Präsentation - Friedrich-Ebert
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Präsentation - Friedrich-Ebert
Prof. Dr. Heiko Steffens Aufgaben und Ziele verbraucherpolitischer Interessenvertretung in der Sozialen Marktwirtschaft Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin am 17. April 2013 1. Workshop „Zur Lage der Verbrauchervertretung in DeutschlandBestandsaufnahme und Reformperspektiven 1. Rückblick Vor über einem halben Jahr hat das BMELV das PROGNOS Gutachten zur Lage der Verbraucher in Deutschland vorgelegt (BMELV, 2012). Mein Thema ist zwar nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit aber ich benutze diesen Hinweis als Sprungbrett zur Zeitreise in die Mitte der 1950er Jahre. Damals gründete Gerhard Weisser, übrigens Ehrenpräsident der FES, zusammen mit Otto Blume das „Institut für Selbsthilfe“, das die Keimzelle für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände AgV durch sozialpolitisch orientierte Verbände wurde (AgV, 1978, S. 8). In Weissers Denken spielte das Konzept der Lebenslagen eine zentrale Rolle, indessen ging es ihm nicht primär um die Lebenslagen von Einzelpersonen, sondern um die kollektiven Lebenslagen sozial schwacher oder gefährdeter Gruppen (Universität Köln, 1998, S. 15). Ihre zivilgesellschaftliche Arbeit verstand sich als Hilfe zur Selbsthilfe. Praktisch. Pragmatisch. Über die Lebenswelt hinausweisende Paradigmen von Marktwirtschaft, Konsumentensouveränität oder Gegenmacht waren für Beratung und Information viel zu abstrakt. Bei der Gründung der AgV musste die äußerst folgenschwere Wahl einer Organisationsform entschieden werden, mit der man als Gegengewicht zu den zahlreichen Industrie- und Handelsverbänden so schlagkräftig wie nur möglich agieren könnte? Kernpunkt der Diskussion war: Sollte Massenmitgliedschaft angestrebt werden oder sollten sich sozial- und verbraucherorientierte Verbände in einer Organisation zusammenfinden? Die Entscheidung für einen Verband von Verbänden wurde durch das Argument beeinflusst: Im Bereich der Einkommenserzielung ist das Interesse von selbstständig und abhängig Arbeitenden hinreichend ausgeprägt ist, um auf der Basis der Einzelmitgliedschaft mitwirken zu können. Bei der Einkommensverwendung ist das hingegen nicht der Fall (AgV, 1978, S. 8). Eine folgenschwere Entscheidung, durch welche Schwächen der Legitimation und Schwächen der Selbstfinanzierung verursacht wurden. 2 1.1 Das Markt-Paradigma aus der Sicht der Wirtschaftspolitik. Ludwig Erhard: Er feierte 1957 die „Inthronisierung des Kunden“ und schrieb „Der Druck sinkender Preise ließ ein Phänomen entstehen, das die deutschen Verbraucher nur noch aus ferner Erinnerung kannten. Der Kunde wurde wieder König; es prägte sich ein Käufermarkt aus.“ (L. Erhard, 1990, S.39), Karl Schiller „Wir alle wissen, dass die Freiheit der Konsumwahl, die Freiheit des Verbrauchers, zu den Grundsätzen unserer freiheitlichen Ordnung gehört. Wir wissen auch, dass diese Freiheit täglich gefährdet ist… „…In vielen Fällen muss der Staat oder der Wirtschaftsminister der Offizialverteidiger der Verbraucher sein. Und dieser Offizialverteidiger muss vor allen Dingen Bescheid wissen über seinen Mandanten. Wenn meine Mandanten die Produzenten sind, dann werde ich sehr gut orientiert …Aber vom Verbraucher kommt eigentlich die geringste Information. Ich bitte nun Sie, die AgV, uns zu informieren, genau so wie die Wirtschaft, die Produzenten und die Händler uns informieren. Das ist Ihr legitimes Recht und Ihre Pflicht, damit der Offizialverteidiger, der Staat, aktiv wird“ (Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, 1967, S.22). Meines Wissens das erste Plädoyer eines Wirtschaftsministers für evidenzbasierte