Philosophische Erkenntnisstrategien, in: A. Dunshirn, E. Nemeth, G
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Philosophische Erkenntnisstrategien, in: A. Dunshirn, E. Nemeth, G
PHILOSOPHISCHE ERKENNTNISSTRATEGIEN Markus Arnold 1. Eine kurze Geschichte philosophischer Wahrheitssuche Einst empfahl Seneca jenen, die ihr Leben der Philosophie widmen wollten, sich ihrer eigenen Vernunft zuzuwenden. Dort fanden sie die Antworten auf ihre Fragen, denn in der Philosophie ginge es darum: Die Vernunft (Ratio) stelle Fragen, durch die Sinnesempfindungen angeregt, und indem sie von da einen Ausgangspunkt gewinnt [.„], kehre sie in sich selbst zurück (in se revertatur). (De vita beata, VIII, 4-6) Auch im Mittelalter hieß es in einem der damals meistgelesenen Werke, der Consolatio philosophiae des Boethius: Wer nach Wahrheit trachtet mit tiefgründigem Geist und sich nicht täuschen lassen möchte durch Irrweg, der muß ins eigene Innte tief hineinleuchten, sein weitgespanntes Streben muß er eindämmen und lehren seine Seele: was sie erstrebt draußen, daß dies versteckt ihr eignes Innres bereits besitzt. (Animumque doceat, quidquid extra molitur Suis retrusum possidere thesauris.) (Philosophiae Consolatio III, 180-183.) Und obwohl Immanuel Kant mit seiner transzendentalen Methode die Philosophie methodisch auf eine neue Grundlage stellt, findet man dennoch bei ihm ähnliche Formulierungen: Man solle selbst denken, das heißt, [„.] den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. (Kant 1786, Anm„ A 329) Aber es ließe sich auch Johann Gottlieb Fichte nennen, der seine Hörer aufforderte: Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgibt, ab, und in dein Inneres ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut. (Fichte 1797, 422) 86 MARKUS ARNOLD Das Interessante an diesen Zitaten ist, dass obwohl Seneca, Boethius, Kant und Fichte unterschiedliche philosophische Theorien entwickelt haben, es dessen ungeachtet ein gemeinsam geteiltes Grundverständnis gibt, wie Philosophen bei der Wahrheitssuche methodisch vorgehen sollten: Sollte man auch bei seinen Untersuchungen von der Wahrnehmung der äußeren Welt ausgehen, für die klassische Philosophie liegt (im Unterschied zu den empirischen Wissenschaften der Neuzeit) der „Probierstein der Wahrheit" nicht in der äußeren Welt, sondern im eigenen Inneren - sei es im vernünftigen Teil der Seele oder in einer anderen Form innerer Gewissheit. Denn trotz aller Gemeinsamkeiten stimmen die verschiedenen philosophischen Schulen nur teilweise überein, welcher Art dieser innere Probierstein der Wahrheit ist. 1 Die Methode, die historisch als Pate hinter dem Topos der „inneren Wahrheit" steht, ist das in Platons Schritten dargestellte Sokratische Gespräch. In ihm wurden jene erkenntnistheoretischen Normen und methodischen Regeln paradigmatisch vorexerziert, wie sie noch heute zu einem großen Teil die Praxis in den philosophischen Seminaren bestimmen: ( 1) Den Beweis der Wahrheit soll man nach diesem Methodenideal in der Zustimmung des Gesprächspartners finden, der mit seinem zustimmenden „Ja, Sokrates", kundtut, dass er ein Argument nach reiflicher Überlegung für wahr hält, da es ihm als gewiss erscheint. Falls man diesen Gewissheiten jedoch folgt und am Ende zu einer Conclusio kommt, die so absurd ist, dass ihr niemand zustimmen kann, muss die Untersuchung neu begonnen werden. (2) Damit bekommt die Erkenntnis aber jenen eigentümlichen Charakter, den Platon mit dem Erkenntnismodell der „Wiedererinnerung" (anamnesis) zu fassen versucht: Erkennen ist hier grundsätzlich kein Neuerwerb eines bis dahin unbekannten Wissens, sondern die Aktualisierung von einem latenten Wissen, das nur durch gründliches Nachfragen und Nachdenken erneut mobilisiert werden kann. (3) Für Irrtümer wäre daher eine äußere Verwirrung der Seele verantwortlich. Ist die Seele erst wieder „geordnet" bzw. „gereinigt" und von ihrer „Verunstaltung" geheilt, sollte sie ohne Mühe erkennen, was