Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
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Burkhard Meyer-Sickendiek Zärtlichkeit Burkhard Meyer-Sickendiek Zärtlichkeit Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Umschlagabbildung: Carte du Tendre Illustration aus dem Roman Clélie, Histoire romaine, première partie de Madeleine de Scudéry, Gravur (1653) von François Chauveau Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5942-8 Inhaltsverzeichnis V orwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 E inleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Zärtlichkeit als bürgerlicher Habitus? (S. 18) – Zärtlichkeit als aristokratischer Habitus (S. 25) – Zärtlichkeit als Liebesideal (S. 31) – Zärtlichkeit als Ästhetik (S. 39) – Zärtlichkeit als Theaterkultur (S. 43) – Zärtlichkeit als Didaktik (S. 47) – Die Poetik der Rührung (S. 53) ERSTER TEIL: DIE ENTSTEHUNG DES ZÄRTLICHEN THEATERS (1650–1740) I. D ie Z ärtlichkeit der G alanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Zur Genese der amitié tendre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die tendresse als Kompensation der gescheiterten Fronde? (S. 65) – Die Mode der galanten Rätselspiele als Ursprung der amitié tendre (S. 70) – Der narrative Kontext der Zärtlichkeit: Das erste Buch der Clélie von 1654 (S. 74) – Platonisch oder aristotelisch? Zum philosophischen Grundgedanken der Carte de Tendre (S. 77) – Der Bezug zu Honoré d’Urfés l’Astrée (1607–1627) (S. 81) – Zärtlichkeit und Preziösität: Zur satirischen Verkennung des neuen Ideals (S. 85) – Molière: Les précieuses ridicule (1659) (S. 88) – „so French, so gallant, and so tendre“: John Drydens Marriage à-la-Mode (1671) (S. 92) – Die Gentrifizierung der Gefühle: Drydens Psychologisierung der „town-lady“ (S. 97) – Die Reetablierung der „amour courtois“: Die Liebe zwischen Leonidas und Palmyra (S. 100) – La Cour et la ville, oder: Zärtlichkeit als Indikator einer frühen Gentrifizierung (S. 105) 6 II. D ie T ragödie Inhaltsverzeichnis der Z ärtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Von der tragédie tendre zur empfindsamen Herrschertragödie . . . . . . . . . . 113 Zum Genre des empfindsamen Herrscherdramas: Racines Bérénice (1671) (S. 117) – „La principale règle est de plaire at de toucher“: Racines Poetik der Rührung (S. 122) – Die französische Diskussion um den ‚tendre Racine‘ (S. 127) – Die Adaption der tragédie tendre in England: Dryden’s All for Love, or the World well Lost (1678) (S. 132) – Die Empfindsamkeit der Helden: Antonius und Cleopatra (S. 139) – Die poetisch gerechte Variante der Racineschen ménage à trois: Thomas Otways The Orphan und Nicholas Rowes The Fair Penitent (S. 142) – Nicholas Rowes The Tragedy of Jane Shore (1714) (S. 149) – „la seule tragédie tendre que j’aie faite“: Voltaires Zaire (1732) (S. 154) – „Zaire, vous pleurez?“: Voltaires Poetik der Rührung (S. 160) – Die Rezeption der empfindsamen Herrschertragödie in Deutschland (S. 165) – Theodor Johann Quistorp: Aurelius, oder das Denkmaal der Zärtlichkeit (1743) (S. 170) – Ephraim Benjamin Krüger: Mahomed der IV (1744) (S. 173) – Staatsräson aus Zärtlichkeit: Schlegels Tragödie Canut (1746) (S. 177) III. D ie K omödie der Z ärtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Von der sentimental comedy zum Rührstück Johann Elias Schlegels . . . . . . 185 Erste Voraussetzung der sentimental comedy: Die Diskussion um die höfliche Satire (S. 187) – Zweite Voraussetzung der sentimental comedy: Jeremy Collier und die Diskussion um die poetische Gerechtigkeit (S. 192) – „the mutual sorrow between an only child and a tender father“: Richard Steeles The Lying Lover (1703) (S. 195) – Beschämen in der sentimental comedy: Colley Cibbers The Careless husband (1704) (S. 199) – Die kontrastierende Handlung um Betty Modish (S. 203) – Zärtliches Beschämen I: Richard Steeles The tender husband (1705) (S. 206) – Zärtliches Beschämen II: Johann Elias Schlegels Triumph der guten Frauen (1748) (S. 210) IV. D ie T ragikomödie der Z ärtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 215 Von der comédie larmoyante zum Rührstück Christian Fürchtegott Gellerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die zärtliche Regung der Stoiker: Regnards Democrite (1700) und Destouches’ Les philosophes amoureux (1730) (S. 220) – Die Neudeutung der Rührung: Destouches Le Glorieux (1729/32) (S. 226) – Die zarte Genese der amour naissant: Marivaux’ Le jeu de l’amour et du hazard (1730) (S. 231) – Die Verbürgerlichung der comédie larmoyante: Nivelle de La Chaussées Le préjugé à la mode (1734) (S. 236) – „O mère la plus tendre et la plus adorable!“: La Chaussées Inhaltsverzeichnis 7 Mélanide (1741) (S. 239) – Die Rezeption der comédie larmoyante in Deutschland (S. 244) – Gellerts Rührstück Die zärtlichen Schwestern (1747) (S. 249) – Von der Konvenienz- zur Liebesehe? Die Heiratspolitik der zärtlichen Schwestern (S. 253) – Von der comédie larmoyante zur comédie attendrissante: Voltaires Nanine (1749) (S. 256) – „Pro commoedia commovente“ (1751): Gellerts Theorie des rührenden Lustspiels (S. 263) ZWEITER TEIL: DAS ENDEN DES ZÄRTLICHEN THEATERS (1740–1780) I. D ie K rise der Z ärtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lessings Weg von der Miss Sara Sampson zur Emilia Galotti . . . . . . . . . . . 271 Der 17. Literaturbrief, oder: Lessing, Voltaire und die Krisendiagnose der Zärtlichkeit (S. 275) – Lessings Adaption des „Moral sense“ von Shaftesbury und Hutcheson (S. 282) – Beschämung: Der „test of ridicule“ in Lessings Der Freigeist (S. 286) – Scham, Grazie und Zärtlichkeit in der Schauspieltheorie der Zeit (S. 290) – Die Dramatisierung der zärtlichen Didaktik: Miss Sara Sampson (S. 296) – Der Einfluss von Voltaires Nanine: Zärtlichkeit als tragische Beschämungsvermeidung (S. 299) – Zur Vorlage der Miss Sara Sampson: Die aristokratische Welt in der comedy of manners (S. 304) – Lessings Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn: Dokument einer Theorie des Bürgerlichen Trauerspiels? (S. 307) – Die Radikalisierung der Rührung: Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (S. 312) – Von Shaftesbury zu Dubos und Voltaire: Lessings Neudeutung des Mitleids in der Hamburgischen Dramaturgie (S. 319) – Eine tragédie tendre: Voltaires Zaire als Vorlage der Emilia Galotti (S. 325) – Das „Haus der Freude“ und das Sérail. Eine These zur „Halsstarrigkeit“ der religiösen Tugend (S. 331) – Emilia Galotti: Bürgerliche Tragödie oder „Hoftrauerspiel im Conversationstone“? (S. 333) – Lessings Stellung in der literarischen Empfindsamkeit (S. 337) II. D ie Ü berwindung der Z ärtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Rousseau und das Drama des Sturm und Drang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Die Krise des Theaters: Rousseaus Lettre à d’Alembert von 1758 (S. 344) – Das zärtliche Theater als drohendes Entfremdungsmedium (S. 347) – Weibliche Koketterie: Vom Brief an d’Alembert zur „Sophie“ im Emile (S. 350) – Die Reaktionen auf den Brief an d’Alembert (S. 353) – Die Genese des bürgerlichen Tugendrigorismus: Ein Effekt der Rousseau-Rezeption? (S. 354) – Eine rousse- 8 Inhaltsverzeichnis auistische Tragödie: Friedrich Maximilian von Klingers Das leidende Weib (1775) (S. 357) – Ein neues Theater, mit und gegen Rousseau: Louis-Sébastien Merciers Neuer Versuch über die Schauspielkunst (1776) (S. 360) – Wagners Die Kindermörderinn (1776) (S. 363) – Wagners rousseauistische Deutung der Scham (S. 369) – Wagners Überwindung der poetischen Gerechtigkeit (S. 374) – Die rousseauistische Didaktik des Magisters (S. 379) – Drei Selbstmörderinnen aus bürgerlichem Hause: Sprickmanns Eulalia, Möllers Henriette, Brandes’ Ottilie (S. 382) III. D ie R ekonstruktion der Z ärtlichkeit . . . . . . . . . . . . 389 Zur Komödie von Jakob Michael Reinhold Lenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Der Nobilitierungsgedanke in Lenzens Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung (S. 394) – Die Liebe der Mätresse: Lenzens Tragikomödie Die Soldaten (1776) (S. 401) – Die Beziehung von Lenz zu Sophie von La Roche (S. 406) – Lenz, La Roche und der „weibliche Habitus“ (S. 411) – Die Mätresse im Roman der Empfindsamkeit: Das Fräulein von Sternheim und Pamela Andrews (S. 413) – Marie Wesener und die Gräfin La Roche (S. 418) – Die „Pflanzschule für Soldatenweiber“: Über die fehlende Mätressenkultur des Militäradels (S. 420) IV. J enseits der Z ärtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Zum Tugendrigorismus des Bürgerlichen Trauerspiels seit Schiller . . . . . . . . 425 Kabale und Liebe als Entdeckung der romantischen Liebe (S. 428) – Schillers Ausgangspunkt: Die Kritik der Zärtlichkeitsmode in Gotters Mariane (1776) und Gemmingens Der deutsche Hausvater (1780) (S. 432) – Kabale und Liebe als Satire: Schillers Bekenntnis zur poetischen Gerechtigkeit (S. 436) – Jenseits von Rührung und Mitleid: Schillers Rückkehr zur Dramaturgie der Bewunderung (S. 440) – Jenseits der Zärtlichkeit: Zum Bürgerlichen Trauerspiel im 19. und 20. Jahrhundert (S. 443) – Das Theater der Zärtlichkeit: Historisches Intermezzo oder Vorform des Melodramas? (S. 448) L iteraturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 N amensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Vorwort Das vorliegende Buch zur Theatergeschichte der Zärtlichkeit ist der letzte Teil eines umfangreicheren Forschungsprojektes, das auf der Grundlage eines HeisenbergStipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 2013 und 2015 realisiert wurde. Es steht zudem in einem sehr engen Bezug zu den Forschungsfragen des ehemaligen Exzellenz-Clusters „Languages of emotion“ der Freien Universität Berlin, an dem ich seit Ende 2008 tätig gewesen bin. Die „Area B“ dieses Clusters trug den Titel „Affektpoetik in den Künsten und Kunst-bezogenen Diskursen“, einen ähnlichen Schwerpunkt verfolgen jene Arbeiten bzw. Monographien, die ich den letzten zehn Jahren zum Thema Affektpoetik veröffentlicht habe. Der ursprüngliche Ansatz meiner eigenen Affektpoetik von 2005 – literarische Gattungen als Medien spezifischer basaler Emotionen bzw. Affekte zu begreifen – ist im Rahmen der Diskussionen zum „emotional turn“ auch durchaus kritisch diskutiert worden, insbesondere angesichts der Ausblendung der Rezeptionsebene zugunsten einer Konzentration auf die produktionsästhetische Dimension. Vor dem Hintergrund der Arbeit am Cluster hat sich daher der Ansatz etwas verändert bzw. ausdifferenziert, insofern meine späteren Arbeiten zum literarischen Sarkasmus, zur Kulturgeschichte des Grübelns oder zum „Lyrischen Gespür“ den affektpoetischen Ansatz im Sinne einer Untersuchung einzelner Affekte wie Angst, Trauer oder Begeisterung durch eine breitere literaturpsychologische Perspektive ergänzten. Zudem wurde der ursprünglich gattungstheoretische Fokus im Sinne der Untersuchung