Was man so alles messen kann

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Was man so alles messen kann
Forschen
Was man so alles messen kann...
Vier Beispiele aus der Forschung
4Die forensische Linguistik
versucht, in anonymen
Schreiben Hinweise auf
ihren Verfasser zu finden.
Schwerpunktthema:
Die Vermessung
der Welt
10
Imhoff hätte seine Probanden
natürlich an einen Lügendetektor anschließen können. „Doch diese Geräte
messen ja letztlich nicht die Lüge, sondern physiologische Stressreaktionen“,
betont er. Ein abgebrühter Lügner besteht einen solchen Test daher womöglich mit Bravour. Andere Menschen
bekommen schon aufgrund der bloßen
Tatsache schwitzige Hände, dass sie
an einen Lügendetektor angeschlossen wurden. Imhoff hat daher mit
einem „gefaketen“ Lügendetektortest
gearbeitet: „Wir haben unsere Probanden verkabelt, aber in Wirklichkeit
nichts gemessen. Dennoch mussten
die Teilnehmer annehmen, dass ihre
Täuschungsversuche auffallen würden.“ Dieser Ansatz nennt sich in der
Forschungsliteratur „bogus pipeline“.
Haben Sie Vorurteile gegenüber
Andererseits korrigieren wir vielSchwarzen? Verabscheuen Sie ins- leicht auch unbewusst Empfindungen,
geheim Homosexuelle? Sind Ihnen die wir selbst nicht für gut halten:
Menschen ohne Behinderungen lie- Mal angenommen, nachts kommt uns
ber als Behinderte? Wer die verbor- auf einer menschenleeren Straße ein
genen Tiefen seiner Psyche ausloten Obdachloser entgegen. Unsere Füße
möchte, sollte an den Tests des „pro- wollen uns automatisch auf die andere
ject implicit“ teilnehmen (implicit. Straßenseite führen. Doch halt, denken
harvard.edu). Denn auch, wenn die wir, das ist doch ein armer Tropf. Also
meisten Menschen die Fragen oben gehen wir weiter und werfen ihm wowohl mehr oder weniger strikt ver- möglich noch einen freundlichen Gruß
neinen würden: Die dort ermittelten zu. Hätten wir dagegen in derselben
Ergebnisse sprechen häufig eine ganz Situation gerade mit dem Handy teleandere Sprache.
foniert, hätten wir wahrscheinlich die
Straßenseite gewechselt: Uns wären
Lässt sich Lügen messen? „Nein, nicht mehr genügend kognitive Kadas geht nicht“, sagt Dr. Alexander pazitäten geblieben, um gegen diesen
Schmidt von der Abteilung für Sozial- Impuls anzukämpfen.
In Imhoffs Fall scheint er funktiund Rechtspsychologie. „Manchmal
oniert zu haben: Im „bogus pipeline“sagt unser Bauch jedoch etwas anderes Kopf oder Bauch – wer lügt?
Experiment gaben seine Probanden
als unser Kopf. Und diese Diskrepanz
viel höhere Antisemitismus-Werte zu
Psychologen sehen sich häufig mit Protokoll als unverkabelt.
kann man aufdecken.“ Das „project
implicit“ nutzt dazu eine Methode der Schwierigkeit konfrontiert, dass
namens ’Impliziter Assoziations-Test‘ ihre Probanden nicht ihre „wirklichen“ Gesucht: Anonymus
(IAT). Am Bildschirm erscheinen Einstellungen zu Protokoll geben. „Wobeispielsweise in zufälliger Folge Ge- bei sich die Frage stellt, ob der erste ImJan Seifert möchte der Lüge mit
sichter von Schwarzen oder Weißen. puls tatsächlich immer ‚wahrhaftiger’ ist anderen Methoden auf die Schliche
Dazwischen sind Begriffe wie „Lie- als das, was unser Kopf daraus macht“, kommen. Der promovierte Germanist
be“, „Bombe“, „böse“ oder „glücklich“ gibt Schmidt zu bedenken. Gerade den arbeitet gelegentlich als Gutachter:
eingestreut. Der Teilnehmer soll nun Einfluss der „sozialen Erwünschtheit“ Er „misst“ gewissermaßen die UrheGesichter und Begriffe per Tastendruck wollen Forscher jedoch meist ausblen- berschaft von Texten, die niemand
nach links oder rechts sortieren.
den. Schmidts Kollege Roland Imhoff geschrieben haben möchte. „Wobei
hat kürzlich beispielsweise eine Studie das Wort ‚messen’ eine Exaktheit sugDie meisten Menschen haben zu antisemitischen Neigungen durchge- geriert, die wir mit unseren Methoden
mit dieser Aufgabe kaum Probleme, führt. Bei einem solchen Thema, zumal nicht gewährleisten können“, relativiert
wenn sie schwarze Gesichter und in Deutschland, ist nicht auszuschließen, er. Daher wehrt sich Seifert auch gegen
negative Begriffe derselben Seite dass Teilnehmer ihre Angaben schönen. den Begriff „sprachwissenschaftlicher
zuordnen müssen. Wenn sie dagegen
schwarze Gesichter nach links sortieren sollen, Wörter wie „Bombe“ oder
„böse“ jedoch nach rechts, sind sie
langsamer und machen mehr Fehler.
Mehr als 70 Prozent aller bisherigen
Teilnehmer zeigten diese Auffälligkeit. Der Test interpretiert das als
automatische Präferenz für Weiße.