gerecht und was ungerecht, was wahr und was falsch ist (Politeia 6llb-e; vgl. Hadot 1991). (4) Indem man bei dieser Art der Wahrheitssuche letztlich auf die Gewissheiten der Vernunft verwiesen wird, kann die sinnliche Erfahrung gewissermaßen nur dienend sein, ein bloßes Erinnerungsmittel, das weder die ~elle der Erkenntnis ist, noch der objektive Richter über die Wahrheit von Aussagen. Neben dem Austausch und Prüfen von Argumenten ist kein empirisches experimentum crucis vorgesehen, so wie es Francis Bacon für die Wissenschaften verlangte (Bacon 1620, II, Aph. 36). (5) D. h. aber auch, dass nicht das Labor oder eine empirische Feldforschung der geeignete Ort für eine philosophische Wahrheitssuche ist, sondern allein das gemeinsame Gespräch, um in diesem systematisch die Gewissheiten mehrerer „Seelen" für die Wahrheitssuche zu mobilisieren. Ohne dieses Erkenntnismodell wäre weder das philosophische Seminar noch der Schreibtisch des Philosophen ein legitimer Ort der akademischen Forschung und der Wahrheitssuche. Dieses Erkenntnismodell und Methodenideal entwickelt eine eigene Metaphorik des Erkennens und des Wissens, die später in Konflikt mit jener der neuzeitlichen Wissenschaften kommen 87 MARKUS ARNOLD werden: Aristoteles spricht etwa davon, dass es darum gehe, vom for uns Gewissen zum an sich Gewissen vorzustoßen 2, wobei das an sich Gewisse die „durch sich selbst glaubhaften (auten kath' heauten einai pisten)" Prämissen der Wissenschaft seien (Topik 100b21; vgl. Anal. pr. 24a2224b 15); Platon stellt dieses Erkenntnismodell gleichnishaft dar, wenn er im Höhlengleichnis den Erkenntnisprozess als Abwendung von den Schattenbildern an der Wand und als Hinwendung zum Licht, das hinter dem Rücken der in der Höhle gefesselten Menschen liege. Ziel sei es, sich daraufhin von seinen Fesseln zu befreien und den Weg aus der Dunkelheit der Höhle ans Licht zu finden; denn diese Art der Erkenntnis verlange vom Einzelnen eine „Umkehrung (metastrophe)" der Seele (Politeia 514a-519b). Aber auch das gleichnishafte Bild einer vorgeburtlichen Ideenschau, an die wir uns aufgrund unserer Geburt in einem unvollkommenen Körper nur schemenhaft erinnern, versucht dieses Erkenntnismodell und dessen Methoden zu legitimieren, indem die schemenhafte Erinnerung an jene Ideen die für die Philosophie so zentrale Liebe zur Weisheit überhaupt erst in der Seele des Menschen anfachen soll (Phaidros 246a-250b). Indem es um die Wiedererinnerung von einem Wissen geht, das man beinahe schon völlig vergessen hat, aber als Wissen immer noch Teil der eigenen Vernunft ist, verbindet sich die Forderung, als Philosoph nach der Wahrheit zu suchen, bei Platon zwanglos mit der Forderung des „Erkenne-dich-selbst (gnöthi seauton)". 3 Denn dies heißt für Platon eben auch: Erkennen, was einem als Wissen schon gegeben ist, und sei dieses Wissen auch noch so schemenhaft. Theoretisch gerechtfertigt wurde dieses Vertrauen in die vorreßexiven Gewissheiten der Vernunft im Laufe der Geschichte auch mit Zuhilfenahme schöpfungstheologischer Annahmen: Bereits Platon rechtfertigt die methodische Wendung zu dem, was einem gewiss erscheint, mit dem Argument, dass die menschliche Seele bzw. dessen „vernünftiger" Teil prinzipiell dem Wahren „verwandt" sei, da der Demiurg die Welt mit der Vernunft bzw. einer Seele, der Weltseele, geordnet habe (Timaios 90a). 4 In der christlichen Tradition wird seit Augustinus die Annahme einer ordnenden Weltseele durch die Annahme eines Schöpfergottes ersetzt und die Ähnlichkeit der menschlichen Vernunft mit der gesuchten Wahrheit durch die biblisch beglaubigte Vorstellung des Menschen als einer Imago Dei, als ein Abbild Gottes, begründet (Genesis I, 26-27). Die menschliche Seele, da sie ein Abbild Gottes ist, könne in ihrer Vernunft auch einen Teil der Vernunft Gottes finden, mit der dieser die Welt erschaffen und geordnet hat. Sogar Rene Descartes greift noch auf dieses Erkenntnismodell zurück, wenn er argumentiert: Es ist [„.] einzig und allein daher, daß Gott mich geschaffen hat, [„.] ganz glaubhaft, daß ich gewissermaßen nach seinem Bilde und seinem Gleichnis geschaffen bin (ad imaginem et similitudinem eiusJactum esse) und daß dieses Gleichnis - in dem die Idee Gottes steckt - von mir durch dieselbe Fähigkeit erfaßt wird, durch die ich mich selbst erfasse. Das heißt: indem ich mein Augenmerk auf mich selbst richte (dum in meipsum mentis aciem converto), sehe ich nicht nur ein, daß ich ein unvollständiges, von einem anderen abhängendes Wesen bin, [„.], sondern zugleich auch, daß der, von dem ich abhänge, dieses Größere [„.] wirklich unendlich in sich befaßt - und also Gott ist. (Meditationes III, Abs. 38, Hervorh. v. Verf.) Eine innere Gewissheit, die er an anderer Stelle auch als das uns von Gott gegebene und unsere Vernunft erleuchtende lumen naturale bezeichnet. 5 Doch spätestens mit dem Übergang in die Modeme wird die Philosophie lernen, bei der Begründung ihrer Erkenntnisstrategie auf solche schöpfungstheoretischen Annahmen zu verzichten. 88 MARKUS ARNOLD 2. Die drei Versprechen der philosophischen Methode Aber auch wenn sich die theoretische Begründung dieser Forschungspraxis im Laufe der Zeit geändert hat, so ist die ihr zugrundeliegende Praxis selbst erstaunlich dauerhaft: Dieser Praxis folgt zum Beispiel Aristoteles, wenn er seine Untersuchungen von den „glaubhaften Meinungen (endoxa)" ausgehen lässt, d. h. von jenen Meinungen, die „allen, den meisten oder zumindest den Weisesten" als wahr erscheinen (Topik 100b21-23; 104a8-12), um auf ihnen aufbauend den Weg zu den an sich gewissen Axiomen zu finden, die der Vernunft unmittelbar einleuchten sollen. 6 Aber auch Augustinus folgt dieser Erkenntnisstrategie, wenn er auf die Stimme des „inneren Lehrers (intus magister)" lauscht (den er mit Christus identifiziert), ob dieser einem Argument zustimmt oder nicht (De magistro 12, 40); literarisch von ihm in den Confessiones dramatisiert, wenn er dort die Wahrheitssuche als einen leidenschaftlichen Dialog mit Gott inszeniert, dessen Stimme er in sich sucht. Ebenso folgt ihr Descartes, wenn er von seinem Zweifel ausgeht, um dann in sich das cogito zu finden, aus dem er nicht nur seine eigene Existenz, sondern letztlich die Existenz Gottes ableitet (Meditationes III, Abs. 38). Erhalten hat sich diese Praxis auch im philosophischen Seminar, wenn Lehrende Argumente analysieren und zusammen mit ihren Studierenden auf ihren Gehalt untersuchen, indem sie diese fragen, ob sie ein Argument überzeugend finden oder nicht - und dabei vielleicht ein oder zwei (anekdotische) Beispiele aus der Alltagserfahrung heranziehen, um die Plausibilität einer These zu belegen.7 Fragt man nun nach dem Grund für die Dauerhaftigkeit dieser Praxis, kurz: nach dem Verführerischen dieses Erkenntnismodells, dann lassen sich historisch vor allem drei Gründe identifizieren, die das Selbstverständnis der Philosophie als Erkenntnispraxis geleitet haben und immer noch in weiten Teilen leiten. Man könnte sie als die drei Versprechen der philosophischen Methode bezeichnen: (1) Das Versprechen der Universalitiit: Die Erkenntnisstrategie, die Wahrheitsansprüche an der inneren Gewissheit auszurichten, verheißt der Philosophie als Ergebnis eine universelle Wahrheit, die im Prinzip allen Menschen zugänglich wäre, von allen aufgrund ihres eigenen Urteilsvermögens bestätigt werden kann. (2) Das Versprechen der Autonomie: An diese Erkenntnisstrategie knüpft sich auch das Versprechen innerer Autonomie: Es wäre ein den Menschen von äußeren Zwängen und Autoritäten befreiendes Wissen. Ohne Experten und ohne äußere Hilfsmittel könnte man Aussagen mithilfe eines inneren Maßstabs als wahr oder als falsch beurteilen. Jeder Einzelne hätte die Möglichkeit, die Wahrheit eigenständig auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und müsste dieser nicht bloß aufgrund des Vertrauens in die Weisheit anderer Menschen zustimmen. Die philosophische Erkenntnis wäre nicht eine Angelegenheit von wenigen Experten, sondern - zumindest im Prinzip - allen Menschen zugänglich. Eben jene Art des Wissens, die Kant als Aufklärung bezeichnet. (3) Das Versprechen der Relevanz: Da das gesuchte Wissen im Inneren der menschlichen Vernunft sei, erwartete man dort ein in besonderem Maße für den Menschen relevantes Wissen zu finden, eine Art Orientierungswissen, das einem nicht nur beim Erkennen des Wahren behilflich sei, sondern auch Richtschnur sein könne für die eigene Lebenspraxis. 