Verbraucherpolitik. Die der verbraucherpolitischen Ziele im „Bericht der Bundesregierung zur Verbraucherpolitik“ von 1971 sind überraschend modern: ▬ Stärkung der Stellung des Verbrauchers am Markt durch Erhaltung und Förderung eines wirksamen Wettbewerbs in allen Wirtschaftsbereichen. ▬ Sicherung der Kaufkraft und Erhöhung der Realeinkommen aller Verbraucher. ▬ Umfassender Schutz des Verbrauchers gegen gesundheitliche Gefährdungen. ▬ Durchsetzung des Prinzips der Umweltfreundlichkeit für Produktion (Prozessqualität – H.St.) und Produkte (Produktqualität – H.St.). ▬ Bestmögliche Versorgung der Verbraucher mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. ▬ Sicherung des Angebots an wirtschaftlichen Wohnungen unter optimalen städtebaulichen Bedingungen. ▬ Wahrung der Verbraucherinteressen bei der Gütekennzeichnung und Normung. ▬ Schutz des Verbrauchers vor Irreführung, unlauteren Verkaufspraktiken und den Verbraucher unbillig benachteiligenden Vertragsbedingungen. ▬ Unterrichtung des Verbrauchers über grundlegende wirtschaftliche Zusammenhänge. ▬ Information und Beratung des Verbrauchers über aktuelles Marktgeschehen, über die Eigenschaften der Waren, über richtiges Marktverhalten und über rationelle Haushaltsführung. ▬ Stärkung und Straffung der verbraucherpolitischen Interessenvertretungen“ (Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen, 1971, S.9/10). 3 Aus heutiger Sicht fehlen ganz wichtige Themen, beispielsweise Finanzdienstleistungen, Datenschutz, Energie, Ernährung, Telekommunikation, elektronischer Handel usw. Der Vergleich von damals und heute macht indessen deutlich, dass sich der verbraucherpolitische Aufgabenkatalog und damit die Anforderungen an die Verbraucherorganisationen in exponentieller Progression erweitert haben. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition Ende der 60er bis weit in die 70er gilt als Hochkonjunktur der Verbraucherpolitik im 20. Jahrhundert. So weitblickend, offen und forschungsintensiv war keine andere Zeit. Auf diesen Boom folgte eine längere Phase der „Veralltäglichung“ (Max Weber), die aber weit über die Begrenztheiten bloßer Alltagsroutine hinausreichte. Stichworte: Ab Anfang der 1990er Jahre Auf- und Ausbau von Verbraucherorganisationen nach der deutschen Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern. Auf europäischer Ebene seit Anfang der 1990er Jahre maßgebliche Beteiligung am Aufbau von Verbraucherorganisationen in den Mittelund Osteuropäischen EU Beitrittsländern, Informationskampagnen im Zuge der EU Währungsintegration… (vgl. AgV, Jahresberichte, 1995 – 2001) 2. Impulse durch die Wissenschaft 2.1 Der ‚homo oeconomicus“ als Leitbild Persönlich bin ich dem „homo oeconomicus“ zum ersten Mal in Münster begegnet. In einem Hörsaal. Angekündigt durch den Dozenten für mathematische Wirtschaftstheorie erschien er in Begleitung von mindestens einem halben Dutzend Prämissen und vollführte eine atemberaubende und kurvenreiche Formelakrobatik an der Wandtafel. Aus dem Auditorium wäre übrigens keiner auf die Idee gekommen, diese Kunstfigur des Modellplatonismus für das Abbild eines realexistierenden Verbrauchers zu halten (vgl. Homann, K., Suchanek, A., 2000, s. 463). Umso mehr verwunderte es mich später, ihm in verbraucherpolitischen Papieren wiederzubegegnen. Wer ihn dahin gebracht hat, weiß ich nicht. Vielleicht eine petitio principii, vulgo Steilvorlage für die Behavioral Economics, die dann mit großem Aufwand beweisen konnte, dass es diese Kopfgeburt in der Realität tatsächlich überhaupt nicht gibt. Dagegen galt das Leitbild der Konsumentensouveränität lange als paradigmatische Stütze des Leitbilddiskurses in der Verbraucherpolitik. Der Begriff selbst, 1920 vom englischen