BD Sozial 3 2012 01
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BD Sozial 3 2012 01
Ausgabe 3 | 2012 sozial Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg Hilfe für die Seele Das Land plant ein Psychiatriegesetz Erwartung Herausforderung Festlichkeit Zufriedenheit Leistungen und Finanzierung der Sozialpsychiatrischen Dienste müssen gesichert werden, sagt Psychiatrieerfahrenen-Vertreter Rainer Höflacher. Y Seite 4 Im ländlichen Raum müssen sozialpsychiatrische Fachkräfte besonders flexibel arbeiten und oft weite Wege in Kauf nehmen. Y Seite 6 Das 40-jährige Bestehen der BruderhausDiakonie-Werkstätten haben Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam gefeiert. Y Seite 10 Die tägliche Arbeit in der Kantine der Arbeitsagentur VillingenSchwenningen gibt Menschen mit psychischer Erkrankung das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Y Seite 13 Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz E D I TO R I A L sozial • Ausgabe 3 | 2012 Liebe Leserinnen und Leser, weit mehr als drei Jahrzehnte ist es her, dass Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland ein „Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“ in Kraft gesetzt hat. In der Folge haben auch die meisten anderen Bundesländer Gesetze erlassen, die auf Landesebene die Versorgung psychisch kranker Menschen regeln. Baden-Württemberg hat als eines der letzten Bundesländer in diesem Frühjahr begonnen, ein Landespsychiatriegesetz auf den Weg zu bringen. Besonderheit: An der inhaltlichen Ausgestaltung sind Vertreter aller Gruppen beteiligt, die in der psychiatrischen Versorgung aktiv sind – einschließlich der Angehörigen- und Betroffenen-Verbände. Im Interview lesen Sie die Haltung eines Betroffenenverbands: Rainer Höflacher, Geschäftsführer des Landesverbands PsychiatrieErfahrener, formuliert seine Erwartungen an das künftige Landespsychiatriegesetz. Wir richten außerdem den Blick auf unterschiedliche Bereiche der sozialpsychiatrischen Arbeit: Wir stellen eine Einrichtung in Stuttgart vor, in der Menschen Schutz und Unterstützung finden, die neben ihrer psychischen Krankheit mit sozialen Problemen und einem schwierigen Umfeld zu kämpfen haben. Und wir zeigen, wie sozialpsychiatrische Einrichtungen und Dienste in einem eher ländlich geprägten Kreis arbeiten. Arbeit für Menschen mit psychischen Krankheiten oder mit Handicaps bieten die Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Zeitgleich mit dem Jahresfest der BruderhausDiakonie haben die Werkstätten in Reutlingen ihr 40-jähriges Bestehen gefeiert. Fotos und Eindrücke dazu auf Seite 10. Dass Menschen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung eine Chance brauchen, auch auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein zu können, lesen Sie im Bericht über die Kantine der Arbeitsagentur Villingen-Schwenningen. Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre Ihre „Sozial“-Redaktion Impressum Inhalt ISSN 1861-1281 TITELTHEMA REGIONEN 3 Landespsychiatriegesetz: 12 Göppingen: Rechtssicherheit für psychisch Jugendliche bauen eine Erkrankte Stadtoase 4 Interview: Patientenrechte müssen gestärkt werden 6 Sozialpsychiatrie auf dem Land: Wohnortnahe Betreuung 7 Geschlossene Unterbringung: Ziel ist das selbstständige Leben 14 Villingen-Schwenningen: Die Arbeitsagentur beschäftigt Menschen mit Handicap 14 Münsingen: Ehrenamtliche betreuen Pflegebedürftige NACHRICHTEN Herausgeber Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender Verantwortlich Sabine Steininger (ste) Redaktion Martin Schwilk (msk), Sabine Steininger (ste), Karin Waldner (kaw) Mitarbeiter Karoline Müller (klm), Wolfram Keppler (kep) 15 Aus der BruderhausDiakonie Gestaltung und Satz Susanne Sonneck der BruderhausDiakonie: DIAKONISCHER IMPULS Teilhabe an Arbeit – aber wie? 16 Karin Ott: Druck und Versand Grafische Werkstätte der BruderhausDiakonie, Werkstatt für behinderte Menschen Erscheint vierteljährlich KOLUMNE 9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender Menschsein heißt, dazu zu AKTUELL 10 Menschen mit und ohne Handicap feierten „40 Jahre Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ der BruderhausDiakonie 2 BruderhausDiakonie Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955 Mail [email protected] gehören Fotonachweis Titel + Seite 3: photocase.com; Seite 4 + 16: privat; Seiten 10+11: factum/Weise; Seite 13: kep; Seite 15: Norbert Leister; alle anderen: Archiv und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BruderhausDiakonie Spendenkonto Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel, BLZ 520 604 10, Konto 4006 sozial • Ausgabe 3 | 2012 Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz T I T E LT H E M A Landespsychiatriegesetz Rechtssicherheit für psychisch Erkrankte Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Lauf des Lebens psychisch krank zu werden, steigt. Psychische Störungen und psychische Krankheiten sind nach Angaben des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen zum dritthäufigsten Grund für Krankschreibungen geworden. Sie verursachen die längsten Fehlzeiten am Arbeitsplatz und zunehmend mehr Frühberentungen. Hilfe finden psychisch Erkrankte in Kliniken oder bei niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten. Erkrankte, die umfassendere Hilfe brauchen – etwa auch im Alltag – finden Unterstützung bei den sozialpsychiatrischen Einrichtungen und Diensten. Im Idealfall stellen die Dienste innerhalb eines Landkreises alle notwendigen Hilfen bereit, die ein psychisch Erkrankter braucht, um so zu leben wie alle anderen Bürger auch. Und sie helfen mit, ständig sich wiederholende Klinikaufenthalte zu vermeiden. So arbeiten in den Gemeindepsychiatrischen Zentren verschiedene Dienste zusammen, die in der entsprechenden Region gemeinsam für psychisch kranke Menschen eine Grundversorgung bieten: ärztliche Sprechstunden, Hausbesuche und ambulante Betreuung, Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, Freizeitund Gesprächsangebote in den Tagesstätten. Dabei sind die Sozialpsychiatrischen Dienste Drehund Angelpunkt in diesem System. Diese kümmern sich besonders um Menschen, die wegen ihrer Krankheit nicht in der Lage sind, von sich aus Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie beraten und unterstützen die Erkrankten in Krisen. Sie helfen ihnen, notwendige ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen, und schauen in Notfällen danach, dass Erkrankte ein Dach über dem Kopf haben und geregeltes Essen bekommen. Sie vermitteln die entsprechenden Hilfen und beraten auch Angehörige und Bezugspersonen von psychisch Erkrankten. Vor einigen Jahren kürzte das Land seinen Beitrag zur Finanzierung der Sozialpsychiatrischen Dienste, die Mitte der 1980er Jahre eingerichtet worden sind. Das führte landesweit zur personellen Ausdünnung der Dienste. Das Netzwerk Psychiatrie, in dem die wichtigsten sozialpsychiatrischen Verbände BadenWürttembergs zusammengeschlossen sind, monierte deshalb 2010 in einem Positionspapier: „Mit Sorge stellen die Unterzeichner fest, dass sich in den letzten Jahren die sozialpsychiatrische Grundversorgung kontinuierlich verschlechtert hat.