89 MARKUS ARNOLD 3. Philosophische Zweifel am Nutzen wissenschaftlicher Instrumente An John Lockes Auseinandersetzung mit dem Methodenideal der neuzeitlichen Naturwissenschaften lässt sich verfolgen, wie der spezifische Umgang der Philosophen mit der Empirie durch das Aufkommen von wissenschaftlichen Instrumenten, z. B. dem Mikroskop, zunehmend in Schwierigkeiten geriet. Locke, enger Freund von Newton und anderer Wissenschaftler der Royal Society, war wohl einer der ersten Philosophen, der mit eigenen Augen durch eines der modernen Mikroskope blicken konnte und mit diesem den Samen eines Hundes und Blutkörperchen im menschlichen Blut beobachtete (Wilson 1995: 237ff., vgl. Fournier 1996, 167-177). Mit seinem Essay concerning Human Understanding hat er auch eine der Gründungsschriften der modernen Erkenntnistheorie verfasst, die auf den ersten Blick dem von mir beschriebenen philosophischen Erkenntnismodell zu widersprechen scheint, da er in ihr zu beweisen versucht, dass in der menschlichen Seele keine angeborenen Ideen (innate ideas) zu finden seien, da die Seele einem weißen Blatt Papier gleiche, das erst durch die empirischen Sinneseindrücke beschrieben werden muss (Locke 1690a, II. 1, § 2, 104). Eine Rückwendung zu einem vergessenen Wissen der Seele hat hier scheinbar keinen Platz. Nicht umsonst gilt er als einer jener, der mit seinen Schriften zur Anerkennung der modernen empirischen Methoden beigetragen hat. John Locke ist aber, trotz seiner Begeisterung für die neuen Wissenschaften und ihre Methoden, ebenso bemüht, einen legitimen Ort für das philosophische Erkenntnismodell und dessen Methoden zu bewahren. Dies nicht zuletzt deshalb, da sich ihm innerhalb seiner Erkenntnistheorie ein grundlegendes Problem stellt: Wie lässt sich eine empirische Erkenntnistheorie mit dem neuen Erkenntnisinstrument des Mikroskops in Einklang bringen? Wenn jede Erkenntnis empirisch von den Wahrnehmungen ausgehen soll: Welche Wahrnehmungen muss man zugrundelegen? Jene Sinneseindrücke, die man im Alltagsleben macht, oder jene, die man erhält, wenn man mithilfe eines technischen Instruments wie dem Mikroskop (oder dem Teleskop) die Dinge betrachtet. Die Welt, die man sieht, ist in beiden Fällen eine gänzlich andere. Das besondere dieser neuen Instrumente war es ja, dass dem Beobachter Alltägliches plötzlich fremd erschien; im Bekannten sich auf unerwartete Weise etwas Unbekanntes zeigte. Scheinbar klares Wasser zeigte unter dem Mikroskop eine Unzahl an bis dahin unbekannten Kleinstlebewesen, die mit freiem Auge nicht erkennbar sind. Aber auch das Wesen der Dinge schien sich unter dem Mikroskop zu verändern. Locke musste etwa feststellen, dass das rote Blut eines Menschen sich unter dem Mikroskop als farblose Flüssigkeit zeigte, in der nur einige wenige rote Blutkörperchen schwimmen (Locke 1690a, II. 23, § 11, 302). Kurz: Die Alltagserfahrung des Menschen, auf die sich die Philosophie bei ihrer Wahrheitsfindung immer wieder gestützt hat, wenn sie nach dem an sich Gewissen in der Seele suchte, wird durch das Mikroskop als trügerisch und letztlich als eine Illusion entlarvt. Hätten wir bessere oder andere Sinnesorgane, wir würden die Welt um uns gänzlich anders wahrnehmen und folglich hätten wir auch eine andere Sprache und andere Begriffe (Jdeas), mit denen wir diese Welt beschreiben würden. Locke ist mit der Frage konfrontiert: Wieweit darf sich eine empirische Erkenntnistheorie noch auf die Sinneswahrnehmungen