„Wenn man dieselben Personen zu
ihrer Einstellung gegenüber Schwarzen befragt hätte, hätte das Ergebnis
wahrscheinlich ganz anders ausgesehen“, vermutet Schmidt. „Wir neigen
dazu, das anzukreuzen, was sozial
erwünscht ist.“
Foto: projekt.quartett
Die Lüge. Üble Gerüche. Die Urheberschaft von Texten. Es ist
schon verblüffend, was man so alles messen kann – oder zumindest zu messen versucht. Hier einige Beispiele.
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Foto: fl
Foto: Frank Homann
Fingerabdruck“, den der Kölner Lingu- Der Privatdozent an der Landwirt- belastete Fleisch z. B. zu Kochschinken
ist Raimund Drommel in der Barschel- schaftlichen Fakultät tüftelt momen- verarbeiten, da bei der dazu vorgenomAffäre geprägt hatte.
tan an einem Sensor, der den Geruch menen Erhitzung die geruchsaktiven
männlicher Schweine messen kann.
Komponenten entweichen.
Der Kieler Ministerpräsident Uwe
Barschel war Ende der 1980er Jahre in
Vier von zehn Menschen sind Hochdruck an den Polen bringt
die Schlagzeilen geraten. Ihm wurde für Ebergeruch geruchsblind. Für die Erde auf Touren
vorgeworfen, eine Verleumdungskam- die restlichen 60 Prozent riecht das
pagne gegen seinen Herausforderer Fleisch dagegen äußerst unangeDie Technik für die „künstliche
Björn Engholm initiiert zu haben. Nach nehm – insbesondere, wenn man es Nase“ passt in einen mittelgroßen Kühldem Tode Barschels im Oktober 1987 erhitzt. Verantwortlich sind vor allem schrank. Das Messinstrument, mit dem
tauchte ein Brief auf, der angeblich aus der Fäkalgeruchsstoff Skatol sowie Dr. Axel Nothnagel arbeitet, ist ein weseiner Feder stammte. Dem Schreiben ein Verwandter des Sexualhormons nig größer – so groß wie die Erde selbst,
nach war der damalige CDU-Landes- Testosteron, das Androstenon. Männ- wenn man so will. Nothnagel ist Geodät,
vorsitzende Gerhard Stoltenberg von liche Ferkel werden daher traditionell also ein Vermessungsspezialist. Sein
Anfang an Mitwisser der Verleum- kurz nach der Geburt kastriert. Aus Maßband ist unsichtbar: Es besteht aus
dungskampagne gewesen. Im Nachhi- Tierschutzerwägungen soll das jedoch Radiowellen, die von punktförmigen
nein stellte sich der Brief als Fälschung verboten werden.
Quellen im All ausgesandt werden, den
heraus – trotz der „signifikanten Überso genannten Quasaren. Ein Netz von
einstimmungen“ zum Schreibstil BarDer Bonner Agrarwissenschaftler mehr als 70 Radioteleskopen weltweit
schels, die Drommel festgestellt haben Dr. Ernst Tholen möchte daher männ- fängt diese Wellen auf. Weil die Messwollte.
liche Schweine züchten, deren Fleisch stationen so weit voneinander entfernt
und Speck überhaupt nicht mehr stin- sind, empfangen sie das Signal ein- und
So sehr der Name „forensische ken. „Wer züchten will, braucht ein desselben Quasars mit einer geringen
Linguistik“ die Phantasie von Kri- Merkmal, dass er messen kann“, sagt zeitlichen Differenz. „Daraus können
milesern beflügeln mag – wirklich er. „Das bisherige Standardverfahren wir den Abstand zwischen den Radiote„beweisen“ kann die Disziplin nichts. ist zwar für die oben genannten Leit- leskopen berechnen“, erklärt der Privat„Inzwischen steht sie jedoch auf einer komponenten ausreichend genau, aber dozent. „Und das auf wenige Millimeter
festen empirischen Grundlage“, betont auch sehr aufwändig und teuer. Daher genau.“ Das Verfahren nennt sich VLBI –
Jan Seifert. „Daher können die Gutach- benötigen wir die künstliche Nase.“ das steht für „Very Long Baseline Inter- 5Mit einer künstlichen
ten oft auch tatsächlich wertvolle und Die Forscher wollen für die Zucht Tiere ferometry“. Damit lässt sich beispiels- Nase wollen Bonner
gewichtige Indizien zur Urheberschaft aussuchen, die möglichst wenig Skatol weise nachweisen, dass Europa und Agrarwissenschaftler
eines Textes geben.“ Es gibt verschie- und Androstenon im Körper einlagern. Nordamerika sich voneinander entfer- den Geruch von Ebern
dene Spuren, denen ein „linguistischer Sie hoffen so, die Geruchskomponen- nen: Ihr Abstand wächst jährlich um 18 messen.
Detektiv“ nachgehen kann. Auffällig ten innerhalb einiger Generationen Millimeter.
sind beispielsweise regionalspezifische deutlich zu reduzieren. An dem Projekt
5 Privatdozent
Ausdrücke. So kann der Gebrauch des sind mehrere Zuchtorganisationen beNothnagels Leib- und Magenthema Dr. Axel Nothnagel misst,
Wortes „Sonnabend“ statt „Samstag“ da- teiligt. „Ob es klappt, ist mit absoluter ist jedoch die Bestimmung der Erdrota- wie schnell sich die Erde
rauf hindeuten, dass der Autor aus Nord- Sicherheit nicht zu beantworten“, gibt tionsgeschwindigkeit. Der Blaue Planet dreht.