“ Vor allem die schwerer psychisch Erkrankten würden „immer weniger die notwendige Unterstützung erhalten“. Das könnte jetzt anders werden: Die grün-rote Landesregierung hat sich in ihrer Koalitionsvereinbarung festgelegt, noch in dieser Legislaturperiode ein Landespsychiatriegesetz auf den Weg zu bringen. Ein solches Gesetz fordern die Fachleute schon seit Jahrzehnten. BadenWürttemberg, Bayern und Hessen sind die letzten Bundesländer ohne eigenes Psychiatriegesetz. Darüber hinaus erzwingen mittlerweile auch zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts neue gesetzliche Regelungen. Die Urteile stärken das Selbstbestimmungsrecht psychisch Erkrankter und erklären Zwangsbehandlungen nach den bisherigen gesetzlichen Bedingungen für unzulässig. „Erstmals werden in Baden-Württemberg durch ein Gesetz für psychisch kranke Menschen Hilfen und Schutzmaßnahmen zusammengeführt und gesetzlich geregelt“, kündigt Sozialministerin Katrin Altpeter an. Den Betroffenen solle in jedem Krankheitsstadium die passende Hilfe angeboten werden. „Bedeutung hat das Landespsychiatriegesetz vor allem für die Sicherstellung der psychiatrischen Grundversorgung durch die Sozialpsychiatrischen Dienste, sowie für die Abstimmung der Versorgung vor Ort und für das Unterbringungsrecht“, meint Georg Schulte-Kemna, Leiter des Geschäftsfelds Sozialpsychiatrie der BruderhausDiakonie. Arbeitsgruppen, zu denen Wissenschaftler und psychiatrische Praktiker gehören sowie Vertreter der Kommunen und der Verbände, Angehörigenvertreter und Psychiatrieerfahrene, erstellen derzeit in einem mehrmonatigen Prozess ein Eckpunktepapier. Dieses soll im kommenden Jahr in einen Referentenentwurf für das Landespsychiatriegesetz münden. msk Z Die Grundversorgung psychisch kranker Menschen soll auch in Baden-Württemberg gesetzlich geregelt werden + www.landespsychiatrietag.de/download.html 3 T I T E LT H E M A Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz sozial • Ausgabe 3 | 2012 Erwartungen der Selbsthilfegruppen Patientenrechte müssen gestärkt werden Was erhoffen sich Menschen mit eigener Psychiatrieerfahrung von einem Landespsychiatriegesetz? Im Interview: Rainer Höflacher, Geschäftsführer des badenwürttembergischen Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener. Y Viele an der Versorgung von Menschen mit psychi- Rainer Höflacher will nicht Ängste vor der Psychiatrie schüren, sondern sie mit guten Ideen aus Betroffenensicht besser machen scher Erkrankung Beteiligte fordern seit langem, auch die Hilfen außerhalb der Kliniken stärker gesetzlich zu regeln. Versprechen Sie sich als Vertreter von Psychiatrie-Erfahrenen etwas davon, dass Verfahrensweisen in Gesetzesform gegossen werden? Dass wir bei der Entwicklung des Landespsychiatriegesetzes mitarbeiten, zeigt ja, dass wir meinen, dass auch in der Psychiatrie bestimmte Sachverhalte der Gesetzesform bedürfen. Das Problem der Überregulierung muss dabei jedoch immer im Auge behalten werden. Ein Gesetz muss praktikabel sein, sollte aber auch richtungsweisend wirken und die Gesellschaft weiterentwickeln. Zudem muss darauf geachtet werden, dass Zustände nicht zementiert werden. Im Bereich der Zwangsmaßnahmen besteht derzeit eine große Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Rechtspraxis. Y Warum ist ein Landespsychiatriegesetz notwendig? Welche Punkte müssen dabei geregelt werden? Ein Landespsychiatriegesetz ist notwendig, da es im Bereich der ambulanten Hilfen bisher zu wenig rechtliche Vorgaben gibt. Es ist uns wichtig, dass zum Beispiel der Gemeindepsychiatrische Verbund, der Sozialpsychiatrische Dienst und Beschwerdeinstanzen gesetzlich verbindlich festgeschrieben und in der Gesetzesbegründung ausdifferenziert werden. Dies wirkt sich natürlich auch auf deren Finanzierung aus. Der zweite wichtige Bereich sind die Patientenrechte. Hier sind Teile der bisherigen Paragrafen nicht mehr Die Erduldung von Gewalt ist die schrecklichste Erfahrung, die die Psychiatrie uns Psychiatrieerfahrenen antun kann. auf der Höhe der Zeit. Das zeigt sich ja auch darin, dass das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen 8 des Unterbringungsgesetzes, der unter anderem Zwangsmedikation regelt, für verfassungswidrig erklärt hat. 4 Und drittens fehlte es bisher an der Standardisierung des Berichtswesens, nach dem Motto „Daten für Taten“. Für den Patientenschutz, Politik, Forschung und Psychiatrieplanung ist das sehr wichtig. Dafür müssen neue Strukturen und Institutionen geschaffen werden. Wir brauchen ein spezialisiertes Eingehen auf psychotische und fremdaggressive Menschen. Y Bei einer Anhörung der Grünen zum Landespsychiatriegesetz haben Sie den Schwerpunkt auf die gesetzliche Regelung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie gelegt. Worum es ging Ihnen dabei hauptsächlich? Die Erduldung von Gewalt ist die schrecklichste Erfahrung, die die Psychiatrie uns Psychiatrieerfahrenen antun kann. Mir kam es darauf an, einerseits auf die Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Menschenwürde hinzuweisen, von denen viele Psychiatrieerfahrene berichten. Andererseits einzugestehen, dass es zurzeit bezüglich Fremd- oder Eigengefährdung bei einsichtsunfähigen Psychiatrieerfahrenen nicht immer ohne Zwang und Gewalt geht. Wir brauchen hier ein spezialisiertes Eingehen auf Menschen, die hoch psychotisch und fremdaggressiv sind. Gleichbehandlung mit Nicht-Psychiatrieerfahrenen dient hier nicht dem Wohl des Patienten. (Anmerkung der Redaktion: Manche Psychiatrieerfahrenen lehnen jede Art von Behandlung, die speziell für Psychiatrieerfahrene gedacht ist, ab und verlangen eine Behandlung, wie sie bei anderen Bürgern angewendet werden würde. Das heißt in solchen Fällen: Strafvollzug statt Psychiatrie.) Wichtig war mir auch darzulegen, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen Zwangsmaßnamen angebracht sein könnten. Es war für uns keine leichte Entscheidung, Zwangsbehandlungen für solche Patienten nicht zuzulassen, die nur einsichtsunfähig und nicht fremdgefährdend sind. Es können bei dieser Haltung erhebliche Nachteile für die betroffenen Psy- sozial • Ausgabe 3 | 2012 Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz chiatrieerfahrenen und ihre Angehörigen entstehen, die für diese teilweise kaum zu ertragen sind. Das muss aber in Kauf genommen werden zugunsten der Patientenschutzrechte. Diese dürfen hier nicht eingeschränkt werden. Der Sozialpsychiatrische Dienst ist ein