einzelner literarischer Genre wie dem Märchen, der Elegie oder der Hymne durch eine auf Medien der Literatur hin fokussierte Fragestellung erweitert: Untersucht wurde also der Sarkasmus in der modernen Publizistik (Was ist literarischer Sarkasmus?, 2009), die Kognition des Grübelns in der romantischen und nachromantischen Erzählung (Über die Faszination des Grübelns, 2010) oder das Vermögen des Gespürs in der modernen und postmodernen Lyrik (Lyrisches Gespür, 2012). Auch die vorliegende Studie analysiert mit dem Theater der Aufklärung ein Medium der Literatur, und mit der Zärtlichkeit keine basale Einzelemotion, sondern eine emotionale Kompetenz, die im Unterschied zu einzelnen Affekten auch von großer ethischer Relevanz ist. Damit ist der alte Ansatz der Affektpoetik nicht aufgegeben, sondern eher literaturpsychologisch ergänzt. Für hilfreiche Gespräche, die die vorliegende Arbeit allererst ermöglichten, danke ich vor allem Jörn Steigerwald. Zudem gilt mein Dank Simon Bunke und dessen Forschergruppe, Leonhard Horowski und dem Kolloquium an Ute Freverts Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Stefan Willer und dem ZfL-Kolloquium, sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Druck- 10 Vorwort legung dieser Studie finanzierte. Widmen möchte ich das Buch Yvonne und Nikolas. Berlin, im Januar 2016 Burkhard Meyer-Sickendiek Einleitung Das vorliegende Buch stellt die erste kulturvergleichende Studie zur Begriffs- und Literaturgeschichte der Zärtlichkeit dar. Es leistet damit einen kritischen Beitrag zur Erforschung der sogenannten Empfindsamkeit, deren Prämissen in dieser Studie vor dem Hintergrund einer komparatistischen Perspektive neu überdacht werden. In seinem überaus einflussreichen mehrbändigen Standardwerk mit dem schlichten Titel Empfindsamkeit von 1974 ging Gerhard Sauder davon aus, dass „die Empfindsamkeit eine spezifisch bürgerliche Tendenz [habe] und im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu sehen sei.“1 Mit dieser Definition orientierte sich Sauder an der alten These Fritz Brüggemanns vom „Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren“ des 18. Jahrhunderts, im Zuge derer nach Brüggemann „der bürgerliche Tugendbegriff mit dem sentimentalen Gefühl durchsetzt“ werde.2 Dass diese Identifikation der Empfindsamkeit als Epoche einer genuin bürgerlichen Gefühlskultur3 problematisch ist, verdeutlicht ein Blick auf die Kategorie der Zärtlichkeit, die in beiden Studien eine zentrale Funktion innehat.4 Sie kennzeichnet bei Sauder eine erste Phase der Empfindsamkeit bzw. die „erstmals deutlich zutage tretende empfindsame Tendenz“, wobei Sauder als „akzeptable Datierung“ dieser ersten Phase einer zärtlichen Empfindsamkeit im Anschluss an Brüggemann „das Jahrzehnt 1740-50“5 vorschlug. Dank neuerer französischer Studien zur Geschichte der Liebesehe (mariage amoureux) im Frankreich des frühen 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie insbesondere die Historiker Jean-Louis Flandrin und in der Folge Maurice Daumas vorleg 1 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd.1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 50. 2 Fritz Brüggemann: Reihe Aufklärung (Bd. 7): Der Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren, Leipzig 1935, S. 8ff. 3 Vgl. dazu etwa den Sammelband: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung, hg. v. Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel, Tübingen 2004, der in der Einleitung als zentrales Anliegen ausgibt, im Anschluss an Sauder „der „Emotionalisierung privater Bindungen und der bürgerlichen Gefühlskultur entscheidende Aufmerksamkeit“ zukommen zu lassen, ebd., S. 3. Ähnlich heißt es 2004 bei Inge Stephan: „Im Zusammenhang mit der Ablösung der höfisch-feudalen Ordnung und der Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft entsteht die bürgerliche Kleinfamilie als Stätte materieller und psychischer Reproduktion. In der Intimität der bürgerlichen Familie entsteht jene bürgerliche Gefühlskultur, mit der das Bürgertum seine moralische Überlegenheit über den Adel begründete und in deren Namen es seine ökonomische und politische Emanzipation forderte.“ Die Familie sei also „der Ort bürgerlicher Empfindsamkeit, die gegen die öffentliche Sphäre des Hofes und die feudale Unmoral gesetzt wird.“ Vgl.: Inge Stephan: „So ist die Tugend ein Gespenst“, in: Dies.: Inszenierte Weiblichkeit: Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2004, S. 31. 4 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit: Voraussetzungen und Elemente, a. a. O., S. 193 ff., wo die zentrale gesellschaftliche Bedeutung von Zärtlichkeit, d.h., die „Stilisierung der Zärtlichkeit zur moralischen Tugend überhaupt“, ebd. S. 195, dargelegt wird. 5Ebd., S. 234. 12 Einleitung ten, wissen wir heute um die Problematik dieser für die Forschung zum 18. Jahrhundert äußerst einflussreichen Datierungen Sauders. Flandrin untersuchte die Positivierung der innerehelichen Sexualität zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die sich um diese Zeit zunehmend von der Augusteischen Gnaden- und Sündenlehre zu lösen und zu emanzipieren begann. Im Anschluss an Flandrin entwickelte Daumas seine Genealogie einer tendresse amoureuse, der Entstehung von zärtlicher Liebe geprägter ehelicher Verbindungen zwischen den Geschlechtern, die er auf den gleichen Zeitraum datierte. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts fokussieren Abhandlungen über die Ehe also weniger die Vorschriften sexueller Praktiken als vielmehr die emotionale Beziehung zwischen Mann und Frau.6 Verschiedene Faktoren verbessern das Bild der Ehe, die insbesondere gegen Ende der Herrschaft von Louis XIII. (1601–1643) zunehmend zu einer „Liebe als Passion“7 im Sinne einer Liebesehe wird, also unter das Vorzeichen der Zärtlichkeit rückt.8 Was wir noch heute in den westlichen Industriestaaten mit den Begriffen der Liebe bzw. der Liebesbeziehung assoziieren, ist also ein „relatively recent phenomenon, emerging with the development of a sense of self over the past few hundred years“.9 Schon im 17. Jahrhundert entwickelt sich in Frankreich demnach eine grundlegende Umdeutung von Liebe und Ehe: „Die alte Gesellschaft“, so formuliert es Jean Louis Flandrin, „unterschied sich von der unseren ganz erheblich, insofern die Heirat dort in der Regel keine Liebesbeziehung absegnete, sondern eine Familienangelegenheit: einen Vertrag, den zwei Menschen nicht zu ihrem Vergnügen, sondern nach dem Ratschluß der beiden Familien und zu deren Nutzen geschlossen hatten.“10 Neben dieser Enttabuisierung der innerehelichen Sexualität ist es zudem der langsame Fortschritt der Frauen als alter ego in der Paarbeziehung, die nach Daumas als Ursprung der modernen Familie bzw. als deren Neugründung auf einem emotionalen Fundament anzusehen ist.11 Eine der wichtigsten Studien zur Tragödie im 17. Jahrhundert – Carine Barbafieris Atrée et Céladon – betonte zudem, dass diese Entwicklung als elementare Voraussetzung für die empfindsame Gefühlskultur der Epoche der ‚Galanterie‘ anzusehen sei: 6 Maurice Daumas: La tendresse amoureuse XVIe-XVIIIe siècles, Paris 1996. 7 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982. 8 Daumas untersucht diese Entwicklung anhand acht verschiedener Indikatoren: a) Les rituels de la séduction; b) Les gestes de l’intimité; c) Les embarras de l’idéal amoureux; d) l’amitié plus forte que l’amour; e) Ce que disent les lettres; f ) l’emergence du sentiment feminine; g) La famille, creuset de l’amour-tendresse; h) Les mutations de l’identité amoureuse; vgl.: Daumas: tendresse amoureuse, a. a. O. 9 Susan S. Hendrick; Clyde Hendrick: Romantic love. Sage series on close relationships, Newbury Park 1992, S. 25. 10 Jean-Louis Flandrin, Das Geschlechtsleben der Eheleute in der alten Gesellschaft. Von der Kirchlichen Lehre zum realen Verhalten, in: (Hg.): Philippe Aries; Andre Bejin, Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt am Main 1984, S. 159. 11 Maurice Daumas: La sexualité dans les traités sur le mariage en France, XVIe-XVIIe siècles, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine (2004), T. 51e, No. 1, S. 7–35. Einleitung 13 La tendresse en revanche, si elle désigne le raffinement du coeur, se situe explicitement du côté des relations amoureuses. Le terme de tendresse, après avoir désigné dans un sens concret le caractère de ce qui se laisse facilement entamer (‚pain tendre‘), se spécialise en effet au XVIIe siècle, en particulier sous l’impulsion de Voiture, pour s’appliquer au domaine des sentiments. La personne tendre est celle qui est sensible aux sentiments d’amitié, d’amour, de compassion, sans que le terme cesse pourtant de signifier, dans une acception plus péjorative, douillet, délicat. À l’entrée tendresse, Richelet ne signale néanmoins que le sens d’amitié, d’amour, car le ‚mot ne se dit bien qu’au figuré dans la langue ordinaire.’12 Diese Rückdatierung der Empfindsamkeit auf die Epoche der Galanterie ist in der Romanistik eine Selbstverständlichkeit: Nach Delphine Denis begannen die „Inventions de Tendre“ im Sinne eines neuen Intimitäts- und Freundschaftsideals gar schon im sechzehnten Jahrhundert und kämen im siècle classique zu vollem Bewusstsein.13 Ähnlich identifizierte Cécile Lignereux im Anschluss an die Studien von Daumas eine „écriture de la tendresse au XVIIe siècle“ am Beispiel der Briefe der Mme de Sévigné und wertete in diesem Zusammenhang die Kategorie der Zärtlichkeit als doppelte Modulation zwischenmenschlicher Beziehung, welche einerseits mit einem Misstrauen gegenüber den alten Leidenschaften, andererseits mit einer emotionalen und sentimentalen ästhetischen Verfeinerung der Galanterie verbunden gewesen sei.14 Aber auch ältere Studien einer deutschsprachigen Romanistik ließen die Epoche der Empfindsamkeit bereits im amourösen und moralischen Diskurs des 17. Jahrhunderts15 beginnen und äußerten in diesem Zusammenhang Bedenken hinsichtlich der „Bürgerlichkeitsthese“.16 Gleiches gilt zweifellos auch für die anglistische Forschung, so etwa hatte Jochen Barkhausen eine ähnliche Entwicklung im England vor und nach der glorious revolution ausgemacht: „Die Entstehung und Weiterentwicklung der Empfindsamkeit“, so Barkhausen, „vollzogen sich in England früher und unter weitgehend anderen sozialen und politischen Voraussetzungen als in Deutschland.“17 In der Germanistik sind diese Datierungen und deren soziogische Konsequenzen jedoch nach wie vor äußerst umstritten, ja beinahe ein Tabu. So etwa verwies Peter Michelsen angesichts des französischen Romans in der zweiten Hälfte des 12 Carine Barbafieri: Atrée et Céladon. La galanterie dans le theater tragique de la france classique (1634–1702), Rennes 2006, S. 28. 13 Delphine Denis: Les Inventions de Tendre, in: Intermédialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, 4 (2004), S. 45–66. 