Ökonomen William Hutt geprägt, verbindet die selbstbestimmte Wahl- und Handlungsfreiheit der Verbraucher im Marktgeschehen mit dem Souveränitätspostulat der Demokratie (Kroeber-Riel, W. u.a., 2009, S. 683). Der von Scherhorn favorisierte „mündige Verbraucher“, ein normatives, kein deskriptives Leitbild (Scherhorn, G., 1973, S. 7), ist der informierte, aufgeklärte und verantwortungsbewusste Bürger als bewegliche Zielfigur der Zukunft. Im Verbraucherpolitischen Bericht der Bundesregierung von 2008 wird er noch an prominenter Stelle (BMELV, 2008, S. 4) erwähnt. Vier Jahre später hat er offenbar seinen Geist aufgegeben, im Bericht 2012 sucht man ihn vergebens. Brauchen wir ein neues Leitbild zur ideellen Überwölbung des Pragmatismus? 4 2.2 Programmatische Verbraucherpolitik (vgl. Mitropoulos,S.,1997, S. 29) Scherhorn betont die wirtschaftlich unterlegene Stellung der Verbraucher als Großgruppe gegenüber den Anbietern. Dieses Machtungleichgewicht führt – in Anlehnung an J.K. Galbraith Idee der ‚countervailing power’ – zur Forderung nach Machtausgleich. Der Staat müsse dem Konsumenten als schwächerem Marktteilnehmer bei der Gegenmachtbildung (Scherhorn, 1975, 129) Hilfestellung leisten. Die Möglichkeit einer wirksamen Selbsthilfe der Konsumenten wird aufgrund ihrer schwachen Position und ihrer geringen Organisationsfähigkeit bezweifelt.“ Hinzukommt noch – wie Anke Martiny (Martiny, A., 1977, S. 160 ff.) hervorhob – die unzureichende Konfliktfähigkeit von Verbraucherorganisationen der Marktgegenseite mit Sanktionen zu drohen. Eine mobilisierungsfähige Mitgliederbasis und eine finanzielle Unabhängigkeit vom Staat wären Voraussetzungen für diese Konfliktfähigkeit. Der Staat wird also allenthalben zum wichtigsten Akteur der Verbraucherpolitik ernannt. Seine Aufgaben sind: Stärkere Kontrolle des Anbieterverhaltens durch Verbraucherschutzbehörden; Einrichtung von staatlichen Verbraucherinstituten, finanzielle Unterstützung von Verbänden. [Unter der sozial-liberalen Bundesregierung von 1969-1982 (Karl Schiller) findet die Forderung nach Gegenmachtbildung und Verbraucherorganisation tatsächlich Eingang in die meisten programmatischen Stellungnahmen öffentlicher Stellen, Verbände und politischer Parteien.] 3.3 Partizipatorische Verbraucherpolitik (vgl. Mitropoulos, 1997, S.52) Etwa zeitgleich zu Scherhorn entstand in den 70er Jahren eine Konzeption, die wegen ihrer zentralen Forderung nach Mitwirkung der Verbraucher bei den Investitions- und Produktionsentscheidungen der Unternehmen als ex-ante Verbraucherpolitik bezeichnet wurde. Kopf dieser Richtung war Prof. Biervert (Biervert,B. u.a., 1997). Die Vertreter dieser Schule sahen ihre Aufgabe weniger darin, ein fertiges verbraucherpolitisches Zielsystem aufzustellen. Ihr besonderes Interesse galt vielmehr der Frage der Zielfindung und ihrer Legitimierung. Einen elitären Charakter erhält die Verbraucherpolitik nach dieser Auffassung dadurch, dass Ziele und Maßnahmen ohne direkte Mitwirkung der betroffenen Verbraucher bestimmt werden. Ein Zeitschriftenartikel von damals titelte „Schattenboxen der Funktionäre“. Dem abzuhelfen versprach die partizipatorische Verbraucherpolitik. 3.4 Qualitativer Konsum Mitte der 1980er Jahre, also 12 Jahre vor dem Erdgipfel in Rio 1992 haben die Verbraucherorganisationen mit dem Konzept des „Qualitativen Konsums“ (in Anlehnung an das qualitative Wachstum) einen Wechsel verbraucherpolitischer Paradigmen vollzogen (AgV, 1983). Es wurde dabei zwischen „umweltbewusstem Konsumverhalten“ und dem Aufgabenfeld „sozialökologische Folgen des Konsums“ unterschieden. Auf der internen Umsetzungsebene hieß das: Allokation der Energieberatung bei den Verbraucherorganisationen; Allokation der Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Stiftung Warentest, Allokation der Umweltberatung bei der AgV und den VZ, Integration ökologischer Themen in die Aufgaben der Stiftung Verbraucherinstitut. Diese Entwicklung wurde die Basis für Projekte im Kontext der Nachhaltigkeit und Überlegungen zu einem neuen Wohlstandsmodell. 