John Locke: Einfache Ideen

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John Locke: Einfache Ideen
John Locke: Einfache Ideen
http://www.stefan-hoeltgen.de/Texte/Locke/locke.html
Proseminar:
John Locke "Versuch über den menschlichen Verstand"
Sommersemester 1997
Leitung: Dr. habil. L. Wiesing
Über die "Einfachen Ideen"
in
John Lockes
"Versuch über den menschlichen Verstand"
Kapitel
1. Einleitung
2. Die einfachen Ideen
2.1. Die Genese der einfachen Ideen
2.2. Exkurs: Denkt die Seele beständig?
2.3. Das Wesen einfacher Ideen
2.4. Der Erwerb einfacher Ideen
2.5. Geistesoperationen und Ideen der Reflexion
2.6. Exkurs über den Spracherwerb
2.7. Störungen des Verstandes
2.8. Systematik und Rückbezug
3. Die einfache Idee der Kraft
3.2. Verschiedene Kräfte
3.3. Freiheit und Notwendigkeit
4. Schluss
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Einleitung
John Locke war der wohl wichtigste Denker zur Blütezeit der englischen Philosophie im 18. Jahrhundert. Dies lässt sich nicht nur darauf
zurückführen, dass seine Ansätze für die nachfolgenden Philosophen (Berkeley und Hume) Stoff der Auseinandersetzung boten, sondern auch auf
deren Rezeption auf dem europäischen Festland. Der Versuch über den menschlichen Verstand bot (mit Lockes Schriften zur Toleranz in der
Religion und seinen politischen Arbeiten) darüber hinaus eine Grundlage für die Philosophie der Aufklärung, die erst viele Jahre nach seinem Tod
begann.
Die vorliegende Arbeit über den Versuch über den menschlichen Verstand1 soll nicht die gesamte Bandbreite dieses vier Bücher umfassenden
Werkes behandeln, sondern lediglich Ansätze aus dessen zweiten Buch "Über die Ideen". Hierbei konzentriere ich mich allein auf die "einfachen
Ideen" (und auch nur auf eines der von Locke aufgeführten Beispiele), weil sich in ihnen schon fast das gesamte Programm Lockeså Philosophie
wiederfindet.
Wegen dieser Eigenarten ist es auch nötig, die behandelten Kapitel neu zu strukturieren und zu gewichten. John Locke hat bei der Niederschrift und
auch den späteren Auflagen nicht immer die für das Thema notwendige Sorgfalt walten lassen. So fehlen oftmals wichtige Definitionen, die ich der
Sekundärliteratur entnommen habe. Auch wurde die Kapiteleinteilung von Locke häufig nicht nachvollziehbar gewählt. Die Polemiken gegen
"philosophische Gegner", in die sich Locke oft ergibt, werden in dieser Arbeit nur angedeutet.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es also, die "einfachen Ideen" möglichst sinnvoll darzustellen und die Fragen nach Lockes philosophisches
Programm und Vorgehensweise zu beantworten. Weiterhin wird die Bedeutung des Essay für künftige philosophische Strömungen angesprochen
und auch die Quellen der Lockeåschen Philosophie versucht anzudeuten.
2. Die einfachen Ideen
Menschen haben verschiedene Ideen im Geist, heißt es am Beginn des zweiten Buches in Lockes Essay. Ideen können "immer im weitesten Sinne
als Bewusstseinsinhalte"2 aufgefasst werden, oder als Bilder, die sich der Geist von Dingen macht.
Diese Ideen werden von Locke unterschieden in "einfache" und "komplexe", welche aus den einfachen Ideen zusammengesetzt sind. Die einfachen
Ideen sind, wie Locke bereits im ersten Buch gezeigt hat, nicht angeboren. Der Geist ist für ihn bei der Geburt ein "unbeschriebenes Blatt" und
völlig frei von Ideen.
Sie gelangen nach und nach in ihn und werden in zwei Klassen unterteilt: 1. Ideen, die durch ihre Qualitäten3 über die sinnliche Wahrnehmung
("Sensation") und 2. Ideen, die durch die Operationen des Geistes ("Reflexion") erzeugt werden.
