Reuters_Deutsche Luftwaffe probt in Lettland für den Ernstfall
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Reuters_Deutsche Luftwaffe probt in Lettland für den Ernstfall
Deutsche Luftwaffe probt in Lettland für den Ernstfall Lielvarde, 06. Sep (Reuters) - Recht unspektakulär wirken die fünf schlanken Antennenmasten, die auf einer Waldlichtung im lettischen Lielvarde ein paar Dutzend Meter in die Höhe ragen. Eine noch aus Sowjetzeiten stammende holprige Rollbahn verbindet die Funkstellung mit dem Rest von Lettlands einzigem Luftwaffen-Stützpunkt, der sich ein paar hundert Meter weiter um ein modernes Towergebäude und die Startbahn gruppiert. Die Antennen sind nur ausnahmsweise hier - sie gehören zum verlegbaren Gefechtsstand der deutschen Luftwaffe, die mit rund 80 Soldaten und 400 Tonnen Material für eine Übung in Lielvarde Quartier bezogen hat. Käme es zu einem Angriff aus der Luft, könnten die deutschen Experten aus ihren olivgrünen Containern heraus Nato-Kampfpiloten zu feindlichen Zielen lenken, sie in ihren Cockpits mit einem Lagebild über die Bewegungen gegnerischer Flugzeuge versorgen oder die Daten Einheiten mit Patriot-Flugabwehrraketen zukommen lassen. Die Informationen liefert ein Radar, das die Bundeswehr in Cistigi, nur zwei Kilometer vor der russischen Grenze, aufgebaut hat. Der Einsatz der Luftwaffe in Lettland ist Teil der Abschreckungsmaßnahmen der Nato an ihrer Ostflanke, die das Bündnis nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland beschloss. "Persistent Presence" heißt das im Jargon der Militärallianz, eine je nach Übersetzung "dauerhafte" oder auch "hartnäckige Präsenz", die die Solidarität des Westens mit den Partnern im Osten demonstrieren soll. Der ehemalige Frontstaat Deutschland ist dabei nach den USA am stärksten engagiert. Zugleich macht die Nato damit ein Versprechen wahr, das sie den Balten bei ihrem Beitritt gegeben hatte: Dass das Bündnis im Falle eines Angriffs die Luftverteidigung der Länder übernimmt, die über keine eigenen Kampfjets verfügen. Tatsächlich gelten die drei kleinen Baltenstaaten als diejenigen Nato-Partner in Osteuropa, die am verwundbarsten für eine russische Attacke wären. Estland, Lettland und Litauen haben alle direkte Grenzen entweder zu Russland oder zu der russischen Exklave Kaliningrad. In Lettland und Estland leben zudem große russische Minderheiten, die jeweils über 25 Prozent der Bevölkerung stellen. Dies macht die Länder nach Einschätzung von Experten noch verletzlicher, denn kaum jemand erwartet im Falle einer Krise eine große russische Militäroffensive: Die gängigen Szenarien gehen vielmehr von einem Versuch hybrider Kriegführung ähnlich wie in der Ukraine aus, der mit einem von Moskau unterstützten Aufstand der russischen Volksgruppe im Baltikum beginnen könnte. Lettland hat Militärhaushalt fast verdoppelt Entsprechend energisch treiben die Letten seit der Annexion der Krim 2014 die Aufrüstung ihres kleinen Landes voran. "Als Konsequenz der russischen Intervention in der Ukraine hat sich unser Militärhaushalt in den vergangenen zwei Jahren fast verdoppelt", sagt der Generalinspekteur der lettischen Armee, Raimonds Graube, bei einem Treffen mit dem Chef der deutschen Luftwaffe, General Karl Müllner, in Lielvarde. 2018 werde der Etat zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes umfassen und damit die Zielmarke der Nato erreichen, was bislang nur wenigen anderen Bündnisstaaten wie den USA und Großbritannien gelingt. Auch der Stützpunkt in Lielvarde wird derzeit ausgebaut, damit die Nato über ihn im Notfall möglichst schnell Verstärkung ins Land bringen kann. Ein paar hundert Kilometer weiter östlich hat das deutsche Radar in Cistigi mit seinen gut 350 Kilometern Reichweite derweil beste Sicht auf das Flugfeld im russischen Ostrow und damit einen der Militärstützpunkte, die dem lettischen General besonderes Kopfzerbrechen bereiten. Auch die Transport- und Tankflugzeuge im Luftraum über der russischen Basis Pskow kann das Radar beobachten. Die Erkenntnisse über den Betrieb auf den beiden Militärflughäfen nehmen die deutschen Soldaten, die mit ihrem verlegbaren Gefechtsstand erstmals im Osten des Bündnisgebiets stationiert sind, als Beifang ihrer Übung mit. Die Letten, deren Luftwaffe lediglich knapp 300 Soldaten und vier Rettungshubschrauber umfasst, sind froh über