deutschland stammt. Andere Merk- Tholen zu. „Schließlich handelt es sich eiert nämlich ein wenig: Wenn auf der
male sind eher individuelle Vorlieben: bei Androstenon um eine hormonelle Nordhalbkugel Winter herrscht, braucht
Ob der Anonymus Kausalsätze mit Substanz mit einem wichtigen Einfluss er im Schnitt eine halbe tausendstel Se„da“ oder „weil“ beginnt, ob er „des Er- auf die Fruchtbarkeit. Wir wollen ja kunde länger für eine Umdrehung als im
folges“ schreibt oder „des Erfolgs“, ob Schweine züchten, die sich in ausrei- Sommer. „Grund ist vor allem die uner den „11. Januar“ in voller Länge aufs chendem Maße fortpflanzen können“.
terschiedliche Verteilung der LuftmasPapier bringt oder schlicht zum „11.1.“
sen“, erläutert Nothnagel. „Wandernde
kürzt oder ob er zu bestimmten chaZudem erklären Skatol und Andro- Hoch- und Tiefdruckgebiete verursarakteristischen Fehlern neigt. „Je mehr stenon den unerwünschten Ebergeruch chen Änderungen in den LuftmassenMerkmale man auswertet, desto si- nur zu 80 Prozent. „Wir beschränken verteilungen. Ein Hoch am Äquator
cherer ist das Ergebnis“, sagt Seifert. uns zunächst auf diese zwei Leitsub- wirkt dann, als würde ein Eisläufer wäh„Das gilt insbesondere, wenn man ver- stanzen; mit Sicherheit gibt es aber noch rend einer Pirouette die Arme ausbreischiedene Ebenen untersucht – also weitere Komponenten“, betont Peter ten: Die Erde wird langsamer.“
neben Rechtschreibung und Formen- Boeker. Die fertige „künstliche Nase“
bildung auch Wortschatz, Wortbil- könnte dann nicht nur bei der Zucht zur
Die Messungen der Geodäten sind
dung und Satzkomplexität einbezieht.“ Anwendung kommen, sondern auch in beispielsweise für die genaue PositiSchlachthöfen eingesetzt werden. Aller onsbestimmung per GPS wichtig. Die
Künstliche Nase soll Eber
Anstrengung zum Trotz werden manche funktioniert nämlich nur, wenn man
erschnüffeln
Tiere wahrscheinlich immer noch rie- dabei den Drehstand der Erde mit einchen. Diese ließen sich dann aber recht- kalkuliert. Ein paar unberücksichtigte Schwerpunktthema:
Dieses Prinzip – je mehr Merkmale, zeitig einer gesonderten Verwertung Millisekunden können ansonsten in
Die Vermessung
desto besser das Ergebnis – würde wohl zuführen, bevor ihr Fleisch über die La- einer stundenlangen Suche nach dem der Welt
auch Dr. Peter Boeker unterschreiben. dentheke geht. So ließe sich das geruchs- richtigen Weg resultieren. FL/forsch
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Auf der Suche nach dem Maß aller Dinge
Möglichkeiten und Grenzen der Bewertung von Forschung
Kann man forschung messen? Welche Kriterien werden angelegt?
Wo liegen die Stärken und Schwächen heutiger Bewertungssysteme? forsch hat bei Prof. Dr. Stefan hornbostel nachgefragt.
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schwerpunktthema:
Die Vermessung
der Welt
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Der Sozialwissenschaftler Ste- hört heute in der Wissenschaft zum
fan Hornbostel (Jahrgang 1955) ar- Alltagsgeschäft. Allerdings ist das
beitete nach seinem Studium an den Peer Review auch immer wieder erUniversitäten Kassel, Köln, Jena und heblicher Kritik aus der Wissenschaft
Dortmund sowie am Centrum für ausgesetzt. Dabei geht es meist um
Hochschulentwicklung (CHE). Heute mangelnde Validität und Reliabilität,
ist er Professor für Soziologie (Wissen- Urteilsverzerrung zugunsten wenig
schaftsforschung) an der Humboldt- riskanter Forschung bzw.
Universität zu Berlin und leitet das zuungunsten interInstitut für Forschungsinformation und diszipliQualitätssicherung (iFQ) in Bonn. Die- närer
se Hilfseinrichtung der Wissenschaft
wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Der Träger des
Instituts ist ein gemeinnütziger Verein,
dem auch die Universität Bonn angeAnhört. Mit Stefan Hornbostel sprach
sätze
Andreas Archut.
oder
die BeHerr Professor Hornbostel, kann
nachteiman Forschung messen?
ligung
Forschung ist nur schwer
bestimmter
zugänglich für direkte UnterGruppen.
suchungen, zudem muss man
Auch wenn die
zwischen Forschungsaktiempirischen Bevität und -qualität trennen.
funde dazu sehr
Die Qualitätsbeurteilung
ambivalent sind, hat
kann nur durch die
diese Kritik dazu beiim jeweiligen Gebiet
getragen, bibliometrische
ausgewiesenen WisVerfahren zu entwickeln.
senschaftler selbst
Die Bibliometrie – also die
erfolgen,
desAnalyse der wissenschaftlichen
halb zieht man
Publikationen – hat ihre Stärke darin,
entweder
dass sie große Mengen von Peer Urdie
teilen, die im Laufe der Publikation
und Rezeption der wissenschaftlichen
Urteile
von
ausge- Literatur anfallen, in quantitative Inwählten Wissen- dikatoren übersetzt. Auch die Biblioschaftlern als Maßstab metrie basiert zu großen Teilen auf
heran (Peer Review), oder Peer Urteilen, denn aus der eigentman nutzt die im Wissenschafts- lichen wissenschaftlichen Arbeit entsystem routinemäßig erzeugten Be- steht i.d.R. ein Aufsatz, der durch
wertungen, um an Aussagen über die Peers begutachtet wird, dann gedruckt
Aktivität und Qualität von Wissenschaft und von anderen Wissenschaftlern gezu kommen (Indikatoren). Insbesonde- lesen und schließlich in deren Publire nutzen wir dazu den Zugriff auf den kationen auch zitiert wird, wenn er für
wissenschaftlichen Kommunikations- wichtig erachtet wird. Aus den dabei
anfallenden Informationen versucht
prozess.
die Bibliometrie Aussagen über Kooperationsstrukturen,
thematische
Wie funktioniert das?
