung in zwei Richtungen. Einerseits wurde die Position der kirchlichen Autoren grundsätzlich bestätigt,45 andererseits finden sich – beginnend mit Ernst-Wolfgang Böckenfördes Aufsatz »Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933«46 – kritische Betrachtungen der Rolle der Katholischen Kirche, wie auch einzelner Geistlicher und katholischer Intellektueller.47 44 45 46 47 S. z.B. Johannes Neuhäusler, Kreuz und Hakenkreuz. Der Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und der kirchliche Widerstand, München 1946; Friedrich Muckermann, Der deutsche Weg. Aus der Widerstandsbewegung der deutschen Katholiken, Zürich 1946; Ferdinand Strobel, Christliche Bewährung. Dokumente des Widerstandes der katholischen Kirche 1933-1945, Olten 1946; Konrad Hofmann (Hg.), Schlaglichter. Belege und Bilder aus dem Kampf gegen die Kirche, Freiburg i. Br. 1947; Heinz Kühn, Blutzeugen des Bistums Berlin. Klausener, Lichtenberg, Lampert, Lorenz, Simoleit, Mandrella, Hirsch, Wachsmann, Metzger, Schäfer, Willimsky, Lenzel, Froehlich, Berlin 1952; Heinrich Portmann, Kardinal von Galen. Ein Gottesmann seiner Zeit, Münster 1953 und Walter Adolph, Im Schatten des Galgens. Zum Gedächtnis der Blutzeugen in der nationalsozialistischen Kirchenverfolgung, Berlin 1953. S. z.B. John Conway, The Nazi Persecution of the Churches, 1933-1945, London 1968; Ernst Christian Helmreich, The German Churches under Hitler. Background, Struggle, and Epilogue, Detroit 1979; Donald Dietrich, Catholic Citizens in the Third Reich. Psycho-social Principles and Moral Reasoning, New Brunswick/New Jersey 1988; Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918 bis 1945, hier bes. S. 214-230 zur Frage des Brückenbaus zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus und S. 342-361 zur Kirche im Nationalsozialismus; Gerhard Senninger, Glaubenszeugen oder Versager? Katholische Kirche und Nationalsozialismus, St. Ottilien 2003. S. Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung«, in: Hochland 53 (1960/61), S. 215-239. S. z.B. Georg Denzler, »Ein Gebetssturm für den Führer. Münchens Katholizismus und der Nationalsozialismus«, in: Björn Mensing; Friedrich Prinz (Hg.), Irrlicht im leuchtenden München? Der Nationalsozialismus in der »Hauptstadt der Bewegung«, Regensburg 1991; ders., Widerstand ist nicht das richtige Wort. Katholische Priester, Bischöfe und Theologen im Dritten Reich, Zürich 2003; Richard Faber, »Politischer Katholizismus. Die Bewegung von Maria Laach«, in: Hubert Cancik (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 136-158; Manfred Gailus, Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im »Dritten Reich«, Göttingen 2008; Kevin P. Spicer, Hitler’s Priests. Catholic Clergy and National Socialism, DeKalb/ Illinois 2008 und Thomas Forstner, »Braune Priester – Katholische Geistliche im Spannungsfeld 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand 19 Neben der politik- und sozialgeschichtlichen Erforschung des Katholizismus in der Weimarer Republik und theologiegeschichtlichen Studien wie Thomas Rusters Werk zu Katholizismus und Moderne48 oder Rudolf Uertz’ bahnbrechender Untersuchung des katholischen Staatsdenkens in Deutschland von der Französischen Revolution 1789 bis zum II. Vatikanischen Konzil 196549 ist die Frage des Verhältnisses von Katholizismus und Nationalsozialismus der rote Faden der Forschung geblieben. Für die hier vor allem relevante Ideengeschichte, repräsentiert durch eine Auswahl katholischer Intellektueller, ist es bislang nur Elke Seefried gelungen, die Konzentration auf den Nationalsozialismus aufzubrechen, indem sie in der Analyse des katholischen Exils in Österreich die Eigenständigkeit rechten katholischen Denkens belegt.50 Während die Auseinandersetzung über die nationalsozialistische Verstrickung verständlich ist und notwendig bleibt, kann die ideengeschichtliche Forschung bei der Perspektive, die im Rückblick alles im Nationalsozialismus münden lässt, nicht stehen bleiben. Die Bedeutung der hier untersuchten Intellektuellen lässt sich also – wie freilich so oft – nicht mit einer simplen Kausalität von Ursache und Wirkung beschreiben, sondern nur in einem größeren ideengeschichtlichen Zusammenhang. Das gilt für den englischen