14 Cécile Lignereux: Une écriture de la tendresse au XVIIe siècle: pour une étude stylistique des lettres de Mme de Sévigné, 2009. 15 Frank Baasner: Der Begriff ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg 1988, S. 42–68. 16 Werner Wolf: Ursprünge und Formen der Empfindsamkeit im französischen Drama des 18. Jahrhunderts: Marivaux und Beaumarchais, Frankfurt 1984, S. 1–10; Klaus Dirscherl: „Von der Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle“. Elemente einer sich formierenden Ästhetik der senibilité (Fénelon, Crousaz, Dubos), in: Sebastian Neumeister (Hg.): Frühaufklärung, München 1994, S. 383–413. 17 Jochen Barkhausen: Die Vernunft des Sentimentalismus: Untersuchungen zur Entstehung der Empfindsamkeit und der empfindsamen Komödie in England, Tübingen 1983, S. 84ff. 14 Einleitung 17. Jahrhunderts sowie dem Drama Racines und der Oper Quinaults auf die „meist höfische[n] Voraussetzungen des Zustandekommens einer empfindsamen Kul tur“18. Michelsen tat dies jedoch bezeichnender Weise in aller Vorsicht, d. h. nur in Form einer Fußnote, die dennoch eine der wichtigsten Fußnoten in der Forschungsgeschichte der Aufklärung darstellen dürfte: Es handelt sich indes bei der Behauptung Sauders, „daß die Empfindsamkeit eine spezifisch bürgerliche Tendenz [habe] und im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu sehen sei“ (S. 50), um eine Vorentscheidung, die eine Frucht soziologischer Theoreme sein dürfte, deren Richtigkeit anhand von Analysen der Phänomene erst hätte erwiesen und überprüft werden müssen, anstatt einfach vorausgesetzt zu werden. Auf jeden Fall passen die Vor- und Frühstufen der Empfindsamkeit im 17. und 18. Jahrhundert in das von Sauder entworfene Bild partout nicht hinein; er klammert ihre Behandlung daher auch weitgehend aus. Daß die Vertreter des Epikuräismus in Frankreich „überwiegend Aristokraten“ waren und in England „meist auf die Adligen beschränkt“ blieben (S. 96f.), räumt Sauder zwar ein, aber ohne dieser Tatsache weitere Beachtung zu schenken. Bei größerer Aufmerksamkeit hätte er jedoch in dieser Richtung noch weit mehr finden können. Auch ist Max Frhr. von Waldbergs reich dokumentierte These, daß in französischen Romanen der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts eine große Zahl sentimentaler Zeugnisse vorliegen, natürlich durch die lakonische Bemerkung sachlich nicht zu widerlegen, „neuere französische Arbeiten“ seien in dieser Hinsicht „zurückhaltend“ (S. 232). Die „Lettres Portugaises“ oder Romane wie die der Madame Lafayette mit ihrer „science du coeur“ sind schließlich nicht aus der Welt zu schaffen! Auch im Bereich des Dramas und — und von Literaturhistorikern meist übersehen — der Oper (z. B. Quinault) hat sich eine reiche, wenn auch in Hinsicht psychologischer Analyse noch relativ unkomplizierte Gefühlskultur gebildet. In diesem Zusammenhang dürfte man auch die italienische Literatur nicht vergessen (deren Vorhandensein Sauder gar nicht in Rechnung stellt), besonders deren musik- und melodramatischen Werke, die auch in Deutschland allenthalben an den Höfen aufgeführt wurden. […] Bedenkt man diese und andere, meist höfische Voraussetzungen des Zustandekommens einer empfindsamen Kultur, so wird man die im deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts in mehreren Wellen heranbrandende Empfindsamkeitsbewegung soziologisch anders deuten müssen, als Sauder es tut. Ihre Träger sind nicht das Bürgertum, sondern die nicht-arbeitenden Teile der Gesellschaft: die ‚Frauenzimmer‘, die Literaten und die jeunesse dorée. Daraus erklärt sich auch das Ausmaß der Kritik an der Empfindsamkeit, die vielfältigen Polemiken und Harmonisierungsversuche aus den Kreisen des Bürgertums, das seine Ideale im Erwerbssinn, in biederer und tugendhafter Lebensführung sah und daher die einer entsprechenden Lebenspraxis unzuträglichen heftigen Empfindungen möglichst zu dämpfen und auf ein der Gesellschaft annehmbares Mittelmaß zu reduzieren suchte.19 18 Peter Michelsen: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Würzburg 1990, S. 34. Michelsen verweist etwa auf eine Studie Leonard Forsters, welcher an einem historischen Beispiel überzeugend dargetan habe, „daß von der Gefühlswelt der Oper und vom Petrarkismus aus auch direkte Einwirkungen in persönliche Lebensbezüge (von Adligen) stattgefunden haben.“ Vgl.: ebd. 19 Ebd., S. 33f. Einleitung 15 Michelsen verwies bezüglich dieser weitreichenden These u.a. auf einen Aufsatz Dieter Borchmeyers über Staatsräson und Empfindsamkeit, in welchem Borchmeyer im Anschluss an Jürgen von Stackelberg die These vertrat, dass „das Drama Racines bereits als frühe – noch spezifisch höfisch-aristokratische – Erscheinungsform der Empfindsamkeit“20 zu verstehen sei. Es gibt also, um die Thesen Borchmeyers, Stackelbergs und Michelsens zuzuspitzen, eine Kultur der Empfindsamkeit bereits in der Epoche des französischen siècle classique.21 Das vorliegende Buch unternimmt erstmals den Versuch, die Literaturgeschichte dieser ‚europäischen‘ Empfindsamkeit am Beispiel des französischen, englischen und deutschen Theaters des 17. und 18. Jahrhunderts systematisch zu rekonstruieren. Dabei teilt es mit Delphine Denis die These vom 17. Jahrhundert als dem Ursprung der Empfindsamkeit gemäß der Begriffsgeschichte der Zärtlichkeit, die nach Denis nicht erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, sondern spätestens 1654 mit dem ersten Band des Clélie-Romans der Madeleine de Scudéry einsetzt.22 In diesem Roman ist jene berühmte, von dem französischen Maler François Chauveau gravierte Carte de Tendre abgebildet, die in der Folge die Grundlage der Zärtlichkeitsdiskurse des 17. und 18. Jahrhunderts darstellte. Dies zu bemerken ist nicht ganz unwichtig, wenn man Sauders Grundthese einer genuin bürgerlichen Empfindsamkeit bedenkt. Denn der Ausgangspunkt des Scudéryschen Zärtlichkeitsideals ist der innerhalb des noblesse de robe, dem neuartigen französischen Amtsadel zur Zeit des Ancien Régime entstandene galante Diskurs, dessen Wirkkraft sich keineswegs nur auf das von der Nachwelt des 17. und 18. Jahrhunderts eher spöttisch kommentierte „Preziösentum“, sondern auch und vor allem auf das neue, in der gehobenen Salonkultur der Madeleine de Scudéry entwickelte Ideal der Zärtlichkeit erstreckte.23 Die tendresse ist ein Privileg der gehobenen Gesellschaft, der „personnes qui ont l’âme noble“, wie die berühmte Definition aus dem ersten Band des Clélie-Romans betont: Mais pour bien définir la tendresse, je pense pouvoir dire que c’est une certaine sensibilité de cœur, qui ne se trouve presque jamais souverainement, qu’en des personnes qui ont l’âme noble, les inclinations vertueuses, et l’esprit bien tourné, et qui fait que, lorsqu’elles ont de l’amitié, elles l’ont sincère, et ardente, et qu’elles sentent si vive 20 Dieter Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit. Johann Elias Schlegels ‚Canut‘ und die Krise des heroischen Trauerspiels, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 154–171, hier S. 170. Borchmeyer bezieht sich dabei auf den Aufsatz von: Jürgen Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte I (1977), S. 293–308, hier S. 301. 21 Evelyne Méron fand diese Empfindsamkeit gar schon in den Dramen Corneilles, vgl. dazu: Evelyne Méron: Tendre et cruel Corneille: le sentiment de l’amour dans le Cid, Horace, Cinna, et Polyeucte, Paris 1984. 22 Denis: Les Inventions de Tendre, a.a.O., passim. Vgl. zur Begriffsgeschichte auch: Astrid von der Lühe: Zart; zärtlich, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Sp. 1149–1155. 23 Vgl. zur Unterscheidung Jean-Michel Pelous: Amour précieux, Amour galant (1654–1675). Zur Datierung vgl.: Maurice Daumas: La Tendresse amoureuse XVIe-XVIIIe siècles, Paris, Perrin, 1996, der die Genese des zärtlichen Liebescodes mit dem Ende der Regierungszeit von Louis XIII. verknüpft. 16 Einleitung ment toutes les douleurs, et toutes les joies de ceux qu’elles aiment, qu’elles ne sentent pas tant les leurs propres. C’est cette tendresse qui les oblige d’aimer mieux être avec leurs amis malheureux, que d’être en un lieu de divertissement; c’est elle qui fait rendre les grands services avec joie, qui fait qu’on ne néglige pas les petits soins, qui rend les conversations particulières plus douces que les générales, qui entretient la confiance, qui fait qu’on s’apaise aisément, quand il arrive quelque petit désordre entre deux amis, qui unit toutes leurs volontés, qui fait que la complaisance est une qualité aussi agréable à ceux qui l’ont, qu’à ceux pour qui on l’a, et qui fait enfin toute la douceur, et toute la perfection de l’amitié.24 Die im Anschluss an diese Definition angefügte Carte de Tendre aus dem ersten Band verzeichnet ein imaginäres Land, welches sich ‚Tendre‘, also Zärtlichkeit nennt. Es hat in seiner äußeren Form Ähnlichkeiten mit den Umrissen Frankreichs, ist also von einem langen Fluss durchzogen, der an die Loire denken lässt, und der mit seinen ansiedelnden Dörfern und abzweigenden Flusswegen die Etappen einer zärtlichen Liebesfreundschaft symbolisieren soll. Zudem ist es im Westen durch ein dem Atlantik gleichendes Meer der Feindseligkeit (Mer d’Inimitié), im Norden durch ein dem Ärmelkanal entsprechendes Meer der Gefährdung (Mer Dangereuse), und im Osten durch einen See der Gleichgültigkeit (Lac d’Indiference) abgegrenzt. ‚Tendre‘ ist jedoch nicht nur der Name dieses Landes, sondern auch derjenige seiner drei Hauptstädte, die an drei Abzweigungen des Flusses siedeln und mit ihren Namen drei Grundelemente der ‚Tendresse‘ unterscheiden: „La tendresse d’inclination“ betont das Element der Zuneigung, „la tendresse d’estime“ dasjenige der Wertschätzung, und „la tendresse de reconnaissance“ dasjenige der Dankbarkeit. Schließlich sind die verschiedenen Distanzen auf der Karte in Freundschaftsmeilen, also in „Lieues d’Amitié“ gemessen.25 Die Karte beschreit eine Logik der Grenzziehung: Wen die Zärtlichkeit über die Dankbarkeit, die Wertschätzung und die Zuneigung hinausführt, der landet entweder im westlich gelegenen Meer der Feindseligkeit, im östlichen See der Indifferenz oder aber Richtung Norden in der unbekannten Welt gefährdender Leidenschaften. Der durch den Flusslauf dargestellte goldene Mittelweg der Zärtlichkeit dient also zur Orientierung und Festigung zärtlicher Freundschaften. Dass diese auf Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung aufbauen, das Meer der Feindschaft links und den See der Indifferenz rechts liegen lassen sollte, ist wohl im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zu verstehen, nach welcher es im sozialen Miteinander darum gehe, den Mittelweg zu finden, also die Extreme zu vermeiden. Freilich kann dieser Fluss der Zuneigung letztlich in das gefährliche Meer münden, an dessen Ufer sich eine unbekannte Welt – womöglich der Leidenschaften – eröffnet. Aber es gibt eben darum die Unterscheidung zwischen den Flüssen der Zärtlichkeit – unterteilt eben in Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung –, und den entsprechenden, also an den Flüssen angesiedelten drei Dör 24 Mlle de Scudéry: Clélie, histoire romaine [1654–1660], hg. v. Delphine Denis, Paris 2006, S. 74. 