Der erste Weg über das Peer Re- Entwicklungen, vor allem aber über
view hat eine lange Tradition und ge- den Impact von Publikationen zu ma-
chen. Die Bibliometrie produziert in
diesem Sinne kein eigenes Qualitätsurteil, sondern informiert über die
Resonanz einer Publikation oder einer Arbeitsgruppe in der scientific
community.
Klingt gut. Aber ist das Messen von
Zitaten und Publikationen nicht ein
bisschen einseitig?
Natürlich
hat die Bibliometrie auch
Schwächen. Ihre
Indikatoren sind träge
und haben stets einen Vergangenheitsbezug. Die Motive
für eine Zitierung können recht
unterschiedlich sein. Auch treffen die
Indikatoren keine Aussage über die
Nutzung der wissenschaftlichen Literatur, denn sie erfassen nur Zitate in
anderen Publikationen, nicht aber die
Rezeption und eventuelle Verwendung
des Wissens in praktischen Kontexten. Hier bieten die Nutzungsanalysen
elektronisch verfügbarer Literatur, die
auch die Nichtschreiber erfassen, eine
sehr interessante Ergänzung. Auch
Strukturanalysen, die mit Algorithmen
arbeiten, wie man sie von InternetVersandhäusern kennt („Kunden, die
dieses Produkt angeschaut haben, haben auch jenes Produkt angeschaut“),
geben sehr interessante Einblicke in
die Formierung von Forschungsfeldern.
Wichtig ist aber in jedem Fall, dass die
Interpretation bibliometrischer Indikatoren ein fundiertes Wissen über
ihre Konstruktion und die Publikations- und Zitationsgepflogenheiten
der jeweiligen Disziplin voraussetzen.
Das wird angesichts der leichten Verfügbarkeit vieler Indikatoren häufig
übersehen und gilt analog auch für
andere Wissenschaftsindikatoren (z.B.
Drittmitteleinwerbungen).
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Viele Geisteswissenschaftler kritisie- Ist diese Unzugänglichkeit nicht auch hinaus zusammenzuarbeiten, sich
ren, dass die bibliometrische Bewer- ein Vorteil?
mit der Hochschulleitung abzustimtung an die Gegebenheiten in den
Solange sie folgenlos bleibt, viel- men und einen kohärenten Antrag
Naturwissenschaften angelehnt sei leicht. Derzeit gibt es aber zum zu verfassen. Dies ist eine absolut
und ihre Fachkultur nicht abbilde.
Beispiel eine heftige Debatte – ange- untypische Anforderung gewesen.
Anders als in den Naturwissen- stoßen durch die European Science Insofern kann man sagen: Der Anschaften, wo das Publizieren schon Foundation – über die Entwicklung trag bildet auch die Organisationssehr früh eine Internationalisierung einer Qualitätskategorisierung gei- fähigkeit einer Hochschule ab. Für
steswissenschaftlicher Journale. In die Gutachter war es darüber hinaus
Großbritannien, wo das zur Vertei- extrem schwierig, eine Qualitätslung der Forschungsmittel genutzte grenze zu ziehen. Das bedeutet: Nur
„Research Assessment Exercise“ der- weil ein Antrag in der Exzellenzinizeit für die Natur- und Lebenswissen- tiative nicht erfolgreich war, muss
schaften im Wesentlichen auf Indika- er noch nicht schlecht gewesen sein.
toren umgestellt wird, fürchten die Dies zeigt sich auch daran, dass viele
Geistes- und Sozialwissenschaften, abgelehnte Vorhaben anderweitig
langfristig in der „Schmuddelecke“ weiterverfolgt und umgesetzt worden
zu landen, wenn es nicht gelingt, sind.
einige für ihre Fachgebiete geeignete Messgrößen zu etablieren.
Die Messung von Forschungsleistung
ist schon weit vorangekommen, aber
Hängt der prozentual geringe An- wie sieht es mit der Messung von Exteil geisteswissenschaftlicher For- zellenz in der Lehre aus?
schung an der Förderung im Rahmen
Evaluation wurde ja zuerst in
und
der Exzellenzinitiative auch am Man- der Lehre eingeführt. Allerdings ist
auch Hie- gel von Bewertungskriterien?
das eine ganz andere Welt mit anderarchisierung
Nein, die Geisteswissenschaften ren Mechanismen. Die Messung von
der Zeitschriften er- haben vielmehr einfach einen deutlich Lehrleistung ähnelt eher der Kompefahren hat, stellt sich die kleineren Anteil an Forschungspro- tenzmessung im schulischen Bereich
Publikationslandschaft in den Gei- jekten, in denen intensiv kooperiert wie bei der PISA-Studie. Die Frage
steswissenschaften sehr viel bunter werden muss oder in großem Umfang ist hier meist, ob es gelungen ist, eiund vielfältiger dar. Auch die Quali- Forschungsinfrastruktur
benötigt nen erfolgreichen Lernprozess zu
tätskontrolle hat sich bei ihnen anders wird. In den Naturwissenschaften initiieren. Es ist schwierig, dafür Mesentwickelt. Die Fachkultur unter- findet dagegen die Wissenschaftspro- sungen zu etablieren, die über eine
scheidet sich von den Naturwissen- duktion fast ausschließlich in Teams Akzeptanzmessung bei den Studierenschaften ebenso wie die Prozesse, mit statt. Folglich waren die Geisteswis- den hinausgeht. Immerhin arbeitet die
denen Fächer und Forscher zu einer senschaften in den auf Verbundfor- OECD derzeit an einem international
Bewertung von Forschungsleistungen schung ausgerichteten Förderlinien einsetzbaren Kompetenztest für Stugelangen. Diese sind natürlich auch der Exzellenzinitiative weniger aktiv dierende.