verlassen? John Lockes Antwort mag auf den ersten Blick überraschen: Obwohl er das Mikroskop in seiner Erkenntnistheorie berücksichtigt, entscheidet er sich letztlich doch gegen das Mikroskop und für die Alltagserfahrung und die Alltagsgewissheiten der Menschen. Zwar akzeptiert er, dass ein 90 MARKUS ARNOLD Mikroskop dem Menschen zu einer viel genaueren Beobachtung und Erkenntnis der Dinge verhilft, und wären ihre Linsen nur stark genug, könnte man sicher die kleinsten Teile der Materie (die Corpuskel) erkennen, welche in unserer Seele ganz andere Ideen und Begriffe produzieren würden, als wir sie aufgrund unserer oberflächlichen Alltagserfahrung haben. Hätten unsere Augen genauso gute Linsen wie ein Mikroskop, würde unsere Umwelt uns gänzlich anders erscheinen: Had we senses acute enough to discern the minute particles ofBodies, and the real Constitution on which their sensible ~alities depend, I doubt not but they would produce quite different Ideas in us; and that which is now the yellow Colour of Gold, wo~ld then disappear, and instead of it we should see an admirable Texture of parts of a certain Size and Figure. (Locke 1690a, II. 23, § 11, 301) Doch bleibt die Frage, ob diese Erkenntnis der Dinge für den Menschen auch eine relevante Wahrheit ist. Und da ist sich Locke sicher: Die mithilfe von wissenschaftlichen Instrumenten erlangte Erkenntnis der Welt sollte - obwohl sie genauer und sicher auch wahrer ist - nicht zur Grundlage der empirischen Erkenntnis des Menschen gemacht werden: [I]fby the help of such Microscopical Eyes [„.] a Man could penetrate farther than ordinary into the secret Composition, and radical Texture of Bodies, he would not make any great advantage by the change, if such an acute Sight would not serve to conduct him to the Marcet and Exchange; [„.] if Eyes so framed, could not view at once the Hand, and the Characters of the Hour-plate [einer Uhr), and thereby at a distance see what a-Clock it was, their Owner could not be much benefited by that acuteness; which, whilst it discovered the secret contrivance of the Parts of the Machin, made him lose its use. (Locke 1690a, II. 23, § 12, 303) Ein „mikroskopisches Auge" sieht etwas anderes als unser reales Auge, daher erkennt die menschliche Seele auch mit freiem Auge und mit Mikroskop unterschiedliche Wahrheiten und entwickelt unterschiedliche „Ideen" über die wahrgenommenen Dinge. Locke unterscheidet folglich zwischen zwei Erkenntnisweisen eines Objekts: Einerseits könnten wir mit einem Mikroskop, wenn es nur stark genug ist, bis zu dessen kleinsten Teilen der Materie vorstoßen und auf diese Weise das reale Wesen des Objekts erkennen (real Essence). Andererseits verhilft uns die Alltagserfahrung zu einer Vorstellung von dem Wesen eines Objekts, auf das sich die Begriffe unserer Alltagssprache beziehen. Dies ist das der Sprache korrespondierende nominelle Wesen eines Objekts (nominal Essence) (Locke 1690a, III. 6, § 2, 439). Ersteres wäre jene Vorstellung vom Objekt, die wir hätten, wenn wir mithilfe eines Mikroskops fähig wären, die Dinge so wahrzunehmen, wie sie sich aus den kleinsten Teilchen zusammensetzen, Zweiteres hingegen ist jene Idee, die wir aufgrund unserer Sinneswahrnehmungen von den Dingen haben (z.B. Gold als ein gelbes Metall). Doch anstatt sich gegen den trügerischen Schein unserer Sinnesorgane zu wenden, argumentiert John Locke ganz im Gegenteil: Der Mensch sollte sich in seiner Erkenntnis letztlich nicht um das reale Wesen der Dinge kümmern, sondern allein um die unseren alltagssprachlichen Begriffen entsprechende nominal essence der Dinge, d. h. um jenes Wesen der Dinge, wie sie unseren Sinnesorganen erscheinen und mit den Worten der Alltagssprache begrifflich erfasst werden. Also jene Welt, auf die sich auch unsere durch die Alltagserfahrung geschulten inneren Gewissheiten der menschlichen Seele beziehen. 