Diese Reflexion definiert er als die "Kenntnis, die der Geist von seinen eigenen Operationen und ihren Eigenarten hat, auf Grund derer Ideen von
diesen Operationen in den Verstand gelangen können."4 Diese Operationen sind "Nachdenken" und "Betrachten", die zu den einfachen Ideen
"wahrnehmen, denken, zweifeln, glauben, schließen und wollen" führen.
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Locke geht dabei davon aus, dass diese Geistesoperationen schon während der Geburt im Menschen angelegt sind. Er schließt nicht explizit aus,
dass die Sinne die Dinge so wahrnehmen, wie sie in der Natur existieren (und vertritt damit einen realistischen Standpunkt).
Er begründet seine Annahme der zwei ausschließlichen Ideen-Klassen mit der Methode, die rein auf Erfahrungswerten beruht (und deshalb später
den Namen "Empirismus" trägt). Sie leitet alle weiteren Untersuchungen über seine "Naturgeschichte des Verstandes"5. Er benutzt diese Methode,
um Gegner von ihm, die ihre Erkenntnisse allein auf der Basis von Hypothesen gewonnen haben zu kritisieren und argumentiert immer wieder
damit, dass die Wahrnehmung das einzig verlässliche beim Philosophieren sein kann (und darf).
2.1. Die Genese der einfachen Ideen
Im nächsten Schritt versucht John Locke zu zeigen, wie der Prozess des Ideengewinns ontogenetisch abläuft. Das Kind wird, nachdem ihm seine
Sinne bewusst zur Verfügung stehen, von den es umgebenden Gegenständen mit Ideen versehen. Dieser Prozess geschieht unwillentlich und es ist
dem Kind nicht möglich, sich "der Eindrücke zu verwehren". Dabei nimmt die Anzahl der Ideen proportional zur Anzahl der äußeren Objekte, die
auf des Kindes Sinne einwirken, zu. Diese Ideen sind zunächst noch allein Ideen der Sensation, da sich dem Kind die Ideen von den
Geistesoperationen nicht deutlich genug einprägen können, solange der Verstand nicht über sie reflektiert.
Die Seele vermehrt dann durch Kombination dieser Ideen (und später auch durch Nachdenken über ihre Operation) den Vorrat an Gedanken und
verbessert dabei gleichzeitig die Kombinationsfähigkeiten.6
Der Gedanke der "tabula rasa", von dem Locke ausgeht, schreibt dem Neugeborenen und erst recht dem Fötus keinerlei Ideenvorrat zu. Und
tatsächlich vergleicht er auch dessen Zustand eher mit dem einer Pflanze (eine in der utilitaristischen Ethik Peter Singers wieder populär gewordene
Vorstellung. Ebenso wie spätere Vorstellungen über den Willen und die Freiheit bei Tieren). Der Verstand des Kindes erwacht erst nach und nach
im Verhältnis zu der Menge der ihm zugeführten Ideen. Das Kind lernt die Ideen festzuhalten und zu unterscheiden. Wie bereits angedeutet, verhält
sich der Verstand des Menschen dabei rein passiv. Es ist ihm weder möglich die Ideen abzuweheren, noch sie zu verändern oder wieder zu löschen.
2.2. Exkurs: Denkt die Seele beständig?
Die Kapitel 2.1.9 bis 2.1.25 des Essays sind in den Rahmen des obigen Themas eingefügt. In ihnen setzt John Locke sich (teilweise recht
polemisch) mit der Annahme auseinander, dass die Seele ständig denke, selbst wenn der Mensch schlafe. Dieser Gedanke wird laut Rainer Specht
von Descartes vertreten.7
Lockes Argumentation stützt sich im Wesentlichen darauf, dass die Seele fester Bestandteil des Körpers ist. Beim wachen Menschen ist sie nie ohne
Gedanken, weil dies gleichzeitig die Bedingung für das Wachsein ist. Wenn aber (wie Locke es seinen Gegnern vorwirft) angenommen wird, dass
die Seele auch denke, während der Körper schläft und die Erfahrung keinerlei Zugriff auf dieses Denken hat, dann sind Schlafender und Wachender
- nach Lockes Kritik - zwei verschiedene Personen.