unverzichtbarer Baustein innerhalb eines Gemeindepsychiatrischen Zentrums. Y Ein Problem sind Erkrankte, die ihre Krankheit nicht als solche sehen und Hilfe nicht in Anspruch nehmen oder ablehnen. Um sie kümmern sich die Sozialpsychiatrischen Dienste. Sehen Sie hier gesetzlichen Regelungsbedarf? Außer bei Zwangsmaßnahmen sehe ich bei diesen Menschen keinen Regelungsbedarf. Hier kann nur durch gesetzlich nicht festlegbare menschliche Wertschätzung und Fachkompetenz geholfen werden. Die Alltagsfähigkeiten und das Leiden dieser Personen müssen im Mittelpunkt stehen. Der Sozialpsychiatrische Dienst ist ein unverzichtbarer Baustein innerhalb eines Gemeindepsychiatrischen Zentrums. Er bietet sehr niederschwellige und aufsuchende Hilfen an und ist bisher in den meisten Landkreisen die entscheidende Drehscheibe im Zusammenspiel ambulanter psychiatrischer Angebote. Seine Finanzierung und sein Leistungsangebot müssen gesichert sein. Ich vermute, dass mein Leben ohne den Sozialpsychiatrischen Dienst und die Tagesstätte weitaus negativer verlaufen wäre. Vielleicht würde ich gar nicht mehr leben. Y Wo sehen Sie die Grenzen, ab denen es nötig sein kann, in das Selbstbestimmungsrecht schwer Erkrankter einzugreifen? Brächte eine gesetzliche Festlegung dieser Grenze Verbesserungen für Betroffene? Das Recht auf Selbstbestimmung wird eingeschränkt durch die Rechte anderer und durch Ansprüche der Gesellschaft. Es ist dem Wandel unterworfen. Ohne ein hohes Maß an Selbstbestimmung ist in unserer Kultur kein erfülltes und glückliches Leben mehr vorstellbar. Es besteht aber die Gefahr, dass das Recht auf Fürsorge vernachlässigt wird und dem Psychiatrieerfahrenen die notwendige Hilfe vorenthalten wird. Die Gewährung von Selbstbestimmung geht Hand in Hand mit der Übertragung von Eigenverantwortung, was den kranken Menschen überlasten kann. Die Patientenrechte müssen gestärkt werden, was ja gerade mit einem neuen Gesetz geschieht. T I T E LT H E M A Bezüglich Selbstbestimmung setzt auch die Behindertenrechtskonvention wichtige Impulse. Darüber hinaus sehe ich hier keine Notwendigkeit für weitere Gesetze. Y Sehen Sie sich als Vertreter eines Betroffenenver- bands im bisherigen Hilfesystem genügend eingebunden? Was muss passieren, damit die Selbsthilfe stärker unterstützt wird? Inzwischen sind wir im (sozial)psychiatrischen Hilfesystem gut eingebunden. Immerhin feiern wir 2013 unser 20-jähriges Bestehen. Das liegt aber auch daran, dass wir mitarbeiten und mitgestalten wollen. Wir gehen den schweren ‚Gang durch die Institutionen‘ und verstehen die Psychiatrie nicht grundsätzlich als unseren Gegner. Wir wollen nicht Ängste vor der Psychiatrie wecken, sondern sie mit konstruktiver Kritik und guten Ideen aus Betroffenensicht besser machen. Allerdings dürfen Psychiatrieerfahrene teilweise nur aus Imagegründen mitwirken oder sie werden instrumentalisiert und nicht wirklich ernst genommen. Aber man bestimmt ja selbst, inwieweit man sich ausnutzen und vom System missbrauchen lässt. Es ist zudem sehr schwer, Mitmacher für die oft trockene und zähe Psychiatriepolitik zu finden. Leider gibt es immer noch Landkreise, die Psychiatrieerfahrene nicht im Gemeindepsychiatrischen Verbund haben wollen. Ängste, Vorurteile, Ignoranz und radikale Psychiatrieerfahrene verhindern dort die konstruktive Zusammenarbeit. Interessant wird es allerdings da, wo Konflikte entstehen, die beiden Seiten wirklich wehtun. Hier zeigt sich dann, wie tragfähig und wirksam die aufgebauten Beziehungen tatsächlich sind. Es ist zudem sehr schwer, Mitmacher für die oft trockene und zähe Psychiatriepolitik zu finden. Die konkrete Selbsthilfe direkt am Menschen wirkt da ungleich attraktiver. Hier wäre es sicherlich hilfreich, wenn auch von dritter Seite Werbung für unsere Sache gemacht würde. Es gibt noch einiges an Verbesserungspotenzial in unserer Arbeit. Vor allem aber brauchen wir eine finanzielle Basis, die gute Arbeit weiterhin möglich macht. msk Z + www.psychiatrie-erfahrene-bw.de 5 T I T E LT H E M A Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz sozial • Ausgabe 3 | 2012 Sozialpsychiatrie auf dem Land Wohnortnahe Betreuung für Klienten Im ländlichen Raum bieten Unterstützungszentren Hilfen für psychisch Kranke. Fachkräfte nehmen lange Strecken in Kauf, um ihre Klienten direkt am Wohnort zu betreuen. Matthias Geiger und Senta Fezer sichern samt Team die psychiatrische Versorgung im Alb-Donau-Kreis 6 Der Tag beginnt früh im Unterstützungszentrum Laichingen. Der Kaffee duftet, die Menschen sprechen leise und freundlich miteinander. Dann greift Betriebsamkeit um sich. Sozialpädagogen und Heilerziehungspfleger fahren los, um Klienten aufzusuchen. Im Unterstützungszentrum im oberen Stock beginnt kurz nach acht die Besprechung von Teamleiter Matthias Geiger und Regionalleiterin Senta Fezer. Sie treffen sich ein- bis zweimal pro Woche, sprechen aktuelle Themen durch, planen und koordinieren Termine. Als Teamleiter ist Geiger verantwortlich für den reibungslosen Ablauf im Unterstützungszentrum. Er erstellt Dienstpläne, koordiniert Leistungen, baut Kontakte zur Gemeinde auf und betreut zudem Klienten. „Die Teamleiter sind unsere Leute, die dafür sorgen, dass die Arbeit in den Unterstützungszentren funktioniert.“, erklärt Senta Fezer. Als Regionalleiterin des nördlichen Alb-Donau-Kreises pendelt sie zwischen den Standorten Laichingen und Langenau, kümmert sich um das Zusammenspiel der Einrichtungen, das Management und um Personalfragen. Die Themen sind so umfangreich wie die zu erbringenden Leistungen. Im Laichinger Unterstützungszentrum gibt es zum Beispiel einen offenen Treffpunkt: eine Tagesstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung, für einzelne Personen Angebote mit tagesstrukturierenden Maßnahmen sowie Arbeitsangebote in Kooperation mit der St. Elisabeth-Stiftung. Hier ist auch die Außenstelle des Sozialpsychiatrischen Dienstes, über den die Grundversorgung psychisch kranker Menschen erfolgt und Soziotherapie angeboten wird, sowie ein Stützpunkt für ambulant betreutes Wohnen. Sechs Fachkräfte und drei Betreuungshilfskräfte erbringen für Laichin- gen und Umgebung diese Leistungen. Konkret heißt das, dass die Mitarbeitenden sehr vielseitig und flexibel arbeiten müssen. „Keiner kann mehr sagen, dass etwas nicht zu seinen Aufgaben gehöre“, sagt Fezer. Rund 100 Klienten hat das Unterstützungszentrum Laichingen, die in unterschiedlichen Formen ambulant betreut werden. Im gesamten nördlichen AlbDonau-Kreis sind es an die 250 Klienten. Und jeder Klient hat seine ganz persönliche Geschichte. Fezer und Geiger haben ganze Schicksale in ihrer Obhut: ein Ehepaar zum Beispiel, das mehr Aufmerksamkeit fordert, als derzeit geleistet werden kann. Oder eine Frau mit schwerer psychischer Erkrankung, die im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens umziehen will, sich aber nicht von altem Krempel trennen kann. Geiger stellt den Dienstplan seiner Kollegen so um, dass die Sozialarbeiterin beim Umzug helfen kann, die die Klientin am besten kennt. „Flexibilität zieht sich bei uns durch alle Arbeitsbereiche“, erklären Fezer und Geiger. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit der Gemeinde. So hat Matthias Geiger erreicht, das Unterstützungszentrum Laichinger Bürger bekannter zu machen und mit den städtischen und kirchlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten. Mitarbeitende des Unterstützungszentrums sind zum Beispiel regelmäßig auf dem Wochenmarkt vertreten – mit kunsthandwerklichen Produkten aus dem Laden „Haltestelle“. Auf diese Weise knüpft Geiger Kontakte in der Stadt, beugt möglichen Vorurteilen vor und bindet die sozialpsychiatrische Arbeit wie selbstverständlich in das Laichinger Stadtleben ein. Direkt gegenüber dem Unterstützungszentrum entsteht derzeit ein Wohnhaus für Menschen mit psychischer Erkrankung. Ab Herbst 2013 können hier bis zu 20 Menschen mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf leben. „Die zentrale Lage ist perfekt für unsere Klienten“, freut sich Senta Fezer „hier können wir ihnen passgenaue Hilfen mitten in der Stadt anbieten.“ klm Z sozial • Ausgabe 3 | 2012 Hilfe für die Seele – Das Land plant ein Psychiatriegesetz T I T E LT H E M A Die Sozialpsychiatrischen Hilfen im Alb-Donau-Kreis Die Hilfeleistungen für psychisch kranke Menschen im Alb-DonauKreis wurden in den letzten Jahren stark ausgebaut. Gudrun Reuther, Dienststellenleiterin der Sozialpsychiatrischen Hilfen im Alb-Donau-Kreis, hat daran maßgeblich mitgewirkt. Vor zwölf Jahren intensivierten die regionalen Träger die gemeindenahe Versorgung: Sie begannen, sich effektiver zu vernetzen und ihre Leistungen kooperierend zu nutzen. Es entstand die Idee eines Gemeindepsychiatrischen Zentrums (GPZ), um sozialraumorientiert und leistungsfähig Hilfeleistungen anbieten zu können. 2005 eröffneten sie das heutige GPZ in Ehingen. Im GPZ bieten fünf verschiedene Träger Hilfeleistungen an: „Wir sind hier sehr breit aufgestellt“, fasst Reuther zusammen. Seit 2006 forcieren die Kooperationspartner die Dezentralisierung: Standorte wie Langenau und Laichingen werden seitdem dezentral verwaltet, mit jeweils eigener Teamleitung und eigener Buch- haltung. „Der Kreis und das Sozialdezernat setzen sich hier stark ein“, sagt Gudrun Reuther. Doch trotz Förderung gebe es insbesondere im ambulanten Bereich noch keine ausreichende Finanzierung: „Diese muss dringend gesichert werden.“ Besichtigung der Baustelle des neuen Wohnhauses für Menschen mit psychischer Erkrankung Geschlossene Unterbringung Ziel ist das selbstständige Leben Wenn psychische Krankheit einhergeht mit sozialen Problemen und einem schwierigen Umfeld, brauchen Erkrankte manchmal Schutz vor sich selbst und vor anderen. Im Haus Maybachstraße in Stuttgart finden sie Sicherheit – und Unterstützung auf dem Weg zurück in die Selbstständigkeit. Wer hierher kommt, hat schon einiges hinter sich: Psychosen, Drogen, Wohnungslosigkeit – und eine oftmals langjährige Odyssee durch psychiatrische Kliniken und Heime. Es sind Menschen, die „durch alle Raster gefallen sind“, wie Klaus Masanz sagt. Masanz leitet gemeinsam mit seinem Kollegen Jürgen Baur das Haus Maybachstraße im Stuttgarter Norden. Das ist eine geschlossene Einrichtung für Frauen und Männer, für die es bisher keine passende Hilfe gab. Für psychisch kranke Menschen, die Schutz brauchen. Vor sich selbst, aber auch vor anderen: Hin und wieder stehen Dealer vor der Tür oder Typen aus dem Rotlichtmilieu. Dann ist es gut, dass die Türen geschlossen sind. Vor einem Jahr haben die Sozialpsychiatrischen Hilfen Stuttgart der BruderhausDiakonie und die Rehabilitationseinrichtung Rudolf-Sophien-Stift auf Betreiben der Stadt Stuttgart gemeinsam das Haus Maybachstraße eröffnet. Unterstützt von einem 23-köpfigen Team aus Sozialpädagogen, Heilerziehungspflegerinnen, psychiatrischen Pflegefachkräften, Arbeitserziehern und Hauswirtschaftskräften leben hier 26 Frauen und Männer im Alter zwischen 22 und 60 Jahren. Mehr als die Hälfte dieser psychisch kranken Menschen ist unter 35. Auch Daniel Zeiger (Name geändert), ein fast zwei Meter großer Hüne mit Rastalocken, Baseball-Shorts und kräftig-blauem T-Shirt, zählt gerade mal 30 Jahre. Vor einem Jahr kam er ins Haus Maybachstraße. Bis dahin hatte er schon eine Menge mitgemacht. Bereits in der Jugend häuften sich die Probleme: Drogen, Diebstähle, Schwarzfahren, psychische Schwierigkeiten. Seine Fliesenlegerlehre hielt der gebürtige Berliner, der in Stuttgart aufwuchs, zwei Jahre durch. Dann schmiss er vorzeitig hin. „Ich war einfach noch zu jung“, beschwichtigt er heute, wenn er auf diese turbulente Zeit zurückblickt. Seine Eltern wussten sich damals nicht mehr zu helfen und warfen den 7 T I T E LT H E M A Klaus Masanz (links) bespricht mit Daniel Zeiger den Tagesverlauf Sohn aus der Wohnung, als er 18 geworden war. Nach einigen Straftaten schickte ihn das Gericht wegen seines starken Drogen- und Alkoholkonsums und seiner psychischen Erkrankung statt ins Gefängnis in die forensische Psychiatrie. Vier Jahre, erzählt er, verbrachte er dann in der forensischen Abteilung der Psychiatrischen Klinik Weißenau. Die anschließende Rehabilitationsmaßnahme in Stuttgart sollte ihn wieder arbeitsfähig machen. Während dieser Zeit lebte er in einem psychiatrischen Wohnheim. „Das war wie in einer großen Wohngemeinschaft mit 20 Leuten auf zwei Stockwerken“, erinnert er sich. Von dort aus absolvierte er mehrere Praktika, unter anderem in einem Jugendhaus und in einer Schreinerei. Am ehesten zugesagt hat ihm das Schreinern: „Da hab ich am längsten gearbeitet, das war nicht schlecht.“ Zu einer dauerhaften Arbeit führte das aber nicht. Nach dem Auslaufen der Reha-Maßnahme suchte sich der psychisch kranke Mann ein eigenes Ein-Zimmer-Apartment, wo er ambulant betreut wurde. „Ich hatte keine Arbeit, aber viel Freizeit, ging öfter in die Stadt und habe mich mit Freunden getroffen“, fasst er die Jahre, die er in der eigenen Wohnung lebte, in der Rückschau zusammen. Am Ende auch hier wieder: Zwangseinweisung in die psychiatrische Klinik – weil die Wohnung „nicht mehr topp war“, weil er nicht mehr zum Arzt ging und weil er „wegen Alkohol, Schwarzfahren, Diebstahl und ein paar Kleinigkeiten“ zur Gefahr für sich selbst und andere geworden war. Viele der jüngeren Maybachstraßen-Bewohner, erzählt Klaus Masanz, haben ähnliche Karrieren durchlebt wie Daniel Zeiger: Psychosen und Persönlichkeitsstörungen mit häufigen Aufenthalten in psych- Das Haus Maybachstraße in Stuttgart Einrichtungen wie diese sind in Baden-Württemberg noch selten. Die erste hat die Evangelische Gesellschaft 2001 in Stuttgart-Freiberg eröffnet. Eine weitere vergleichbare, kleinere Einrichtung betreibt die BruderhausDiakonie seit einigen Jahren in Reutlingen. Die Einrichtungen arbeiten eng mit Kliniken, den Sozialpsychiatrischen Diensten und den anderen Anbietern der psychiatrischen Grundversorgung zusammen. 