Hypoglykämie Das nächtliche Schreckensgespenst
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Hypoglykämie Das nächtliche Schreckensgespenst
Medizinische Universitäts-Kinderklinik Prof. Dr. med. Primus E. Mullis Abteilungsleiter Pädiatrische Endokrinologie / Diabetologie & Stoffwechsel CH 3010 Bern Hypoglykämie Das nächtliche Schreckensgespenst Jede/r Diabetiker/In, seine Angehörigen und Freunde (sollten!) wissen, was ein „Hypo“ ist. Leichte Hypoglykämien Grad I merkt der Diabetiker selbst und kann sie mit Orangensaft und Traubenzucker behandeln. Grad I Hypoglykämien sind bei guter Diabeteseinstellung unvermeidbar, sollten jedoch sicher das Alltagsleben nicht beeintächtigen und müssen durch Insulindosisanpassungen möglichst vermieden werden. Bei Grad II Hypoglykämien ist der Diabetiker selber zwar nicht bewusstlos, aber verwirrt und bei der Zuckerzufuhr auf fremde Hilfe angewiesen, und bei Grad III Hypoglykämien zeigt sich Bewusstlosigkeit mit evtl. Krämpfen (Grad III+). Grad II und III Hypoglykämien kommen zwar viel seltener vor als einfache „Hypos“, hinterlassen aber häufig tiefgreifende negative Erinnerungen und zwingen den Diabetiker und sein Behandlungsteam, die Situation, welche zur schweren Hypoglykämie geführt hat, zu analysieren, um eine Wiederholung zu verhindern. Wann sprechen wir von einer Hypoglykämie? (Definition) Eine Hypoglykämie oder Unterzuckerung liegt beim Gesunden vor, wenn der Blutzucker (BZ) unter 2.2 mmol/l fällt. Bei Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ I wird bereits bei BZ-Werten unter 3.0 mmol/l von einer Unterzuckerung, einem sogenannten „Hypo“ gesprochen; auch wenn keine Hyposymptome vorhanden sind. Einfache (Grad I) Hypoglykämiesymptome sind: Zittrigkeit, Schwitzen, Heisshunger, Leeregefühl, Kopfschmerzen. Hypoglykämiesymptome treten bei vielen Diabetikern bereits bei höheren BZ-Werten auf. Abhängig von der Diabeteseinstellung spürt der Diabetiker seine „Hypos“ bei BZWerten unter 3 mmol/l (gute Diabeteseinstellung) oder bereits bei BZ-Werten um 4 mmol/l (schlechte Einstellung). Ausserdem ist das „Hypogefühl“ abhängig davon, wie schnell der BZ fällt, d. h. ein tiefer BZ-Wert wird nach reaschem BZ-Abfall vom Diabetiker als schwereres „Hypo“ wahrgenommen als bei langsamem Abfall. 1 Ausserdem gibt es nicht weniger Diabetiker, welche ihre Unterzuckerung nicht spüren, d. h. sie zeigen asymptomatische Hypoglykämien. Diese kommen vorwiegend in der Nacht vor und sind im schlafenden Zustand sehr gefürchtet, da die Patienten vom schlafenden Zustand unbemerkt von einem leichten in ein schwerergradiges „Hypo“ mit Bewusstlosigkeit fallen können, wenn ihnen kein Zucker zugeführt wird. Sind nächtliche Hypoglykämien häufig? (Studienresultate und eigene Erfahrungen) In einer Studie aus Paris (1) konnte man bei knapp der Hälfte (47 %) von insgesamt 150 insulinpflichtigen Kindern nächtliche Hypoglykämien nachweisen. 49 % zeigten dabei asymptomatische Hypoglykämien. Diese Kinder standen unter einer 2Spritzen-Therapie und einer altersentsprechenden Diabetesdiät. Die Kontrolle der Diabeteseinstellung wurde mittels Blutzuckermessungen vor den Mahlzeiten vorgenommen. In der Studie zeigten sich als Risikofaktoren für nächtliche Hypoglykämien: ! mindestens 2 vorausgehende schwere nächtliche Hypoglykämien seit Diagnosestellung ! Insulinbedarf über 0,85 E/kg pro Tag ! mehr als 5 % aller gemessenen BZ-Werte lagen unter 3.3 mmol/l im vergangen Monat ! tiefe BZ-Werte vor dem Abendessen (unter 5.2 mmol/l), vor der Nachtruhe (unter 6.7 mmol/l) und vor dem Frühstück (unter 6.7 mmol/l) ! gute Diabeteskontrolle: Das heisst, dass vereinzelte leichte Hypoglykämien bei gut eingestelltem Diabetes „normal“ sind Das Risiko für asymptomatische, nächtliche Hypoglykämien verminderte sich deutlich mit zunehmendem Alter! Im klinischen Alltag machen wir ähnliche Erfahrungen: Jüngere Diabetiker zeigen häufiger nächtliche Hypoglykämien ohne Symptome; meist aber auch ohne Verschlimmerung bis zu einem schweren „Hypo“ mit Krampfanfall (= Bewusstlosigkeit mit Zuckungen an Armen und Beinen, evtl. Schreien, Schaum vor dem Mund und Urin- und Stuhlabgang). Solche asymptomatischen, nächtlichen