5 Das Motto des 40jährigen Bestehens der AgV 1993 hieß „Besser leben der Zukunft wegen“. Wie das Motto des 60jährigen Geburtstags 2013 heißen wird? Ich weiß es nicht. 4. Evidenzbasierte Verbraucherpolitik. Vor etwa 10 Jahren wurde in der EU Verbraucherpolitik der Begriff „evidenzbasierte Verbraucherpolitik“ benutzt, um deutlich zu machen, dass man den Konsumenten mit beschränkter Rationalität und emotionalen Verhaltensweisen zu verstehen suchen sollte. Zum Zielbereich II des Verbraucherprogramms 2014-2020 gehört wie auch schon vorher die Schaffung einer Daten- und Informationsgrundlage für die Politikgestaltung in Bereichen, die Verbraucher betreffen (EU-KOM, 2011, S. 26), um Evidenz zu erzeugen. Stichworte: Monitoring, Verbraucherbarometer. Auch wenn der Begriff „Evidenzbasierte Verbraucherpolitik“ eher neu ist, die Aufgabe dem Verbraucherverhalten empirisch auf die Schliche zu kommen, gehört von Beginn an zu den Kernaufgaben einer pragmatischen Verbraucherarbeit. [ Ludwig Erhard, in dessen Amtszeit die Gründung der Stiftung Warentest fiel, war vor seiner politischen Nachkriegskarriere erster Geschäftsführer der von Wilhelm Vershofen gegründeten Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg] 1965 gründet die AgV das Institut für angewandte Verbraucherforschung, das mit der Durchführung von Untersuchungen, mit der Initiierung von Forschungsvorhaben, mit der Erarbeitung von Grundlagenmaterial für die verbraucherpolitische Diskussion beauftragt wird. Später werden Preisvergleiche erstellt und ein Informationssystems für die Verbraucherberatung u.a.m. [ Evidenz ist Evidenz, aber auch sie kann zu Fehlschlüssen führen. Dem Erfolg des Buches „Shopping for a better World“ in den USA auf den Spuren führte das Institut für Markt Umwelt Gesellschaft imug eine repräsentative Verbraucherbefragung durch, deren Ergebnisse belegten, dass Konsumenten tatsächliche und differenzierte Informationsinteressen gegenüber solchen Bereichen der Unternehmenspolitik hätten wie Schaffung von Arbeitsplätzen, Schutz von Verbraucherrechten, sparsamer Umgang mit Energie und Rohstoffen usw. Die mit hohem Rechercheaufwand publizierten „Ratgeber für den verantwortlichen Einkauf“, 1995 Die Lebensmittelbranche, 1997 Kosmetik, Körperpflege und Waschmittel und als Rowohlt Taschenbuch lieferten zwar die verlangten Informationen, scheiterten aber an geringen Verkaufszahlen.] Wahrscheinlich wurde der Siegeszug der evidenzbasierten Verbraucherpolitik auch durch einige Voraburteile des EuGH angestoßen. Er verlangte bei Streitigkeiten über die Verkehrsauffassung (zum Beispiel über die Verkehrsauffassung von „6-Korn-Ei“ und „Lifting Creme“) entweder eine Verbraucherbefragung oder ein Sachverständigen-Gutachten zum Nachweis der Evidenz. Ohne diese gehe der EuGH davon aus, wie ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher diese Angaben verstehen würde. Das war wohl eher als salvatorische Klausel denn als Verkündung eines neuen Leitbildes gedacht. Auf jeden Fall ist eine weltanschaulich neutrale Evidenz zweifelsohne der Kernbegriff einer pragmatischen Verbraucherpolitik. 