8 sozial • Ausgabe 3 | 2012 iatrischen Kliniken, keine Ausbildung, Drogen- und Alkoholprobleme, Kontakte zum kriminellen Milieu. „Die Klienten sind oft ungeduldig und ihr Verhalten ist sehr herausfordernd.“ Alle haben mehrfache vergebliche Versuche hinter sich, mit Hilfe des Sozialpsychiatrischen Dienstes und ambulanter Betreuung einen Fuß auf den Boden zu kriegen. „Es handelt sich um Klienten, die die sozialpsychiatrische Versorgung bisher nicht erreichen konnte“, weiß Masanz. Einige haben viele Monate in den geschlossenen Stationen psychiatrischer Kliniken zugebracht. Andere lebten eher unterversorgt und fernab von Angehörigen und ihrem früheren Lebensumfeld in psychiatrischen Pflegeheimen irgendwo auf dem Land. Im Haus Maybachstraße wird intensiv versucht, die Klienten so zu stabilisieren, dass sie eine regelmäßige Arbeit durchhalten, sei es auch nur für ein paar Stunden am Tag. Und es wird darauf hingearbeitet, dass sie wieder selbstständig in einem offenen Wohnheim oder ambulant betreut in der eigenen Wohnung leben können. Daniel Zeiger hat bereits ein klares Ziel: „Wieder eigenständig wohnen, darauf arbeite ich hin“, sagt er. Und „eine kleine Arbeit“ wünscht er sich, damit er wieder mehr Geld in der Tasche hat – etwa eine Teilzeitarbeit im Verkauf oder im Lager. Unter der Woche besucht er täglich die sogenannte Arbeitsgruppe des Hauses Maybachstraße – und die Suchtgruppe, die für alle verpflichtend ist, die eine Alkohol- oder Drogenkarriere hinter sich haben. Das Beschäftigungsangebot im Haus ist vielfältig. Soeben hat Daniel Zeiger in der Arbeitsgruppe beispielsweise Gartenmöbel geschreinert für den Grillabend auf dem Dachgarten. Darüber hinaus mäht und pflegt er regelmäßig den Rasen. Dieses Beschäftigungsangebot ist wichtig, wie Klaus Masanz betont. „Denn wir sehen den Aufenthalt hier als Übergang, als Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben – auch wenn wir wissen, dass manche Klienten bis dahin noch viele Jahre brauchen werden.“ Daniel Zeiger geht jetzt schon häufig selbstständig in die Stadt, ins Freibad oder in die Videothek. Und hin und wieder fährt er mit der Bahn übers Wochenende zu seinen Eltern, die mittlerweile aus Stuttgart weggezogen sind. Auch mit der gewünschten Teilzeitarbeitsstelle könnte es im Lauf des kommenden Jahres etwas werden. Aber erst muss er noch einmal vor Gericht. „Die Verhandlung muss erledigt sein“, sagt er. Dann kann der nächste Schritt in die Selbstständigkeit folgen. msk Z KO L U M N E sozial • Ausgabe 1 3 | 2012 Lothar Bauer: Teilhabe an Arbeit – aber wie? Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie „Früher durfte man nichts sagen.“ So erzählte Robert Kleinheitz, Vorsitzender des Werkstattrates, in einer Diskussionsrunde anlässlich der Einweihung der erweiterten und sanierten Werkstätten der BruderhausDiakonie in Reutlingen. Es habe nur einfachste Arbeiten gegeben, keine Fortbildungen und kein Mitspracherecht. Robert Kleinheitz blickt auf eine lange Zeit der Mitarbeit in der Werkstatt zurück. Die Arbeit ist anspruchsvoller und vielfältiger geworden. Es werden zahlreiche Fortbildungen angeboten und – man darf mitreden. Die Werkstatträte sind die Interessensvertretung der Werkstattbeschäftigten. Das Paradigma heute heißt Inklusion. Die Werkstätten der BruderhausDiakonie sind Teil eines leistungsfähigen und in der ganzen Republik flächendeckend ausgebauten Systems von Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Lange war das deutsche Werkstättensystem ein Vorzeigemodell. Jetzt wird es kritisch hinterfragt. Es sei ein „exklusives“ Modell. Es schließe Menschen mit Behinderung vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus. Das Paradigma heute heißt „Inklusion“. So fordert es die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. „Die Vertragsstaaten“, heißt es in dem Übereinkommen der Vereinten Nationen, das vom deutschen Bundestag ratifiziert wurde, „anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderung auf Arbeit.“ Roland Es braucht qualifizierte Assistenz, damit Menschen mit Behinderung am ersten Arbeitsmarkt ankommen und dort bestehen können. Klinger, Direktor des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales, nennt als Zielgröße zehn Prozent der Werkstattbeschäftigten, die auf dem ersten Arbeitsmarkt unterkommen sollten. Qualifizierte Assistenz wird nötig sein, damit Menschen mit Behinderung am ersten Arbeitsmarkt ankommen und dort bestehen können. Inklusion wird vermutlich auch kein Sparmodell werden. Arbeitgeber in der Industrie, im Handwerk und in Verwaltungen werden auch einen angemessenen Ausgleich für die Leistungsfähigkeit der Menschen mit Behinderung fordern, wenn sie denn Arbeitsplätze anbieten sollen. Künftig wird die Assistenz in vielen Fällen nicht mehr in unseren Räumen, in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung erbracht werden, sondern in normalen Betriebszusammenhängen. Erste Erfahrungen sammeln wir bereits damit. In Kooperation mit Industrie- und Handwerkspartnern werden Menschen mit Behinderung an Arbeitsplätzen in normalen Betrieben betreut. „Assistenz auf Rädern“ wird nötig sein, dann werden viele Menschen mit Behinderung auch am ersten Arbeitsmarkt ankommen. 9 AKTUELL sozial • Ausgabe 3 | 2012 Jahresfest der BruderhausDiakonie mit Festakt „40 Jahre Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ in Reutlingen: Rund 5000 Gäste kamen am letzten Junisonntag Menschen mit und ohne Handicap backten, kochten, malten und musizierten für die vielen Besucherinnen und Besucher Menschen mit und ohne Handicap feierten 40 Jahre Werkstatt Arbeitsplatz Werkstatt: Seit 37 Jahren arbeitet Gudrun Weber hier. 10 Im ersten Moment wirkt der riesige Saal fast wie eine Wattewolke mit all den weißen Wollrohlingen für Babyjäckchen und Windeln, die sich kistenweise auf Tischen und Nähmaschinen stapeln. Das Surren der Maschinen holt Besucher schnell in die Realität: 60 Hände säumen Stoffbahn für Stoffbahn. 30 Frauen nähen hoch konzentriert verkaufsfertige Babykleidung. Die Textile Fertigung der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) der BruderhausDiakonie hat die neuen Räume auf dem Reutlinger Gaisbühlgelände erst vor kurzem bezogen. „Es ist alles ziemlich groß hier und professionell“, stellt Gudrun Weber fest. Die resolute Frau hat eine leichte geistige Behinderung. Sie arbeitet seit knapp vier Jahrzehnten in der Werk- statt. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen, sie steht nicht gerne in der Öffentlichkeit. In der Textilen Fertigung säumt sie Wollwindeln und näht Etiketten an. „Ich helfe aber auch viel an anderen Stationen“, erzählt sie. Gudrun Weber kennt die Werkstätten wie kaum eine andere. Als junge Frau kam sie nach ihrem Sonderschulabschluss und einer beruflichen Zwischenstation in Bad Boll 1975 nach Reutlingen. Sie hatte eine Ausbildung zur hauswirtschaftlich-technischen Helferin absolviert, aber keine Anstellung. Gudrun Weber arbeitete zunächst in der Metallbearbeitung. „Das hat großen Spaß gemacht, vor allem das Fräsen, Bohren und Feilen“, erzählt sie noch heute mit leuchtenden Augen. Ein wenig verschmitzt fügt sie hinzu, Der Reutlinger Bundestagsabgeordnete Pascal Kober, FDP, nahm am Gottesdienst zum Jahresfest teil. Die Predigt hielt Pfarrer Hartmut Zweigle, Gustav-Werner-Biograf Robert Kleinheitz, Vorsitzender Werkstattrat, Roland Klinger, Verbandsdirektor Kommunalverband für Jugend und Soziales, Gerhard Droste, Leiter Werkstätten, Martin Holder, Wafios AG, und Andreas Bauer, Sozialdezernent Landkreis Reutlingen, diskutierten über Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung sozial • Ausgabe 3 | 2012 Im Gottesdienst zum Thema „Teilhabe an Arbeit“ erzählten Beschäftigte der Werkstätten von ihrer Tätigkeit in der BruderhausDiakonie AKTUELL Zu Gast: Barbara Bosch, Oberbürgermeisterin von Reutlingen und Martin Bauch, Stiftungsratsvorsitzender der BruderhausDiakonie für Menschen mit Behinderung der BruderhausDiakonie Im Bereich Metall hat sie ihren Ehemann kennengelernt im Metallbereich habe sie auch ihren heutigen Mann kennengelernt, mit dem sie seit Jahren in einer eigenen Wohnung wohnt. Irgendwann wurde die Arbeit mit dem Metall zu schwer, Gudrun Weber wechselte in den Bereich Elektronik, sie lötete Platinen. Schließlich landete sie beim Nähen. Besonders stolz ist sie auf ihr eigenes Zuhause. Hin und wieder erhält sie ambulante Unterstützung durch die BruderhausDiakonie. Das meiste bewältigt sie mit ihrem Mann zwar gut allein, manchmal sei aber auch Rat nötig. „Dann wende ich mich an die Beratungsstelle, die helfen uns.“ Gudrun Weber schiebt Bahn für Bahn unter der Nadel an der Maschine hindurch, dreht und wendet den Stoff. Wie viele Windeln sie am Tag säumt, kann sie nicht beziffern, einige Hundert werden es wohl sein. Sie fühlt sich wohl in der Werkstatt, auch wenn der Druck heute größer geworden ist, weil viele Aufträge fertigzustellen sind. „Früher war es gemütlicher“, sagt sie, „aber ich mag die Arbeit und möchte hier bis zur Rente bleiben.“ klm/ste Z Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie, machte den Auftakt zum Festakt 40 Jahre Werkstatt für Menschen mit Behinderung Die Werkstätten der BruderhausDiakonie bieten eine Vielfalt an Arbeitsplätzen: Gudrun Weber näht, zuvor war sie in der Metallbearbeitung tätig Die Werkstätten der BruderhausDiakonie bieten Arbeitsplätze für rund 1400 Menschen. Die Beschäftigten können sich hier auch für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren, zum Beispiel im Bereich Handwerk oder Garten- und Landschaftsbau. 11 REGIONEN sozial • Ausgabe 3 | 2012 Göppingen Jugendliche bauen eine Stadtoase Jugendliche und Mitarbeitende der Stadt Göppingen kreieren einen Wohlfühlort auf Zeit – mit vollem Erfolg. Jugendliche planen ihren Platz 12 Einfach chillen, skaten oder sich austauschen – Jugendliche haben viele Freizeitvorlieben. Mit etwas Engagement können sie diese Vorlieben auch mitten in der Stadt leben, zum Beispiel in Göppingen: Im März startete das Projekt Stadtoasen. Es soll Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich aktiv am Stadtleben zu beteiligen. Schülerinnen und Schüler des Freihof-Gymnasiums durften ihrer Fantasie freien Lauf lassen und einen Platz für einen gewissen Zeitraum ganz nach ihrem Geschmack gestalten. In zahlreichen Treffen bauten sie Modelle, malten und handwerkten. Unterstützt wurden sie dabei von einem Architekten und der Göppinger Stadtplanung. Die Mitarbeitenden der Future-Jugendberufshilfe und Straßensozialarbeit Göppingen der BruderhausDiakonie waren dabei an der Umsetzung und Planung beteiligt: Schulsozialarbeiter Harald Maas stellte den Kontakt zu Schülern der Klassen acht bis zehn her, Sozialarbeiterin Katrin Stange koordinierte die Zusammenarbeit mit verschiedenen Trägern und Sponsoren. Es entstand auf dem Schlossplatz ein Wohlfühlort zum Entspannen. Dafür hatten die Jugendlichen insgesamt 300 Paletten verbaut: Sie bildeten eine über 25 Meter lange hügelige Landschaft, die stellenweise bis zu einem Meter hoch war. In der Landschaft wuchsen Palmen und Blumen, waren Sandkästen und Wasserbecken – kurzum Strandatmosphäre auf einem bisher tristen Parkplatz mitten in der Stadt – mit einer Bar, Sitzgelegenheiten, einer Bühne und einer Dusche zum Abkühlen. Die Schülerinnen Lisa Noch im Rückblick freuen sich und Alexandra fühlten die Schülerinnen Lisa und sich ernst genommen Alexandra: „Es war toll. Unsere Vorschläge wurden ernst genommen und fast immer auch umgesetzt“. Das Freihof-Gymnasium unterstützte das Projekt, indem die teilnehmenden Schüler teilweise vom Unterricht befreit wurden und manche Elemente der Oase im Kunstunterricht gebaut wurden. Die Resonanz aus der Bevölkerung war spitze, die Eröffnung gelungen: Es spielte die Stuttgarter Band „Ironing Hills“, es gab Poetry Slam, einen Skate-Contest und Aufführungen der Zirkusgruppe des Freihof-Gymnasiums, zudem ein Open-Air-Kino. Bei der Eröffnung der Stadtoase präsentierte die Zirkusgruppe des Freihof-Gymnasiums Akrobatik „Viele Neugierige und Passanten haben sich richtig gefreut, dass der Platz so schön genutzt wird“, erinnert sich Sozialarbeiterin Katrin Stange. Nun soll getestet werden, ob die Oase auf Zeit sich auch im Herbst auf dem Schlossplatz rentiert. Dann soll es auch ein gastronomisches Angebot geben. Und wieder ist beim Bau der Oase das Engagement der Jugendlichen gefragt: Sie stellen Anträge, holen Genehmigungen ein, müssen das geplante Budget einhalten und mit zahlreichen Partnern zusammenarbeiten. Die Jugendlichen haben sogar schon Ideen für eine Winter-Stadtoase mit Schlittschuhbahn. Lisa und Alexandra sind sich sicher: „Bei einer weiteren Stadtoase sind wir auf jeden Fall wieder dabei.