91 MARKUS ARNOLD Locke gibt hierfür zwei Argumente: Das eine ist ein pragmatisches Argument, das den Nutzen in den Mittelpunkt stellt, das andere ist (erneut) ein theologisches, welches über die Motive Gottes spekuliert, der uns ja mit diesen Sinnesorganen erschaffen hat, die weit weniger genau sind als wissenschaftliche Instrumente: Tue infinite wise Contriver of us [„.] hath fitted our Senses, Faculties, and Organs, to the conveniences of Life, and the Business we have to do here. We are able, by our Senses, to know, and distinguish things; and to examine them so far, as to apply them to our Uses, and several ways to accommodate the Exigences of this Life. [... ] But were our Senses alter'd and made much quicker and acuter, the appearance and outward Scheme of things would have quite another Face to us; and I am apt to think, would be inconsistent with our Being, or at least well-being in this part of the Universe, which we inhabit. (Locke 1690a, II. 23, § 12, 302) 8 John Locke kann mit seiner empirischen Erkenntnistheorie daher auch zwanglos wieder auf das imago dei-Argument zurückgreifen, um die Gewissheiten der Vernunft (so wie wir sie in unserer Seele vorfinden) methodisch wieder als vertrauenswürdig anzuerkennen. Nicht einmal die Tatsache, dass diese Gewissheiten nur die nominal essence der Dinge betreffen, d. h. nicht zum realen Wesen der Objekte vordringen, kann Locke davon abhalten, ihnen den Vorzug zu geben. Auch wenn diese Gewissheiten nicht auf angeborenen Ideen beruhen, sollen sich die Menschen (und die Philosophen) an diesen orientieren. Denn wie er mit Rückgriff auf Gottes Willen argumentiert, kann der Mensch in seiner Vernunft eine von Gott kommende „natürliche Offenbarung" finden: Reason is natural Revelation, whereby the eternal Father ofLight, and Fountain of all Knowledge commu- nicates to Mankind that portion ofTruth, which he has laid within the reach of their natural Faculties.9 Hinter dieser christlich-theologischen Fassade lässt sich immer noch jenes in der Antike entwickelte Erkenntnismodell der Philosophie erkennen, das aber mit dem Aufkommen der neuzeitlichen Wissenschaften in der Folgezeit weiter unter Druck gerät. Bereits Locke hat sich damit für jene Wahrheit entschieden, die Edmund Husserl Jahrhunderte später als „Lebenswelt" bezeichnen wird, um eine dezidiert nicht-theologische Rechtfertigung für jene Gewissheiten der Alltagswelt zu entwickeln. In Lockes Unterscheidung zwischen einer am praktischen Handeln orientierten Erfahrung auf der einen Seite und einer an der Erkenntnis orientierten wissenschaftlich-instrumentellen Erfahrung auf der anderen ist bereits jener Konflikt zwischen dem „Leben" und der „Erkenntnis" vorgezeichnet, wie er vor allem im Anschluss an Nietzsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneut zur Diskussion stehen wird. Denn es war nicht erst Nietzsche, der sich fragte, ob es überhaupt sinnvoll sei, um jeden Preis nach einer wahren Erkenntnis zu streben. 10 4. Philosophie als Teil der Wissenschaftsgeschichte Aus dem Blickwinkel der neuzeitlichen Wissenschaften ist das spannungsreiche Verhältnis der modernen Wissenschaften zur Alltagserfahrung historisch aufgearbeitet. Gaston Bachelard hat 92 MARKUS ARNOLD etwa dieses ins Zentrum seiner Epistemologie gestellt, wenn er kategorisch feststellt: „Eine wissenschaftliche Erfahrung ist [... ] eine Erfahrung, die der gewohnten Erfahrung widerspricht" (Bachelard 1938, 44). Die Wissenschaften müssten einen „epistemologischen Bruch" vollziehen, da die Begriffe der Alltagssprache - und jene der Philosophie - für die Wissenschaften nur „Erkenntnishindernisse" seien (Bachelard 1938, 46ff.). In ähnlicher Weise beschrieb Ernst Cassirer die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften, wenn er feststellt: Die Wissenschaften hätten die Begriffe der Alltagssprache überwinden müssen, da diese von „anthropomorphen Elementen" durchdrungen seien, denn die sinnlichen Empfindungen der Alltagserfahrung schließe „notwendig eine Beziehung auf ein bestimmtes Sinnesorgan, also auf die