Hypoglykämien sollten vermutet und mittels nächtlicher BZ-Messung gesucht werden, wenn der Diabetiker: ! nachts schlecht träumt ! im Schlaf stark schwitzt ! morgens Kopfschmerzen hat ! morgens schlecht gelaunt aufsteht (Morgenmuffel) ! morgens Ketone aber keinen / oder nur wenig Zucker im Urin hat Schwere nächtliche Hypoglykämien beobachten wir häufiger bei Diabetikern, die ! vorausgehende, leichte „Hypos“ nicht ernstgenommen und entsprechend der „Hypo“regel die Insulindosis nicht reduziert haben ! ihre Diät nicht einhalten 2 ! ! ! nach speziellen körperlichen Dauerleistungen tagsüber zur Nacht die geplante Insulindosis nicht reduzieren oder entsprechend mehr Kohlenhydratwerte zu sich nehmen Alkohol (oder andere Drogen) konsumiert haben insgesamt in schwierigen Zeiten wie z. B. der Pubertät ihren Diabetes nicht mehr im Griff haben, sowohl was Diät als auch die Insulintherapie angeht Empfehlung zu Vermeindung von nächtlichen Hypoglykämien 1. Neben den BZ-Messungen vor den Hauptmahlzeiten ist die BZ-Messung vor der Nachtruhe sehr wichtig! Zielbereich um 7 mmol/l! Falls zu tief, zusätzlichen Brotwert zum Spätimbiss (gilt v. a. für 2- und 3-Spritzenschema mit Insulatard ® / Huminsulin Basal®)! 2. Den gewohnten Wert vor Bettruhe auch bei zu hohem BZ-Wert vor der Nachtruhe einnehmen! 3. Eine nächtliche BZ-Kontrolle um 03’00 Uhr ist zu erwägen nach Erhöhung der Insulindosis am Abend resp. bei Spätimbiss 4. Tiefe BZ-Werte morgens (unter 4 mmol/l), aber auch zu hohe BZ-Wert (über 8 mmol/l) nach dem Aufstehen (Gegenregulation!) sind für nächtliche Hypoglykämien verdächtig und erfordern BZ-Messungen in der folgenden Nacht um 03’00 Uhr und/oder eine Insulindosisanpassung am Abend! 5. Bei einer Hypoglykämie nach dem Abendessen, bei starker körperlicher Aktivität tagsüber (Ski-, Wandertag, etc.) oder bei Krankheit (Grippe etc.) empfiehlt sich eine nächtliche BZ-Kontrolle 6. Generell empfehlen wir 1 bis 2x pro Monat eine nächtliche BZ-Messung 7. Gabe von rasch wirkendem Insulin (Actrapid® / Humalog® / Novorapid®) vor dem Schlafen gehen nur bei anschliessender Kontrolle um 03’00 Uhr! 8. Verzögerungsinsuline (Insulatard®) müssen allenfalls (nach Rücksprache mit dem Arzt) vor die Nachtruhe verschoben werden. Ihre volle Wirkung wird damit auf die 2. Nachhälfte verschoben, was im Einzelfall hilft, Hypoglykämien um 03’00 Uhr zu verhindern (Wechsel von 2- auf 3-Spritzen-Therapie). Hypoglykämien in den sehr frühen Morgenstunden (nach 3 bis 4 Uhr) treten seltener auf, da die Gegenregulationshormone des Insulins (Wachstumshormon, Sexualhormon) in der 2. Nachhälfte sehr aktive sind und die Wirkung des Insulins drosseln. 9. Manchmal ist nach Rücksprache mit dem Arzt ein Wechsel des Insulins notwendig. Verschiedene Insulin haben unterschiedliche Wirkprofile (z. B. Wechsel von Insulatard® auf Semilente® oder Lantus®). 10. Das Vermeiden von Hypoglykämien durch eine generell höhere Einstellung der BZ-Werte geht auf Kosten einer guten Diabetes-Langzeiteinstellung und ist deshalb nicht empfehlenswert. Zielbereich des HbA1c bleibt < 7,7 %! 11. Die Notfalltherapie einer Hypoglykämie (Gabe von Orangensaft, Zucker oder sogar Glukagon je nach Hypoglykämiegrad) muss gut bekannt sein. Merke: Meist wird ein erkanntes „Hypo“ übertherapiert, woraus ein hoher BZ am Morgen resultiert und damit eine schlechtere Langzeiteinstellung. 3 12. Eine gute Diabeteseinstellung erfordert eine gute Diätdisziplin und eine flexible Insulintherapie mit täglichen Insulinanpassungen gemäss 2-Tages-Sofort- und Hyporegeln. So lassen sich die meisten Hypoglykämien (im schlimmsten Fall mit Bewusstlosigkeit und Krämpfen) vermeiden. Ebenso wird auch das Risiko für Spätkomplikationen an Augen, Nieren, Nervensystem und HerzKreislaufsystem wesentlich verringert. Nun wünschen wir Ihnen / Dir eine geruhsame Nacht! Quelle: (1) Beregszaszi M et al (1997) Nocturnal hypglycemia in children and adolesdents with insulin-dependent diabetes mellitus: Prevalence and risk factors. J. Pedaitr. 131: 27-33, Hanas R. (1998) Insulin-dependent diabetes in children, adolescents and adults. Piara HB Uddevalla, Sweden 2004 Dr. Meinhardt / Dr. Flück / Prof. Mullis Mkb Hyp 4