“ klm Z + www.goeppingen.de REGIONEN sozial • Ausgabe 3 | 2012 Villingen-Schwenningen Die Kantine der Arbeitsagentur beschäftigt Menschen mit Handicap Seit einem Vierteljahr arbeitet Arnold Kreis als Küchenhelfer. Die Tätigkeit gibt dem psychisch kranken Mann die verloren gegangene Tagesstruktur und den Lebensmut zurück. Ein Beispiel, wie die BruderhausDiakonie Inklusion lebt. Schon die erste Begegnung mit dem 55-Jährigen macht klar, dass da jemand am richtigen Ort angekommen ist. „Einwandfrei“ findet es Küchenhelfer Arnold Kreis hier, „es könnte gar nicht besser gehen“. Andreas Friesen (links) und Arnold Kreis arbeiten in der Küche Hand in Hand Und er ist froh, die – wie er sagt – „eintönige Arbeit“ in der Werkstatt für Menschen mit psychischer Erkrankung hinter sich zu haben. Noch eine ganze Zeit wird seine Rentenversicherung die jetzige Maßnahme unterstützen. So lange hat Arnold Kreis täglich die Möglichkeit, sich auf dem neuen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bewähren. Die Küche ist genau das Richtige für einen wie ihn, der viele Jahre Küchenhilfe in einem Top-Hotel war. „Je stressiger es ist, desto besser läuft es bei mir“, betont er. Nebenbei erzählt er davon, wie ihn allerdings die „katastrophalen Arbeitszeiten“, die Scheidung und noch weitere Schicksalsschläge langsam in die AlkoholAbhängigkeit getrieben hatten. Durch das „viele Rumhängen“ verlor er jede Tagesstruktur. Mehr als 20 Jahre ging das so, bis er schließlich einer Langzeittherapie zustimmte. Wieder auf den Beinen, sucht er gezielt nach Halt: „Den brauche ich, damit ich nicht wieder versumpfe“. Halt gibt ihm sein neuer Job, abends kann er jetzt „zufrieden nach Hause gehen“, weil er „etwas Gutes, etwas Sinnvolles getan“ hat. Richtig Energie gibt ihm auch das „super Team“ mit einem Chef, der ihn häufiger mit einem „Dankeschön, das haben Sie heute gut gemacht“ in den Feierabend verabschiedet. Der Chef heißt Andreas Friesen, und er arbeitet zum ersten Mal so eng mit psychisch erkrankten Menschen zusammen. Er gibt ganz offen zu: „Das ist nicht immer einfach, man muss Nerven dafür haben.“ Aber er kommt mit der Unterstützerrolle gut klar und findet, dass Arnold Kreis und auch sein Kollege Robert Koch „eine gute Arbeit machen.“ Einige Gäste Die Kantine der Arbeitsagentur VillingenSchwenningen mit neuem Pächter Die BruderhausDiakonie hat dafür gesorgt, dass momentan zwei, in naher Zukunft vier Menschen mit Behinderungen in der Kantine einen Arbeitsplatz haben. Angeleitet werden sie von einem Koch und einer Angestellten der Agentur für Arbeit. 50 bis 60 Mittagessen gehen pro Tag über die Theke, zudem gibt es ein Frühstücksbuffet. kommen schon jahrelang In der Kantine füllen sich mittlerweile die ersten Tische. Es gibt Fleischkäse mit Kartoffelbrei und überbackene Auberginen mit Reis. Einer der ersten Gäste ist der Busfahrer Manfred Gaudert. Seit fünf Jahren isst er hier. Dass Menschen mit Handicap in der Kantine arbeiten, findet der Gast „schwer in Ordnung. Man muss diesen Leuten auch eine Chance geben – auf dem Arbeitsmarkt“, betont er. kep Z 13 REGIONEN sozial • Ausgabe 3 | 2012 Münsingen Ehrenamtliche betreuen Pflegebedürftige Von der Zeitintensiven Betreuung im oberen Ermstal und auf der Alb profitieren pflegende Angehörige ebenso wie die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Walter Efinger hatte vor gut sieben Jahren einen Schlaganfall, verlor zu einem großen Teil seine Beweglichkeit und Sprache. Von da an pflegte ihn seine Frau. Sie koordinierte die zahlreichen Therapien wie Gymnastik, Logopädie, Ergotherapie. „Es kamen jeden Tag andere Leute in unser Haus“, erzählt die heute 76-Jährige. Und der Haushalt musste ja auch gemacht werden. Irmgard Efinger hörte von dem Projekt Zeitintensive Betreuung (ZiB) und meldete sich und ihren Mann an. Seitdem kommt Bernd Holler zweimal wöchentlich zu dem Ehepaar. Mittlerweile sind es mehr als vier Jahre. Bernd Holler (links) unterstützt mit immer neuen Ideen Irmgard Efinger bei der Betreuung ihres Mannes Walter Efinger Holler betreut pflegebedürftige Menschen, er ist ehrenamtlich für ZiB tätig. Mit ihm kam nicht nur Entlastung für Irmgard Efinger, sondern auch viel Menschlichkeit ins Haus. Bernd Holler und Walter Efinger sind auf einer Wellenlänge, sie schäkern und lachen. Und sie singen sehr gerne. „Wir singen eigentlich immer und überall – ganz egal, was die Leute von uns denken“, erzählt Pflegekraft Bernd Holler. Der 64-Jährige war früher im Außendienst tätig, saß viel im Auto. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er diesen Beruf irgendwann nicht mehr ausüben, fühlte sich aber zu jung für die Erwerbslosenrente. Durch einen Freund erfuhr er von ZiB und besuchte die 20-stündige Schulung. „Das Projekt hat auch mir persönlich sehr viel gebracht“, sagt er heute. Er habe 14 Das von Bernd Holler gebaute Spiel trainiert Motorik, Gedächtnis und Sprache gelernt, geduldig zu sein und auch in schwierigen Situationen ruhig zu bleiben. Holler macht es Spaß, sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen: seine Klienten zu beschäftigen, zu unterhalten und zu fördern. Für Walter Efinger hat er beispielsweise ein Würfelspiel gebaut, das zugleich Gedächtnis und Sprache trainiert. „Mein Mann hat unglaubliche Fortschritte gemacht, seit Bernd zu uns kommt“, freut sich Irmgard Efinger. ZiB gibt es seit fünf Jahren, mit mittlerweile 65 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das Projekt startete auf Initiative von Christine Krohmer von der Diakoniestation Oberes Ermstal-Alb und Lothar Schnizer, Geschäftsführer der Diakoniegesellschaft Münsinger Alb. Die Idee war, einerseits pflegende Angehörige zu entlasten, andererseits Menschen an eine Arbeit heranzuführen, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. „Die Nachfrage von Seiten der Patienten und von potenziellen Einsatzkräften war von Anfang an hoch, und sie steigt weiter an“, erzählt Christa Herter-Dank, die die Mitarbeitenden schult und die Einsätze koordiniert. Einige Einsatzkräfte haben nach der Tätigkeit bei ZiB eine Ausbildung begonnen und arbeiten nun fest in Pflegeheimen oder anderen Einrichtungen. Seit 2012 wird das Projekt kommunal gefördert. Die Verantwortlichen hoffen, dass ZiB zu einem flächendeckenden Angebot von Diakoniestationen wird. Für Bernd Holler lohnt sich der Einsatz allemal: „Wenn sich die Patienten freuen und mich anstrahlen, geht mir das Herz auf. Manchmal höre ich an der Tür schon ein Juhu.“ klm Z N NACH RICHTEN sozial • Ausgabe 3 | 2012 Wohnungen für Menschen mit psychischer Erkrankung Laichingen – Mehrere Einzel-Appartments und zwei Gemeinschaftswohnungen für Menschen mit psychischer Erkrankung entstehen derzeit in Laichingen. Auf einem Grundstück im Zentrum trafen sich Anfang Juli Vertreter der Stadt, des Alb-Donau-Kreises, der Kirche und der BruderhausDiakonie zum symbolischen ersten Spatenstich. „Auch in ländlichen Gebieten ist es unverzichtbar, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf in ihrem vertrauten Wohnumfeld bleiben können und dass ihre Kontakte aufrecht erhalten bleiben“, begründete Rainer Single, Kaufmännischer Vorstand der BruderhausDiakonie, den Bau des neuen Wohnhauses. Menschen mit psychischer Erkrankung aus Laichingen und Umge- bung sollen dort künftig mit Hilfe eines speziellen Unterstützungsangebots weitgehend selbstständig leben können. Der Neubau entspreche den Zielen des sogenannten Teilhabeplans, den der Alb-DonauKreis verabschiedet hat, Mit dem symbolischen ersten Spatenstich begansagte Sozialdezernent nen die Arbeiten für das Laichinger Wohnprojekt Günther Weber. Der Teilhabeplan sieht vor, Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung möglichst wohnortnah unterzubringen. 