25Vgl. grundlegend: Doris Kolesch: Performanzen im Reich der Liebe: Die ,Carte de Tendre‘ (1654), in: Erike Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart, Weimar 2001, S. 62–82. ERSTER TEIL: DIE ENTSTEHUNG DES ZÄRTLICHEN THEATERS (1650–1740) I. Die Zärtlichkeit der Galanten: Zur Genese der amitié tendre Wir haben den Ursprung der Zärtlichkeitsidee entgegen weitreichender Datierungen der germanistischen Forschung im Frankreich des 17. Jahrhunderts angesetzt: Sie geht zurück auf die Salonkultur der Madeleine de Scudéry, also auf die von Renate Baader so genannte „weibliche Aufklärung“ des 17. Jahrhunderts, welche sich in der Salonkultur in der Nachfolge der Catherine de Rambouillet entfaltete.1 Sie steht zudem in unmittelbarem Bezug zu jener von Norbert Elias am Beispiel des frühneuzeitlichen Schäferromans untersuchten „Soziogenese der aristokratischen Romantik“, die wiederum als äußerst komplexe Gegenbewegung zu einer zunehmenden „Verhofung“ des Adels im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zu sehen sei. Nach Elias basierte diese am Beispiel von Honoré d’Urfés zwischen 1607 und 1627 entstandenem Schäferroman l’Astrée untersuchte aristokratische Romantik auf einem Widerstand gegen die „Verhofung des Kriegeradels“2, ein Widerstand, den Elias bekanntlich als Kompensation der höfischen Kultivierung des Selbstzwangs und der Affektkontrolle begriff. Dahinter stehen jedoch zugleich, wie Elias insbesondere in der Studie Die höfische Gesellschaft akribisch untersuchte, komplizierte Dynamiken und Machtbalancen, die sich aus dem historischen Prozess der Staatenbildung erklärten, der wiederum die Verhofung als zunehmende Entmachtung des alten Ritter- und Schwertadels durch eine aufsteigende, am Hof verbeamtete Aristokratie verstand. Diese Prozesse entwickelte Elias vor dem Hintergrund der politischen Herrscherstrategien des Absolutismus im siècle classique. Er deutete den Absolutismus also als Kulminationspunkt zweier antagonistischer Mechanismen, und zwar den Aufbau einer zentral-staatlichen Autorität einerseits, die zunehmende Marginalisierung des alten Schwertadels andererseits. Diese Entwicklung steuerte im 17. Jahrhundert auf eine Konfrontation zu, welche sich vor allem in der Fronde um 1650, also den Aufständen des hohen Adels und der städtischen Juristen ausdrückte. In dieser Situation sei Ludwig XIV. eine einmalige Ausbalancierung der verschiedenen Kräfte und Gruppen der Aristokratie gelungen, ein sogenannter „Königsmechanismus“. Ludwig machte den alten Schwertadel durch ruinöse Repräsentationsverpflichtungen finanziell von sich abhängig, und schob die eigentlich politische Macht systematisch den bürgerlich geborenen Mi 1 Renate Baader: Die verlorene weibliche Aufklärung – Die französische Salonkultur des 17. Jahrhunderts und ihre Autorinnen, in: Hiltrud Gnüg (Hg.): Frauen Literatur Geschichte, Stuttgart u.a., 1999. S. 52–71. 2 Elias: Die höfische Gesellschaft, a. a. O., S. 320ff. 62 Die Entstehung des zärtlichen Theaters nistern und Bürokraten zu. Aus dieser Gruppe entwickelte sich nach Elias jene noblesse de robe, also der aus dem Bürgertum hervorgegangene Amts- bzw. Justizadel, den Elias als eine „Zweifrontenschicht“ inmitten des Kräftefeldes aus altem Schwertadel und drittem Stand, also dem Bürgertum, ansiedelte.3 Die absolutistische Staatenbildung im Sinne jener schon im Prozess der Zivilisation untersuchten Verhofung ist also die Gegenfolie, vor deren Hintergrund sich dieser sehr komplexe Prozess der „Soziogenese der aristokratischen Romantik“ vollzogen hätte. Die in der Astrée entfalteten Liebesgeschichten sind also das „Ideal einer schon halb verhöflichten Mittelschicht der Aristokratie“; eine These, die Elias in zweierlei Hinsicht genauer ausdifferenziert. Zum einen sei dem „künstlichen Leben der höfischen Oberschicht“ durch diese aristokratische Mittelschicht „das 3Der Ausdruck Noblesse de robe bezeichnet den französischen Amtsadel zur Zeit des Ancien Régime. Adelig kraft ihres Amtes, im Gegensatz zum Geburtsrechts- /Schwertadel (noblesse d’épée). Zu dieser sozialen Schicht zählten alle adeligen Angehörigen staatlicher Behörden, insbesondere im Finanz- und Rechtswesen. Da diese Adeligen oft eine universitäre Ausbildung besaßen, trugen sie auch darauf hinweisende Talare oder Roben, was ihrer Gruppe den Namen gab. Noch bis Ende des 17. Jahrhunderts waren die Angehörigen der noblesse de robe sehr oft von bürgerlicher Herkunft und hatten ihren neuen Stand durch den Erwerb von Ämtern im staatlichen Finanzund Rechtswesen erlangt. Mit der Ausweitung der staatlichen Finanz- und Rechtsverwaltung wurde eine umfangreiche funktionale Elite notwendig, die im Wesentlichen nur von Bürgerlichen gestellt werden konnte, da der französische Adel in der Regel über keine universitäre Qualifikation verfügte. Neben der Berücksichtigung des bürgerlichen Leistungs- und Bildungsethos, das sich hier an entscheidender Stelle durchsetzte, hatte die Förderung der noblesse de robe durch die Monarchie nach Ansicht von Elias politische Gründe und zielte auf die Festigung der absolutistischen Herrschaft. Nach Elias verdrängte vor allem Ludwig XIV. den alten Adel systematisch aus der geburtsrechtlichen Herrschaftsteilhabe und besetzte die meisten Ämter mit Männern, die in seiner Schuld standen und sein Vertrauen genossen. Während diesen aufgrund von Herkunft und Abhängigkeit klare Grenzen für ihre politischen Ambitionen gesetzt waren, wurde der alte Adel am Königshof (Versailles) konzentriert und in die Rolle von Hofmännern und Hofdamen zurückgewiesen. Der noblesse de robe konkurriert nach Elias also mit dem noblesse d’épée (Schwertadel), der sich aus Adeligen in militärischen Funktionen zusammensetzte und sich im Bewusstsein der oft bürgerlichen Ursprünge der noblesse de robe als Hort des alten Adels und der Tradition verstand. Gleichwohl gab es eine Durchlässigkeit zwischen den beiden Adelsgruppen, und Söhne aus Familien der noblesse de robe konnten durchaus militärisch Karriere machen, wie etwa Louis-Charles-Auguste Fouquet de Belle-Isle, der als Enkel des französischen Finanzministers Nicolas Fouquet selbst zum Marschall von Frankreich aufstieg. Zu einer differenzierteren Analyse dieser Prozesse, die teilweise als Revision der Thesen von Elias zu lesen ist, gelangt die jüngst erschienene Arbeit von Leonhard Horowski mit dem Titel: Die Belagerung des Thrones: Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789. Diese erste systematische Untersuchung des gesamten höheren Hofpersonals von Versailles widerlegt die Idee einer Entmachtung des Adels durch den König. Nach Horowski resultierte die Machtposition des Hofadels nicht nur aus komplexen familiären Strategien, sondern schuf auch ein dauerhaftes dynastisches System ideologieloser Hofparteien, vgl.: von Leonhard Horowski: Die Belagerung des Thrones: Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789, Ostfildern: Vorbecke 2012. Zudem basiere das Günstlingssystem unter Ludwigs XIV. auf einem sehr komplexen Verhältnis von Favoritenstatus und Amtsinhabe, welches als Günstlingssystem unter Ludwig XIV. nicht verschwand, sondern sich lediglich wandelte und dann in einer festen Form gerann, in der es praktisch bis zum Ende des Ancien Régime bewahrt werden sollte, vgl.: Ders.: Das Erbe des Favoriten. Minister, Mätressen und Günstlinge am Hof Ludwigs XIV., in: Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini (Hg.): Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert (Residenzenforschung, 17), Ostfildern 2004, S. 77–125. Die Zärtlichkeit der Galanten 63 einfache und natürliche Leben der Schäfer gegenübergestellt“. Und zum anderen sei das „Schäferleben […] hier bereits das Symbol der Sehnsucht nach einer Art von Leben, die nicht verwirklichbar ist.“4 Es handelt sich also um ein utopisches Liebeskonzept, welches sich in einer „aristokratischen Mittelschicht“ der noblesse de robes entwickelt: Es ist dieses Liebesethos, das d’Urfé als Ethos der Schäfer und Schäferinnen, also einer mittleren Adelsschicht, die sich, obwohl sie selbst bereits auf dem Weg der Verhofung und in hohem Maße zivilisiert ist, gegen die Verhofung und die wachsenden Zivilisationszwänge wehrt, den freieren Liebessitten der herrschenden höfischen Aristokratie entgegenstellt.5 Wir werden im Anschluss an Elias auch die Genese der amitié tendre als eine Gegenbewegung verstehen, die sich gegen die „wachsenden Zivilisationszwänge“ am Versailler Hof etablierte, also eine arkadische Idyllenwelt aus Schäfer- und Eklogenmythos ins Frankreich des 17. Jahrhunderts projezierte, um so das Leben am Hofe mit einer empfindsam-romantischen Gegenwelt zu kontrastieren. Diese Prozesse „gesamtgesellschaftlicher Machtverlagerung“ mit ihren im Zeitalter des ancient regime zu beobachtenden „Kämpfen zwischen den Königen und dem FeudalAdel“, welche Elias mit Blick auf die Regentschaft Ludwigs XIV. und den Versailler Hof untersuchte, begleiten demnach auch die Genese der Zärtlichkeit, freilich in einem sehr komplizierten Sinne. Vereinfachend könnte man auch diese als eine Kompensation begreifen, entstanden während der zunehmenden Entmachtung des alten Schwertadels, dessen Einfluss im Zuge der antihabsburgischen Politik der Bourbonen und ihren Ministern Richelieu und Mazarin zunehmend verloren ging, bis er sich unter Ludwig XIV. in einen von der Gunst des Königs abhängigen Hofadel am glänzenden Hof von Versailles verwandelte. Andererseits jedoch artikuliert sich in dieser Idee der Zärtlichkeit eine Oppositionshaltung des französischen Amtsadels gegenüber dem alten, auf Werte des überkommenen Wehrstandes setzenden Schwertadel, auch und vor allem im Kontext des Spannungsgefüges, wie es am Versailler Hof vorherrschte: Wenn man von Adligen spricht, kann man diesen Begriff („Mittelschichten“) nur zögerlich gebrauchen. Man kann das Gemeinsame solcher Schichten am besten dadurch zum Ausdruck bringen, daß man von Zweifrontenschicht spricht. Sie sind einem gesellschaftlichen Druck von oben ausgesetzt, von Gruppen, die größere Macht, größere Herrschafts, Autoritäts- und Prestigechancen besitzen als sie selbst, und einem Druck von unten, von Gruppen, die ihnen zwar an Rang, Autorität und Prestige unterlegen sind, die aber als Machtfaktor im gesamten Interdepenzgeflecht der Gesellschaft nichtsdestoweniger eine erhebliche Rolle spielen. Sie selbst mögen wohl die Zwänge, denen sie sich ausgesetzt fühlen, in erster Linie als Zwänge erleben, denen sie auf Grund der größeren Machtchancen der sozial über ihnen Stehenden, der erstrangigen Schicht, ausgesetzt sind. Das ist, wie man sah, die Ausrichtung des ideologi- 4 Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 384f. 5Ebd., S. 382. 