spezifische physiologische Struktur des menschlichen Organismus in sich" (Cassirer 1910, 408). Was diese Autoren jedoch nicht untersucht haben, ist die Frage, was es für die Philosophie bedeutet, dass sie methodisch weiterhin an der lebensweltlichen Erfahrung festhält. Dass die Philosophie sich weiterhin an jenen lebensweltlichen Gewissheiten abarbeitet und - mit wenigen Ausnahmen - nicht wie viele andere moderne Wissenschaften diese als bloße Erkenntnishindernisse beiseitezuschieben versucht. Was die Philosophie mit ihrer Geschichte zur Geschichte der Wissenschaften beitragen kann, ist sowohl eine Geschichte der Verteidigung eines Erkenntnismodells und seiner methodischen Standards als auch eine Geschichte seiner zahlreichen Adaptionen und schrittweisen Transformation: Der Topos von der Wahrheit, die im Inneren zu finden sei, konnte auf Kritik reagieren, indem die Philosophie lernte, sich im Laufe der Zeit an unterschiedlichen Wissenschaften und ihren Methoden zu orientieren. Waren es etwa bei Platon und Aristoteles noch die obersten selbstgewissen Prinzipien der antiken Geometer mit ihren deduktiven Ableitungen, so wandte sich Kant von dem mathematischen Modell ab und adaptierte für seine Philosophie das methodische Modell der juristischen Deduktion von Rechtsansprüchen. Wie an anderer Stelle gezeigt, lassen sich historisch bestimmte „philosophische Erkenntnisstrategien" identifizieren, mit denen Philosophen immer wieder ihre Argumente methodisch gestützt, das Feld philosophisch legitimer Erkenntnisgegenstände befestigt und die philosophischen Erkenntnisansprüche gegenüber jenen konkurrierender Wissenschaften erfolgreich verteidigt haben (Arnold 2010). 93 MARKUS ARNOLD Anmerkungen Dieses Methodenideal fand auch eine paradigmatische Darstellung in der Ikonographie einer als Frau dargestellten Weisheit (sapientia), die in einen Spiegel blickt, den speculum sapientiae. Siehe hierzu meine Habilitationsschrift: Arnold 2010: 26-30. Ebendort auch Belege zu weiteren Varianten dieser philosophischen Erkenntnisstrategie. Physik I, 184al8-23; Anal. post. 7lb33-72a5; vgl. Fritz 1955. Phaidros 229e, Protagoras 343a, Charmides 164d, Philebos 48c-49a. Denn, bestärkt durch die Geometrie, ist sich Platon sicher, „daß echtes Lernen und Verstehen im Grunde nichts anderes ist als eine ,Wiedererinnerung' an die allgemeine Ordnung der Physis, die der Ordnung in der Seele des Einzelnen entspricht" (Gaiser 1964: 245; vgl. Arnold 1995, Fritz 1955). Regulae IV, Abs. 1-2; VI, Abs. 6; Meditationes III, Abs. 9. Zu den endoxa: Burnyeat 1996, Most 1994. Beispiele bekommen in diesem Kontext den Status eines exemplum, d. h. eines Beispiels für eine allgemeine These. Sie sind damit das, was in den Sozialwissenschaften methodisch als „anekdotisches" Beispiel kritisiert wird und keine Beweiskraft haben kann. Auch in der Philosophie werden Beispiele nicht als Beweise verwendet, aber als Instrumente, um allgemeine Thesen plausibel zu machen, indem sie das Wahrheitskriterium der inneren Gewissheit mobilisieren, die - so die Annahme - durch Beispiele gestützt und in Erinnerung gerufen werden können (vgl. Arnold 2010, passim). „[I]t appears not, that God intended, that we should have a perfect, clear, and adequate Knowledge of them'.' (Locke 1690a, II. 23, § 12, 302) Locke 1690a, IV. 19, § 4, 698. Denn die Vernunft sei aufgrund ihrer Ebenbildlichkeit ein „Image of God" (Locke 1690b, I. 4, § 30, 162), sodass „[„.] Reason, which was the Voice ofGod in him, could not but teach him [„.]" (Locke 1690b, I. 9, § 86, 205). 