BD Sozial 3 2012 01

Transcrição

BD Sozial 3 2012 01
Ausgabe 3 | 2012
sozial
Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg
Hilfe für die Seele
Das Land plant ein Psychiatriegesetz
Erwartung
Herausforderung
Festlichkeit
Zufriedenheit
Leistungen und Finanzierung der
Sozialpsychiatrischen Dienste
müssen gesichert werden, sagt
Psychiatrieerfahrenen-Vertreter
Rainer Höflacher.
Y Seite 4
Im ländlichen Raum müssen
sozialpsychiatrische Fachkräfte besonders flexibel arbeiten
und oft weite Wege in Kauf
nehmen.
Y Seite 6
Das 40-jährige Bestehen der
BruderhausDiakonie-Werkstätten haben Menschen
mit und ohne Behinderung
gemeinsam gefeiert.
Y Seite 10
Die tägliche Arbeit in der Kantine der Arbeitsagentur VillingenSchwenningen gibt Menschen
mit psychischer Erkrankung das
Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.
Y Seite 13
Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz
E D I TO R I A L
sozial • Ausgabe 3 | 2012
Liebe Leserinnen und Leser,
weit mehr als drei Jahrzehnte ist es her, dass Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland ein „Gesetz
über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen
Krankheiten“ in Kraft gesetzt hat. In der Folge haben
auch die meisten anderen Bundesländer Gesetze
erlassen, die auf Landesebene die Versorgung psychisch kranker Menschen regeln. Baden-Württemberg hat als eines der letzten Bundesländer in diesem
Frühjahr begonnen, ein Landespsychiatriegesetz auf
den Weg zu bringen. Besonderheit: An der inhaltlichen Ausgestaltung sind Vertreter aller Gruppen
beteiligt, die in der psychiatrischen Versorgung
aktiv sind – einschließlich der Angehörigen- und
Betroffenen-Verbände. Im Interview lesen Sie die
Haltung eines Betroffenenverbands: Rainer Höflacher,
Geschäftsführer des Landesverbands PsychiatrieErfahrener, formuliert seine Erwartungen an das
künftige Landespsychiatriegesetz.
Wir richten außerdem den Blick auf unterschiedliche
Bereiche der sozialpsychiatrischen Arbeit: Wir stellen
eine Einrichtung in Stuttgart vor, in der Menschen
Schutz und Unterstützung finden, die neben ihrer
psychischen Krankheit mit sozialen Problemen und
einem schwierigen Umfeld zu kämpfen haben. Und
wir zeigen, wie sozialpsychiatrische Einrichtungen
und Dienste in einem eher ländlich geprägten Kreis
arbeiten.
Arbeit für Menschen mit psychischen Krankheiten
oder mit Handicaps bieten die Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Zeitgleich mit dem Jahresfest der BruderhausDiakonie haben die Werkstätten
in Reutlingen ihr 40-jähriges Bestehen gefeiert. Fotos
und Eindrücke dazu auf Seite 10. Dass Menschen mit
psychischer Erkrankung oder Behinderung eine Chance brauchen, auch auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig
sein zu können, lesen Sie im Bericht über die Kantine
der Arbeitsagentur Villingen-Schwenningen.
Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre
Ihre „Sozial“-Redaktion
Impressum
Inhalt
ISSN 1861-1281
TITELTHEMA
REGIONEN
3 Landespsychiatriegesetz:
12 Göppingen:
Rechtssicherheit für psychisch
Jugendliche bauen eine
Erkrankte
Stadtoase
4 Interview: Patientenrechte müssen
gestärkt werden
6 Sozialpsychiatrie auf dem Land:
Wohnortnahe Betreuung
7 Geschlossene Unterbringung:
Ziel ist das selbstständige Leben
14 Villingen-Schwenningen:
Die Arbeitsagentur beschäftigt
Menschen mit Handicap
14 Münsingen:
Ehrenamtliche betreuen
Pflegebedürftige
NACHRICHTEN
Herausgeber
Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender
Verantwortlich
Sabine Steininger (ste)
Redaktion
Martin Schwilk (msk), Sabine Steininger (ste),
Karin Waldner (kaw)
Mitarbeiter
Karoline Müller (klm), Wolfram Keppler (kep)
15 Aus der BruderhausDiakonie
Gestaltung und Satz
Susanne Sonneck
der BruderhausDiakonie:
DIAKONISCHER IMPULS
Teilhabe an Arbeit – aber wie?
16 Karin Ott:
Druck und Versand
Grafische Werkstätte der BruderhausDiakonie,
Werkstatt für behinderte Menschen
Erscheint vierteljährlich
KOLUMNE
9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender
Menschsein heißt, dazu zu
AKTUELL
10 Menschen mit und ohne Handicap
feierten „40 Jahre Werkstatt für
Menschen mit Behinderung“ der
BruderhausDiakonie
2
BruderhausDiakonie
Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg
Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen
Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955
Mail [email protected]
gehören
Fotonachweis
Titel + Seite 3: photocase.com; Seite 4 + 16: privat;
Seiten 10+11: factum/Weise; Seite 13: kep;
Seite 15: Norbert Leister; alle anderen: Archiv und
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BruderhausDiakonie
Spendenkonto
Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel,
BLZ 520 604 10, Konto 4006
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Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz
T I T E LT H E M A
Landespsychiatriegesetz
Rechtssicherheit für psychisch Erkrankte
Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Lauf des Lebens psychisch krank zu werden, steigt. Psychische
Störungen und psychische Krankheiten sind nach
Angaben des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen zum dritthäufigsten Grund für Krankschreibungen geworden. Sie verursachen die längsten
Fehlzeiten am Arbeitsplatz und zunehmend mehr
Frühberentungen.
Hilfe finden psychisch Erkrankte in Kliniken oder bei
niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten. Erkrankte, die umfassendere Hilfe brauchen –
etwa auch im Alltag – finden Unterstützung bei den
sozialpsychiatrischen Einrichtungen und Diensten. Im
Idealfall stellen die Dienste innerhalb eines Landkreises alle notwendigen Hilfen bereit, die ein psychisch
Erkrankter braucht, um so zu leben wie alle anderen
Bürger auch. Und sie helfen mit, ständig sich wiederholende Klinikaufenthalte zu vermeiden. So arbeiten
in den Gemeindepsychiatrischen Zentren verschiedene Dienste zusammen, die in der entsprechenden
Region gemeinsam für psychisch kranke Menschen
eine Grundversorgung bieten: ärztliche Sprechstunden, Hausbesuche und ambulante Betreuung,
Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, Freizeitund Gesprächsangebote in den Tagesstätten.
Dabei sind die Sozialpsychiatrischen Dienste Drehund Angelpunkt in diesem System. Diese kümmern
sich besonders um Menschen, die wegen ihrer Krankheit nicht in der Lage sind, von sich aus Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie beraten und unterstützen die
Erkrankten in Krisen. Sie helfen ihnen, notwendige
ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen, und
schauen in Notfällen danach, dass Erkrankte ein Dach
über dem Kopf haben und geregeltes Essen bekommen. Sie vermitteln die entsprechenden Hilfen und
beraten auch Angehörige und Bezugspersonen von
psychisch Erkrankten.
Vor einigen Jahren kürzte das Land seinen Beitrag
zur Finanzierung der Sozialpsychiatrischen Dienste,
die Mitte der 1980er Jahre eingerichtet worden sind.
Das führte landesweit zur personellen Ausdünnung
der Dienste. Das Netzwerk Psychiatrie, in dem die
wichtigsten sozialpsychiatrischen Verbände BadenWürttembergs zusammengeschlossen sind, monierte
deshalb 2010 in einem Positionspapier: „Mit Sorge
stellen die Unterzeichner fest, dass sich
in den letzten Jahren die sozialpsychiatrische Grundversorgung kontinuierlich verschlechtert hat.“ Vor allem die
schwerer psychisch Erkrankten würden
„immer weniger die notwendige Unterstützung erhalten“.