Er belegt seine Hypothese auch sofort empirisch (und weist dadurch einmal mehr die Gegner, die schon im ersten Buch angesprochen waren, in die
Schranken): Wenn man einen Schlafenden, der nicht träumt, weckt und ihn fragt, was seine Seele gerade gedacht habe, so würde dieser antworten,
sie habe nichts gedacht. Der Einwand, die Seele des Schlafenden würde die Gedanken einfach nicht festhalten, widerlegt das empirische Ergebnis,
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zu dem Locke kommt, nicht.
Er fügt an dieser Stelle die Frage an, welchen Nutzen des denn für den Menschen hätte, wenn die Seele im Schlaf denke, ohne sich später daran zu
erinnern. Dies hätte Gott8 nie gewollt, weil dann die Seele nichts Gutes hervorbringen könnte. Locke unterstellt der Seele damit sogleich einen
utilitaristischen Zweck (der aber kaum empirisch begründbar ist). Die Seele verdanke ihre Vollkommenheit des vernünftigen Denkens
ausschließlich dem Körper. An den wirr zusammengesetzten Ideen der Träume lässt sich zeigen, dass ohne den wachen Körper kein sinnvolles
Denken möglich ist.9
Ebenso müsste eine vom Körper unabhängig denkende Seele bei einem Neugeborenen (das nach Locke ja weder Ideen der Sensation noch
Reflexion hat) solche Ideen haben. Die Erfahrung lehre aber, dass das nicht so sei. Auch hier untermauert Locke nocheinmal den Standpunkt des
ersten Buches, dass Ideen nicht angeboren sind.
Am deutlichsten scheint dieser Exkurs aber der empirischen Programmatik Lockes gewidmet zu sein. Er wirft denen, die davon überzeugt sind, dass
a) traumlos Schlafende denken, ohne es zu bestätigen und b) Neugeborene Ideen haben, ohne dass es sich zeigt, vor, sie würden entweder ihre
Hypothesen schon als Beweis ansehen oder gar von Erfahrungen ausgehen, die über den menschlichen Möglichkeiten liegen und somit
"unphilosophisch"10 sind.
2.3. Das Wesen einfacher Ideen
Die einfachen Ideen werden (durch ihre Qualitäten) im Geist am deutlichsten wahrgenommen, denn sie sind nicht zusammengesetzt und
unzerlegbar. Für Locke sind sie die atomischen Bestandteile11 des Bewusstseins. Sie werden ausschließlich auf dem Wege der Sensation und
Reflexion aufgenommen.
Der Verstand bildet aus ihnen durch vergleichen, verbinden und wiederholen komplexe Ideen, die von ihm auch wieder in einfache Ideen zerlegt
werden können. Einfache Ideen kann er jedoch weder erfinden, noch bilden und auch nicht wieder vernichten.
Wie schon gezeigt, gelangen die einfachen Ideen der Sensation nur auf dem Wege der fünf Sinne in den Verstand. Locke fügt dieser Überlegung an,
dass auch Lebewesen vorstellbar sind, die aufgrund anderer physischer Beschaffenheit mehr als diese fünf Sinne haben und daher auch andere
Qualitäten der Ideen wahrnehmen könnten. Daraus folgt, dass Lockes Philosophie den Menschen nicht an die Spitze aller Dinge stellt, und sich so
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gegen die christliche Vorstellung vom Menschen als der "Krone der Schöpfung" richtet.
2.4. Der Erwerb einfacher Ideen
Die einfachen Ideen gelangen nach Locke auf vier Wegen in den Geist:
1. Durch einen Sinn (z. B. Licht, Farben, Geräusche, Gerüche, Geschmäcker).
2. Durch mehrere Sinne (z. B. Raum, Ausdehnung, Gestalt, Ruhe, Bewegung).
3. Durch Reflexion (z. B. Denken, Wollen).
4. Durch alle Wege der Sensation und Reflexion (z. B. Zeit, Lust).
Bei den Ideen der Sensation gibt es mehr einfache Ideen als Namen für dieselben. Als Beispiel führt Locke hier die Ideen des Geschma-ckes an, die
vom Menschen als "süß", "sauer", "bitter", "scharf" und "salzig" qualifiziert werden. Es existieren darüber hinaus nur sehr unzureichende
Bezeichnungen für den Geschmacksunterschied zwischen z. B. saurer Milch und einer Zitrone, außer vielleicht: "wohlschmeckend" oder "nicht
wohlschmeckend". Es sei aber auch kaum nötig (und möglich), für alle Nuancierungen der Sinneseindrücke eigene Namen zu finden.