25 Jahre Sozialpsychiatrischer Dienst in Horb und Freudenstadt Horb/Freudenstadt – Seit 25 Jahren gibt es im Kreis Freudenstadt den Sozialpsychiatrischen Dienst. Dieses Jubiläum haben die Sozialpsychiatrischen Hilfen der BruderhausDiakonie, die psychosoziale Hilfsgemeinschaft „Die Treppe“ und der Landkreis Anfang Juli gemeinsam gefeiert. Die Sozialpsychiatrischen Dienste beraten und unterstützen psychisch Erkrankte und deren Angehörige außerhalb psychiatrischer Kliniken. Sie vermitteln Hilfen und suchen Erkrankte auch zu Hause auf. So tragen sie dazu bei, dass Menschen, die psychisch erkranken, in ihrem gewohnten Lebensumfeld bleiben können. 2004 übertrug der Landkreis Freudenstadt die Trägerschaft für den Sozialpsychiatrischen Dienst der BruderhausDiakonie und der psychosozialen Hilfsgemeinschaft „Die Treppe“. „Die Treppe“ ist für das westliche Kreisgebiet zuständig und hat ihren Sitz in Freudenstadt. Die BruderhausDiakonie ist für den östlichen Teil des Landkreises zuständig. Der Sozialpsychiatrische Dienst der BruderhausDiakonie ist dort Teil des Gemeindepsychiatrischen Zentrums Horb. Bei der Feier betonte der Freudenstädter Landrat Klaus-Michael Rückert den Wert der Arbeit, die von den Trägern BruderhausDiakonie und „Die Treppe“ im Landkreis geleistet wird. Das seien zwei kompetente Partner, die miteinander am selben Ziel arbeiteten. In Feststimmung: Vertreter der Kommunen sowie der Träger BruderhausDiakonie und „Die Treppe“ Neuffener Wohnhaus für Menschen mit Behinderung eröffnet Neuffen – Der Standort des neuen Wohnhauses der BruderhausDiakonie im 6000-Einwohner-Städtchen Neuffen erfüllt alle Voraussetzungen, damit die Hausbewohner mitten in der Gemeinde leben können. Zwölf Menschen mit Behinderung sind dort im Juli eingezogen. Am 29. Juni wurde das Haus im Beisein des Esslinger Landrats Heinz Eininger und des Neuffener Bürgermeisters Matthias Bäcker feierlich eröffnet. Die Behindertenhilfe Neckar-Alb der BruderhausDiakonie wolle Unterstützungsleistungen im notwendigen Umfang dort anbieten, wo sie gebraucht werden, sagten die Vertreter der BruderhausDiakonie bei der Eröffnung. Vorstandsvorsitzender Lothar Bauer und Stiftungsratsvorsitzender Martin Bauch zeigten sich zuversichtlich, dass die zwölf Bewohner des Hauses sich in der neuen Nachbarschaft schnell wohlfühlen werden. In Neuffen sollen bevorzugt Menschen wohnen, die aus dem Kreis Esslingen stammen, bisher aber in Einrichtungen Neuer Wohnraum: Landrat Heinz Eininger eröffaußerhalb des Landkreises nete das Haus für Menschen mit Behinderung gelebt haben. Das Neuffener Wohnhaus ist die erste Behindertenhilfe-Einrichtung der BruderhausDiakonie im Landkreis Esslingen. 15 D I A KO N I S C H E R I M P U L S Karin Ott Menschsein heißt, dazu zu gehören Karin Ott ist Diakoniepfarrerin des Evangelischen Kirchenkreises Stuttgart Seit fast zwanzig Jahren lebt er auf der Straße. Tagsüber versucht er in der Nähe der S-Bahnstation, sich bei den Vorbeihastenden ein paar Cent zusammenzuschnorren für die nächste Flasche Bier. Seine Nächte verbringt er im Männerwohnheim. Er ist ein scheuer Einzelgänger. Wenn er spricht, dann nur leise und in – für andere nur schwer verständlichen – Satzfetzen. Angst, Schuld, Versagen – das sind bei unseren Begegnungen seine immer wiederkehrenden, stammelnd vorgebrachten Worte. Hin und wieder geht zwischen seiner und meiner Welt ein kleines Fenster auf, das uns ein längeres Gespräch ermöglicht. In einem dieser Momente erzählte er mir von seinem früheren Leben. Angespornt von der Wissbegierde und dem Lerneifer seiner kleinen Tochter entschließt er sich mit Anfang zwanzig, an der Abendschule das Abitur nachzumachen. Anschließend nimmt er das Studium auf. Sein besonderes Interesse gilt der Hirnforschung. Dann, mitten in den Examensvorbereitungen, passiert es. „Totaler Nervenzusammenbruch, nichts ging mehr“, so beschreibt er es selbst. Und dann spricht er von Gehirnsynapsen und Transmitterstoffen und was da bei ihm wohl nicht funktioniert. Dass er für das, was mit ihm passiert war, keine ihm einleuchtende Erklärung findet, macht ihm bis heute zu schaffen. Alle Versuche, nicht zuletzt mit Hilfe von Psychopharmaka irgendwie das Examen doch noch zu schaffen, scheitern. „Mit den vielen Tabletten, das war nicht mehr ich.“ Er setzt sie ab. Einen Zugang zu einer Hilfe, die seiner individuellen Situation gerecht wird, findet er nicht. Auf die Dauer sind weder er noch seine Familie den zerbrochenen Zukunftsperspektiven und der damit verbundenen existenziellen Bedrohung gewachsen. Eines Tages entscheidet er sich, zu gehen. Das war vor fast zwanzig Jahren. Auf meine Frage, was er sich am meisten wünscht, antwortet er spontan: „Ab und zu ein vernünftiges Gespräch. Ich bin doch auch ein Mensch.“ Ich bin doch auch ein Mensch. Dieser Satz voller Sehnsucht hat mich berührt und zugleich auch beschämt. Kommunikation, Begegnung, Beziehung, das wünscht er sich. Menschsein heißt, dazu zu gehören. Die Zahl derer wird immer größer, die sich aufgrund von Armut, hervorgerufen durch die reziproken Wirkungen von Erwerbslosigkeit und zunehmend auch prekärer Beschäftigung – psychischen und physischen, Suchterkrankungen, Wohnungslosigkeit – in unserer am Leistungsprinzip ausgerichteten Gesellschaft als nicht (mehr) dazu gehörig, als überflüssig und ausgeschlossen erleben. Die Teilhabe an kulturellen, geselligen, sportlichen und Bildungsangeboten, der Zugang zu Gesundheitsfürsorge, angemessenem Wohnraum und Mobilität setzt die dafür erforderlichen finanziellen Mittel voraus. Wer den allgemeinen Leistungsansprüchen nicht gerecht zu werden vermag und auf soziale Transferleistungen angewiesen ist, steht unter Teilhabeaspekten vor hohen Hürden. Armut und Ausgrenzung verletzen die Menschenwürde. „Es soll keine Armut unter euch geben“ (Dtn 15,4). Zu den biblischen Grundüberzeugungen gehört, dass eine Gesellschaft möglich ist, in der niemand in unfreiwilliger Armut leben muss. Armut entsteht, das benennt die biblische Überlieferung sehr klar, wo Menschen vorenthalten wird, was ihnen zusteht. Deshalb braucht es ein soziales Recht, das wirksam vor Armut schützt. Und es braucht die bewusste Annahme eines jeden Menschen mit ihren und seinen je individuell verschiedenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen. Das gilt in besonderer Weise für alle, die sich als unfreiwillig ausgeschlossen erleben. „Ich bin doch auch ein Mensch.“ Armut und Ausgrenzung verletzen die Menschenwürde. Und sie beschämen uns, die wir es zulassen. Wie lange noch?