64 Die Entstehung des zärtlichen Theaters schen Kampfes, den d’Urfé in seiner „Astrée“ gegen die herrschende Schicht des Hofes, gegen die höfisch-aristokratische Oberschicht führt.6 Wie außerordentlich erhellend und bedeutsam diese von Elias erarbeitete Konstellation einer die „aristokratische Romantik“ repräsentierenden „Zweifrontenschicht“ gerade für das Werk der Madeleine de Scudéry ist, zeigen deren enorme Sympathien für die sogenannten Frondeure, also die adligen Repräsentanten des französischen Parlaments wie etwa den „großen Condé“, die Duchesse de Longueville oder die Marquise de Rambouillet. Dieses Parlament setzte sich aus den Pairs, also dem seit dem 13. Jahrhundert politisch privilegierten Hochadel zusammen, deren Fronde sich in den späten 1640er Jahren gegen die Regentschaft Anna Maria Mauricia von Spaniens richtete, besser bekannt unter dem Namen Anna von Österreichs. Während die Madeleine de Scudéry an ihrem ersten großen Cyrus-Roman schrieb, protestierte das Parlament im Anschluss an den Krieg Frankreichs gegen die Spanier und Habsburger in der Fronde parlementaire (1648–1649) gegen die Kriegssteuererhebung der Regentin und für ein stärkeres Mitspracherecht, später folgte die fronde des princes (1650–1652), durch die die „Prinzen von Geblüt“ ebenfalls versuchten, ihren Einfluss auf die Regierung der Regentin zu verstärken. Madeleine de Scudéry, die als Tochter von Georges de Scudéry der urbanen Oberschicht aus Kleinadel, Amtsadel, Parlaments- und Stadtbourgeoisie zuzuordnen ist7, liefert also mit ihren Samstagsempfängen, den ‚Samedis‘, der Hocharistokratie nach der gescheiterten Fronde einen Ort des Rückzugs, aber auch der kontroversen Diskussion. Nach Stephanie Bung lassen sich daher die „Spannungen, die in den Texten rund um die Carte de Tendre thematisiert werden, […] als die Fiktionalisierung eines Diskurses betrachten, der insbesondere nach der Fronde das Leben der politischen Akteure am französischen Hof beherrschte.“8 Im Cyrus-Roman wird auf die Fronde als einer politischen Opposition der Aristokratie gegen die fremde und vergleichsweise schwache Regentin Anna von Österreich vor dem Hintergrund der Taten und der Liebe des persischen Königs Cyrus angespielt, in der Clélie wird darauf anhand der Geschichte von der Befreiung Roms durch den Helden Aronce, Sohn eines von Feinden entmachteten etruskischen Königs, Bezug genommen.9 Bezeichnenderweise entwickelte die Madeleine de Scudéry die Idee der amitié tendre erst gegen Ende dieser Fronde, also im Schlussteil ihres ersten heroisch-galanten Abenteuerromans Artamene, ou Le Grand Cyrus, der zwischen 1649 und 1653 entstand: In der letzten Binnenerzählung des zehnten Bandes entstand erstmals die neue Thematik von Freundschaft und Liebe, also jene Liebeskonzeption, die Renate Büff als ein „Modell gestufter Formen der Freund 6Ebd., S. 387f. 7 Renate Kroll: Femme poète. Madeleine de Scudéry und die ‚poésie précieuse‘, a.a.O., S. 152. 8 Stephanie Bung: Spiele und Ziele. Französische Salonkulturen des 17. Jahrhunderts zwischen Elitendistinktion und belles lettres, Tübingen 2013, S. 295. 9 Vgl. dazu auch das Kapitel: ‚The Fronde and Madeleine de Scudéry‘, in: Jacqueline Broad, Karen Green: A History of Women’s Political Thought in Europe, 1400–1700, Cambridge 2009, S. 180–198. Die Zärtlichkeit der Galanten 65 schaft“ definierte.10 Allerdings scheint es angesichts neuerer historischer Forschung durchaus fragwürdig, wollte man die Idee der amitié tendre aus einem Bewusstsein des Scheiterns ableiten, also als Indiz der zunehmenden Resignation einer gesellschaftlichen Elite verstehen. Zwar versuchten in der fronde des princes zwischen 1650 und 1652 die „Prinzen von Geblüt“, Einfluss auf die Regierung der Regentin Anna von Österreich auszuüben. Von einer „Domestizierung“ bzw. „Entmachtung“ des Adels angesichts des Scheiterns dieses Versuches zu sprechen, scheint jedoch unangemessen. Denn auch nach der Fronde wurde der Hofadel weder domestiziert noch entmachtet, sondern blieb – dank der Monopolisierung der höchsten und wichtigsten Hofchargen – im nächsten Umkreis des Königs verankert, wie Leonhard Horowski nachdrücklich und überzeugend belegte.11 Daher sollte man die tendresse der Galanten nicht als Kompensationsversuch verstehen. Allenfalls ließe sich vielleicht von einer „Zivilisierung zerstörerischer Affekte“ sprechen, insofern die Galanterie ein „friedfertiges, harmonisches Miteinander prinzipiell Gleichberechtigter“12 bezeichnet, wie Ruth Florack und Rüdiger Singer im Anschluss an Alain Viala betonten, der diesen politischen Aspekt gerade angesichts der Fronde hervorhob.13 Aber weitaus entscheidender ist, dass das neue Ideal einer für den politischen Machterhalt des Amtsadels wichtigen Abgrenzungsbestrebung gegenüber dem einfachen Bürgertum dient. Eben darum werden wir die Idee der Zärtlichkeit als Liebes- und Freundschaftideal einer sozialen Welt verstehen, deren politische Lage mit dem von Elias geprägten Begriff der „Zweifrontenschicht“ relativ präzise beschrieben ist.14 Die tendresse als Kompensation der gescheiterten Fronde? Wie sehr der Cyrus-Roman auf die Fronde bezogen ist, zeigt dessen Status als Schlüsselroman, also ein Blick auf dessen Helden. Titelheld Cyrus trägt die Züge des großen Feldherrn Louis II. de Bourbon, dem sogenannten Prince de Condé, dem Anführer der adeligen Opposition gegen Kardinal Mazarin. Seine spätere Geliebte, die zunächst unerreichbare Königstochter Mandane, ist nach Einschätzung 10 Renate Büff: Ruelle und Realität. Presiöse Liebes- und Ehekonzeptionen und ihre Hintergründe, Heidelberg 1979, S. 151. 11 Horowski: Die Belagerung des Thrones, a.a.O., S. 32–53. 12 Ruth Florack, Rüdiger Singer: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Die Kunst der Galanterie: Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der frühen Neuzeit, Berlin Boston 2012, S. 4. 13 Alain Viala: La France galante, a.a.O., S. 180–191. 14 „Was man im Falle der ‚Astrée‘ sieht, das Verlagen nach einem einfacheren Leben, ist das Verlangen einer gehobenen Schicht, die sich selbst als zweitrangig, als von einer höher rangierenden Schicht beherrscht, erkennt und sich zugleich betont und bewußt als gehobene und privilegierte Schicht von den niedriger rangierenden Schichten abhebt. Im Falle von bürgerlichen Schichten in dieser Lage spricht man gewöhnlich von ‚Mittelschichten‘. Wenn man von Adligen spricht, kann man diesen Begriff nur zögernd gebrauchen. Man kann das Gemeinsame solcher Schichten am besten dadurch zum Ausdruck bringen, daß man von Zweifrontenschichten spricht.“ Vgl.: Elias, höfische Gesellschaft, a. a. ., S. 387. 66 Die Entstehung des zärtlichen Theaters von Alain Niderst der historischen Anne Geneviève de Bourbon-Condé, Tochter von Heinrich II. Prince de Condé und dessen Frau Charlotte-Marguerite de Montmorency nachempfunden, die durch ihre Heirat mit Henri II. d’Orléans-Longueville zur Herzogin von Longueville wurde und der der Cyrus-Roman sowie der Clélie-Roman gewidmet ist.15 Die Figur des Théodame aus dem Grand Cyrus ist dem französischen Literaten und Gründungsmitglied der Académie française, Valentin Conrart nachgebildet, die Figur des Crysile bezieht sich auf den französischen Sänger und Komponisten Pierre Guédron, die Cléomire stellt ein Portrait der großen französischen Salondame Catherine de Rambouillet dar, deren Nichte Julie d’Angennes, Tochter des Marquis de Rambouillet und der Catherine de Vivonne, wird im Roman in der Philonide portraitiert, die Figur der Zénocrite ist der französischen Aphoristikerin Anne-Marie Bigot de Cornuel nachempfunden, der Diplomat Pierre de Villars wird in der Figur des Orondate dargestellt, und schließlich habe sich die Madame de Scudéry in der im 10. Band von Le Grand Cyrus auftretenden Sapho selber ein Denkmal gesetzt.16 Im Unterschied zu den von Elias als Beispiel eines neuartigen Liebesideals diskutierten Schäferromanen d’Urfés ist die Welt der Scudéry-Romane also keineswegs eine utopisch-bukolische Gegenwelt. Vielmehr handelt es sich um ein historisch verschlüsseltes Portrait einer politisch sehr stark engagierten Generation, die sich größtenteils aus Vertretern des französischen Amtsadels zusammensetzt. Die Differenz zum Clélie-Roman besteht nun keinesfalls darin, dass hier ein kompensatorischer Rückzug ins Private oder eine Distanzierung von den heroischen Idealen des Grand Cyrus vorliegt, wie Renate Büff in ihrer Studie suggerierte, die die Zärtlichkeit als Indikator einer regelrechten Flucht der Preziösen ins Private als Reaktion auf die gescheiterte Fronde deutete.17 Eine solche Deutung verkennt die Gemeinsamkeit der beiden Romane, die als Schlüsselromane sowohl die Welt der Fronde als auch die Welt der samedis zugleich abbilden und in der Verschlüsselung verrätseln, wie Renate Baader betonte.18 Die Zärtlichkeit resultiert daher weniger aus einer Flucht ins Private, denn vielmehr aus einer noch genauer zu bestimmenden Spielkultur des grande siècle, deren Stellenwert für die Salons vor allem Stephanie Bung unterstrich.19 Daher tauchen bereits verschlüsselte Figuren des 15 Alain Niderst: Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leur monde, Paris 1976, S. 527f. 16Ebd. 17 „Die Preziösen haben mit der Gründung einer Gesellschaft in der Gesellschaft einen Fluchtversuch unternommen, ohne in ihrem selbstgeschaffenen Asyl tatsächliche Befreiung zu finden. Sie übertragen die Gesetze der Außenwelt auf die ruelle, wobei sie lediglich die Rollenverteilung umkehren. Der Rollentausch wird jedoch nicht konsequent durchgeführt. Die Frauen fühlen sich dem Mann letzlich immer noch unterlegen und sind von seinen Huldigungen und seiner freiwilligen Unterwerfung so abhängig, daß die Scheinüberlegenheit, die sie im Salon genießen, sie weitgehend für ihre faktische Inferiorität entschädigt.“ Vgl.: Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 136. 18 Renate Baader: Dames de Lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und „modernen“ Salons (1649 – 1698): Mlle de Scudéry – Mlle de Montpensier – Mme d’Aulnoy, Stuttgart 1986, S. 94. 