in den Geisteswissenschaften vorhan- oder zumindest nur da, wo sie als
den, aber eben nicht so zugänglich wie Kooperationspartner anderer Diszi- Wie kommt es, dass Rankings sich so
etwa in der Physik oder den Lebens- plinen auftraten.
häufig im Ergebnis widersprechen?
wissenschaften. Die Schwierigkeit beIch habe den Eindruck, die Ergebsteht in den Geisteswissenschaften vor Kritiker der Exzellenzinitiative sagen, nisse der fachlich ernst zu nehmenden
allem in der Verfügbarkeit von Daten. dabei sei vor allem „Antragsexzel- Rankings gleichen sich immer mehr
In den Naturwissenschaften hat man lenz“ belohnt worden, also die Fähig- an. Zwar mag die einzelne Hochschuschon sehr früh damit begonnen, Da- keit, gute Anträge zu stellen.
le mal so und mal so abschneiden,
tenbanken anzulegen. Diese waren
Bei der Exzellenzinitiative ha- jedoch findet man im oberen Dritzunächst lediglich als Hilfe bei der ben die Gutachter vor allem zwei tel immer wieder dieselben Namen.
Suche nach Publikationen gedacht, Kriterien gewichtet: Die „past per- Allerdings gewichtet nicht jeder die
erst später kam man auf die Idee, da- formance“, also bereits erzielte For- Kriterien gleich. Im Idealfall stellt der
mit auch Messungen und Bewertungen schungsleistungen einerseits und die Nutzer seinen eigenen Kriterienkatadurchzuführen. In den Geisteswissen- Qualität der vorgelegten Konzepte log zusammen. Denn wer eine kleine,
schaften gibt es keine vergleichbare andererseits. Fragt man führende gemütliche Uni will, kommt für sich
Datenbasis, die etwa auch die dort Wissenschaftler, so benennen sie zu anderen Ergebnissen als jemand,
viel wichtigeren Monographien und immer zuerst die früheren Erfolge der im Studium möglichst nah an der
Sammelbände systematisch erfasst. eines Antragstellers als wichtigsten aktuellen Forschung sein will. Es geht
Die beiden großen internationalen Bewertungsmaßstab. Aber auch das also meist nicht darum, „die beste
Datenbanken Web of Science und Schreiben eines Antrags gehört na- Uni“ zu finden, sondern vielmehr „die
Scopus sind jedenfalls für eine türlich dazu! Der Antrag reflektiert beste Uni für ...“
Evaluation geisteswissenschaftlicher ja auch die Fähigkeit einer Gruppe
Fächer ungeeignet.
von Antragstellern, über Grenzen Vielen Dank für das Gespräch!
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Inseln schlagen festland neun zu eins
Weltkarten dokumentieren biologische Vielfalt
Foto: universität Bonn
Die auf den Weltmeeren gelegenen Inseln sind für den Erhalt der
globalen biologischen Vielfalt rund neun Mal so wertvoll wie ein
gleich großes Stück festland. Zu diesem Ergebnis kommen forscher der Universität Bonn und der fachhochschule Eberswalde
zusammen mit US-Kollegen in einer aktuellen Studie. hierfür
haben sie die bislang größte Datensammlung zum globalen Vorkommen von Pflanzen- und Wirbeltierarten zusammen gestellt.
Auf dieser Grundlage haben sie einen Index berechnet, der sowohl
die Anzahl der vorkommenden Arten als auch ihre Seltenheit
widerspiegelt. Die Ergebnisse liegen nun in form von Weltkarten
vor.
5Artenvielfalt und Seltenheit der Pflanzen – die
Weltkarte mit 90 Regionen
zeigt beides in einem
kombinierten Index.
Besonders wertvolle
Regionen sind demzufolge
Foto: Prof. Dr. Wilhelm Barthlott
ozeanische Inseln. Zu den
festlandregionen mit den
höchsten Werten gehören
vorrangig tropische
Gebirge und Gebiete mit
mediterranem Klima.
4Beispiel für die Bedrohung
der Biodiversität auf Inseln:
Ein fossiles Ei des Elefantenvogels, der bis vor wenigen
hundert Jahren auf Madagaskar heimisch war. Die bis
zu 3 Meter großen und 400
kg schweren Elefantenvögel
wurden nach der Besiedlung
Madagaskars durch den
Menschen ausgerottet.
schwerpunktthema:
Die Vermessung
der Welt
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Spitzenreiter im „BiodiversitätsRanking“ ist die Insel Neukaledonien. Auf einer Fläche vergleichbar mit
Rheinland-Pfalz beherbergt sie 3.270
Pflanzenarten, von denen 2.432 nur
auf dieser Insel vorkommen. Darunter ist beispielsweise Amborella, die
ursprünglichste aller lebenden Blütenpflanzen. „Karten wie unsere hatte es
bislang nur für einzelne Kontinente
gegeben“, erläutert Projektleiter Dr.
Gerold Kier von der Universität Bonn.