Das könnte jetzt anders werden: Die
grün-rote Landesregierung hat sich in
ihrer Koalitionsvereinbarung festgelegt, noch in dieser Legislaturperiode
ein Landespsychiatriegesetz auf den
Weg zu bringen. Ein solches Gesetz
fordern die Fachleute schon seit Jahrzehnten. BadenWürttemberg, Bayern und Hessen sind die letzten
Bundesländer ohne eigenes Psychiatriegesetz.
Darüber hinaus erzwingen mittlerweile auch zwei
Urteile des Bundesverfassungsgerichts neue gesetzliche Regelungen. Die Urteile stärken das Selbstbestimmungsrecht psychisch Erkrankter und erklären
Zwangsbehandlungen nach den bisherigen gesetzlichen Bedingungen für unzulässig.
„Erstmals werden in Baden-Württemberg durch ein
Gesetz für psychisch kranke Menschen Hilfen und
Schutzmaßnahmen zusammengeführt und gesetzlich geregelt“, kündigt Sozialministerin Katrin Altpeter an. Den Betroffenen solle in jedem Krankheitsstadium die passende Hilfe angeboten werden.
„Bedeutung hat das Landespsychiatriegesetz vor
allem für die Sicherstellung der psychiatrischen
Grundversorgung durch die Sozialpsychiatrischen
Dienste, sowie für die Abstimmung der Versorgung
vor Ort und für das Unterbringungsrecht“, meint Georg Schulte-Kemna, Leiter des Geschäftsfelds Sozialpsychiatrie der BruderhausDiakonie.
Arbeitsgruppen, zu denen Wissenschaftler und
psychiatrische Praktiker gehören sowie Vertreter der
Kommunen und der Verbände, Angehörigenvertreter
und Psychiatrieerfahrene, erstellen derzeit in einem
mehrmonatigen Prozess ein Eckpunktepapier.
Dieses soll im kommenden Jahr in einen Referentenentwurf für das Landespsychiatriegesetz münden.
msk Z
Die Grundversorgung psychisch
kranker Menschen soll auch in
Baden-Württemberg gesetzlich
geregelt werden
+ www.landespsychiatrietag.de/download.html
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Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz
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Erwartungen der Selbsthilfegruppen
Patientenrechte müssen gestärkt werden
Was erhoffen sich Menschen mit eigener Psychiatrieerfahrung von einem Landespsychiatriegesetz? Im Interview: Rainer Höflacher, Geschäftsführer des badenwürttembergischen Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener.
Y Viele an der Versorgung von Menschen mit psychi-
Rainer Höflacher
will nicht Ängste
vor der Psychiatrie schüren,
sondern sie mit
guten Ideen aus
Betroffenensicht
besser machen
scher Erkrankung Beteiligte fordern seit langem, auch
die Hilfen außerhalb der Kliniken stärker gesetzlich zu
regeln. Versprechen Sie sich als Vertreter von Psychiatrie-Erfahrenen etwas davon, dass Verfahrensweisen in
Gesetzesform gegossen werden?
Dass wir bei der Entwicklung des Landespsychiatriegesetzes mitarbeiten, zeigt ja, dass wir meinen, dass
auch in der Psychiatrie bestimmte Sachverhalte der
Gesetzesform bedürfen. Das Problem der Überregulierung muss dabei jedoch immer im Auge behalten
werden. Ein Gesetz muss praktikabel sein, sollte aber
auch richtungsweisend wirken und die Gesellschaft
weiterentwickeln. Zudem muss darauf geachtet
werden, dass Zustände nicht zementiert werden. Im
Bereich der Zwangsmaßnahmen besteht derzeit eine
große Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Rechtspraxis.
Y Warum ist ein Landespsychiatriegesetz notwendig?
Welche Punkte müssen dabei geregelt werden?
Ein Landespsychiatriegesetz ist notwendig, da es
im Bereich der ambulanten Hilfen bisher zu wenig
rechtliche Vorgaben gibt. Es ist uns wichtig, dass zum
Beispiel der Gemeindepsychiatrische Verbund, der Sozialpsychiatrische Dienst und Beschwerdeinstanzen
gesetzlich verbindlich festgeschrieben und in der
Gesetzesbegründung ausdifferenziert werden. Dies
wirkt sich natürlich auch auf deren Finanzierung aus.
Der zweite wichtige Bereich sind die Patientenrechte.
Hier sind Teile der bisherigen Paragrafen nicht mehr
Die Erduldung von Gewalt ist die schrecklichste Erfahrung, die die Psychiatrie uns
Psychiatrieerfahrenen antun kann.
auf der Höhe der Zeit. Das zeigt sich ja auch darin,
dass das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen 8 des Unterbringungsgesetzes, der unter
anderem Zwangsmedikation regelt, für verfassungswidrig erklärt hat.
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Und drittens fehlte es bisher an der Standardisierung
des Berichtswesens, nach dem Motto „Daten für Taten“. Für den Patientenschutz, Politik, Forschung und
Psychiatrieplanung ist das sehr wichtig. Dafür müssen neue Strukturen und Institutionen geschaffen
werden.
Wir brauchen ein spezialisiertes Eingehen
auf psychotische und fremdaggressive
Menschen.
Y Bei einer Anhörung der Grünen zum Landespsychiatriegesetz haben Sie den Schwerpunkt auf die
gesetzliche Regelung von Zwangsmaßnahmen in der
Psychiatrie gelegt. Worum es ging Ihnen dabei hauptsächlich?
Die Erduldung von Gewalt ist die schrecklichste Erfahrung, die die Psychiatrie uns Psychiatrieerfahrenen
antun kann. Mir kam es darauf an, einerseits auf die
Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Menschenwürde hinzuweisen, von denen viele Psychiatrieerfahrene berichten. Andererseits einzugestehen, dass
es zurzeit bezüglich Fremd- oder Eigengefährdung
bei einsichtsunfähigen Psychiatrieerfahrenen nicht
immer ohne Zwang und Gewalt geht. Wir brauchen
hier ein spezialisiertes Eingehen auf Menschen, die
hoch psychotisch und fremdaggressiv sind. Gleichbehandlung mit Nicht-Psychiatrieerfahrenen dient hier
nicht dem Wohl des Patienten.
(Anmerkung der Redaktion: Manche Psychiatrieerfahrenen lehnen jede Art von Behandlung, die speziell für
Psychiatrieerfahrene gedacht ist, ab und verlangen
eine Behandlung, wie sie bei anderen Bürgern angewendet werden würde. Das heißt in solchen Fällen:
Strafvollzug statt Psychiatrie.)
Wichtig war mir auch darzulegen, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen Zwangsmaßnamen
angebracht sein könnten. Es war für uns keine leichte
Entscheidung, Zwangsbehandlungen für solche Patienten nicht zuzulassen, die nur einsichtsunfähig und
nicht fremdgefährdend sind. Es können bei dieser
Haltung erhebliche Nachteile für die betroffenen Psy-
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Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz
chiatrieerfahrenen und ihre Angehörigen entstehen,
die für diese teilweise kaum zu ertragen sind. Das
muss aber in Kauf genommen werden zugunsten der
Patientenschutzrechte. Diese dürfen hier nicht eingeschränkt werden.
Der Sozialpsychiatrische Dienst ist ein
unverzichtbarer Baustein innerhalb eines
Gemeindepsychiatrischen Zentrums.
Y Ein Problem sind Erkrankte, die ihre Krankheit nicht
als solche sehen und Hilfe nicht in Anspruch nehmen
oder ablehnen. Um sie kümmern sich die Sozialpsychiatrischen Dienste. Sehen Sie hier gesetzlichen Regelungsbedarf?
Außer bei Zwangsmaßnahmen sehe ich bei diesen
Menschen keinen Regelungsbedarf. Hier kann nur
durch gesetzlich nicht festlegbare menschliche Wertschätzung und Fachkompetenz geholfen werden. Die
Alltagsfähigkeiten und das Leiden dieser Personen
müssen im Mittelpunkt stehen. Der Sozialpsychiatrische Dienst ist ein unverzichtbarer Baustein innerhalb eines Gemeindepsychiatrischen Zentrums.