19 Bung: Spiele und Ziele, a.a.O. Die Zärtlichkeit der Galanten 67 Cyrus-Romans auch in der Clélie wieder auf: Die Figur des ‚galant homme‘ Herminius, also einem der beiden wichtigen Adressaten für das in der Carte de Tendre entfaltete Liebes- und Freundschaftsideal, ist als Portrait des Autoren Paul Pellisson zu lesen, der bereits in der Gestalt des ‚Acante‘ in Artamène, ou le grand Cyrus portraitiert wurde. Die Figur des Amilcar stellt den Autoren Jean François Sarrazin dar, die Protagonisten Scaurus und Lyriane sind Paul Scarron und seiner Frau, der Mme de Maintenon, nachempfunden, und in der Figur der Clélie hat sich Madeleine de Scudéry nach Einschätzung von Niderst erneut selbst verewigt. Zudem gehen erneut die Vertreter des Adels in diesen Roman ein: Louis d’Arpajon, ein bedeutender General unter Ludwig XIII, wird im Clélie-Roman im Prinz d’Agri gente portraitiert, Robert Arnauld d’Andilly, französischer Finanzberater am Hof der Medici, in der Figur Timante, Parthenie ist die Mme de Sablé, und auch die Marquise de Sévigné, eine Angehörige des französischen Hochadels, geht in der Figur der Prinzessin Clarinte ein in den Clélie-Roman.20 Während im Grand Cyrus also öffentliche Figuren aus dem Hôtel de Rambouillet in einer orientalisch drapierten Verschlüsselung dargestellt sind, stehen in der römisch eingekleideten Clélie die im ‚Salon‘ der Scudéry selbst verkehrenden Personen im Mittelpunkt. Die Differenz zwischen dem Cyrus- und dem Clélie-Roman besteht zudem weniger in einer privatistischen Lösung vom politischen Impuls, denn vielmehr in der vorsichtigen Distanzierung einer im Cyrus-Roman noch sehr dominanten väterlichen Fixierung auf die Konvenienzehe. Wenn sich die Protagonistinnen im Grand Cyrus gegen die Liebe entscheiden, „dann ist dieser Verzicht fast immer mit einer vernunftbetonten, freiwilligen Unterordnung unter den Willen des Vaters verbunden, der die gesellschaftliche Ordnung repräsentiert“21, wie Gerhard Penzkofer an mehreren Beispielen belegt: „Wenn der Vater es will, heiratet Telesile nicht den geliebten Thimocrate, sondern den verhaßten Menecrate.“22 Diese den Grande Cyrus dominierende Heiratspolitik lässt sich historisch mit Leonhard Horowski auch dadurch erklären, dass Angehörige des Justizadels durch Heirats- und Klientelverbindungen in den Schwertadel aufsteigen konnten, und sich dann zunehmend vom Justizadel abgrenzten, also auch fortan keine „justizadeligen Ämter“ mehr bekleideten.23 Allerdings werden erste Zweifel an diesem Diktum des Vaters nach Ansicht Penzkofers bereits „in der zweiten Hälfte von Artamène ou le Grand Cyrus“ formuliert, dann aber vor allem im Clélie-Roman, der nicht das „väterliche Gesetz“ bzw. „die liebesfeindliche ‚gloire‘, sondern das Glück der Frauen“24 in den Vordergrund rückt, wie Penzkofer in Anlehnung an Renate Baader bemerkt, die in ihrer Studie über die Dames de lettres eine ähnliche Verweigerung erotischer Bindungen in den Mittelpunkt rückte: 20 Alain Niderst: Clélie, du roman baroque au roman moderne, in: Actes de Baton Rouge, Hg. S. A. Zebouni, 1986, 311–319. 21 Gerhard Penzkofer: „L’ art du mensonge“. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry, Tübingen 1998, S. 198. 22Ebd. 23 Horowski: Die Belagerung des Thrones, a.a.O., S. 54–74. 24 Penzkofer: „L’ art du mensonge“, a.a.O., S. 199. 68 Die Entstehung des zärtlichen Theaters Von einigen Protagonistinnen ihrer Binnennovellen, vor allem von Sapho (Artamène ou le Grand Cyrus, Bd.10), lässt [Madeleine de Scudéry] die Gründe für einen Eheverzicht differenziert darlegen. Es ist die schon genannte Verbindung von Freundschaft, Kultur und Gespräch, in der weibliche Subjektwerdung bis ins Alter gesichert ist und die, als den Frauen bislang verschlossene, unentfremdete und selbstbestimmte Existenz, den verständlichen Reiz des Neulands hatte. Die gültige Norm weiblicher Schicklichkeit verlangte freilich den Verzicht auf die erotische Erfüllung. Dem liebenden Mann ist es aufgegeben, in asketischer Selbstbindung, sich in Heiratsverweigerung und ein ‚unbegehrliches Lieben‘ zu fügen und mit dem geheimen Triumph des ‚verborgenen Liebhabers‘ sich zu bescheiden, um dergestalt die auf der Frau lastenden Gebote und Beschränkungen mitzutragen.25 Mit dieser Einschätzung Renate Baaders wird ein wichtiger Aspekt unseres Thema deutlich: Die Frage nach der weiblichen Verweigerung männlicher Avancen, die im Cyrus-Roman noch vom Vater disktiert wurde, in der Clélie hingegen auch von den Protagonistinnen selbst artikuliert wird und als eine Art Ethik der Entsagung zweifellos auch der Carte de Tendre zugrunde liegt. Ein regelrechter Eheverzicht, wie er im obigen Zitat beschrieben ist, wird zwar im letzten Band des Cyrus-Romans vom alter ego der Madeleine de Scudéry, also der Sapho beschrieben. Aber klar ist auch, dass die amitié tendre zwischen Aronce und Clélie letztlich in der Ehe mündet. Sapho und Phaon, die beiden Liebenden aus dem 10. Band des Grande Cyrus, befolgen also noch nicht die in der Carte de tendre verzeichneten Regeln der amitié tendre. Ihre Beziehung stellt das Ideal der amour pure dar: eine dauerhafte Liebe, die mit der Zeit stärker wird, eine ausschließliche und reine Herzensbindung, in der die Partner völlig ineinander aufgehen: Ils se disoient toutes leurs pensées: ils les entendoient même sans se les dire: ils voyoient dans leurs yeux tous les mouvemens de leure coeures & ils y voyoient des sentimens si tendres, que plus ils se connoissoient, plus ils s’aimoient.26 Zugleich wird diese Liebe durch kleine Streitereien und Scheingefechte stets neu erprobt, der Friede zwischen beiden ist nicht so dauerhaft, daß er zur Gewöhnung und Abstumpfung führen könnte. Insofern liegt die Differenz auch darin, dass die Clélie zwar weitgehend dem von Artamène ou Le Grand Cyrus repräsentierten heroisch-galanten Erzählmodell folgt, dieses aber durch zahlreiche narrative Porträts einer ausführlich geschilderten Salongeselligkeit ergänzt, die sich in einer spielerischen Form der Konversation einer bunten Themenvielfalt widmet, in deren Zentrum die Liebe und deren verschiedensten Spielarten im Sinne einer Liebeskasiuistik stehen.27 Deutlich wird diese spielerische Art der Interaktion vor allem im Umgang der Sapho alias Scudéry mit Paul Pellisson, der ein Bindeglied zwischen Cyrus- und Clélie-Roman darstellt, zugleich aber als erster und eigentlicher Adres- 25 Baader: Dames de lettres, a.a.O., S. 54. 26 Cyrus 10.Teil 2.Buch, S. 854f. 27 Dass dies ein Erbe des höfischen Romans ist, zeigt die Arbeit von Ilse Nolting-Hauff, Die Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman, Heidelberg 1959. Die Zärtlichkeit der Galanten 69 sat der amitié tendre bzw. der Carte de Tendre gelten kann, wie schon Renate Büff betonte: Sapho hatte ihm [= Acante alias Paul Pellisson, B.M.S.] eine Frist von sechs Monaten auferlegt, nach Abschluß derer sie über seine Würdigkeit, ihr ‚tendre ami‘ zu werden, befinden wollte. Die Idee zur ‚Carte de Tendre‘ entsteht, als Sapho ihn als zu ihren ‚particuliers amis‘ gehörend bezeichnet. Acante erkundigt sich daraufhin, wie weit es von ‚Particulier‘ nach ‚Tendre‘ sei. Dieser Gedanke wird ausgesponnen und geht als allegorische Karte der Landschaft ‚Liebe‘ in die ‚Clélie‘ ein. (Auf der endgültigen Karte erscheint ‚Particulier‘ nicht.) Nach Ablauf der sechs Monate teilt Sapho Acante mit, er befinde sich nicht in ‚Tendre‘, sondern „un peu en deca de ‚Sincérité‘, und nie sei ein Liebender so nahe bei Tendre gewesen wie er.28 Nach Stephanie Bung habe diese Initiationsreise, die Pellisons alter ego Alcante auf dem allegorischen Spielfeld der Carte de Tendre unternimmt, vor allem die Aufgabe, „Sapho alias Madeleine de Scudéry mit den diskursiven Instrumenten traditioneller Liebesdiskurse davon zu überzeugen, dass er den Preis ihrer Freundschaft höher ansetzt als denjenigen des amour passion.“29 Aufgrund eben dieser Entstehungsgeschichte wäre es falsch, die tendresse mit dem von Niklas Luhmann entwickelten Begriff der amour passion gleichzusetzen, stellen diese beiden Kategorien doch einen Gegensatz dar.30 Der entscheidende Unterschied, auf den Maurice Daumas wie auch Renate Büff verwiesen, liegt in der Genese eines „sentiment feminin“31, angesichts dessen die „amour passion“ als eine „typisch männliche Eigenschaft“ angesehen werde, die zumindest mit Blick auf das französische siècle classique „für die Frau nicht akzeptabel ist, auch wenn sie gelegentlich nicht verhindern kann, dass diese Liebe von ihr Besitz ergreift.“32 Diese Tendenz sei neben dem Clélie-Roman der Scudéry noch weit deutlicher in des Abbé Michel de Pures La Précieuse ou le Mystère des Ruelles von 1656 nachweisbar. Insofern ist die „preziöse Revolte“, von der Büff in diesem Zusammenhang spricht, weniger eine Flucht oder Kompensation denn vielmehr eine genuin weibliche Revolte der neuen Frauen am Hof. Sie richtet sich gegen die eher männlich codierte Tendenz, zur Realisierung der amour passion gegenüber der Frau auch männliche Stärke im Sinne einer physischen Überlegenheit einzusetzen, deren genauere Beschreibung sich insbesondere in zahlreichen „preziösen Eheklagen“ zeige. Wir haben die tendresse also als weibliche Thematik von der eher männlich codier 28 Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 167f. 29 Bung: Spiele und Ziele, a.a.O., S. 305. 30 Luhmann selbst verweist übrigens in Liebe als Passion auf bestimmte, für die Genese der passionierten Liebe relevante „Verhaltensmaximen […], die für das Verhalten der Angehörigen einer bestimmten Schicht allgemein vorgesehen sind. Dieser Hintergrund einer noch schichtspezifisch gebundenen Geselligkeit und einer dadurch vermittelten Sicherheit ermöglicht und trägt gleichwohl die Ausdifferenzierung von Liebesbeziehungen und damit das Bezugsgeschehen für die Ausdifferenzierung des Code. In der Astrée erscheint er als Muße. Aber auch später noch gelten Adel und vor allem Reichtum als nahezu unerläßliche Voraussetzungen für Liebe.“ Vgl.: Luhmann: Liebe als Passion, a.a.O., S. 66. 31 Daumas: Tendresse amoureuse, a.a.O., S. 151ff. 32 Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 140. 70 Die Entstehung des zärtlichen Theaters ten amour passion zu unterscheiden, was auch und gerade die dem 1654 erschienenen ersten Band des Clélie-Romans beigefügte Carte de Tendre nahelegt, die die entscheidende Grundlage dieser neuartigen Gefühlskultur darstellt. Es handelt sich bei dieser Karte um eine allegorisierte Form der Liebesdidaktik, in der unterschiedliche Regionen als Stadien einer Freundschafts- bzw. Liebesbeziehung fungieren, die bis zu jener innigsten Stufung der ‚tendresse‘ reichen.33 Die Karte ist als Liebesmodell eingebunden in die Narration des gesamten Romans, der die Liebesgeschichte zwischen Clélie und Aronce schildert, die durch ein Erdbeben sowie eine anschließende Entführung der Clélie an ihrem Hochzeitstag voneinander getrennt werden und erst am Ende des mehrbändigen Romans wieder zueinander finden. Einer amour passion folgt demnach nicht Aronce in seiner Liebe zur Clélie, sondern vielmehr der gewaltsame Entführer Horace, der seinerseits „hartnäckig an dem Konzept des amour passion festhält und nicht bereit ist, zugunsten der amitié tendre auf seine Vorstellung der Liebe zu verzichten.