6 5. Reform 2000 Im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums legte das ifo Institut in München 1996 ein Gutachten unter dem Titel „Finanzierung der Verbraucherorganisationen …“ (ifo, 1996) vor. Ungünstige Ausgangslage für Selbstfinanzierung: „ - Das Fehlen einer größeren Mitgliederorganisation, die verschiedene verbraucherpolitische Aufgaben in sich vereinen könnte und damit die Voraussetzungen für eine längerfristige Mitgliederbindung aufweist. - Die institutionelle Trennung zwischen einzelwirtschaftlich vergleichsweise lukrativen Aufgaben, wie der Verbraucherinformation (Stiftung Warentest), und vergleichsweise nicht lukrativen Aufgaben, wie der verbraucherpolitischen Interessenvertretung (AgV), dem rechtlichen Verbraucherschutz (VSV) und der Verbraucherbildung (Stiftung Verbraucherinstitut). - Die unter föderalen Gesichtspunkten getroffene Unterscheidung zwischen Organisationen auf Bundes- und Landesebene, wobei die Verbraucherzentralen alle der oben genannten Teilfunktionen auf Länderebene übernehmen. - Das wegen der Autonomie der Verbraucherzentralen Nichtvorhandensein eines ‚echten’ Dachverbandes mit zentralen Steuerungsfunktionen und Koordinierungskompetenzen. - Die sich aus der hohen Abhängigkeit von öffentlichen Zuwendungen ergebende enge Bindung an das öffentliche Haushaltsrecht, die im Hinblick auf die Erschließung alternativer Einnahmeinstrumente als kontraproduktiv bewertet wird.“ (ifo, 1996, S.252) Am Ende benennt das ifo Gutachten als Lösungsweg:, „ Gesamtreform des Systems von Verbraucherorganisationen und seiner Rahmenbedingungen unter dem Gesichtspunkt der Eigenfinanzierung inklusive einer Neubestimmung der Organisation und Arbeitsteilung privater Verbraucherorganisationen und einer veränderten Arbeitsteilung zwischen staatlichen und privaten Verbraucherorganisationen“ (ibid. 260). Auf der Basis dieses Gutachten wurde in den Folgejahren die größte Strukturreform in der Geschichte der Verbraucherorganisationen auf den Weg und mit der Gründung des vzbv und der Verschmelzung von AgV, VSV und VI im Herbst 2000 und Frühjahr 2001 zum guten Ende gebracht. Dass aus dem Spardiktat eine Sternstunde der deutschen Verbraucherpolitik hervorging, resultierte weder nur aus klugen Abwehrkämpfen der AgV noch aus dem staatsmännischen Weitblick des Ministeriums. Es resultierte aber auch nicht aus neuen Erkenntnissen der Wissenschaft oder neuen Einsichten in die Lebenslagen der Verbraucher. Nichts von dem! Was die Revolution in Gang brachte war die Entdeckung des ersten BSE Rindes auf deutschem Boden Mitte November 2000. 7 Innerhalb von nicht mal zwei Monaten traten zwei Minister zurück. Im Januar 2001 wurde Frau Künast Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Die AgV – noch war sie die verbraucherpolitische Speerspitze – mit Edda Müller als Geschäftsführerin, stellte bei unserer Pressekonferenz bei der Grünen Woche Forderungen auf, die uns auf Augenhöhe mit der Bundespolitik katapultierten. Dazu gehörte ► Einsetzung eines Bundestagsausschusses für Verbraucherfragen… ► Aufnahme eines suspensiven Vetorechts des ‚Verbraucherschutzministeriums’ im Kabinett in die Geschäftsordnung der Bundesregierung…sowie ein Inititiativrecht bei Angelegenheiten anderer Ressorts… ► Regelmäßige Konferenzen der Verbraucherschutzminister der Länder ► Deutliche Erhöhung der Zuwendungen ► Schaffung eines Verbraucherfonds in Höhe von 1% der Ausgaben der deutschen Wirtschaft für Werbung“ (AgV, 2001, S.7) Thesen 1. Immer neue Unübersichtlichkeit (Habermas) und Undurchschaubarkeit Die fortschreitende Produktvielfalt, das Wachsen des Dienstleistungssektors, die komplexen Ansprüche der kombinierten Produkt- und Prozessqualitäten im globalen Kontext, die in immer kürzen Abständen auftretenden Skandale im Lebensmittel- und Finanzdienstleistungsbereich (um nur zwei Beispiele zu erwähnen) brechen in die Lebenswelt der Verbraucher ein. Oft sind die Risiken nur aus der Systemperspektive greifbar, lassen aber bei den Verbraucherbürgern das Gefühl der Überforderung und der Ohnmacht entstehen, weil sie sich unmittelbar davon betroffen fühlen. Die den Verbrauchern zugemutete Komplexität und Verunsicherung müssen durch die Verbraucherorganisationen auf nachvollziehbare und handlungsrelevante Alltagsinformationen kleingearbeitet werden. Um diese Aufgabe zu bewältigen, müssen die Verbraucherorganisationen auf Bundes- und Länderebene mit zusätzlichen Finanzmitteln ausgestattet werden. 