2.5. Geistesoperationen und Ideen der Reflexion
Der menschliche Geist kann aufgenommene Ideen unterscheiden und sondern. Dadurch gewinnt er die Ideen der Reflexion. Die Intelligenz hängt
von der Vielfältigkeit dieser Ideen ab. Locke unterscheidet aber schon mehrere Arten von Intelligenz. So gibt es einerseits die "geistige Fähigkeit",
die es dem Menschen ermöglicht, Ähnlichkeiten von Ideen zu erkennen. Auf der anderen Seite macht das "Urteilsvermögen" Intelligenz aus.
Darunter versteht Locke die Fähigkeit Ideen sorgfältig voneinander zu trennen.
Weitere Geistesoperationen sind "Unterscheiden von Ideen"12 , welches klare und bestimmte Ideen voraussetzt, "Vergleichen von Ideen",
"Zusammensetzen von Ideen", welches das Kombinieren von einfachen Ideen zu komplexen darstellt und schließlich das "Erweitern von Ideen",
welches zusammengesetzte, gleiche, einfache Ideen hervorbringt (z. B. die Idee "Zwei", die sich aus den einfachen Ideen "Eins" und "Eins"
zusammensetzt). Dies sind aber keine komplexen Ideen, denn diese werden durch verschiedene einfache Ideen hervorgebracht (z. B. die komplexe
Idee "Eis" aus den einfachen Ideen der "Kälte" und "Härte").13
2.6. Exkurs über den Spracherwerb
Die in den Geist aufgenommenen Ideen werden vom Menschen während seiner frühen Entwicklung mit Namen versehen. Dabei bekommen (wie in
Kapitel 2.4. gezeigt wurde) nicht alle einfachen Ideen Eigennamen. Bei wiederholter Sensation von Ideen werden vom Kind jedoch Zeichen
eingeführt. Zuerst gibt das Kind den Ideen eigene Bezeichnungen, die jedoch nach und nach durch allgemein verständliche Zeichen getauscht
werden: Das Kind lernt sprechen.
Wichtig erscheint es Locke dabei, dass die Sprache hier eine abstrahierende Funktion übernimmt, um zu verhindern, dass jede Idee einen speziellen
Eigennamen bekommt. Z. B. wird die Idee eines "Balls" bei genügend häufiger Sensation verallgemeinernd abgespeichert, so dass später auch jeder
beliebige Ball (wenn auch in Größe, Farben oder Oberflächenstruktur unterschiedlich), durch seine charakteristischen Eigenschaften
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("kugelförmig", "bestimmte Größe weder unter- noch überschreitend", "sprungfähig") als solcher wiedererkannt wird. Der Verstand bewahrt
sozusagen einen Maßstab auf, mit dem Sensationen verglichen und eventuell als ähnlich erkannt und benannt werden können.
Locke liefert hier schon eine ziemlich genaue Beschreibung des ontogenetischen Spracherwerbs bei Kindern, der sich von heutigen Theorien nicht
allzu stark unterscheidet. Einen vertieften Einblick in das Thema bietet John Lockes Essay in seinem dritten Buch "Von den Worten".
2.7. Störungen des Verstandes
Locke sieht den Grund für "Geistesgestörtheit" darin, dass der Verstand seine Fähigkeiten zu urteilen oder zu schließen nicht richtig nutzen kann,
also in der Bildung von Ideen der Reflexion gestört ist.
Bei der Idiotie seien diese Fähigkeiten schlicht nicht vorhanden. Sie trete auf bei einem Mangel an Aktivität und Beweglichkeit des Verstandes.
Die andere Form der Störung ist der Wahnsinn, der nicht auf der mangelnden Agilität des Verstandes beruht, sondern bei dem die Fähigkeit aus
Ideen richtige Schlüsse zu ziehen fehlt. Der Verstand kommt dabei zu krankhaften Fehlurteilen, die nicht unterdrückt werden können. Die Logik
bleibt davon jedoch fast immer unberührt.