Er bietet sehr niederschwellige und aufsuchende
Hilfen an und ist bisher in den meisten Landkreisen
die entscheidende Drehscheibe im Zusammenspiel
ambulanter psychiatrischer Angebote. Seine Finanzierung und sein Leistungsangebot müssen gesichert
sein. Ich vermute, dass mein Leben ohne den Sozialpsychiatrischen Dienst und die Tagesstätte weitaus
negativer verlaufen wäre. Vielleicht würde ich gar
nicht mehr leben.
Y Wo sehen Sie die Grenzen, ab denen es nötig sein
kann, in das Selbstbestimmungsrecht schwer Erkrankter einzugreifen? Brächte eine gesetzliche Festlegung
dieser Grenze Verbesserungen für Betroffene?
Das Recht auf Selbstbestimmung wird eingeschränkt
durch die Rechte anderer und durch Ansprüche der
Gesellschaft. Es ist dem Wandel unterworfen. Ohne
ein hohes Maß an Selbstbestimmung ist in unserer
Kultur kein erfülltes und glückliches Leben mehr
vorstellbar. Es besteht aber die Gefahr, dass das Recht
auf Fürsorge vernachlässigt wird und dem Psychiatrieerfahrenen die notwendige Hilfe vorenthalten
wird. Die Gewährung von Selbstbestimmung geht
Hand in Hand mit der Übertragung von Eigenverantwortung, was den kranken Menschen überlasten
kann. Die Patientenrechte müssen gestärkt werden,
was ja gerade mit einem neuen Gesetz geschieht.
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Bezüglich Selbstbestimmung setzt auch die Behindertenrechtskonvention wichtige Impulse. Darüber
hinaus sehe ich hier keine Notwendigkeit für weitere
Gesetze.
Y Sehen Sie sich als Vertreter eines Betroffenenver-
bands im bisherigen Hilfesystem genügend eingebunden? Was muss passieren, damit die Selbsthilfe stärker
unterstützt wird?
Inzwischen sind wir im (sozial)psychiatrischen Hilfesystem gut eingebunden. Immerhin feiern wir 2013
unser 20-jähriges Bestehen. Das liegt aber auch daran, dass wir mitarbeiten und mitgestalten wollen.
Wir gehen den schweren ‚Gang durch die Institutionen‘ und verstehen die Psychiatrie nicht grundsätzlich als unseren Gegner. Wir wollen nicht Ängste vor
der Psychiatrie wecken, sondern sie mit konstruktiver
Kritik und guten Ideen aus Betroffenensicht besser
machen. Allerdings dürfen Psychiatrieerfahrene
teilweise nur aus Imagegründen mitwirken oder sie
werden instrumentalisiert und nicht wirklich ernst
genommen. Aber man bestimmt ja selbst, inwieweit
man sich ausnutzen und vom System missbrauchen
lässt.
Es ist zudem sehr schwer, Mitmacher für
die oft trockene und zähe Psychiatriepolitik
zu finden.
Leider gibt es immer noch Landkreise, die Psychiatrieerfahrene nicht im Gemeindepsychiatrischen
Verbund haben wollen. Ängste, Vorurteile, Ignoranz
und radikale Psychiatrieerfahrene verhindern dort
die konstruktive Zusammenarbeit. Interessant wird
es allerdings da, wo Konflikte entstehen, die beiden
Seiten wirklich wehtun. Hier zeigt sich dann, wie
tragfähig und wirksam die aufgebauten Beziehungen
tatsächlich sind. Es ist zudem sehr schwer, Mitmacher
für die oft trockene und zähe Psychiatriepolitik zu
finden. Die konkrete Selbsthilfe direkt am Menschen
wirkt da ungleich attraktiver. Hier wäre es sicherlich
hilfreich, wenn auch von dritter Seite Werbung für
unsere Sache gemacht würde. Es gibt noch einiges an
Verbesserungspotenzial in unserer Arbeit. Vor allem
aber brauchen wir eine finanzielle Basis, die gute
Arbeit weiterhin möglich macht.
msk Z
+ www.psychiatrie-erfahrene-bw.de
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Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz
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Sozialpsychiatrie auf dem Land
Wohnortnahe Betreuung für Klienten
Im ländlichen Raum bieten Unterstützungszentren Hilfen für psychisch Kranke.
Fachkräfte nehmen lange Strecken in Kauf, um ihre Klienten direkt am Wohnort
zu betreuen.
Matthias Geiger und Senta
Fezer sichern
samt Team die
psychiatrische
Versorgung im
Alb-Donau-Kreis
6
Der Tag beginnt früh im Unterstützungszentrum
Laichingen. Der Kaffee duftet, die Menschen sprechen
leise und freundlich miteinander. Dann greift Betriebsamkeit um sich. Sozialpädagogen und Heilerziehungspfleger fahren los, um Klienten aufzusuchen.
Im Unterstützungszentrum im oberen Stock beginnt
kurz nach acht die Besprechung von Teamleiter
Matthias Geiger und
Regionalleiterin Senta
Fezer. Sie treffen sich
ein- bis zweimal pro
Woche, sprechen aktuelle Themen durch,
planen und koordinieren Termine. Als
Teamleiter ist Geiger
verantwortlich für
den reibungslosen
Ablauf im Unterstützungszentrum. Er erstellt Dienstpläne, koordiniert
Leistungen, baut Kontakte zur Gemeinde auf und
betreut zudem Klienten. „Die Teamleiter sind unsere
Leute, die dafür sorgen, dass die Arbeit in den Unterstützungszentren funktioniert.“, erklärt Senta Fezer.
Als Regionalleiterin des nördlichen Alb-Donau-Kreises pendelt sie zwischen den Standorten Laichingen
und Langenau, kümmert sich um das Zusammenspiel der Einrichtungen, das Management und um
Personalfragen. Die Themen sind so umfangreich
wie die zu erbringenden Leistungen. Im Laichinger
Unterstützungszentrum gibt es zum Beispiel einen
offenen Treffpunkt: eine Tagesstätte für Menschen
mit psychischer Erkrankung, für einzelne Personen
Angebote mit tagesstrukturierenden Maßnahmen
sowie Arbeitsangebote in Kooperation mit der St.
Elisabeth-Stiftung. Hier ist auch die Außenstelle des
Sozialpsychiatrischen Dienstes, über den die Grundversorgung psychisch kranker Menschen erfolgt und
Soziotherapie angeboten wird, sowie ein Stützpunkt
für ambulant betreutes Wohnen. Sechs Fachkräfte
und drei Betreuungshilfskräfte erbringen für Laichin-
gen und Umgebung diese Leistungen. Konkret heißt
das, dass die Mitarbeitenden sehr vielseitig und flexibel arbeiten müssen. „Keiner kann mehr sagen, dass
etwas nicht zu seinen Aufgaben gehöre“, sagt Fezer.
Rund 100 Klienten hat das Unterstützungszentrum
Laichingen, die in unterschiedlichen Formen ambulant betreut werden. Im gesamten nördlichen AlbDonau-Kreis sind es an die 250 Klienten. Und jeder
Klient hat seine ganz persönliche Geschichte. Fezer
und Geiger haben ganze Schicksale in ihrer Obhut:
ein Ehepaar zum Beispiel, das mehr Aufmerksamkeit
fordert, als derzeit geleistet werden kann. Oder eine
Frau mit schwerer psychischer Erkrankung, die im
Rahmen des ambulant betreuten Wohnens umziehen
will, sich aber nicht von altem Krempel trennen kann.
Geiger stellt den Dienstplan seiner Kollegen so um,
dass die Sozialarbeiterin beim Umzug helfen kann,
die die Klientin am besten kennt. „Flexibilität zieht
sich bei uns durch alle Arbeitsbereiche“, erklären
Fezer und Geiger.
Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit der Gemeinde. So hat Matthias Geiger erreicht, das Unterstützungszentrum Laichinger Bürger bekannter zu
machen und mit den städtischen und kirchlichen
Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Mitarbeitende
des Unterstützungszentrums sind zum Beispiel regelmäßig auf dem Wochenmarkt vertreten – mit kunsthandwerklichen Produkten aus dem Laden „Haltestelle“. Auf diese Weise knüpft Geiger Kontakte in der
Stadt, beugt möglichen Vorurteilen vor und bindet
die sozialpsychiatrische Arbeit wie selbstverständlich
in das Laichinger Stadtleben ein.