10 Vgl. Nietzsche 1980. Aus dieser Gegenüberstellung von „Leben" und „Erkenntnis" entwickelten sich u. a. das von Edmund Husserl gegen die Wissenschaften ins Spiel gebrachte „Lebenswelt" -Konzept (Husserl 1954, 105-193) sowie Martin Heideggers Analyse des „Besorgens" und des „umweltlichen" Wissens (Heidegger 1926, 56-88). Literatur Aristoteles (1987 /88): Physica/Physik, Vorlesung über Natur, griechisch-deutsch, hrsg. u. übers. v. Hans Günter Zekl, 2 Bände, Hamburg. - (1997/98): Organon, griechisch-deutsch, hrsg„ übersetzt und kommentiert v. Hans Günter Zekl, 3 Bände, Hamburg. Arnold, Markus (1995): Die platonische Logik der Harmonie. Versuch der Rekonstruktion eines initiatorischen Handelns, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXVII/ 1995, 45-78. - (2010): Die Erfahrung der Philosophen. Wien, Berlin. Augustinus, Aurelius (1987): Confessiones, lateinisch-deutsch, übers. v.J. Bernhardt, Frankfurt/M. - ( 1998): De magistro / Über den Lehrer, lateinisch-deutsch, übers. v. Burkhard Mojsisch, Stuttgart. Bachelard, Gaston ( [ l 938] 1987): Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, übers. v. M. Bischoff, Frankfurt/M. Bacon, Francis ([1620] 1990): Neues Organon, lateinisch-deutsch, hrsg. v. Wolfgang Krohn, übers. v. Rudolf Hoffmann und Gertraud Korf, Darmstadt. 94 MARKUS ARNOLD Boethius, A. M. S. (1997): Philosophiae Consolatio /Trost der Philosophie, lateinisch-deutsch, übers. v. E. Neitzke, Frankfurt/M. Burnyeat, M. F. ( 1996): Enthymeme: Aristode on the Rationality ofRhetoric, in: Amelie Oksenberg Rorty (Hrsg.), Essays on Aristode's Rhetoric, Berkeley, 88-115. Cassirer, Ernst ((1910] 1994): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt. Descartes, Rene ( 1973): Regulae ad directionem ingenii / Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, lateinischdeutsch, übersetzt u. hrsg. von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe u. 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Friedrich Schleiermacher, Darmstadt. Seneca, L. Annaeus (1993): Philosophische Schriften, lateinisch-deutsch, 5 Bände, übers. u. hrsg. v. M. Rosenbach, Darmstadt. Wilson, Catherine (1995): Tue Invisible World. Early Modem Philosophy and the Invention of the Microscope, Princeton. 95 crossing borders Grenzen (über)denken 1 Thinking (across) Boundaries herausgegeben von Alfred Dunshirn Elisabeth Nemeth Gerhard Unterthurner crossing borders. Grenzen (über)denken. Thinking (across) Boundaries Herausgegeben von Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth und Gerhard Unterthurner cegp C'ESTERREICHISCHE GESELLSCHAFT niR PHILOSOPHIE 2012 CEsterreichische Gesellschaft für Philosophie c/o Institut für Philosophie 1Universität Wien 1Universitätsstraße7 l 1010 Wien c/o Department of Philosophy 1University ofVienna 1Universitätsstraße7 I A 1010 Vienna Website: www.oegp.org 1Contact: [email protected] ©0© CC BY-ND-NC 3.0 Austria CC Namensnennung - Keine Bearbeitung - Nicht kommerziell 3.0 Österreich CC Attribuation - No Derivative Works - Non-commercial 3.0 Austria Jedem Lizenznehmer ist gestattet, diese Publikation (in Folge Schutzgegenstand genannt) in körperlicher oder unkörperlicher Form zu verwerten, insbesondere zu vervielfältigen, zu verbreiten, vorzuführen, zu senden und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. 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Veröffentlicht im Juli 2012 über Phaidra (Permanent Hosting, Archiving and Indexing ofDigital Resources and Assets, Universität Wien, s. u.: http://phaidraservice.univie.ac.at) Abrufbar auch unter: www.oegp.org Lektorat: Alan Duncan, Wolfgang Fasching, Silvia Stoller, Thomas Szanto Satz und Layout: Martin Nestl Vorwort 17 HAUPTVORTRÄGE KURT FLASCH Religion und Philosophie in Deutschland, heute 23 DOMINIK PERLER Philosophische Gedankenexperimente im Mittelalter 37 FRANZ MARTIN WIMMER Gibt es interkulturell begründbare Maßstäbe zur Bewertung kultureller Entwicklung? 57 5CHWERPUNKTSEKTIONEN 1. GRENZEN UND GRENZÜBERSCHREITUNGEN IN DER THEORETISCHEN PHILOSOPHIE MARKUS ARNOLD Philosophische Erkenntnisstrategien 85 REINHOLD EsTERBAUER Leihzeit 97 PETER GAITSCH Zwischen Widerlegen und Verweigern. Zum Vorbegriff einer „Logik der Philosophie" 105 MARTIN HOFFMANN Die normative Bedeutung des Begriffs menschlicher Individualität 117 SEBASTIAN KLETZL „Wie ich die Metaphilosophie sehe". Ein Versuch mit Friedrich Waismann 129 '