„Man kann damit beispielsweise unseren ‚ökologischen Fußabdruck’ berechnen oder etwa erkennen, welche
Regionen im weltweiten Vergleich
besonders wichtig für den Naturschutz
sind.“
Auch die Bedrohungen durch
menschliche Einflüsse nahmen die
Wissenschaftler unter die Lupe. Ihre
für das Jahr 2100 errechneten Szenarien lassen befürchten, dass die Tierund Pflanzenwelt auf Inseln zukünftig
deutlich stärker beeinträchtigt wird
als auf dem Festland. Grund dürfte
vor allem die Änderung der Landnutzung sein, also etwa die Ausweitung
von Ackerbauflächen und die damit
verbundenen Rodungen. Für die AusDr. Holger Kreft, Ökologe von der wirkungen des Klimawandels gilt
University of California in San Diego hingegen die gegenläufige Prognose:
und einer der beiden Leitautoren der Hier scheinen Inseln durch die pufStudie: „Inseln sind zwar schon seit fernde Wirkung der Ozeane etwas
Charles Darwin für ihre einmalige geringer bedroht zu sein – sieht man
Pflanzen- und Tierwelt bekannt. Aber einmal von den Auswirkungen des
es fehlte bislang an einer weltweiten Meeresspiegelanstiegs ab. Gerold
Analyse, die ihren Wert im Hinblick Kier mahnt zum Handeln: „Der Kliauf den Naturschutz mit Kontinenten mawandel bleibt eine der Hauptbevergleicht.“ Allerdings haben auch ei- drohungen für die biologische Vielfalt
nige Festlandgebiete bemerkenswert der Erde. Wenn wir ihn nicht deutlich
hohe Index-Werte, allen voran die als bremsen können, werden NaturKapensis bekannte Südspitze Afrikas. schutzgebiete nur noch wenig helAuch viele Gebirge, insbesondere in fen.“
den Tropen, gehören zu den aus Sicht
der biologischen Vielfalt besonders
Die weltweite biologische Vielwertvollen Regionen, gefolgt von Ge- falt ist demnach zahlreichen neuarbieten mit mediterranem Klima.
tigen Gefährdungen ausgesetzt. In
der Geschichte war es dagegen be„Wir haben jetzt neue, wichtige Da- sonders der direkte Einfluss des Menten an der Hand, aber weiterhin keine schen, der zum Aussterben von Arten
einfachen Patentrezepte für den Na- geführt hat. „Madagaskar, die zweitturschutz“, betont Kreft und ergänzt: größte Insel der Erde, ist ein beson„Insbesondere müssen wir die Frage ders dramatisches Beispiel“, erläutert
beantworten, wie sich Schutzgebiete in Professor Dr. Wilhelm Barthlott vom
ihrer Tier- und Pflanzenwelt am besten Bonner Nees-Institut für Biodiversigegenseitig ergänzen können. Auch tät der Pflanzen. „Der Elefantenvogel,
Leistungen der Ökosysteme, etwa ihre der Vogel Roc der arabischen MärFähigkeit zur Bindung des Treibhaus- chen, ist eine von zahlreichen Arten,
gases Kohlendioxid oder ihre Beiträge die hier im Laufe der letzten Jahrhunzum großräumigen Wasserhaushalt, derte ausgestorben sind.“ Bereits
sollten verstärkt berücksichtigt werden.“ 1996 hatte Barthlotts Arbeitsgruppe
Es mache übrigens keinen Sinn, Schutz- eine vielbeachtete Weltkarte der
bestrebungen jetzt einseitig auf Inseln pflanzlichen Artenvielfalt veröffentzu konzentrieren. Denn dort sei zwar licht, die in viele Lehrbücher aufgeder Studie zufolge jeder Quadratkilo- nommen wurde. Mit der nun
meter besonders wertvoll. So seien dort fertiggestellten Arbeit, die auch den
über 70.000 Pflanzenarten beheima- Aspekt der Seltenheit berücksichtigt,
tet – fast ein Viertel der weltweit rund konnten sie aber erst Jahre später be315.000 Arten. In Anbetracht der Tatsa- ginnen, als sie Förderzusagen der
che, dass Inseln weniger als vier Prozent Akademie der Wissenschaften und
der gesamten Landfläche stellen, ist dies der Literatur Mainz, des Bundesforein erheblicher Anteil. Dennoch entfie- schungsministeriums und der Willen drei Viertel aller Pflanzenarten auf helm-Lauer-Stiftung erhielten.
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das kontinentale Festland.
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Foto: Dr. Markus Braun, uni Bonn
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Messen in der Schwerelosigkeit
Biologin an der universität Bonn untersucht Pflanzenwurzeln
im schwebenden Zustand
Nicole Greuel muss sich einer Extrem-Situation aussetzen, um in ihrer
forschung weiterzukommen: Sie benötigt den schwerelosen Zustand,
um das Wachstum von Pflanzenwurzeln zu untersuchen. Dafür fliegt
die Biologin nicht ins All, sondern nimmt an Parabelflügen teil.
5Nicole Greuel genießt
ihre 22 Sekunden
Schwerelosigkeit sichtlich.
Das Forschungsflugzeug lässt sich
aus 8.000 Metern Höhe in Richtung
Erde fallen. Dabei entsteht für 22 Sekunden Schwerelosigkeit. „Diese wenigen Sekunden reichen aus, um diesen
Zustand in vollen Zügen zu genießen“,
schwärmt die Forscherin. Bevor der
Flug startet, nimmt jeder der Teilnehmer ein Medikament mit dem Wirkstoff
Scopolamin, einer Art Nervengift, zu
sich. Danach sind die Probanden entspannter und können die „Achterbahnfahrt“ besser verarbeiten. „Es kommt
nicht von ungefähr, dass unser Airbus
A 300 auch als Kotzbomber bezeichnet
wird“, schmunzelt Nicole Greuel. Der
Innenraum des Flugzeugs ist komplett
mit Turnmatten ausgelegt und erinnert
an eine Art Gummizelle. An Bord sind
meist mehrere Wissenschaftler-Teams,
die ihre Experimente der Schwerelosigkeit aussetzen.