2. Durch die Strukturrefom 2000 sind die Rationalisierungsreserven der Organisationsreformen ausgeschöpft. Mit der Verschmelzung der alten Verbraucherorganisationen mit dem neu gegründeten vzbv sind auf der Makro-Ebene wesentliche Forderungen nach Professionalisierung, Realisierung von Synergieeffekten, höhere Produktivität, effiziente Führungsstruktur, flachere Hierarchien und Schaffung interner Funktionsbedingungen für eine schlagkräftige moderne Verbraucherorganisation erfüllt worden. Heute und morgen notwendige Reformen in den Verbraucherzentralen sollten daher im Sinne der vereinsrechtlichen Autonomie primär von der Führungsebene eingeleitet und nicht von außen oktroyiert werden. 8 3. Ausbau der Partizipationsmöglichkeiten der Verbraucher Mit dem Internet Portal Lebensmittelklarheit.de haben BMELV und vzbv einen Weg beschritten, der neue Transparenz-, Interaktions- und Partizipationsmöglichkeiten für die Verbraucher draußen im Markt oder zu Hause eröffnet. Den Verbraucherorganisationen könnten sich durch Beobachtung und Beteiligung an den Foren der sogenannten „Liquiden, netzbasierten Demokratie“ neue Formen der Mitwirkung und Mobilisierung von Verbrauchern auf der nächsten Evolutionsstufe der Netzaktivisten erschließen. 4. Kein Finanzierungsmix mit Unternehmensgeld Keine Gefährdung der Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der Verbraucherorganisationen durch Direktzahlungen von privaten und öffentlichen Unternehmen. Quellen: Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, 0.J. (1967), Woche des Verbrauchers und der Hausfrau – Ein zusammenfassender Bericht, 1967, Bonn AgV, o.J. (1978), 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher, Bonn AgV (Hrsg.), 1983, Qualitatives Wachstum, qualitativer Konsum und die Perspektiven der Verbraucherpolitik (Kuby, E.), in: Schriftenreihe der Verbraucherverbände H. 16, Bonn AgV, 1994 – 2001, Jahresberichte AgV, 2001, Verbraucherpolitische Korrespondenz Nr.2, Biervert, B., Winkelmann, W.F., Rock, R., 1977, Grundlagen der Verbraucherpolitik, Reinbek bei Hamburg BMELV, 2012, prognos „Gutachten zur Lage der Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland“, Berlin Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen, 1971, Bericht der Bundesregierung zur Verbraucherpolitik, Bonn Erhard, L., 1990 (Urfassung 1957), Wohlstand für Alle, Düsseldorf EU-Kommission, 2011, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Verbraucherprogramm 2014-2020, Brüssel Homann,K., Suchanek, A., 2000, Ökonomik – Eine Einführung, Tübingen 9 Ifo Institut für Wirtschaftsforschung, 1996, Finanzierung der Verbraucherorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland – Gibt es Alternativen zum bestehenden System? (im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft), München Kroeber-Riel, W., Weinberg, P.; Gröppel-Klein, A., 2009, Konsumentenverhalten, München, 9. Aufl. Mitropoulos, S., 1997, Verbraucherpolitik in der Marktwirtschaft, Berlin Scherhorn, G., 1973, Gesucht: der mündige Verbraucher, Düsseldorf Scherhorn, G., 1975, Verbraucherinteresse und Verbraucherpolitik, Göttingen Universität Köln, 1998, Akademische Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Professor Dr. Dr.h.c. Gerhard Weisser, S.15 (Rede Prof. Dr. W. Engelhardt)