2.8. Systematik und Rückbezug
Am Ende des elften Kapitels fasst Locke das Vorangegangene nocheinmal zusammen und versucht die Systematik seiner Ausführungen zu
veranschaulichen. Auch hier wird noch einmal die Methode des "Schließens aufgrund von Beobachtung" angesprochen.
Locke betont, die geistigen Fähigkeiten des Menschen würden zuallererst an den einfachen Ideen geübt. Danach beobachte der Geist seine
Operationen, um schließlich mit diesen Operationen Ideen der Reflexion zu bilden. Locke hat die gleiche Reihenfolge für sein bisheriges zweites
Buch des Essay gewählt.
Er bezeichnet die vorangegangenen Kapitel als "Abriss der Geschichte der ersten Anfänge menschlicher Erkenntnis."14 Sie gälte es durch
Erfahrung und Beobachtung zu erkunden. Die Wahrheit könne nur in Erfahrung gebracht werden, wenn man die Dinge prüfe, wie sie sind.15 Das
Wissen über die Dinge kann nur von den Dingen kommen. Auf diese Weise rundet Locke die allgemeinen Betrachtungen über die Ideen ab, indem
er sich noch einmal auf den Empirismus beruft.
3. Die einfache Idee der Kraft
In diesem Kapitel wird eine einfache Idee aus Lockes Essay dargestellt. Es handelt sich dabei um die Kraft, welche er als eine einfache Idee der
Sensation und Reflexion darstellt. Als Kraft wird von ihm der Wechsel von Ideen angesehen, der a) durch den Eindruck äußerer Gegenstände oder
b) durch freiwillige Entscheidung des Geistes entsteht.
Die Kraft tritt somit auf zwei Wegen in Erscheinung: Als aktive Kraft, die bei einfachen Ideen Veränderungen hervorruft oder als passive Kraft, die
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bewirkt, dass sich einfache Ideen verändern lassen. Sie steht also in jedem Fall in Beziehung zur Veränderung wahrnehmbarer Ideen. Ein Beispiel:
Wachs besitzt die passive Kraft, von der Sonne gebleicht zu werden und die Sonne die aktive Kraft, das Wachs zu bleichen.16 Es findet also immer
eine Interaktion zwischen Ideen statt, von denen die eine aktive Kraft und die andere passive Kraft zur Wirkung bringt. Die passive Kraft erscheint
dem Menschen so in einer Vielzahl von Dingen.
Aber die Idee aktiver Kraft geht von den Körpern selbst in keiner erkennbaren Weise aus. Sie bezieht sich ausschließlich auf Tätigkeiten. Nach
Locke haben wir aber nur von zwei Tätigkeiten eine Idee:
1. Vom Denken, von dem Körper keine Ideen vermitteln. Wir können nur durch Reflexion eine Idee der Kraft erhalten, die vom Denken ausgeht.
2. Vom Beginn der Bewegung erhalten wir auch keine Idee der Kraft, denn nach Locke sind die wahrnehmbaren Bewegungen eher Ergebnisse
einer Krafteinwirkung.
Wir beobachten dabei also nur die Übertragung aktiver Kraft und nicht die Erzeugung der Bewegung. Den Beginn der Bewegung erkennen wir nur
durch Reflexion, wenn wir z. B. durch unseren Willen einen Körperteil bewegen. Locke schlussfolgert daraus, dass Körper uns keine Ideen der
ihnen innewohnenden aktiven Kraft vermitteln.
3.1. Verschiedene Kräfte
Der Geist hat nun verschiedene Kräfte, die ihrerseits über den "Zustand" des Körpers Aussagen zulassen.
Als erste Kraft des Geistes wird hier von Locke der Wille genannt. Er ist die Kraft, Ideen zu betrachten oder nicht, sich zu bewegen oder nicht.
Locke unterscheidet dies vom Begriff des "Wollens"17, das sich allein auf die Betätigung des Geistes bezieht und nicht auf dessen Fähigkeit. Es
werden dabei zwei Modi des Wollens gezeigt: willkürliches Handeln, das auf Veranlassung des Geistes geschieht und unwillkürliches Handeln
ohne dessen Veranlassung.