Direkt gegenüber dem Unterstützungszentrum entsteht derzeit ein Wohnhaus für Menschen mit psychischer Erkrankung. Ab Herbst 2013 können hier bis
zu 20 Menschen mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf leben. „Die zentrale Lage ist perfekt für
unsere Klienten“, freut sich Senta Fezer „hier können
wir ihnen passgenaue Hilfen mitten in der Stadt anbieten.“
klm Z
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Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz
T I T E LT H E M A
Die Sozialpsychiatrischen Hilfen im Alb-Donau-Kreis
Die Hilfeleistungen für psychisch
kranke Menschen im Alb-DonauKreis wurden in den letzten
Jahren stark ausgebaut. Gudrun
Reuther, Dienststellenleiterin
der Sozialpsychiatrischen Hilfen
im Alb-Donau-Kreis, hat daran
maßgeblich mitgewirkt. Vor
zwölf Jahren intensivierten die
regionalen Träger die gemeindenahe Versorgung: Sie begannen,
sich effektiver zu vernetzen und
ihre Leistungen kooperierend
zu nutzen. Es entstand die Idee
eines Gemeindepsychiatrischen
Zentrums (GPZ), um sozialraumorientiert und leistungsfähig
Hilfeleistungen anbieten zu
können. 2005 eröffneten sie das
heutige GPZ in Ehingen. Im GPZ
bieten fünf verschiedene Träger
Hilfeleistungen an: „Wir sind
hier sehr breit aufgestellt“, fasst
Reuther zusammen. Seit 2006
forcieren die Kooperationspartner die Dezentralisierung: Standorte wie Langenau und Laichingen werden seitdem dezentral
verwaltet, mit jeweils eigener
Teamleitung und eigener Buch-
haltung. „Der
Kreis und das
Sozialdezernat setzen
sich hier
stark ein“,
sagt Gudrun
Reuther. Doch
trotz Förderung gebe es
insbesondere
im ambulanten Bereich noch keine ausreichende Finanzierung:
„Diese muss dringend gesichert
werden.“
Besichtigung der
Baustelle des
neuen Wohnhauses für Menschen
mit psychischer
Erkrankung
Geschlossene Unterbringung
Ziel ist das selbstständige Leben
Wenn psychische Krankheit einhergeht mit sozialen Problemen und einem
schwierigen Umfeld, brauchen Erkrankte manchmal Schutz vor sich selbst und vor
anderen. Im Haus Maybachstraße in Stuttgart finden sie Sicherheit – und Unterstützung auf dem Weg zurück in die Selbstständigkeit.
Wer hierher kommt, hat schon einiges hinter sich:
Psychosen, Drogen, Wohnungslosigkeit – und eine
oftmals langjährige Odyssee durch psychiatrische
Kliniken und Heime. Es sind Menschen, die „durch
alle Raster gefallen sind“, wie Klaus Masanz sagt.
Masanz leitet gemeinsam mit seinem Kollegen Jürgen Baur das Haus Maybachstraße im Stuttgarter
Norden. Das ist eine geschlossene Einrichtung für
Frauen und Männer, für die es bisher keine passende
Hilfe gab. Für psychisch kranke Menschen, die Schutz
brauchen. Vor sich selbst, aber auch vor anderen:
Hin und wieder stehen Dealer vor der Tür oder Typen
aus dem Rotlichtmilieu. Dann ist es gut, dass die
Türen geschlossen sind.
Vor einem Jahr haben die Sozialpsychiatrischen
Hilfen Stuttgart der BruderhausDiakonie und die
Rehabilitationseinrichtung Rudolf-Sophien-Stift auf
Betreiben der Stadt Stuttgart gemeinsam das Haus
Maybachstraße eröffnet. Unterstützt von einem
23-köpfigen Team aus Sozialpädagogen, Heilerziehungspflegerinnen, psychiatrischen Pflegefachkräften, Arbeitserziehern und Hauswirtschaftskräften
leben hier 26 Frauen und Männer im Alter zwischen
22 und 60 Jahren. Mehr als die Hälfte dieser psychisch kranken Menschen ist unter 35.
Auch Daniel Zeiger (Name geändert), ein fast zwei
Meter großer Hüne mit Rastalocken, Baseball-Shorts
und kräftig-blauem T-Shirt, zählt gerade mal 30 Jahre. Vor einem Jahr kam er ins Haus Maybachstraße.
Bis dahin hatte er schon eine Menge mitgemacht.
Bereits in der Jugend häuften sich die Probleme: Drogen, Diebstähle, Schwarzfahren, psychische Schwierigkeiten. Seine Fliesenlegerlehre hielt der gebürtige
Berliner, der in Stuttgart aufwuchs, zwei Jahre durch.
Dann schmiss er vorzeitig hin. „Ich war einfach noch
zu jung“, beschwichtigt er heute, wenn er auf diese
turbulente Zeit zurückblickt. Seine Eltern wussten
sich damals nicht mehr zu helfen und warfen den
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Klaus Masanz
(links) bespricht
mit Daniel Zeiger
den Tagesverlauf
Sohn aus der Wohnung, als er 18 geworden war.
Nach einigen Straftaten schickte ihn das Gericht wegen seines starken Drogen- und Alkoholkonsums und
seiner psychischen Erkrankung statt ins Gefängnis
in die forensische Psychiatrie. Vier Jahre, erzählt er,
verbrachte er dann in der forensischen Abteilung der
Psychiatrischen Klinik Weißenau.
Die anschließende Rehabilitationsmaßnahme in
Stuttgart sollte ihn wieder arbeitsfähig machen.
Während dieser Zeit
lebte er in einem psychiatrischen Wohnheim.
„Das war wie in einer
großen Wohngemeinschaft mit 20 Leuten auf
zwei Stockwerken“, erinnert er sich. Von dort aus
absolvierte er mehrere
Praktika, unter anderem in einem Jugendhaus und
in einer Schreinerei. Am ehesten zugesagt hat ihm
das Schreinern: „Da hab ich am längsten gearbeitet,
das war nicht schlecht.“ Zu einer dauerhaften Arbeit
führte das aber nicht.
Nach dem Auslaufen der Reha-Maßnahme suchte
sich der psychisch kranke Mann ein eigenes Ein-Zimmer-Apartment, wo er ambulant betreut wurde. „Ich
hatte keine Arbeit, aber viel Freizeit, ging öfter in die
Stadt und habe mich mit Freunden getroffen“, fasst
er die Jahre, die er in der eigenen Wohnung lebte, in
der Rückschau zusammen. Am Ende auch hier wieder:
Zwangseinweisung in die psychiatrische Klinik – weil
die Wohnung „nicht mehr topp war“, weil er nicht
mehr zum Arzt ging und weil er „wegen Alkohol,
Schwarzfahren, Diebstahl und ein paar Kleinigkeiten“
zur Gefahr für sich selbst und andere geworden war.
Viele der jüngeren Maybachstraßen-Bewohner, erzählt Klaus Masanz, haben ähnliche Karrieren durchlebt wie Daniel Zeiger: Psychosen und Persönlichkeitsstörungen mit häufigen Aufenthalten in psych-
Das Haus Maybachstraße in Stuttgart
Einrichtungen wie diese sind in Baden-Württemberg noch selten.
Die erste hat die Evangelische Gesellschaft 2001 in Stuttgart-Freiberg eröffnet. Eine weitere vergleichbare, kleinere Einrichtung betreibt die BruderhausDiakonie seit einigen Jahren in Reutlingen. Die
Einrichtungen arbeiten eng mit Kliniken, den Sozialpsychiatrischen
Diensten und den anderen Anbietern der psychiatrischen Grundversorgung zusammen.
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sozial • Ausgabe 3 | 2012
iatrischen Kliniken, keine Ausbildung, Drogen- und
Alkoholprobleme, Kontakte zum kriminellen Milieu.