Fall besonders, weil er sich nicht einmal im Hinblick auf das Ergebnis einer Diktatur von rechts betrachten lässt, der die katholischen Intellektuellen den Weg bereitet hätten. Ein erster Blick erfüllt die Erwartungen: Sie erscheinen wie die noch kurz vor der Niederlage an die Möglichkeit des Sieges glaubende Nachhut eines lange dominanten, seit geraumer Zeit aber bereits auf dem Rückzug befindlichen religiösen, hier spezifisch katholischen Ordnungsverständnisses. Das hieße, ihr Denken ist vor allem deswegen antimodern, weil es vormodern ist, wozu auch die ständige und fast obsessive Heranziehung des Mittelalters als Vorbild, Sehnsuchtsort und rückwärtsgewandte Utopie passen würde. Ihr Denken wäre dann geprägt vom Absolutheitsanspruch des religiösen Fanatikers, der die Welt dem Bild, das seine Religion von ihr zeichnet, angleichen will, oder, psychologisierend interpretiert, von einer Nostalgie, die von der Welt von gestern oder gar vorgestern träumt. In jedem Fall aber handelte es sich, legt man den Modernebegriff der klassischen Modernisierungstheoretiker zu Grunde, um die letzten Vertreter einer aussterbenden Art.51 In einer ideengeschichtlichen Chronologie stünden die rechten katholischen Intellektuellen dann am Ende einer Linie, die von dem Bemühen, die Säkularisierung aufzuhalten, bis zu dem 48 49 50 51 von Katholizismus und Nationalsozialismus«, in: Manfred Gailus (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933-1945, Göttingen 2015, S. 113-139. S. Thomas Ruster, Die verlorene Nützlichkeit der Religion. S. Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789-1965), Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 25, Paderborn u.a. 2005. S. Elke Seefried, Reich und Stände. Zum Modernebegriff und Modernisierungstheorien s. Paul Nolte, »Modernisierungstheorien«, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 218-222 und Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, hier bes. S. 81-92. 20 1. Einleitung »utopische[n] Versuch, diese säkulare Welt des 20. Jahrhunderts erneut in einen imaginären sakralen Raum einzufangen«52, reichte. So richtig diese Einschätzung in Bezug auf die Reichsidee der deutschen und österreichischen Rechtskatholiken ist, so sehr greift sie zu kurz, wenn man eine umfassendere Perspektive einnimmt. Dies wird gerade dann deutlich, wenn auch rechtes katholisches Denken außerhalb des deutschen Sprachraums in den Blick genommen wird. Die Moderne beginnt mit dem Versuch, eine Wahrheit durch eine neue zu ersetzen, in ihrem Verlauf aber tendiert sie dazu, zunächst die Möglichkeit, die Wahrheit zu finden, und schließlich die Existenz einer Wahrheit selbst immer mehr in Zweifel zu ziehen. Ob man den resultierenden Zustand als Postmoderne bezeichnet oder als logische Konsequenz aus bestimmten Grundpositionen der Moderne versteht, spielt dann keine Rolle, wenn die Moderne nicht als Komplex bestimmter, als modern gesetzter Ideen definiert wird, sondern als Phase des permanenten Konflikts zwischen verschiedenen Wahrheitsansprüchen. Hier aber reiht sich – so die erste These – das rechte katholische Denken nahtlos ein, ja es ist in seiner antipluralistischen Haltung besonders repräsentativ für die Zwischenkriegszeit als Höhepunkt der Auseinandersetzung verschiedener, jeweils absolut gesetzter Systeme der Weltdeutung. Gleichzeitig aber – so die zweite These – können sich die katholischen Intellektuellen, weder inhaltlich noch bezüglich ihrer Argumentationsmuster, den dominanten Denkformationen ihrer Zeit entziehen. Paradox könnte man sagen, dass sie in ihrem Denken ihrer Gegenwart oft näher sind, als sie selbst wahrnehmen wollen oder können. Zwar sind der Anspruch und die Zielsetzung religiös; die Versuche, ein hohes Maß an denkerischer Reinheit durch die gläubige Setzung eines obersten Prinzips zu erreichen, scheitern aber regelmäßig. In unterschiedlichem Maß verlassen sie immer wieder die Sphäre der Religion, denken dann nicht mehr theologisch oder entlang der Pfade der katholischen Soziallehre, sondern greifen in ihren Begründungs- und Legitimationsstrategien auf die Logiken historischen, wirtschaftlichen oder politischen Denkens zurück. Sie bewegen sich an den Schnittstellen der Rationale verschiedener gesellschaftlicher Funktionssphären und loten dabei im Grunde Verhältnisse aus, die bis heute nicht hinreichend geklärt sind. Fragen der politischen Religion53, der Politisie52 53 Klaus Breuning, Die Vision des Reiches, S. 320. In der Forschung der letzten Jahre hat die Idee der »politischen Religion«, die bereits in den 1930er Jahren im Angesicht von Nationalsozialismus und Bolschewismus Konjunktur hatte, eine Renaissance erlebt. Die neuere Forschung bezieht sich in der Herleitung des Begriffs vor allem auf Eric Voegelin (s. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, hg. und mit einem Nachw. vers. von Peter J. Opitz, 3. Aufl., München 2007 [EA 1938]), hat aber auch Begriffe wie »säkulare Religion«, »Ersatzreligion« usw. verwendet. S. z.B. Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, 3 Bde., Paderborn u.a. 1996-2003; Ders., Das Doppelgesicht des Religiösen. Religion – Gewalt – Politik, Freiburg i.Br. 2004; Michael Burleigh, Irdische Mächte, göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008, und Evelyn Völkel, Der totalitäre Staat – das Produkt einer säkularen Religion? Die frühen Schriften von Frederick A. Voigt, Eric Voegelin sowie Raymond Aron und die totalitäre Wirklichkeit im Dritten Reich, Extremismus und Demokratie 18, Baden-Baden 2009. Seit 2000 gibt Michael Burleigh zudem die Zeitschrift Totalitarian Movements and Political Religions (seit 2011 Politics, Religion & Ideology) heraus. 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand 21 rung von Religionen54, oder umgekehrt der »Re-Theologisierung der Politik«55, einer Ökonomisierung der Politik oder auch der Wirtschaft als Religion56 kommen bei den behandelten Intellektuellen in unterschiedlicher Intensität zur Sprache und werden aktuell ebenso diskutiert wie eine Rückkehr der Religionen57: »The twilight of the idols has been postponed.«58 Die Erkenntnis, dass dabei ein synkretistisches Konglomerat von Ideen entsteht, die oft nicht in ein widerspruchsfreies Verhältnis gebracht werden, darf aber nicht als Ideologiekritik oder Vorwurf verstanden werden. Die Qualität eines Weltverständnisses lässt sich eben nur an Axiomen und Rationalen messen, deren Setzung hier nicht als Aufgabe verstanden wird. So erklärt sich aus Sicht einer auch theoretisch fundierten Ideengeschichte die Auswahl des Zeitraums durch die hohe Volatilität des Denkens, die Wahl der Akteure in ihrer Funktion als bewusste oder unbewusste Grenzgänger zwischen religiösem, politischem und wirtschaftlichem Denken, zwischen Vorstellungen von Dynamik und Statik, deren Deutungen und Pläne keineswegs immer als vorgestrig erscheinen. Ein deutlicheres Bild dieser Entwicklungen lässt sich allerdings nur mit Hilfe des Vergleichs zeichnen. Auf diesem Weg lässt sich – so die dritte These – die für Deutschland in der Forschung eindeutige Fixierung auf den Nationalsozialismus aufbrechen. Darüber hinaus hilft gerade ein Vergleich, der als tertium comparationis ein im Gegensatz zu politischen und kulturellen Strömungen relativ fest gefügtes und institutionell gebundenes Ideensystem wie den Katholizismus wählt, bestimmte nationale Eigenheiten herauszuarbeiten. Umso erstaunlicher ist es, dass die Zahl der vergleichenden Studien in der Erforschung des politischen Katholizismus bislang so gering geblieben ist. So verweist Martin Conway auf die »impressive number of studies of Catholic political movements 54 55 56 57 58 Heiner Bielefeldt; Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt a.M. 1998. Rudolf Burger, »Re-Theologisierung der Politik?«, in: Ders., Re-Theologisierung der Politik? Wertedebatten und Mahnreden, Springe 2005, S. 69-98. S. hierzu z.B. Robert H. Nelson, Economics as Religion. From Samuelson to Chicago and Beyond, University Park/Pennsylvania 2001, oder neuerdings Tomas Sedlacek, Economics of Good and Evil. The Quest for Economic Meaning from Gilgamesh to Wall Street, Oxford 2011, und Jochen Hörisch, Man muss dran glauben. Die Theologie der Märkte, Paderborn 2013. Zum Thema der Rückkehr der Religionen hat sich in den letzten Jahren eine breite Literatur entwickelt, die unter anderem das Säkularisierungspostulat der Modernisierungstheorie in Zweifel gezogen hat. S. dazu z.B. Peter Berger (Hg.), The