Das schwerste Spiel seines Lebens

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stern.de - 13.8.2003 - 10:45
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ALS
Das schwerste Spiel seines Lebens
Behindertenparkplätze meidet Beata
Nowak. Das wäre die Kapitulation
vor Krzysztofs Krankheit. Sie parkt
das schwarze Familienauto lieber ein
paar Meter weiter in einer engen
Lücke in der Wolfsburger Innenstadt.
Drei, vier Handgriffe, und der
Rollstuhl steht. Sie öffnet die
Beifahrertür, packt die Waden ihres
Mannes, stellt seine Füße von der
Fußmatte auf den Teer. Sein Körper
auf dem Autositz dreht mit. Zweimal
© Ronald Frommann
rückt sie seine schwarzen Slipper
Nur noch Zuschauer: Nowak vor dem
gerade, die immer wieder haltlos
Länderspiel Deutschland-Kanada im
Stadion des VfL Wolfsburg Anfang Juni. nach innen schlenkern. Dann stemmt
sie energisch ihren linken Fuß im
rosa Flipflop auf seinen rechten
Schuh und zieht ihn an den Unterarmen aus dem Auto. Wie eine schlaffe
Gliederpuppe hängt der Oberkörper des großen Mannes für ein paar Sekunden
über der Schulter der zierlichen Frau.
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Energisch drückt sie ihn in den
Rollstuhl. Lächelt ihn an, legt seine
gekrümmten Finger, die ihm nicht
Erfahrungsbericht: "Ich bin noch
mehr gehorchen, liebevoll auf die
lange nicht da, wo man feststellt:
Armlehne und streichelt sie gerade.
hier gehts nicht weiter."
Maria Magdalena, 2, klettert in ihren
Buggy. Maksymilian, 8, schiebt an.
Eine Familie auf dem Weg zur Eisdiele, zu Spaghetti-Eis und Erdbeer-Flip.
Vor drei Jahren noch trugen seine Fußballerbeine Nowak mühelos Kilometer
weit über den grünen Rasen. Für den VfL Wolfsburg, der ihn 1998 für zwei
Millionen Mark eingekauft hatte. Eine halbe Million Euro soll er im Jahr
verdient haben. Und das ganz große Geld war in Reich-weite: Karl-Heinz
Rummenigge von den Münchner Bayern sah mit Wohlgefallen seine
Spielmacherqualitäten, die Präzision, mit der er den Ball führte und die
Gegner austanzte. Die Champions League, ein Lebenstraum des
Profifußballers Krzysztof Nowak, schien spielbar nahe.
Vor einem Jahr noch, bei der Weltmeisterschaft in Korea, hatte er den
Rollstuhl nur für den Notfall im Gepäck. Wie Pflaster und Sicherheitsnadel.
Da konnte er - wenn auch langsam und gestützt von seinen Freunden - noch
gehen.
Länderspiel Deutschland gegen Kanada, Anfang Juni im Stadion der Wölfe.
Nowak sitzt mit Freunden in einer Loge, hoch oben im Stadion. Musical-Star
Anna-Maria Kaufmann singt die Nationalhymne. "Blüh im Glanze dieses
Glückes ?" Als die Spieler ins Stadion kommen, jubeln die Fans, klatschen,
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rufen. Nowak nicht. Er kann nicht klatschen. Der Befehl aus seinem Kopf
erreicht die Hände nicht mehr. Bewegungslos liegen sie auf der grauen
Bundfaltenhose. Er kann nicht rufen, anfeuern im Stakkato - die Stimme trägt
nicht mehr. Immer wieder lächelt er gequält. Und sagt dennoch: "Es ist
wichtig, dass ich ins Stadion gehe." Reiht mit leiser Stimme mühsam die
Laute aneinander.
Die Krankheit ist hinterhältig. Sie beginnt harmlos. Mit kalten Fingern. Mit
Problemen, die Schnürsenkel zur Schleife zu binden. Mal lässt sich die
Zahnpastatube erst im dritten Anlauf zuschrauben. Mal sieht die Unterschrift
krakelig aus. Kleine Widrigkeiten im Alltag, aber nichts, was einen ahnen
lässt, dass man unheilbar erkrankt ist. An ALS - an Amyothropher
Lateralsklerose, einer Nervenkrankheit, bei der nach und nach jene
Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn sterben, die die Muskelfasern
steuern.
"Ich habe die Symptome zunächst
ignoriert", sagt der Ex-Fußballprofi.