Der Verstand ist die andere Kraft des Geistes. Er verkörpert (nach Lockes Definition) das "Vermögen der Wahrnehmung"18, die auf folgende
Weise unterteilt ist:
1. Die Wahrnehmung von Ideen im Geist.
2. Die Wahrnehmung der Zeichen-Bedeutung.
3. Die Wahrnehmung der Beziehungen, die zwischen Ideen bestehen.
Der Verstand und der Wille sind die Fähigkeiten des Geistes. Dies ist die Prämisse für die Untersuchungen über die "Freiheit" und die
"Notwendigkeit", die Locke im folgenden vornimmt. Er versucht anhand der Analyse der Feststellung "Der Wille ist frei"19 einen Gedanken der
Aufklärung zu etablieren, nämlich, dass der Mensch als ein handelndes Wesen frei ist.
3.2. Freiheit und Notwendigkeit
Die Ideen der Freiheit und der Notwendigkeit entstehen aus der Betrachtung des Geistes und dessen Macht über Handlungen. Ein Mensch ist nach
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Locke nur dann frei, wenn er die Kraft hat, "gemäß der Wahl oder Bestimmung des eigenen Geistes zu denken oder nicht zu denken, sich zu
bewegen oder nicht zu bewegen."20
Der Freiheit polar entgegengesetzt ist die Notwendigkeit. "Freiheit kann also nicht dort sein, wo es kein Denken, keine Willensäußerung, keinen
Willen gibt; wohl aber können Denken, Wille, Willensäußerung da vorhanden sein, wo es keine Freiheit gibt."21 Ein Beispiel verdeutlicht diese
Beziehung: Ein geworfener Stein würde nach Locke nicht als "frei" gelten, weil er weder denkt, noch einen Willen hat und diesen also auch nicht
äußern könnte. Für ihn besteht die Notwendigkeit.
Die Freiheit betrifft also nur Personen, in deren Macht es steht, gemäß der Wahl ihres Geistes etwas zu tun oder zu lassen. Jeder Zwang von außen,
der die Handlungsmöglichkeit aufhebt oder den Handlungsabbruch verhindert, beendet die Freiheit an dem Punkt. Als empirischen Beweis nennt
Locke hierfür die Körperfunktionen: Niemand habe Einfluss darauf, ob sein Herz schlage, ohne dass es möglich wäre, dies durch Gedanken zu
ändern.
Hier unterscheidet Locke nun den anfangs angesprochenen Modus des Wollens, nämlich die Unwillkür von der Notwendigkeit. Sie seien
keineswegs identisch. Das Gegenteil der Unwillkür ist die Willkür. Locke macht dies an einem recht zynischen aber eindrucksvollen Beispiel
deutlich: Ein Lahmer kann auch aus reiner Willkür still sitzen, selbst wenn dies für ihn notwendig ist.
Den Körperbewegungen gleich verhält es sich mit den Gedanken des Menschen. Können wir Gedanken annehmen oder ablehnen, so sind wir frei
zu denken oder nicht. Dies schließt Locke für den wachen Menschen aus: Er hat nicht die Möglichkeit, nicht zu denken, wohl aber die, Ideen, die er
betrachtet, zu wählen. Hier offenbart sich die Notwendigkeit darin, dass das Vermögen fehlt, der Weisung des Denkens entsprechend zu handeln
oder es zu unterlassen. Es werden dabei zwei Modi von Locke unterschieden:
Nach diesen Vorarbeiten geht Locke nun dazu über die Frage nach dem "freien Willen" als falsch zu beantworten. Wie sich gezeigt hat, ist die
Freiheit eine Kraft handelnder Wesen. Sie kann kein Attribut zu einer anderen Kraft sein. Der Wille des Menschen ist aber eine Kraft und kann
somit nicht frei sein. Nur der Geist des Menschen kann Kräfte innehaben, und dazu zählt die der Freiheit.
Dies erscheint auf den ersten Blick ein wenig pedantisch. Aber ging es Locke hierbei wirklich nur um die Klärung des Begriffes und darum eine
Frage richtig zu formulieren? Das scheint nicht so, wenn man die folgenden Ausführungen betrachtet.