„Die Klienten sind oft ungeduldig und ihr Verhalten
ist sehr herausfordernd.“ Alle haben mehrfache
vergebliche Versuche hinter sich, mit Hilfe des Sozialpsychiatrischen Dienstes und ambulanter Betreuung
einen Fuß auf den Boden zu kriegen. „Es handelt sich
um Klienten, die die sozialpsychiatrische Versorgung
bisher nicht erreichen konnte“, weiß Masanz. Einige
haben viele Monate in den geschlossenen Stationen
psychiatrischer Kliniken zugebracht. Andere lebten
eher unterversorgt und fernab von Angehörigen und
ihrem früheren Lebensumfeld in psychiatrischen Pflegeheimen irgendwo auf dem Land.
Im Haus Maybachstraße wird intensiv versucht, die
Klienten so zu stabilisieren, dass sie eine regelmäßige
Arbeit durchhalten, sei es auch nur für ein paar Stunden am Tag. Und es wird darauf hingearbeitet, dass
sie wieder selbstständig in einem offenen Wohnheim
oder ambulant betreut in der eigenen Wohnung leben können.
Daniel Zeiger hat bereits ein klares Ziel: „Wieder eigenständig wohnen, darauf arbeite ich hin“, sagt er.
Und „eine kleine Arbeit“ wünscht er sich, damit er
wieder mehr Geld in der Tasche hat – etwa eine Teilzeitarbeit im Verkauf oder im Lager. Unter der Woche
besucht er täglich die sogenannte Arbeitsgruppe des
Hauses Maybachstraße – und die Suchtgruppe, die
für alle verpflichtend ist, die eine Alkohol- oder Drogenkarriere hinter sich haben.
Das Beschäftigungsangebot im Haus ist vielfältig.
Soeben hat Daniel Zeiger in der Arbeitsgruppe
beispielsweise Gartenmöbel geschreinert für den
Grillabend auf dem Dachgarten. Darüber hinaus
mäht und pflegt er regelmäßig den Rasen. Dieses
Beschäftigungsangebot ist wichtig, wie Klaus Masanz betont. „Denn wir sehen den Aufenthalt hier als
Übergang, als Vorbereitung auf ein selbstständiges
Leben – auch wenn wir wissen, dass manche Klienten
bis dahin noch viele Jahre brauchen werden.“
Daniel Zeiger geht jetzt schon häufig selbstständig in
die Stadt, ins Freibad oder in die Videothek. Und hin
und wieder fährt er mit der Bahn übers Wochenende
zu seinen Eltern, die mittlerweile aus Stuttgart weggezogen sind. Auch mit der gewünschten Teilzeitarbeitsstelle könnte es im Lauf des kommenden Jahres
etwas werden. Aber erst muss er noch einmal vor
Gericht. „Die Verhandlung muss erledigt sein“, sagt
er. Dann kann der nächste Schritt in die Selbstständigkeit folgen.
msk Z
KO L U M N E
sozial • Ausgabe 1
3 | 2012
Lothar Bauer: Teilhabe an Arbeit – aber wie?
Pfarrer Lothar
Bauer, Vorstandsvorsitzender der
BruderhausDiakonie
„Früher durfte man nichts sagen.“ So erzählte Robert
Kleinheitz, Vorsitzender des Werkstattrates, in einer
Diskussionsrunde anlässlich der Einweihung der
erweiterten und sanierten Werkstätten der BruderhausDiakonie in Reutlingen. Es habe nur einfachste
Arbeiten gegeben, keine Fortbildungen und kein Mitspracherecht. Robert Kleinheitz blickt auf eine lange
Zeit der Mitarbeit in der Werkstatt zurück. Die Arbeit
ist anspruchsvoller und vielfältiger geworden. Es werden zahlreiche Fortbildungen angeboten und – man
darf mitreden. Die Werkstatträte sind die Interessensvertretung der Werkstattbeschäftigten.
Das Paradigma heute heißt Inklusion.
Die Werkstätten der BruderhausDiakonie sind Teil eines leistungsfähigen und in der ganzen Republik flächendeckend ausgebauten Systems von Werkstätten
für Menschen mit Behinderung. Lange war das deutsche Werkstättensystem ein Vorzeigemodell. Jetzt
wird es kritisch hinterfragt. Es sei ein „exklusives“
Modell. Es schließe Menschen mit Behinderung vom
allgemeinen Arbeitsmarkt aus. Das Paradigma heute
heißt „Inklusion“. So fordert es die UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderung. „Die
Vertragsstaaten“, heißt es in dem Übereinkommen
der Vereinten Nationen, das vom deutschen Bundestag ratifiziert wurde, „anerkennen das gleiche Recht
von Menschen mit Behinderung auf Arbeit.“ Roland
Es braucht qualifizierte Assistenz, damit Menschen mit Behinderung am
ersten Arbeitsmarkt ankommen und
dort bestehen können.
Klinger, Direktor des Kommunalverbandes für Jugend
und Soziales, nennt als Zielgröße zehn Prozent der
Werkstattbeschäftigten, die auf dem ersten Arbeitsmarkt unterkommen sollten.
Qualifizierte Assistenz wird nötig sein, damit Menschen mit Behinderung am ersten Arbeitsmarkt ankommen und dort bestehen können. Inklusion wird
vermutlich auch kein Sparmodell werden. Arbeitgeber in der Industrie, im Handwerk und in Verwaltungen werden auch einen angemessenen Ausgleich für
die Leistungsfähigkeit der Menschen mit Behinderung fordern, wenn sie denn Arbeitsplätze anbieten
sollen.
Künftig wird die Assistenz in vielen Fällen nicht mehr
in unseren Räumen, in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung erbracht werden, sondern in
normalen Betriebszusammenhängen. Erste Erfahrungen sammeln wir bereits damit.
In Kooperation mit Industrie- und Handwerkspartnern werden Menschen mit Behinderung an Arbeitsplätzen in normalen Betrieben betreut. „Assistenz
auf Rädern“ wird nötig sein, dann werden viele Menschen mit Behinderung auch am ersten Arbeitsmarkt
ankommen.
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AKTUELL
sozial • Ausgabe 3 | 2012
Jahresfest der BruderhausDiakonie mit Festakt „40 Jahre
Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ in Reutlingen:
Rund 5000 Gäste kamen am letzten Junisonntag
Menschen mit und ohne Handicap backten, kochten,
malten und musizierten für die vielen Besucherinnen
und Besucher
Menschen mit und ohne Handicap feierten 40 Jahre Werkstatt
Arbeitsplatz Werkstatt: Seit 37 Jahren arbeitet Gudrun Weber hier.
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Im ersten Moment wirkt der riesige Saal fast wie eine
Wattewolke mit all den weißen Wollrohlingen für
Babyjäckchen und Windeln, die sich kistenweise auf
Tischen und Nähmaschinen stapeln. Das Surren der
Maschinen holt Besucher schnell in die Realität: 60
Hände säumen Stoffbahn für Stoffbahn. 30 Frauen
nähen hoch konzentriert verkaufsfertige Babykleidung.
Die Textile Fertigung der Werkstätten für behinderte
Menschen (WfbM) der BruderhausDiakonie hat die
neuen Räume auf dem Reutlinger Gaisbühlgelände
erst vor kurzem bezogen. „Es ist alles ziemlich groß
hier und professionell“, stellt Gudrun Weber fest. Die
resolute Frau hat eine leichte geistige Behinderung.
Sie arbeitet seit knapp vier Jahrzehnten in der Werk-
statt. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen, sie steht nicht gerne in der Öffentlichkeit. In der
Textilen Fertigung säumt sie Wollwindeln und näht
Etiketten an. „Ich helfe aber auch viel an anderen
Stationen“, erzählt sie.
Gudrun Weber kennt die Werkstätten wie kaum
eine andere. Als junge Frau kam sie nach ihrem Sonderschulabschluss und einer beruflichen Zwischenstation in Bad Boll 1975 nach Reutlingen. Sie hatte
eine Ausbildung zur hauswirtschaftlich-technischen
Helferin absolviert, aber keine Anstellung. Gudrun
Weber arbeitete zunächst in der Metallbearbeitung.