Warum wachsen Pflanzenwurzeln rakterisieren, also den Teil in der
nach unten? Diese Frage stellt sich auch Pflanze, der die Schwerkraft wahrNicole Greuel und schreibt darüber ihre nimmt.“ Mit „uns“ meint Nicole GreuDoktorarbeit am Institut für Moleku- el ihr Team unter der Leitung von
lare Physiologie der Pflanzen. Dazu Privatdozent Dr. Markus Braun.
führt sie Experimente in einem Para- „Ohne seine Unterstützung wäre die
belflugzeug durch und setzt sich bei je- viele Arbeit gar nicht möglich gewedem Flug 31 Mal für je 22 Sekunden der sen“, erklärt die Forscherin.
Schwerelosigkeit aus. Ihre Pflanzen
könnte Nicole Greuel auch mit dem
Nicole Greuel ist schon sieben Mal
Spaceshuttle ins All schicken, dann im Parabelflugzeug mitgeflogen – entwürden sie 14 Tage lang in diesem Zu- weder vom Flughafen Köln/Bonn aus
stand verharren. „Doch der Nachteil oder vom französischen Bordeaux. Auf
daran ist, dass ich nicht mehr ins Expe- deutscher Ebene organisiert das Deutriment eingreifen könnte, wenn etwas sche Zentrum für Luft- und Raumfahrt
schief läuft“, sagt die Biologin.
die Flüge. Um daran teilzunehmen,
muss man einen Projektantrag stellen
Nicole Greuel untersucht die und seine Untersuchungen vorstellen.
Grünalge Chara. Die „Quasi-Wurzeln“ Wenn man das geschafft hat, folgen
Die Keimlinge für Nicole Greuels
dieser einzelligen Pflanze, die Rhizo- aufwändige Vorbereitungen: So muss Versuch müssen fit sein und dürfen nur
ide, sind Fortsätze des Zellkörpers. Ihr das Experimentrack, ein Regal, auf zwei bis vier Tage alt sein. Ein Teil daeinfacher Aufbau erleichtert eine ge- dem die Versuchsobjekte mit Gurten von liegt an Bord in einer Zentrifuge.
nauere Untersuchung ihrer Funktion. festgeschnallt werden, nach strengen Hier wird zur Kontrolle die normale
„Leider ist die Grünalge in ihrem Gen- Sicherheitskriterien gebaut werden. Schwerkraft durch die Zentrifugalmaterial noch nahezu unerforscht“, „Es muss 9g sicher sein, das heißt, die kraft simuliert. Nach dem Flug wird
bedauert die Biologin. „Das erschwert neunfache Erdbeschleunigung aushal- es spannend: Die Krümmungswinkel
es uns natürlich, den Rezeptor zu cha- ten“, erzählt Nicole Greuel.
der beiden Pflanzenproben werden
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Die Vermessung
der Welt
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Forschen
verglichen: Es ist kein Unterschied
Nun stellt sich die Frage, worauf Auslöser gepredigt. „Wir haben diese
feststellbar. Die Pflanze findet also der Rezeptor reagiert: auf den Druck, Aussage mit einem doch recht simplen
auch in der Schwerelosigkeit den den die Statholiten durch ihre Schwer- Experiment widerlegt“, berichtet die
Weg nach unten und wirkt nicht ori- kraft auf ihn ausüben, oder durch blo- Biologin stolz.
entierungslos. „Aber welcher Mecha- ßen Kontakt? Bei dem Experiment in
nismus ist dafür verantwortlich?“, Schwerelosigkeit hat sich herausgeIm September dieses Jahres wird
fragt sich Nicole Greuel. Für eine stellt, dass der bloße Kontakt ausreicht. Nicole Greuel an ihrem nächsten PaAntwort muss man mehr ins Detail Wie der Rezeptor eigentlich aussieht, rabelflug teilnehmen. Diesmal aber
gehen: Es gibt kleine Steinchen in bleibt aber noch völlig ungeklärt. Da nicht in eigener Sache, sondern sie beden Wurzelzellen der Pflanzen, auch die Grünalge Chara ein evolutionärer gleitet eine befreundete MedizinerStatholiten genannt. Diese aktivieren Vorgänger aller Pflanzen ist, gilt dieses Gruppe aus Berlin. Dann wird die
den Rezeptor, der das Wachstum der Prinzip wahrscheinlich allgemein. Das Doktorandin wieder das unbeschreibWurzeln ausrichtet. Bei den Rhizo- Untersuchungsergebnis ist revolutionär, liche Gefühl der Schwerelosigkeit eriden der Grünalge Chara läuft das denn in der Forschungsliteratur wird leben.
Corinna Bohn/forsch
ganz analog.
seit Jahren der Druckmechanismus als
Vom „Flickenteppich“ zur Weltkarte
Die Vermessung der Welt auf historischen Karten
Detailgenaue Satellitenatlanten, Navigationssysteme und Geodatensammlungen haben uralte Wurzeln. Von Anbeginn waren
Zwecke von Kartenwerken Wegbeschreibungen für Reisende, territoriale Herrschaft, aber auch Wissen festzuhalten. Die vielleicht
erste kartographische Darstellung stammt aus der Jungsteinzeit:
Bei Ausgrabungen entdeckte man in einem Haus in Çatal Hüyük
in der Türkei eine Wandzeichnung, die das komplette Dorf bis hin
zu den inneren Strukturen der Häuser um etwa 6200 v. Chr. zeigt.