“34 Aber noch ein zweites wesentliches Argument gegen die ‚männliche‘ amour passion ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Die Tatsache nämlich, dass diese Form der Leidenschaft in genau jenem Moment erlischt, in welchem der Mann sein Ziel erreicht, also von der Begehrten Besitz ergriffen hat. Die amitié tendre ist also weniger eine politische Kompensation, denn vielmehr ein didaktisches Modell, nach welchem sich die Liebe und zärtliche Freundschaft zwischen den Geschlechtern auf Dauer stellen lässt. Sobald die Frau die amour passion des Mannes akzeptiert, läuft sie Gefahr, die leidenschaftliche Liebe des Mannes genau in jenem Moment zu verlieren, in dem sie diese erwidert. Nur dann, wenn die amour passion des Mannes in ständiger Schwebe bleibt, lässt sich zwischen den Geschlechtern eine solche Liebe etablieren, und eben diese Schwebe gewährleistet die Idee der Zärtlichkeit. Sie schützt die adlige Dame des 17. Jahrhunderts vor Enttäuschungen und bindet den adligen Mann an die Einhaltung gewisser Regeln, die mit der Akzeptanz dieses neuartigen Liebesbegriffes verbunden sind. Die Mode der galanten Rätselspiele als Ursprung der amitié tendre Die Genese der Zärtlichkeit datiert auf die Phase des Regierungsantritts Ludwigs XIV., der mit seinem dreizehnten Lebensjahr im Jahre 1651 die Regentschaft seiner Mutter Anna von Österreich übernahm, sie entsteht also in den Salons und Höfen des ‚grand siècle‘. Diese Entstehung einer Salonkultur des Absolutismus erklärt sich aus der Präsenzpflicht des Adels am Hof des Königs, welche die Aristokratie dazu veranlasste, ihre ländlichen Herrschaftsdomänen in der Provinz zu verlassen. So entstanden in Paris bis 1661 zahlreiche Adelspalais als schöngeistige Zirkel und Foren einer neuen Geselligkeitskultur, die sich dann im Austausch mit 33Madeleine de Scudéry: Clélie. Histoire romaine 1, Paris 1654–60, S. 394ff.; vgl. hierzu: J. S. Munro: Mlle de Scudéry and the carte de tender, Durham 1966. 34 Bung: Spiele und Ziele, a.a.O., S. 285. Die Zärtlichkeit der Galanten 71 bürgerlichen Lebensformen zum literarischen Salon oder zur sogenannten „ruelle“, einem Schlafgemach bzw. ‚Kämmerlein‘ entwickelten. Der wichtigste Salon dieser Art ist zweifellos das ‚Hôtel‘ der Catherine de Rambouillet, ein „Chambre bleue“, also ein mit blauer Seide ausgestattetes Zimmer, das von 1620 bis 1648, also bis zum Ausbruch der Fronde, ein wichtiges Forum der höheren Gesellschaft aus Politik, Literatur und Kunst darstellte. Von dem in diesem Salon kultivierten Leben sollen uns im Folgenden vor allem jene den Habitus dieser Gesellschaft eindrücklich dokumentierenden, geistreichen Konversationsspiele bzw. divertissemens interessieren, die den von Georg Philipp Harsdörffer seit 1641 mehrbändig edierten Frauenzimmer-Gesprächspielen vergleichbar sind. Deren Ursprünge liegen im ‚Hôtel‘ de Rambouillet, 1642 wurden die dort kultivierten „Jeux de conversation & d’esprit“ von dem Historiker Charles Sorel in dessen Maison des Jeux genauer beschrieben.35 Zu diesen Spielen zählte etwa das „Jeu du mariage“, bei welchem die Herren vortragen sollten, warum sie unter den Frauen die Schöne, Heitere und Reiche eher begehren denn die Häßliche, Melancholische oder Arme. Andere geistreiche Konversationen widmeten sich der spontan zu beantwortenden Frage, ob Lächeln, Tanz, Gesang und Gespräch, oder eher Traurigkeit oder Bescheidenheit, ob eifersüchtige Leidenschaft oder kindhafte Einfachheit, der Schlummer oder die Prunkkarosse das besonders Liebenswerte an einer Frau hervortreten lasse. Umgekehrt hatten die Damen nacheinander alle Gründe dafür anzuführen, die sie veranlassen könnten, einen Kaufmann, einen Financier oder Richter, einen Greis oder einen Jüngling zu heiraten bzw. zu verschmähen. Im Spiel mit dem Titel Jeu des Vertus et des Vices galt es, die nützlichsten Tugenden und verzeihlichsten Laster nennen, im Jeu des folies sollte eine närrische Neigung oder eine imaginäre Ablehnung benannt werden, im Jeu de la Solitude sollte man den Rückzug aus der Welt begründen. Dabei dominierte in diesen Spielen der bon sens, also der gesunde Menschenverstand, der mit Blick auf gesellschaftliche Verwertbarkeit die gefällige Plauderei und Leichtigkeit des Stils jenseits klassischer Regeln über das pedantische Fachwissen erhob. Wie wichtig diese Ausblendung der Pedanterie war, hat der Literaturkritiker Jean Chapelain 1638 in einem Bericht zum Hôtel de Rambouillet vermerkt: „On n’y parle point savamment, mais on y parle raisonnablement, et il n’y a lieu du monde où il y ait plus de bon sens et moins de pédanterie.“36 Ähnlich betonte der für seine mathematische Berechnung von Glücksspielen bekannte französische Edelmann Chevalier de Méré: „Ce qu’on appelle estre sçavant n’y sert que bien peu.“37 35 Der vollständige Titel lautet: „La maison des jeux: Ou se trouvent les divertissemens d’une compagnie, par des narrations agreables, & par des jeux d’esprit, & autres entretiens d’une honneste conversation.“ 36 Émile Magne: Voiture et l’Hôtel de Rambouillet: portraits et documents inedits, Band 2, Paris 1929, S. 89. Auf Deutsch: „Man spricht hier überhaupt nicht gelehrt, sondern mit Verstand, und nirgendwo sonst auf der Welt gibt es mehr bon sens und weniger Pedanterie.“ 37 Œuvres complètes du chevalier de Méré, Band 1, Paris 1930, S. 6. Auf Deutsch: „Was man als gelehrt zu sein bezeichnet, hilft hier nur sehr wenig.“ 72 Die Entstehung des zärtlichen Theaters Diese spontanen Spiele im Sinne einer kollektiven Improvisation rhetorischer Formen sind als Kleinkunst der Salons auch die Grundlage der Romane der Madeleine de Scudéry, die mit ihren regelmäßigen ‚samedis‘ etwa ab 1648 die Nachfolge der Catherine de Vivonne bzw. des Hôtel de Rambouillet antrat. Auch diese ‚samedis‘, also die wöchentlich im Palais Marais gegebenen ‚Samstagsempfänge‘ der Scudéry, pflegten den geselligen Umgang durch anspruchsvolle Konversation und abwechselnde Spielmoden, wobei die Damen und Schriftsteller eben unter anderem auch die Liebesgeographie im Sinne der ‚Carte de Tendre‘ spielerisch diskutierten. Deren Ausgangspunkt sind eben jene Konversationsspiele im Sinne einer von Renate Baader sogenannten „Mode der galanten Rätsel“, die sich etwa in der Technik der indirekten und anspielungsreichen Beschreibung von Personen, Vorgängen oder psychologischen Zuständen zeigt, wie sie in den Schlüsselromanen der Scudéry umgesetzt ist: In den bereits genannten Protagonisten des Grand Cyrus wird auf Persönlichkeiten aus dem Hôtel de Rambouillet angespielt, dessen politisches Leitbild nach dem Tode Richelieus der Große Condé darstellt, in den Figuren der Clélie hingegen sind teilnehmende Persönlichkeiten der ‚samedis‘ portraitiert und verewigt. Stephanie Bung hat die Logik dieser Spiele und Rätsel insbesondere am Beispiel der 2002 von Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maitre edierten Chroniques du Samedi herausgearbeitet, einer umfangreichen Sammlung von Briefen, die im Kreis der Madeleine de Scudéry verfasst wurden. Besonders aufschlussreich für unsere Thematik sind dabei jene Briefe, die zwischen Paul Pellisson und Madeleine de Scudéry ausgetauscht wurden und den Beginn ihrer platonischen Freundschaft dokumentieren. Diese Briefe erzählen nach Ansicht Stephanie Bungs die Geschichte einer regelrechten Initiation. Pellisson, dessen Begegnung mit Madeleine de Scudéry den Auftakt der Briefe darstellt, wird also zu einem bestimmten Zeitpunkt der Korrespondenz eine Bewährungsfrist von sechs Monaten auferlegt, während derer er sich der amitié tendre seiner Briefpartnerin als würdig erweisen solle. Im Laufe dieser Zeit, die den narrativen bzw. chronologischen Rahmen vorgibt, in dem auch alle anderen Briefe entstanden sind, dominiert nach Bung das Bild einer Initiationsreise, weshalb Pellisson schließlich um eine Karte bittet, die ihm den Weg nach Tendre weisen solle.38 Dabei agiert Pellison unter dem Pseudonym Acantes, wie umgekehrt die Madeleine de Scudéry den Namen Sapho trägt: Jene verschlüsselte Identität, welche im zehnten Band des Grand Cyrus wiederkehrt. Es geht ihm also im Briefwechsel darum, den Weg nach Tendre und damit zu Saphos Herzen zu finden. Madeleine de Scudéry alias Sapho verspricht nun Pellison alias Acantes, ihm diesen Weg in Form einer Landkarte zu zeichnen: Eine Anmerkung in der Handschrift weise nach Bung darauf hin, dass an dieser Stelle die Carte de Tendre, wie sie dann im ersten Band der Clélie veröffentlicht wurde, eingefügt werden sollte. So führt Acantes unablässiges Werben schließlich zur Entstehung der Carte de Tendre, die ihrerseits weitere Briefe bzw. Texte entstehen lässt, 38 Vgl.: Bung: Spiele und Ziele, a.a.O., S. 304f. Die Zärtlichkeit der Galanten 73 in denen der Versuch diverser Figuren der Chroniques du Samedi geschildert wird, Aufnahme in Tendre zu finden. Freilich ist die in den Briefen diskutierte Zärtlichkeit eine etwas andere denn die des Clélie-Romans, was mit der Tatsache zu tun hat, dass Paul Pellisson alias Alcante in der Chroniques zudem einer gewissen „belle Alphise“39 den Hof macht, also verliebt ist: Damit jedoch bringt er sich im Briefwechsel um die Möglichkeit, zugleich der „tendre ami“ der Sapho zu sein. Im Briefwechsel findet also eine Einschränkung statt: „vous pouvez avoir de l’amour sans être coupable; mais vous ne pouvez en avoir sans être un peu moins bien avec moi. Vous avez sans doute autant de part à mon estime, que si vous n’étiez point amoureux, et peut-être même un peu plus; mais vous en aurez beaucoup moins en mon affection.“40 Im Brief kann die Sapho einem anderweitig Verliebten demnach nur ihre „estime“, ihre Wertschätzung entgegenbringen. Der estime-Begriff zeigt damit im Briefwechsel eine andere Bedeutungsnuance als im Roman, wo ‚estime‘ eine Vorstufe der ‚affection‘ darstellt. In Saphos Brief markieren estime und affection einen Widerspruch41, wenn ein bereits verliebter Mann sich um die amiti tendre einer anderen Dame bemüht. Bei Scudéry seien die ‚actions heroiques‘ des ‚amant‘ von der Liebe abhängig, aber natürlich auch von der ‚politesse‘, der ‚galanterie‘, der ‚plaisir‘ und jener ‚je ne sais quoi‘, der den ‚commerce‘ der ‚honnetes gens‘ angenehm gestaltet. Umgekehrt gilt aber auch, dass die durch höfische Liebe erworbenen Qualitäten – Gehorsam, Selbstverzicht, Liebesdienst – die Dame zur Belohnung verpflichten. Das zeigt Scudérys Carte de tendre, die den Liebenden nicht nur über tendre sur inclination, sondern auch über tendre sur estime und tendre sur reconnaissance ans Ziel seiner Wünsche führt. Dennoch aber ist der Zärtlichkeit ein Prinzip der Entsagung eingeschrieben: Sie bleibt eine unerfüllbare Leidenschaft, die den Liebenden der überlegenen Dame annähert, wodurch die Liebe als Quell aller Tugenden zum Ursprung einer elitären höfischen Vollkommenheit wird. Es gibt daher in der Forschung die deutliche Tendenz, den Zärtlichkeitsbegriff auf eine platonische Tradition im Sinne der höfischen Liebestopoi zurückzuführen, die liebenden Helden der Chroniques bzw. der Romane der Scudéry also mit Figuren aus Honoré d’Urfés Schäferroman Astrée zu identifizieren. Der Begriff der Zärtlichkeit sei dem 39 Chroniques du samedi: suivies de pièces diverses (1653–1654), hg. V. Alain Niderst, Delphine Denis, and Myriam Maitre, Paris 2002, S. 77. 