„Das hat großen Spaß gemacht, vor allem das Fräsen,
Bohren und Feilen“, erzählt sie noch heute mit leuchtenden Augen. Ein wenig verschmitzt fügt sie hinzu,
Der Reutlinger Bundestagsabgeordnete Pascal Kober, FDP,
nahm am Gottesdienst zum Jahresfest teil. Die Predigt hielt
Pfarrer Hartmut Zweigle, Gustav-Werner-Biograf
Robert Kleinheitz, Vorsitzender Werkstattrat, Roland Klinger,
Verbandsdirektor Kommunalverband für Jugend und Soziales,
Gerhard Droste, Leiter Werkstätten, Martin Holder, Wafios AG,
und Andreas Bauer, Sozialdezernent Landkreis Reutlingen, diskutierten über Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung
sozial • Ausgabe 3 | 2012
Im Gottesdienst zum Thema „Teilhabe an Arbeit“ erzählten
Beschäftigte der Werkstätten von ihrer Tätigkeit in der BruderhausDiakonie
AKTUELL
Zu Gast: Barbara Bosch, Oberbürgermeisterin von Reutlingen
und Martin Bauch, Stiftungsratsvorsitzender der BruderhausDiakonie
für Menschen mit Behinderung der BruderhausDiakonie
Im Bereich Metall hat sie ihren Ehemann kennengelernt
im Metallbereich habe sie auch ihren heutigen Mann
kennengelernt, mit dem sie seit Jahren in einer eigenen Wohnung wohnt. Irgendwann wurde die Arbeit
mit dem Metall zu schwer, Gudrun Weber wechselte
in den Bereich Elektronik, sie lötete Platinen. Schließlich landete sie beim Nähen.
Besonders stolz ist sie auf ihr eigenes Zuhause. Hin
und wieder erhält sie ambulante Unterstützung
durch die BruderhausDiakonie. Das meiste bewältigt
sie mit ihrem Mann zwar gut allein, manchmal sei
aber auch Rat nötig. „Dann wende ich mich an die
Beratungsstelle, die helfen uns.“
Gudrun Weber schiebt Bahn für Bahn unter der Nadel
an der Maschine hindurch, dreht und wendet den
Stoff. Wie viele Windeln sie am Tag säumt, kann sie
nicht beziffern, einige Hundert werden es wohl sein.
Sie fühlt sich wohl in der Werkstatt, auch wenn der
Druck heute größer geworden ist, weil viele Aufträge
fertigzustellen sind. „Früher war es gemütlicher“,
sagt sie, „aber ich mag die Arbeit und möchte hier bis
zur Rente bleiben.“
klm/ste Z
Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie, machte den Auftakt zum Festakt 40 Jahre Werkstatt für Menschen mit Behinderung
Die Werkstätten der BruderhausDiakonie bieten eine Vielfalt
an Arbeitsplätzen: Gudrun Weber näht, zuvor war sie in der
Metallbearbeitung tätig
Die Werkstätten der BruderhausDiakonie
bieten Arbeitsplätze für rund 1400 Menschen.
Die Beschäftigten können sich hier auch für den
ersten Arbeitsmarkt qualifizieren, zum Beispiel
im Bereich Handwerk oder Garten- und Landschaftsbau.
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REGIONEN
sozial • Ausgabe 3 | 2012
Göppingen
Jugendliche bauen eine Stadtoase
Jugendliche und Mitarbeitende der Stadt Göppingen kreieren einen
Wohlfühlort auf Zeit – mit vollem Erfolg.
Jugendliche planen ihren Platz
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Einfach chillen, skaten oder sich austauschen – Jugendliche haben viele Freizeitvorlieben. Mit etwas
Engagement können sie diese Vorlieben auch mitten
in der Stadt leben, zum Beispiel in Göppingen:
Im März startete das Projekt Stadtoasen. Es soll Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich aktiv am
Stadtleben zu beteiligen.
Schülerinnen und Schüler des Freihof-Gymnasiums durften ihrer Fantasie freien Lauf lassen
und einen Platz für einen
gewissen Zeitraum ganz
nach ihrem Geschmack
gestalten. In zahlreichen
Treffen bauten sie Modelle, malten und handwerkten. Unterstützt wurden sie dabei von einem Architekten und der Göppinger Stadtplanung.
Die Mitarbeitenden der Future-Jugendberufshilfe
und Straßensozialarbeit Göppingen der BruderhausDiakonie waren dabei an der Umsetzung und
Planung beteiligt: Schulsozialarbeiter Harald Maas
stellte den Kontakt zu Schülern der Klassen acht bis
zehn her, Sozialarbeiterin Katrin Stange koordinierte
die Zusammenarbeit mit verschiedenen Trägern und
Sponsoren. Es entstand auf dem Schlossplatz ein
Wohlfühlort zum Entspannen. Dafür hatten die Jugendlichen insgesamt 300 Paletten verbaut: Sie bildeten eine über 25 Meter lange hügelige Landschaft,
die stellenweise bis zu einem
Meter hoch war.
In der Landschaft wuchsen
Palmen und Blumen, waren
Sandkästen und Wasserbecken
– kurzum Strandatmosphäre
auf einem bisher tristen Parkplatz mitten in der Stadt – mit
einer Bar, Sitzgelegenheiten,
einer Bühne und einer Dusche
zum Abkühlen.
Die Schülerinnen Lisa
Noch im Rückblick freuen sich und Alexandra fühlten
die Schülerinnen Lisa und
sich ernst genommen
Alexandra: „Es war toll. Unsere Vorschläge wurden
ernst genommen und fast immer auch umgesetzt“.
Das Freihof-Gymnasium unterstützte das Projekt, indem die teilnehmenden Schüler teilweise vom Unterricht befreit wurden und manche Elemente der Oase
im Kunstunterricht gebaut wurden. Die Resonanz aus
der Bevölkerung war spitze, die Eröffnung gelungen:
Es spielte die Stuttgarter Band „Ironing Hills“, es gab
Poetry Slam, einen Skate-Contest und Aufführungen
der Zirkusgruppe des Freihof-Gymnasiums, zudem
ein Open-Air-Kino.
Bei der Eröffnung der Stadtoase präsentierte die Zirkusgruppe
des Freihof-Gymnasiums Akrobatik
„Viele Neugierige und Passanten haben sich richtig gefreut, dass der Platz so schön genutzt wird“,
erinnert sich Sozialarbeiterin Katrin Stange. Nun
soll getestet werden, ob die Oase auf Zeit sich auch
im Herbst auf dem Schlossplatz rentiert. Dann soll
es auch ein gastronomisches Angebot geben. Und
wieder ist beim Bau der Oase das Engagement der
Jugendlichen gefragt: Sie stellen Anträge, holen
Genehmigungen ein, müssen das geplante Budget
einhalten und mit zahlreichen Partnern zusammenarbeiten.
Die Jugendlichen haben sogar schon Ideen für eine
Winter-Stadtoase mit Schlittschuhbahn. Lisa und Alexandra sind sich sicher: „Bei einer weiteren Stadtoase
sind wir auf jeden Fall wieder dabei.“
klm Z
+ www.goeppingen.de
REGIONEN
sozial • Ausgabe 3 | 2012
Villingen-Schwenningen
Die Kantine der Arbeitsagentur
beschäftigt Menschen mit Handicap
Seit einem Vierteljahr arbeitet Arnold Kreis als Küchenhelfer. Die Tätigkeit gibt
dem psychisch kranken Mann die verloren gegangene Tagesstruktur und den
Lebensmut zurück. Ein Beispiel, wie die BruderhausDiakonie Inklusion lebt.
Schon die erste Begegnung mit dem 55-Jährigen
macht klar, dass da jemand am richtigen Ort angekommen ist. „Einwandfrei“ findet es Küchenhelfer
Arnold Kreis hier, „es könnte gar nicht besser gehen“.
Andreas Friesen (links) und Arnold Kreis arbeiten
in der Küche Hand in Hand
Und er ist froh, die – wie er sagt – „eintönige Arbeit“
in der Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung hinter sich zu haben. Noch eine ganze Zeit
wird seine Rentenversicherung die jetzige Maßnahme unterstützen. So lange hat Arnold Kreis täglich
die Möglichkeit, sich auf dem neuen Arbeitsplatz auf
dem ersten Arbeitsmarkt zu bewähren. Die Küche ist
genau das Richtige für einen wie ihn, der viele Jahre
Küchenhilfe in einem Top-Hotel war. „Je stressiger es
ist, desto besser läuft es bei mir“, betont er.