"Meine Beine gehorchten mir ja
noch." Das war im Spätherbst 2000.
Im Dezember schoss der Pole noch
ein Tor gegen Bayer Leverkusen.
Dann war Pause bis zum
Trainingslager in Portugal. Nowak:
"Dort hatte ich zum ersten Mal
Probleme mit der Koordination. Ich
war auch nicht mehr so beweglich
und schnell." Im Februar machte er
© Ronald Frommann
sein letztes Spiel für die
Die zweijährige Maria Magdalena lässt
Wolfsburger. Gegen Hertha. Ende
ihren Vater am Eis schlecken. Weil ihr
Bruder und die Mutter Nowak bei vielem März 2001 dann die ersten
neurologischen Untersuchungen in
helfen, tut die Kleine es ihnen nach.
der Uniklinik Göttingen. Mit großer
Wahrscheinlichkeit ALS,
diagnostizierten die Ärzte vorsichtig. "Ich hatte noch nie von der Krankheit
gehört", sagt der 27-Jährige.
Nowak ging weiter zum Training. Verdrängte. Im Mai kommen die Ärzte an
der Medizinischen Hochschule in Hannover zum selben Ergebnis wie ihre
Göttinger Kollegen. Der Mittelfeldspieler fährt nach Polen, trifft sich mit
seinem Freund und ehemaligen Trainer Bernard Szmyt, erzählt ihm von der
Krankheit, die ihn lähmen wird. Sie reden über den Tod. Die beiden Männer
weinen.
150 000 Kilometer ist Nowak seither gereist. Zu Neurologen, Homöopathen,
Heilpraktikern. Er war in Asien, in Amerika, in Polen, in Holland, in Köln und
München. Erst in der Hoffnung, ein Arzt könnte eine andere, weniger
unheilvolle Diagnose stellen. Dann mit dem Ziel, jemanden zu finden, der ihn
heilen könne. Heute vor allem mit dem Wunsch, die Nervenkrankheit
wenigstens zu stoppen. Überleben will er, nur noch überleben.
Mittagessen in einem Landhotel bei Wolfsburg. Wenn Mama Papa füttert,
dann will Maria Magdalena das auch. Die Zweijährige tunkt ein PommesStäbchen in den Ketchup. Mantscht ein bisschen. Dann rutscht sie vom Stuhl
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und geht zu ihrem Vater. Strahlt ihn an, sagt "Krzysio", den Kosename für
Krzysztof. Als der sich ein bisschen vorbeugt, schiebt sie ihm den Pommes in
den Mund, holt ihre Stoffserviette und tupft "Krzysio" den Mund ab.
Er wird noch hilfloser werden. Die Krankheit kennt keine Pause. Sein
Verstand ist wach, aber sein kraftloser Körper schränkt ihn immer mehr ein.
"Früher konnte ich mir wenigstens noch die Zähne putzen, jetzt muss das
Beata machen." Seit ein paar Monaten kann Nowak auch das Besteck nicht
mehr halten. Waschen, anziehen, füttern - alles hat seine Frau übernommen.
Pflegepersonal, Fremde im Haus, will die 26-Jährige nicht. Der Familienalltag
soll so normal sein wie möglich.
Nowak hat alles gelesen, was es über ALS gibt. Er weiß, womit er rechnen
muss. Nur nicht wann. Eines Tages wird er nur noch festgeschnallt mit
Fallschirmgurten im Rollstuhl sitzen können. Weil die Halsmuskulatur
versagt, kann er irgendwann den Kopf nicht mehr halten - wie Stephen
Hawking, der große Physiker. Das Gesicht wird seine Gefühle nicht mehr
widerspiegeln, weil auch dessen Muskulatur gelähmt ist. Aus einer Flasche
werden sie Flüssignahrung über eine Sonde direkt in seinen Magen spülen,
weil er nicht mehr schlucken kann. Und schließlich überlebt er nur noch mit
Luftröhrenschnitt und Beatmungsgerät. So oder ähnlich wird es ablaufen. Die
Fähigkeit, die er als nächste verlieren wird, sollte nicht ein Wunder die
Krankheit stoppen, ist das Sprechen. Dann bleibt nur der Sprachcomputer.
Wer gut hinhört, kann ihn verstehen - noch. Aber manchmal scheint sich die
Zunge quer zu legen im Mund.