40 Ebd., S. 77. 41 Renate Büff bemerkt dazu: „Im Roman macht die Scudéry jedes tiefere Gefühl vom estime abhängig. In der verspielten Scheinrealität der ‚Samedis‘, die für Sapho zunehmend die Wirklichkeit darstellt, bzw. die mit dem bürgerlichen Leben der freien Schriftstellerin Scudéry eine so enge Verbindung eingeht, daß jede Trennung und Abgrenzung nur willkürlich vorgenommen werden könnte, ist der Vorgang komplizierter. Zwar macht hier wie im Roman erst die Verliebtheit den Mann gesellschaftlich vollgültig, aber der unerhörte Fall, daß ein verliebter Mann sich um die ‚amiti tendre‘ einer anderen bemüht, kommt im Roman nicht vor, ist daher theoretisch nicht ohne weiteres zu klären. Sapho entscheidet, daß sie zwar ihren estime uneingeschränkt aussprechen könne, nicht aber ihre ‚affection‘. Saphos uneingestandene Eifersucht auf ‚Alphise‘ ist stärker als die Theorie zulässt.“, vgl. Büff: Ruelle und realität, a.a.O., S. 167. 74 Die Entstehung des zärtlichen Theaters nach einer höfischen Affektordnung verpflichtet, die sich vor Scudéry schon in d’Urfés Astrée verwirkliche, aber letztlich in die neuplatonische Liebesphilosophie, die petrarkistische Lyrik und den höfischen Ritterroman zurückreiche, wie insbesondere Gerhard Penzkofer nachdrücklich betonte.42 Es handle sich also um eine der platonischen Motivierung der Liebessprache im Sinne Ficinos und der Astrée verpflichtete Lehre, die den Gedanken der estime und der amitié tendre vermengt. Wir werden diese Deutung im Folgenden genauer prüfen, dazu aber zunächst den narrativen Kontext der Carte de Tendre skizzieren. Der narrative Kontext der Zärtlichkeit: Das erste Buch der Clélie von 1654 Der von 1654 bis 1660 erschienene Roman umfasst zehn Bände und erzählt die Liebes- und Trennungsgeschichte von Aronce und Clélie. Dabei ist die Idee der Zärtlichkeit schon im letzten, also 10. Band des Artamène ou le Grand Cyrus in den Gesprächen zwischen Sapho und Phaon umgesetzt, sie wird jedoch im ersten Buch des Clélie-Romans systematisiert. Dieses erste Buch erzählt die Liebesgeschichte zwischen Aronce und Clélie, die im Grunde Stiefgeschwister sind, denn Aronce, der Sohn des von Feinden entmachteten etruskischen Königs Porsenna, wächst als unbekanntes Findelkind bei Clélius, einem vor Tarquinius Superbus nach Karthago geflohenen Römer, und dessen Frau Sulpicie auf, und verliebt sich in deren Tochter Clélie. Clélius favorisiert jedoch Horace, einen Feind des Tarquinius, und willigt in die Hochzeit erst ein, als Aronce seine wahre Identität entdeckt und dem Stiefvater mehrfach das Leben rettet. Die Hochzeit wird von einem schrecklichen Erdbeben unterbrochen, das Horace dazu nutzt, Clélie vom Traualtar weg zu entführen – ohne Glück, denn er verliert seine Geliebte an einen Häscher des Tarquinius, der sie, selbst von Liebe entbrannt, als Geisel gefangen hält. Die Geschichte spielt im Jahre 509 vor Christus in der Landschaft von Capua, sie beginnt mit dem Tag vor der Hochzeit von Clélie und Aronce, und setzt ein mit einer Reflexion über die Verzögerung dieser Ehe, bedingt durch Hochwasserschwemmen, die ein Sturm in einem anliegenden Flußlauf ausgelöst hat. Während Clélies Vater Clélius dennoch fest entschlossen die Hochzeit in den schönen Ruinen durchführen will, ist Bräutigam Aronce von großer Sorge erfasst, da sein Rivale Horace bei der Hochzeit erscheint. Auch Clélie ist durch die Anwesenheit des Horace verängstigt und bittet daher ihren Vater, einen Kampf zwischen den beiden Kontrahenten zu verhindern. In diesem Moment verursacht ein Erdbeben die Trennung der zukünftigen Eheleute, bei welchem Aronce nur knapp dem Tod entgeht und sofort das Leben seiner Braut Clélie zu retten versucht. Als er deren Eltern in einem durch das Erdbeben entstandenen Grab inmitten der verwüsteten und von Asche überzogenen Landschaft wiederfindet, erklärt ihm Clélies Mutter Sulpi 42 Gerhard Penzkofer: „L’ art du mensonge“, a.a.O., S. 160f. Die Zärtlichkeit der Galanten 75 cie jedoch, dass sie Horace mit ihrer Tochter verschwinden sah, woraufhin Aronce sofort mit der zunächst erfolglosen Suche beginnt, entschlossen und bereit, der Geliebten auch in den möglichen Tod zu folgen. Zunächst erfährt Aronce von Stenius, einem Freund von Horace, dass dieser noch am Leben und im Besitz von Clélie ist. Gemeinsam mit seinem Freund Célère verlässt Aronce Capua, und entdeckt an den Ufern des Lago Trasimeno die entführte Braut in einem Boot des Horace, der mit sechs weiteren bewaffneten Männern gegen ein Boot des Prinzen von Numidien, einem Freund des Aronce, kämpft, der dem Horace zu entkommen versucht. Aus der Ferne kann Aronce nicht in den Kampf eingreifen, er wird jedoch später darum gebeten, beim Prinzen von Perugia, Mezentius, für die Ermordung des Verräters Horace um Hilfe zu bitten. Zu diesem Zweck wird er von Sicannus, einem Freund des Célère, auf die ‚Insel der Weiden‘ (Îles des Saules) gebracht. Dort erfährt er, dass auch der Prinz von Numidien ein Rivale in Sachen Clélie ist, und hört einiges bezüglich der politischen Situation in Etrurien, einer antiken Landschaft in Mittelitalien, die das Kerngebiet der Etrusker darstellte. Dort hält Mezentius seine Tochter Galérite und den König Porsena gefangen, den dessen Anhänger befreien wollen, und der sich später als Vater des Aronce entpuppen wird. Zudem beginnt Aronce eine Freundschaft mit der leontinischen Prinzessin Lysimène, die natürlich begierig ist, mehr vom Leben des Aronce, aber auch von der Geschichte der Liebe zwischen Aronce und Clélie zu erfahren. Vor diesem Hintergrund beginnt nun die rückblickende Erzählung des Célère, der auf Wunsch der Lysimène die Geschichte von Aronce und Clélie erzählt. Dabei war Célère ebenso wie Aronce, Horace und Herminius Teil einer Gruppe von jungen Männern, die sich um die schöne und geistreiche Clélie gruppierten. Aus der von Célère erzählten Geschichte geht auch hervor, dass König Porsenna der Vater von Aronce ist, zudem erfahren wir, dass der König Porsenna einst die Tochter des Mezentius namens Galérite heiratete, und später zur politischen Geisel seines Schwiegervaters wurde. Dies erklärt wiederum die Flucht des Aronce, der als gemeinsames Kind von Porsenna und Galérite nach Syrakus segelte, um so dem Gericht des Mezentius zu entkommen. Als sein Schiff unterging, wurde Aronce von Clélius und Sulpicie aufgenommen, die ihren leiblichen Sohn während eines Sturms verloren hatten, Aronce nun nach ihrem verlorenen Sohn benannten und mit nach Karthago nahmen. Vier Jahre später bekamen sie Clélie, zugleich befreundet sich Aronce mit dem jungen Prinzen von Karthago und dem jungen Prinzen von Numidien, weshalb er sich zunehmend von der jungen Clélie entfernt. Schließlich fahren sie zu dritt, begleitet von Hamilkar, einem Freund des Prinzen von Karthago, nach Griechenland und weiter nach Rom, wo der Tyrann Tarquin herrscht, vor dem wiederum Horace floh, der so mit den drei Freunden bekannt wurde, und die drei auf deren Rückreise begleitete. Während der vier Jahre andauernden Rückreise ist Clélie inzwischen eine wunderschöne Frau und Favoritin des Maharbal geworden, der damals die größte Autorität in Karthago genoss. Allerdings zögert ihr in Sachen Heiratspolitik wie gesagt sehr strategisch denkender Vater Clélius, seine Tochter mit dem Maharbal zu verheiraten, da auch der Prinz von Numidien sich in Clélie verliebt hat. Hintergrund 76 Die Entstehung des zärtlichen Theaters dieser Überlegungen ist das Fest des Tyrus, an welchem man den Phöniziern einen Teil des eigenen Vermögens und die eigenen Töchter vermacht, um das Bündnis zwischen den beiden Völkern zu feiern. Während dieses Festes treffen nun die heimgekehrten Aronce, Hamilcar und Horace auf Clélie, wobei sich Aronce und Clélie sofort wiedererkennen, auf Anhieb sehr mögen und daher beschließen, sich Bruder und Schwester zu nennen. Clélius wiederum sieht Aronce als seinen Sohn, weshalb er entsprechend in Horace einen Verbündeten sieht, wenngleich Aronce und Horace schon auf dem besten Wege zur Rivalität sind, da beide sich natürlich in Clélie verliebt haben. Sie sind indes nicht die einzigen, denn auch der Prinz von Numidien, der mit Aronce und Horace zum engeren Kreis um Clélie zählt, erklärt dieser seine Liebe. Allerdings lehnt Clélie den Prinzen ab und muss nun gleich zwei enttäuschte Liebhaber, also sowohl den Prinz von Numidien als auch den zornigen Maharbal fürchten. Aronce seinereits verzichtete darauf, Clélie seine Liebe zu gestehen, aus Respekt vor Clélius und Sulpicie, während Horace, der natürlich auch in Clélie verliebt ist, Aronce von seiner Liebe nichts erzählte. Aber die beiden Rivalen sind immer noch Freunde, ja sie erklären sich gar ihre verschiedenen Ansichten über die Liebe: Aronce glaubt an die langsam aufkeimende Liebe der Freundschaft, während Horace an Liebe auf den ersten Blick schwört. Zugleich gesteht Aronce seinem Freund Célère seine durchaus verzweifelte Liebe zu Clélie und beschließt, sein Liebesgefühl zu unterdrücken, was allerdings verfrüht erscheint, den Clélie verweigert sich dem Horace, dem Maharbal und dem Prinz von Numidien, und orientiert sich mehr in Richtung Aronce. Erst nachdem Clélie, Aronce und Horace sowie die Eltern Clelius und Sulpicie vor dem wütenden Maharbal nach Syrakus und schließlich in die vom Onkel Célères regierte Stadt Capua fliehen, scheint sich die Lage aufzuklären. Denn nun erklären sowohl Aronce als auch Horace in einem Brief der Clélie ihre Liebe, ohne freilich dabei in Hassgefühl zu verfallen. Diese ménage à trois verschärft sich indes, als eines Tages Herminius, ein vor den Tarquinern geflohener berühmter Römer und Freund des Horace, nach Capua kommt und sich während eines Treffens mit Sulpicie und Clélie ebenfalls in diese verliebt, wenngleich er mit seinem Herzen weiterhin der Stadt Rom verbunden bleibt. Er bitte nun jedoch die Clélie darum, ihm zu zeigen, auf welche Weise er ihre Freundschaft erlangen könne, woraufhin Clélie in einer größeren Runde, zu welcher neben Herminius auch Aronce, Horace, Célères Freund Fenice sowie Célère selbst zählen, ihre Vorstellung von der Liebe und Freundschaft erläutert, Bezug nehmend auf die Karte der Zärtlichkeit. Diese Karte sendete Clélie dem Herminius, und diese Karte zeigt dann Célère der Lysimène. Die drei auf der Karte verzeichneten Städte namens Tendre-sur-Inclination, Tendre-sur-Estime und Tendre-sur-Reconnaissance beziehen sich also nun auf die drei Bewerber Aronce, Herminius und Horace, und zeigen diesen, wie sie auf ihre je spezifische Weise die zärtliche Freundschaft der Clélie erreichen können. Aronce etwa gilt der kürzeste Weg namens Tendre-sur-Inclination, weshalb er im Rennen um Clélie dem Horace voraus ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich nun auch die Feindschaft zwischen Horace und Aronce, die sich sogleich duellieren, woraufhin Clélius, um ein tragisches Ende