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Die Willensäußerung ist ein Akt des Geistes, der die Herrschaft über den Menschen wissentlich ausübt, indem er ihn mit einer Handlung beschäftigt
oder ihn daran hindert. Die Freiheit ist die Macht des Menschen eine Handlung zu tun oder zu unterlassen, wie es sein Geist beliebt.
Locke unterstellt: Wer fragt, ob "der Wille frei" sei, fragt eigentlich, ob der Wille eine Substanz, ein Handelndes Wesen sei. Wenn man dies dem
Menschen klar machen könnte, wäre es überflüssig, dass der Mensch frei ist, denn sein Wille ist es ja. Denjenigen am Handeln zu hindern oder ihn
dazu zu zwingen wäre dann nicht mehr das gleiche, wie ihn der Freiheit zu berauben.
4. Schluss
Wie sich vor allem im letzten Kapitel gezeigt hat, ist Lockes "Erkenntnistheorie" wesentlich mehr als nur die Naturgeschichte des Verstandes. Er
etabliert in ihr einerseits den Empirismus als Forschungsmethode, die die bis dahin von Metaphysiken reiche Philosophie ablösen soll. Andererseits
liefert er wichtige Gedanken zur Aufklärung, die später mit dem Namen Kants verbunden sein wird.
Der Essay ist in seiner Programmatik ein wichtiges Fundament der heutigen Wissenschaft. Er hat die wichtige Bereiche der heutigen Psychologie
nicht nur angedeutet (z. B. in entwicklungspsychologischen Betrachtungen), sondern durch seine empirische Beweisführung erst möglich gemacht
(die vor allem in der Sozialpsychologie Methode ist).
Ebenso versucht Locke (vor allem in den ersten zwei Büchern des Essay) Ansichten des Cartesianismus22 zu widerlegen. Seine Methodik ist dabei
zwar nicht immer rein empirisch, was z. B. eine Bemerkungen wie "Gott sei über alle passive Kraft erhaben"23, oder die Metapher des
"Audienzsaal des Geistes" zeigt, doch was die Widerlegungen angeht, ist sie es so weit wie möglich.
Dabei ist nicht immer klar, ob hinter den (Hypo-)Thesen, die er widerlegt tatsächliche Menschen stehen, denn er nennt keine seiner Gegner beim
Namen. Zumindest machen Widerlegungen, wie die des Satzes "Der Wille ist frei" aber deutlich, dass es auch einen anderen Grund gegeben haben
könnte, diese zu verfassen. Im Hintergrund steht dabei Lockes Bestreben, den Menschen als frei hinzustellen, mit allen Konsequenzen, die daraus
folgen.
Fußnoten:
1. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird der Titel der Einfachheit halber (nach dem Originaltitel "Essay concerning human understanding") mit
"Essay" abgekürzt.
2. Störig, H. J. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Stuttgart 1955. S. 294.
3. Qualitäten sind die Beschaffenheiten und Eigenschaften der Dinge.
4. siehe Kapitel 2.1.4. Rainer Specht unterteilt die Definition der "Reflexion" in a) "Nachdenken über geistige Tätigkeiten" und b) "Bewusstsein der
geistigen Tätigkeiten". Vgl. Specht, Rainer. John Locke. München 1989. S. 51.
5. ebd. S. 65.
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6. An dieser Stelle wird es nötig, die von Locke nicht mitgeführten Definitionen von Geist, Seele und Verstand anzubringen. Ob er sie aus
Unachtsamkeit nicht eingearbeitet hat oder ob das Wissen über ihre Bedeutung integraler Bestandteil des Diskurses im England des 18.
Jahrhunderts war, sei dahingestellt: Verstand heißt die der Vernunft das Material liefernde Tätigkeit, sofern sie Begriffe bildet, urteilt oder schließt.
Der Verstand ist die "denkende Seele". Locke schreibt ihm die Fähigkeiten zu unterscheiden, vergleichen und abstrahieren zu. (vgl. Essay Kap.