Desecularization of the World, Washington 1999; Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, 2. Aufl., München 2001; Ders., Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, hier bes. S. 237-258; Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, und Jürgen Habermas, »Religion in der Öffentlichkeit der ›postsäkularen‹ Gesellschaft«, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, S. 308-327. Eine Verteidigung der Säkularisierungsthese versuchen Pippa Norris; Ronald Inglehart, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge Studies in Social Theory, Religion, and Politics, Cambridge 2004, hier bes. S. 215-242. Zu einem erneuerten Interesse der Geschichtswissenschaft und der Sozialwissenschaften an der Religion s. den detaillierten Überblick von Anthony J. Steinhoff, der den Beginn einer Konjunktur in den späten 1970er Jahren konstatiert. S. Anthony J. Steinhoff »Religion and Modern Europe. New Perspectives and Prospects«, in: Neue Politische Literatur 53 (2008), S. 225-267, hier bes. S. 225. Mark Lilla, The Stillborn God. Religion, Politics, and the Modern West, New York 2008, S. 3. 22 1. Einleitung of the inter-war years«, bemerkt aber gleichzeitig, »that they have often been reluctant to reflect on the broader significance of their subject matter. Written within national historiographical traditions, they have understandably tended to emphasize national specificities at the expense of the broader trends shaping Europe.«59 Für den Spezialfall der Ideengeschichte gilt dies genauso, wobei die Frage bleibt, wie nationale Eigenheiten ohne den direkten Vergleich überhaupt herauszuarbeiten waren. Während die Wahl Deutschlands als Fallbeispiel nicht erklärungsbedürftig erscheint und Österreich wegen der engen Verbindungen und des im Grunde gemeinsamen Diskurses der Katholiken beider Länder und des Exils einiger deutscher Intellektueller in Österreich nach 1933 eine Rolle spielen muss, ist die Wahl Großbritanniens auf den ersten Blick einigermaßen kurios. Bis zum Gesetz der Katholikenemanzipation 1829 und der Wiedererrichtung der katholischen Hierarchie durch Pius IX. im Jahr 1850 war die kleine katholische Gemeinde Großbritanniens eher von Rom abgewandt und trat im öffentlichen Leben kaum auf. Vor diesem Hintergrund bedarf schon die Entwicklung einer umfänglichen katholischen Publizistik, die in der Zwischenkriegszeit ihren Höhepunkt erreichte, einer Erklärung. Darüber hinaus aber ist die Ausrichtung dieser Publizistik erstaunlich, die sich unter den Bedingungen einer noch relativ stabilen Demokratie eben nicht vornehmlich mit den typischen Fragen der katholischen Diaspora auseinandersetzte, sondern für sich beanspruchte, eine radikale politische und wirtschaftliche Systemkritik zu üben und diese mit eigenen, weitreichenden Vorschlägen zur Veränderung zu verbinden. Eine mögliche Erklärung für die Angriffslust und das Selbstbewusstsein im Vortrag der eigenen Positionen ist die Erfahrung der Konversion, die viele der katholischen Intellektuellen teilten: Sie waren katholisch nicht aus Tradition, sondern aus Überzeugung. Sie hatten ihre Stellung innerhalb der britischen Gesellschaft selbst gewählt. Gleichzeitig führte dieser gemeinsame Hintergrund aber auch zu einer in kaum einem anderen europäischen Land zu beobachtenden Geschlossenheit – bei allen dennoch vorhandenen Unterschieden in der Bewertung der Situation, der Intensität der Ablehnung des Systems und der Radikalität der Alternativen. Diese Merkmale – Diaspora in relativer Stabilität, Begrenztheit der Gruppe, Konversion und relative Geschlossenheit – erlauben zum einen ein ideengeschichtliches Experiment, dessen Bedingungen im zweiten Teil der Einleitung beschrieben werden, zum anderen versprechen sie interessante Ergebnisse im Vergleich mit den deutschsprachigen Katholiken. Beide Strömungen bleiben überschaubar, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, werden aber beeinflusst durch unterschiedliche historische Situationen und entwickeln ihr Denken trotz der katholischen Gemeinsamkeit aus unterschiedlichen Denktraditionen. Dass für die katholischen Intellektuellen Großbritanniens am Ende kein autoritäres Regime steht und keine Besatzungserfahrung, ist zudem von Vorteil für die Offenheit des historiographischen Blicks. 