die Hilfe der Bundeswehr. "Ich will nicht von einer Bedrohung sprechen, aber die Risiken sind sehr groß", sagt Graube über die Sicherheitslage. "Unsere größte Sorge ist die Unberechenbarkeit Russlands, das in Georgien, auf der Krim und in der Ostukraine bewiesen hat, dass es - aus welchen Gründen auch immer - zum Einsatz von Gewalt bereit ist." Zudem modernisiere die Führung in Moskau das Militär und verlege frische Einheiten in die unmittelbare Nachbarschaft der Nato. "Nur 26 Kilometer von der lettischen Grenze entfernt liegt einer der modernsten Hubschrauber-Stützpunkte im Westen Russlands", sagt Graube mit Blick auf Ostrow. "Natürlich macht uns das große Sorgen, und deshalb ist es gut, dass die Deutschen zur Abschreckung hier sind und damit ein Signal der Stärke und der Einigkeit der Nato senden." "Beide Seiten werden aus ihrer Komfortzone herausgeholt" Unter normalen Umständen überwachen die Balten ihren Luftraum weitgehend selbst mit einem festen Nato-Gefechtsstand im litauischen Karmelava und 14 über die Region verteilten Radaren, dem sogenannten Balt Net, in das sich die Deutschen für die Übung mit ihrem eigenen Radar eingeklinkt haben. Von hier aus wird beispielsweise das sogenannte Air Policing gesteuert, also die Luftraumüberwachung durch Nato-Kampfjets. Sie wurde nach dem Überfall auf die Krim ebenfalls verstärkt, seit einigen Tagen sind auch wieder fünf deutsche Eurofighther im estnischen Ämari stationiert. Sollte sich die Sicherheitslage allerdings verschärfen und mehr Kriegsflugzeuge über dem Baltikum in der Luft sein, reichen die Kapazitäten in Litauen nicht aus. Dann könnte der verlegbare deutsche Gefechtsstand, einer der wenigen innerhalb der Nato, zum Einsatz kommen. Dies gilt auch für den Fall, dass der Gefechtsstand der Balten zerstört würde. Auf den Radarbildern in ihren Containern sehen die Deutschen nach den Worten von Oberst Mario Herzer, unter dessen Kommando in Deutschland auch der verlegefähige Gefechtsstand fällt, alles, "was ein bisschen Metall enthält und nicht gerade Stealth (Tarnkappentechnik) ist". Schon allein am Flugprofil können die Experten ausmachen, was sich in ihrem Luftraum tummelt: Verkehrsflugzeuge, die ihren Zielflughafen auf geradem Kurs ansteuern, Tanker, die am Himmel ihre festgelegte elliptische Bahn ziehen, um für die Kundschaft bereit zu sein, oder Kampfjets, die rasanter Höhe gewinnen als andere Maschinen. "Stimmungsmache grössere Bedrohung als direkter Angriff" Die von Juni bis Oktober dauernde Übung soll sicherstellen, dass das Zusammenspiel von Mensch, Technik und fremder Umgebung im Falle einer Krise funktioniert. "Die Übung ist gut, weil sie beide Seiten aus ihrer Komfortzone herausholt", sagt Oberstleutnant Viesturs Masulis, der amtierende Vize-Chef der lettischen Luftwaffe. "Die Deutschen waren mit dem Gefechtsstand früher zwar schon in den Niederlanden, aber da hatten sie eine prima Infrastruktur und konnten sich einfach einstöpseln." In Lettland sei dies anders. Die ersten drei Wochen hätten die Deutschen ganz schön zu kämpfen gehabt, um den Austausch der Radardaten hinzukriegen. "Für uns ist das auch gut", sagt Masulis. "Wir bekommen so Übung darin, Probleme rasch zu lösen." Auch der lettische Offizier hält einen offenen militärischen Angriff Russlands nicht für das wahrscheinlichste Szenario. "Ich sehe nicht so sehr die kinetische Bedrohung, sondern den Versuch, die Menschen durch Stimmungsmache zu beeinflussen und ihnen einzureden, ihre Länder seien gescheitert und schwach und sollten daher besser zu den alten Werten der Sowjetunion zurückkehren", sagt Masulis. Daher stärke Lettland nicht nur seine militärische Abwehr, sondern es kümmere sich parallel auch um die Abwehr hybrider Bedrohungen und härte beispielsweise seine IT-Netze gegen Angriffe. "Ich kann mich noch an das Leben zu Sowjetzeiten erinnern, dahin will wirklich niemand zurück", betont Masulis. Müllner, der Chef der 25.000 deutschen Luftwaffen-Soldaten, versteht die Verunsicherung in Lettland. "Bedrohung ist immer eine persönliche und subjektive Empfindung", sagt der General. "Je näher man an möglichen Risiken dran ist, desto mehr empfindet man sie als Bedrohung." Russland habe mit seinem Vorgehen in der Ukraine die europäische Friedensordnung verletzt. "Das führt zu einer gewissen Unsicherheit, die wir auch spüren." Autor: Sabine Siebold