Nebenbei erzählt er davon, wie ihn allerdings die „katastrophalen Arbeitszeiten“, die Scheidung und noch
weitere Schicksalsschläge langsam in die AlkoholAbhängigkeit getrieben hatten.
Durch das „viele Rumhängen“ verlor er jede Tagesstruktur. Mehr als 20 Jahre ging das so, bis er schließlich einer Langzeittherapie zustimmte. Wieder auf
den Beinen, sucht er gezielt nach Halt: „Den brauche
ich, damit ich nicht wieder versumpfe“. Halt gibt ihm
sein neuer Job, abends kann er jetzt „zufrieden nach
Hause gehen“, weil er „etwas Gutes, etwas Sinnvolles
getan“ hat. Richtig Energie gibt ihm auch das „super
Team“ mit einem Chef, der ihn häufiger mit einem
„Dankeschön, das haben Sie heute gut gemacht“ in
den Feierabend verabschiedet. Der Chef heißt Andreas Friesen, und er arbeitet zum ersten Mal so eng
mit psychisch erkrankten Menschen zusammen. Er
gibt ganz offen zu: „Das ist nicht immer einfach, man
muss Nerven dafür haben.“ Aber er kommt mit der
Unterstützerrolle gut klar und findet, dass Arnold
Kreis und auch sein Kollege Robert Koch „eine gute
Arbeit machen.“
Einige Gäste
Die Kantine der Arbeitsagentur VillingenSchwenningen mit neuem Pächter
Die BruderhausDiakonie hat dafür gesorgt, dass
momentan zwei, in naher Zukunft vier Menschen
mit Behinderungen in der Kantine einen Arbeitsplatz haben. Angeleitet werden sie von einem
Koch und einer Angestellten der Agentur für
Arbeit. 50 bis 60 Mittagessen gehen pro Tag über
die Theke, zudem gibt es ein Frühstücksbuffet.
kommen schon
jahrelang
In der Kantine füllen sich mittlerweile die ersten
Tische. Es gibt Fleischkäse mit Kartoffelbrei und überbackene Auberginen mit Reis. Einer der ersten Gäste
ist der Busfahrer Manfred Gaudert. Seit fünf Jahren
isst er hier. Dass Menschen mit Handicap in der Kantine arbeiten, findet der Gast „schwer in Ordnung.
Man muss diesen Leuten auch eine Chance geben –
auf dem Arbeitsmarkt“, betont er.
kep Z
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REGIONEN
sozial • Ausgabe 3 | 2012
Münsingen
Ehrenamtliche betreuen Pflegebedürftige
Von der Zeitintensiven Betreuung im oberen Ermstal und auf der Alb profitieren
pflegende Angehörige ebenso wie die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter.
Walter Efinger hatte vor gut sieben Jahren einen
Schlaganfall, verlor zu einem großen Teil seine Beweglichkeit und Sprache. Von da an pflegte ihn seine
Frau. Sie koordinierte die zahlreichen Therapien wie
Gymnastik, Logopädie, Ergotherapie. „Es kamen jeden
Tag andere Leute in unser Haus“, erzählt die heute
76-Jährige. Und der Haushalt musste ja auch gemacht werden. Irmgard Efinger hörte von dem Projekt Zeitintensive Betreuung (ZiB) und meldete sich
und ihren Mann an. Seitdem kommt Bernd Holler
zweimal wöchentlich zu dem Ehepaar. Mittlerweile
sind es mehr als vier Jahre.
Bernd Holler (links) unterstützt mit immer neuen Ideen Irmgard Efinger bei der Betreuung ihres Mannes Walter Efinger
Holler betreut pflegebedürftige Menschen, er ist
ehrenamtlich für ZiB tätig. Mit ihm kam nicht nur
Entlastung für Irmgard Efinger, sondern auch viel
Menschlichkeit ins Haus. Bernd Holler und Walter
Efinger sind auf einer Wellenlänge, sie schäkern und
lachen. Und sie singen sehr gerne. „Wir singen eigentlich immer und überall – ganz egal, was die Leute von uns denken“, erzählt Pflegekraft Bernd Holler.
Der 64-Jährige war früher im Außendienst tätig, saß
viel im Auto. Aus gesundheitlichen Gründen konnte
er diesen Beruf irgendwann nicht mehr ausüben,
fühlte sich aber zu jung für die Erwerbslosenrente.
Durch einen Freund erfuhr er von ZiB und besuchte
die 20-stündige Schulung. „Das Projekt hat auch mir
persönlich sehr viel gebracht“, sagt er heute. Er habe
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Das von Bernd
Holler gebaute
Spiel trainiert
Motorik,
Gedächtnis
und Sprache
gelernt, geduldig zu sein und auch in schwierigen
Situationen ruhig zu bleiben. Holler macht es Spaß,
sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen:
seine Klienten zu beschäftigen, zu unterhalten und
zu fördern.
Für Walter Efinger hat er beispielsweise ein Würfelspiel gebaut, das zugleich Gedächtnis und Sprache
trainiert. „Mein Mann hat unglaubliche Fortschritte
gemacht, seit Bernd zu uns kommt“, freut sich
Irmgard Efinger.
ZiB gibt es seit fünf Jahren, mit mittlerweile 65 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Das Projekt startete auf Initiative von Christine Krohmer von der Diakoniestation Oberes Ermstal-Alb und
Lothar Schnizer, Geschäftsführer der Diakoniegesellschaft Münsinger Alb.
Die Idee war, einerseits pflegende Angehörige zu
entlasten, andererseits Menschen an eine Arbeit
heranzuführen, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. „Die Nachfrage von Seiten der Patienten
und von potenziellen Einsatzkräften war von Anfang
an hoch, und sie steigt weiter an“, erzählt Christa
Herter-Dank, die die Mitarbeitenden schult und die
Einsätze koordiniert. Einige Einsatzkräfte haben nach
der Tätigkeit bei ZiB eine Ausbildung begonnen und
arbeiten nun fest in Pflegeheimen oder anderen
Einrichtungen. Seit 2012 wird das Projekt kommunal
gefördert. Die Verantwortlichen hoffen, dass ZiB zu
einem flächendeckenden Angebot von Diakoniestationen wird. Für Bernd Holler lohnt sich der Einsatz
allemal: „Wenn sich die Patienten freuen und mich
anstrahlen, geht mir das Herz auf. Manchmal höre ich
an der Tür schon ein Juhu.“
klm Z
N NACH RICHTEN
sozial • Ausgabe 3 | 2012
Wohnungen für Menschen mit psychischer Erkrankung
Laichingen – Mehrere Einzel-Appartments und zwei
Gemeinschaftswohnungen für Menschen mit psychischer Erkrankung entstehen derzeit in Laichingen.
Auf einem Grundstück im Zentrum trafen sich Anfang Juli Vertreter der Stadt, des Alb-Donau-Kreises,
der Kirche und der BruderhausDiakonie zum symbolischen ersten Spatenstich. „Auch in ländlichen
Gebieten ist es unverzichtbar, dass Menschen mit
Unterstützungsbedarf in ihrem vertrauten Wohnumfeld bleiben können und dass ihre Kontakte aufrecht erhalten bleiben“, begründete Rainer Single,
Kaufmännischer Vorstand der BruderhausDiakonie,
den Bau des neuen Wohnhauses. Menschen mit
psychischer Erkrankung aus Laichingen und Umge-
bung sollen dort künftig
mit Hilfe eines speziellen
Unterstützungsangebots
weitgehend selbstständig
leben können. Der Neubau
entspreche den Zielen des
sogenannten Teilhabeplans, den der Alb-DonauKreis verabschiedet hat,
Mit dem symbolischen ersten Spatenstich begansagte Sozialdezernent
nen die Arbeiten für das Laichinger Wohnprojekt
Günther Weber. Der Teilhabeplan sieht vor, Menschen mit Behinderung oder
psychischer Erkrankung möglichst wohnortnah unterzubringen.