59 Martin Conway, »Catholic Politics or Christian Democracy? The Evolution of Inter-war Political Catholicism«, in: Wolfram Kaiser; Helmut Wohnout (Hgg.), Political Catholicism in Europe 191845, S. 235-251, hier S. 235. 1.1 Gegenstand, Quellen und Forschungsstand 23 Den ersten Teil der Einleitung abschließend werden im Folgenden die drei zentralen Begriffe – »Intellektuelle«, »katholisch« und »rechts« – definiert, die Quellenlage erläutert und diejenige Gruppe von Intellektuellen umrissen, deren Äußerungen als typische Beispiele für das rechte katholische Denken der Zwischenkriegszeit identifiziert wurden. Die Klassifizierung der behandelten Katholiken als »Intellektuelle« mag zunächst problematisch scheinen, war der Begriff doch lange vor allem politisch links konnotiert. Schon seine Entstehung im Rahmen der sogenannten DreyfusAffäre Ende des 19. Jahrhunderts, als die Verteidiger des zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmannes Alfred Dreyfus von ihren Gegnern als »intellectuels« verunglimpft wurden und den Begriff später als Eigenbezeichnung übernahmen, zeigt einen progressiven oder linken Hintergrund. Dementsprechend ist seitdem »der Antiintellektualismus ein Lieblingsthema der rechten Intellektuellen«60, wie Michel Winock ironisch feststellt. So wurde immer wieder die Bezeichnung Intellektuelle für rechte, konservative oder katholische Denker und Schriftsteller abgelehnt.61 Ebenso gab und gibt es, wie Stefan Collini in seiner Geschichte der englischen Intellektuellen im 20. Jahrhunderts beschreibt, auch eine spezifisch englische Abneigung gegen den Begriff: »Perhaps the most common assumption about any book announcing ›intellectuals in Britain‹ as its theme is that it will be short.«62 Solche kulturellen oder politischen Zuschreibungen, wie sie Collini aufzeigt, müssen allerdings der wissenschaftlichen Verwendung des Begriffs nicht entgegenstehen. Die Rolle des Intellektuellen besteht nach seiner pragmatischen Definition in der Überschneidung von vier Elementen: akademische oder kulturelle Leistungen; der Zugang zu Medien, die eine weitere Öffentlichkeit erreichen als die ursprüngliche Tätigkeit; Beschäftigung mit Themen, die das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit erreichen, und die Erlangung der Reputation, wichtige und interessante Beiträge liefern zu können.63 In diesem Sinn können die hier behandelten Akademiker, Schriftsteller und Publizisten als Intellektuelle verstanden werden, auch wenn ihre Äußerungen manchmal nur eine katholische Teilöffentlichkeit erreicht haben mögen und der Erfolg ihrer Bemühungen sich in Grenzen hielt. Mitunter wählten sie, gegen die von Winock beschriebenen Gewohnheiten rechter und konservativer Kreise, den Begriff des Intellektuellen 60 61 62 63 Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003, S. 37. Allgemein zur Entstehung des Begriffs s. ebd., S. 26-37, und Stefan Collini, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006, S. 15-44. Darauf verweist zum Beispiel Ulrich Bröckling, Katholische Intellektuelle in der Weimarer Republik. Zeitkritik und Gesellschaftstheorie bei Walter Dirks, Romano Guardini, Carl Schmitt, Ernst Michel und Heinrich Mertens, München 1993, S. 7. S. auch Patrick Allitt, Catholic Converts, S. 1. Stefan Collini, Absent Minds, S. 1. Ebd., S. 52. Wegen ihrer Bedeutung sei hier noch einmal der genaue Wortlaut der Definition wiedergegeben: »The role of the intellectual, one could say, always involves the intersection of four elements or dimensions: 1. The attainment of a level of achievement in an activity which is esteemed for the non-instrumental, creative, analytical, or scholarly capacities it involves; 2. The availability of media or channels of expression which reach publics other than that at which the initial ›qualifying‹ activity itself is aimed; 3. The expression of views, themes, or topics which successfully articulate or engage with some of the general concerns of those publics; 4. The establishment of a reputation for being likely to have important and interesting things of this type to say and for having the willingness and capacities to say them effectively through the appropriate media.«