2.11.12) Die Seele sind die Bewusstseinsregungen eines Lebewesens; der Inbegriff der mit dem Organismus eng verbundenen Erlebnisse
(besonders Gefühle & Triebe). Sie grenzt sich damit vom Geist ab. Im Essay schreibt Locke der Seele die Tätigkeiten "Nachdenken" und
"Betrachten" zu. Der (personale) Geist wird als Fähigkeit vererbt. Er gestaltet sich Zeit des Lebens selbst durch geistige Arbeit. Der Geist kann vom
Psychologischen nicht verstanden werden, da er seine eigenen Gesetze hat. Er ist autonom und hat keine erkennbaren Grenzen.
7. Vgl.: Specht, Rainer. John Locke. München 1989. S. 33.
8.. Der Essay bezieht sich an vielen Stellen auf Gott. Obwohl Locke innerhalb des Textes auch Gottesbeweise aufstellt, ist sein Umgang mit der
Religion eher auf das für die Epoche notwendigste reduziert. "Von besonderem Interesse ist sein Versuch, Begriffe wie [...] Gott, die sich gegen
empirische Deutungen sperren, in sein Konzept einzufügen.", schreibt Günter Gawlick hierzu. Vgl. Gawlick, Günter (Hrsg). Geschichte der
Philosophie in Text und Darstellung. Band 4. Empirismus. Stuttgart 1991. S. 76f.
9. Die Empirie Lockes steht damit im polaren Gegensatz zu den Theorien Siegmund Freuds, nach denen in den Träumen Inhalte des
Unterbewusstseins verarbeitet werden, die durchaus von Bedeutung sind.
10. Vgl. Essay. Kap. 2.1.19.
11. "Er entwirft eine neue Welt aus Atomen [...]", schreibt Rainer Specht hierzu. Es besteht eine Analogie zwischen einfacher und komplexer Idee,
wie zwischen Atom und Körper. Vgl. Specht, Rainer. John Locke. München 1989. S. 34.
12. So werden z. B. Tautologien, wie "Ein Ding kann nicht zugleich sein und nicht sein." aufgrund dieses Unterscheidungsvermögens erkannt.
13. Siehe Abb. Seite 7.
14. Vgl. Essay, Kapitel 2.11.15.
15. Das lässt wiederrum auf einen (primitiv-)realistischen Standpunkt Lockes schließen.
16. Vgl. Essay. Kapitel 2.21.2.
17. Auch "Willensäußerung", vgl. Essay. Kap. 2.21.5.
18. Dto. Kap. 2.21.5.
19. aufgrund der Widerlegung dieses Satzes, was für ihn nicht etwa heißt, er sei "unfrei", sondern dass der Wille als Kraft nicht die Freiheit (die
ebenfalls Kraft ist) besitzen könne.
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20. Essay. Kap. 2.21.8. Die Hervorhebung stammt nicht von Locke; sie zeigt aber die Nähe dieses Gedankens zu Kants Definition der Aufklärung,
wo es heißt "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist die Unfähigkeit, sich des
eigenen Verstandes ohne Hilfe Fremder zu bedienen." Vgl. Kant, Immanuel. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Akademische
Schriften Bd. VIII, 1912. (AA VIII 35).
21. Essay. Kap. 2.21.8.
22. Als deren Bestandteile sieht Rainer Specht die "Lehre der angeborenen Ideen" und der "ständig denkenden Seele". Vgl. Specht, Rainer. John
Locke. München 1989. S. 31 u. 33.
23. Vgl. Essay. Kap. 2.21.2.
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
Quelle
Locke, John. Versuch über den menschlichen Verstand. Band 1. Philosophische Bibliothek Bd. 75. Felix Meiner Verlag. 4. Auflage. Hamburg
1981.
Literatur
Gabriel, Gottfried. Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgenstein. Uni-Taschenbücher 1743. Verlag Ferdinand Schöningh.
Paderborn 1993.
Gawlick, Günter (Hrsg.). Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Band 4: Empirismus. Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart 1995.
Ferdinand Schöningh. Paderborn 1993.
Kunzmann, Peter u. a. dtv-Atlas zur Philosophie. Tafeln und Texte. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG. 2. Auflage. München 1992.
Störig, H. J. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. W. Kohlhammer Verlag Stuttgart. 5. Auflage. Stuttgart 1955.
Definitionen entnommen aus:
Schischkoff, Georgi. Philosophisches Wörterbuch. Alfred Kröner Verlag Stuttgart. 22. Auflage. Stuttgart 1991.
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