25 Jahre Sozialpsychiatrischer Dienst in Horb und Freudenstadt
Horb/Freudenstadt – Seit 25 Jahren gibt es im Kreis
Freudenstadt den Sozialpsychiatrischen Dienst. Dieses Jubiläum haben die Sozialpsychiatrischen Hilfen
der BruderhausDiakonie, die psychosoziale Hilfsgemeinschaft „Die Treppe“ und der Landkreis Anfang
Juli gemeinsam gefeiert. Die Sozialpsychiatrischen
Dienste beraten und unterstützen psychisch Erkrankte und deren Angehörige außerhalb psychiatrischer
Kliniken. Sie vermitteln Hilfen und suchen Erkrankte
auch zu Hause auf. So tragen sie dazu bei, dass Menschen, die psychisch erkranken, in ihrem gewohnten
Lebensumfeld bleiben können.
2004 übertrug der Landkreis Freudenstadt die Trägerschaft für den Sozialpsychiatrischen Dienst der
BruderhausDiakonie und der psychosozialen Hilfsgemeinschaft „Die Treppe“.
„Die Treppe“ ist für das
westliche Kreisgebiet
zuständig und hat ihren
Sitz in Freudenstadt. Die
BruderhausDiakonie ist
für den östlichen Teil des
Landkreises zuständig.
Der Sozialpsychiatrische
Dienst der BruderhausDiakonie ist dort Teil des Gemeindepsychiatrischen Zentrums Horb. Bei der Feier
betonte der Freudenstädter Landrat Klaus-Michael
Rückert den Wert der Arbeit, die von den Trägern
BruderhausDiakonie und „Die Treppe“ im Landkreis
geleistet wird. Das seien zwei kompetente Partner,
die miteinander am selben Ziel arbeiteten.
In Feststimmung:
Vertreter der
Kommunen sowie
der Träger BruderhausDiakonie und
„Die Treppe“
Neuffener Wohnhaus für Menschen mit Behinderung eröffnet
Neuffen – Der Standort des neuen Wohnhauses der
BruderhausDiakonie im 6000-Einwohner-Städtchen
Neuffen erfüllt alle Voraussetzungen, damit die
Hausbewohner mitten in der Gemeinde leben können. Zwölf Menschen mit Behinderung sind dort
im Juli eingezogen. Am 29. Juni wurde das Haus im
Beisein des Esslinger Landrats Heinz Eininger und des
Neuffener Bürgermeisters Matthias Bäcker feierlich
eröffnet. Die Behindertenhilfe Neckar-Alb der BruderhausDiakonie wolle Unterstützungsleistungen
im notwendigen Umfang dort anbieten, wo sie gebraucht werden, sagten die Vertreter der BruderhausDiakonie bei der Eröffnung. Vorstandsvorsitzender
Lothar Bauer und Stiftungsratsvorsitzender Martin
Bauch zeigten sich zuversichtlich, dass die zwölf
Bewohner des Hauses sich
in der neuen Nachbarschaft schnell wohlfühlen
werden. In Neuffen sollen
bevorzugt Menschen
wohnen, die aus dem Kreis
Esslingen stammen, bisher aber in Einrichtungen
Neuer Wohnraum: Landrat Heinz Eininger eröffaußerhalb des Landkreises
nete das Haus für Menschen mit Behinderung
gelebt haben. Das Neuffener Wohnhaus ist die erste Behindertenhilfe-Einrichtung der BruderhausDiakonie im Landkreis Esslingen.
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D I A KO N I S C H E R I M P U L S
Karin Ott
Menschsein heißt, dazu zu gehören
Karin Ott ist Diakoniepfarrerin
des Evangelischen
Kirchenkreises
Stuttgart
Seit fast zwanzig Jahren lebt er auf der Straße. Tagsüber versucht er in der Nähe der S-Bahnstation, sich
bei den Vorbeihastenden ein paar Cent zusammenzuschnorren für die nächste Flasche Bier. Seine
Nächte verbringt er im Männerwohnheim. Er ist ein
scheuer Einzelgänger. Wenn er spricht, dann nur leise
und in – für andere nur schwer verständlichen – Satzfetzen. Angst, Schuld, Versagen – das sind bei unseren
Begegnungen seine immer wiederkehrenden, stammelnd vorgebrachten Worte. Hin und wieder geht
zwischen seiner und meiner Welt ein kleines Fenster
auf, das uns ein längeres Gespräch ermöglicht. In
einem dieser Momente erzählte er mir von seinem
früheren Leben. Angespornt von der Wissbegierde
und dem Lerneifer seiner kleinen Tochter entschließt
er sich mit Anfang zwanzig, an der Abendschule das
Abitur nachzumachen. Anschließend nimmt er das
Studium auf. Sein besonderes Interesse gilt der Hirnforschung. Dann, mitten in den Examensvorbereitungen, passiert es. „Totaler Nervenzusammenbruch,
nichts ging mehr“, so beschreibt er es selbst. Und
dann spricht er von Gehirnsynapsen und Transmitterstoffen und was da bei ihm wohl nicht funktioniert.
Dass er für das, was mit ihm passiert war, keine ihm
einleuchtende Erklärung findet, macht ihm bis heute
zu schaffen. Alle Versuche, nicht zuletzt mit Hilfe von
Psychopharmaka irgendwie das Examen doch noch
zu schaffen, scheitern. „Mit den vielen Tabletten, das
war nicht mehr ich.“ Er setzt sie ab.
Einen Zugang zu einer Hilfe, die
seiner individuellen Situation
gerecht wird, findet er nicht.
Auf die Dauer sind weder er noch seine Familie den
zerbrochenen Zukunftsperspektiven und der damit
verbundenen existenziellen Bedrohung gewachsen.
Eines Tages entscheidet er sich, zu gehen. Das war
vor fast zwanzig Jahren. Auf meine Frage, was er sich
am meisten wünscht, antwortet er spontan: „Ab und
zu ein vernünftiges Gespräch. Ich bin doch auch ein
Mensch.“
Ich bin doch auch ein Mensch.
Dieser Satz voller Sehnsucht hat mich berührt und
zugleich auch beschämt. Kommunikation, Begegnung, Beziehung, das wünscht er sich. Menschsein
heißt, dazu zu gehören. Die Zahl derer wird immer
größer, die sich aufgrund von Armut, hervorgerufen
durch die reziproken Wirkungen von Erwerbslosigkeit und zunehmend auch prekärer Beschäftigung
– psychischen und physischen, Suchterkrankungen,
Wohnungslosigkeit – in unserer am Leistungsprinzip ausgerichteten Gesellschaft als nicht (mehr)
dazu gehörig, als überflüssig und ausgeschlossen
erleben. Die Teilhabe an kulturellen, geselligen,
sportlichen und Bildungsangeboten, der Zugang zu
Gesundheitsfürsorge, angemessenem Wohnraum
und Mobilität setzt die dafür erforderlichen finanziellen Mittel voraus. Wer den allgemeinen Leistungsansprüchen nicht gerecht zu werden vermag und
auf soziale Transferleistungen angewiesen ist, steht
unter Teilhabeaspekten vor hohen Hürden.
Armut und Ausgrenzung
verletzen die Menschenwürde.
„Es soll keine Armut unter euch geben“ (Dtn 15,4).
Zu den biblischen Grundüberzeugungen gehört,
dass eine Gesellschaft möglich ist, in der niemand
in unfreiwilliger Armut leben muss. Armut entsteht, das benennt die biblische Überlieferung sehr
klar, wo Menschen vorenthalten wird, was ihnen
zusteht. Deshalb braucht es ein soziales Recht, das
wirksam vor Armut schützt. Und es braucht die bewusste Annahme eines jeden Menschen mit ihren
und seinen je individuell verschiedenen Fähigkeiten,
Möglichkeiten und Grenzen. Das gilt in besonderer
Weise für alle, die sich als unfreiwillig ausgeschlossen erleben. „Ich bin doch auch ein Mensch.“ Armut
und Ausgrenzung verletzen die Menschenwürde.
Und sie beschämen uns, die wir es zulassen.
Wie lange noch?