Hunderte von Briefen mit Adressen von seriösen Ärzten und angeblichen
Wunderheilern haben die Nowaks bekommen. Von Menschen, die helfen
wollen. Doch wem vertrauen? "Das ist wie Lotterie spielen. Das kann man nur
aus dem Bauch heraus entscheiden", sagt der Pole. Manchmal suchen die
Leute auch seine Hilfe. "Weil sie glauben, dass ich als bekannter Fußballer an
bessere Therapien und Ärzte komme. Sie denken, ich hätte Wunderrezepte sie irren."
Beata holt ein kleines Plastiktütchen aus ihrer rosa Lackhandtasche, schüttet
große graue und kleine schwarze Pillen, die aussehen wie Vogelfutter, in ihre
Hand und schiebt sie nach und nach Krzysztof in den Mund. Maria Magdalena
greift zum Wasserglas mit Strohhalm und streckt es ihrem Papa hin.
Nowak schluckt Rilutek, das einzige bisher zugelassene Medikament für ALSPatienten, und Vitamin E. Er verspricht sich nicht viel davon. Besuche bei
Nervenärzten hat er mittlerweile eingestellt. Seit acht Monaten fährt Beata ihn
jeden Dienstag nach Posen zur Akupresssur und Massage, mittwochs wieder
zurück nach Wolfsburg. Und seit drei Monaten auch noch donnerstags nach
Kassel zu einem Heilpraktiker. "Es ist ein weiterer Versuch." Mehr will er
dazu nicht sagen. Auch nichts zu den Kräuterpillen und Pülverchen, die er
zusätzlich zu Rilutek nimmt.
1200 Kilometer am Steuer jede Woche - diesen Stress erträgt Beata Nowak.
Aber die jeweils dreitägige Trennung von ihren Kindern schmerzt. Die junge
Frau wollte lange nicht akzeptieren, dass ihr Mann schwer krank ist. Auch
jetzt sagt sie noch manchmal zu ihm: "Krzysztof, du bist nicht krank, du bist
nur müde." Sie lacht viel, kabbelt sich auf Polnisch mit ihm, küsst ihn immer
wieder liebevoll. Sie gibt ihre ganze Kraft. Wenn er es nicht hören kann, sagt
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Beata aber auch: "Ich denke nicht mehr weit nach vorne. Wenn man große
Pläne macht und es dann am Ende nicht klappt, ist man nur enttäuscht."
Zuweilen schleicht sich die "Warum gerade ich?"-Frage klein und gemein in
Nowaks Kopf, obwohl er das partout nicht will. "Aber Gott hilft, vieles zu
verstehen." Von den Ermittlungen des italienischen Staatsanwalts Raffaele
Guariniello hat er gehört, will aber mit dessen Dopingverdacht nicht in
Verbindung gebracht werden: "Ich war regelmäßig bei Kontrollen, und ich
war immer sauber." Der 27-Jährige hat die Ärzte gefragt, ob es einen
Zusammenhang gibt zwischen seiner Krankheit und der extremen
körperlichen Belastung in den vergangenen Jahren. Nowak: "Sie sagten mir,
das sei nicht geklärt, es gebe allerdings überproportional viele
Leistungssportler, die an ALS erkrankt seien. Ich halte es für möglich, dass
die hohe sportliche Belastung etwas damit zu tun hat. Aber deshalb denke ich
jetzt nicht, hättest du nur nie Fußball gespielt. Ich hatte unglaublich schöne
Momente in diesem Sport."
Natürlich ist da auch die Frage, wie es weitergehen soll. Am 31. Juni
vergangenen Jahres endete der Vertrag beim VfL Wolfsburg. Nowak ist kein
armer Mann. Aber Pflege ist teuer. Für ihn und andere ALS-Kranke gründeten
deshalb sein Verein und die Deutsche Bank eine Stiftung, die seinen Namen
trägt. Zurück nach Polen will Nowak nicht. Sein Zuhause ist Wolfsburg. Mit
seinen polnischen Freunden, die bei VW arbeiten, den Vereinskameraden, den
Fans. Und dem Sport. Einmal in der Woche fährt er zum Training der
Wolfsburger, schaut vom Rollstuhl aus zu. Bei allen Heimspielen ist er dabei.
"Fußball war nicht nur mein Beruf, sondern mein Lebensinhalt", sagt er. "Seit
meinem neunten Lebensjahr habe ich täglich trainiert. Ohne Fußball könnte
ich nicht leben."
Anette Lache und Ronald Frommann (Fotos)
Meldung vom 13. August 2003
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