Eine exakte und einheitliche Karte der gesamten Welt existiert
erst seit den 1990er Jahren, die „IGBP Global Land Use and Land
Cover Map“. Bis dahin gab es nur Flickenteppiche von einzelnen
Überflügen. Auch heute sind Karten manchmal von individueller
Weltsicht geprägt – denn für Australier ist Australien eben nicht
„Down Under“.
Schwerpunktthema:
Die Vermessung
der Welt
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Weltkarten mit Phantasie –
oder erstaunlich korrekt
Von kleinen Strichzeichnungen bis
zu mehrere Meter großen Darstellungen,
mit Feder und Pinsel gezeichnet, später
als Holzschnitt oder Kupferstich gestaltet, reichen historische Karten. Als „Urmutter“ großräumiger Darstellung gilt
Wichtig bei Wegekarten war im- Verwaltung ihres Herrschaftsgebiets
mer der praktische Nutzen: Sie nennen verlässliche geographische Daten. ErDistanzen und Stationen auf dem Weg staunlich präzise waren bereits die
zum Ziel, nicht aber die „Richtung“. Karten des Ptolemaios aus dem 2. Jh.“
Deshalb wurden sie häufig nur als Linien dargestellt. Kaufleute, Kuriere oder
Mathematik – Geometrie bedeutet
Wallfahrer reisten von einer Landmar- ursprünglich Erdvermessung – und
ke oder Herberge zur anderen. Auch auch die Astronomie spielten dabei
die Schifffahrt nutzte lineare Küsten- eine wichtige Rolle: So löste sich die
karten, die Portolane, denn das offene Seefahrt ab dem 13. Jahrhundert mit
Meer war riskant. Orientierungskarten Hilfe des Kompasses von der Küste, auf
des römischen Reiches waren eben- hoher See bestimmte man die Position
falls als Linien dargestellt – schließlich mit einem Winkelmessgerät, dem Asführen sowieso alle Wege nach Rom. trolabium. Wie korrekt alte Werke oft
Ähnlich arbeiten heutige Routenpla- sind, ist weniger erstaunlich, als man
ner im Internet, die nur eine Liste von vielleicht denkt. Der Geodät Thomas
Abzweigungen mit den dazwischen Kötter erläutert: „Auch heute in der Zeit
liegenden Entfernungen liefern. „Die digitaler Atlanten mit Zoomfunktion
Vorstellungen und Bedürfnisse antiker bis in kleine Einheiten und der PhotoReisender haben die Entwicklung der grammetrie entstehen Kartenwerke in
Raumwahrnehmung beeinflusst“, sagt der Regel nicht nur aus Luftbildern. Je
Dr. Michael Rathmann von der Alten nach Genauigkeitsanforderung werGeschichte, die dem Thema eine eige- den bei der terrestrischen Vermessung
ne Tagung widmete. „Außerdem benö- Strecken und Winkel mit dem Thachytigten Reiche wie das Römische für die meter ermittelt.“
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Forschen
eine Tonscheibe aus Nuzi im heutigen
Die ersten kartographischen Ausrichtung der Karte etwa hat viel
Irak. Sie stammt aus der Zeit zwischen Zeugnisse, ein Globus und eine Kar- mit der ‚Leserichtung des Raumes’ zu
2340 und 2200 v. Chr. und zeigt haupt- te, die die „Neue Welt“ als Kontinent tun. So sind zum Beispiel Stadtpläne
sächlich das Zweistromland mit seinen sehen und ihn Amerika nennen, stam- von Barcelona auch heute nicht genBergen und Flüssen. Die Ebsdorfer men übrigens von Deutschen: Martin ordet, da die Schachbrettstruktur der
Weltkarte hat einen Durchmesser von Waldseemüller erstellte sie 1507 mit Stadt parallel zur Küste von Süd-West
dreieinhalb Metern und gehört zu den Hilfe seines Partners Ringmüller. nach Nord-Ost verläuft. Diese Strukspannendsten und ungewöhnlichsten Woher die Beiden zu diesem Zeit- turen sind wichtiger zur Orientierung
Quellen wie auch die Tabula Peutinge- punkt die östliche Kontur Amerikas als die übliche Nord-Süd-Achse. Einriana aus dem 13. Jahrhundert. Sie geht kannten, ist nicht geklärt. Rein wis- zelne australische Karten sind gesüdet
auf eine spätantike Vorlage zurück, ist senschaftliches Reisen und Kartieren – denn Australien ist eben für Austrafast sieben Meter lang und stellt bei ei- begann erst später zu Zeiten Alexan- lier nicht Down Under. Oder Peking
ner Höhe von nur 38 Zentimetern die der von Humboldts – zumindest in steht in der Mitte chinesischer Karten.“
antike Welt von Spanien bis Indien in Europa. In China gilt Xu Xiake fast Mitunter wurde auch auf Maßstabsstark gestreckter beziehungsweise ge- zweihundert Jahre zuvor als erster treue verzichtet, um bestimmte wichstauchter Weise dar.
Forschungsreisender und Geograph. tige Gebäude noch auf eine Karte zu
Über ihn schreibt derzeit die Geogra- bekommen. Vielfach sind alte Werke
Die frühesten noch erhaltenen phin und Sinologin Bianca Hausherr bebildert: Tiere und Fabelwesen überKarten der bekannten Welt wurden im bei Professor Dr. Winfried Schenk, decken „blinde Flecken“, Entdecker
Mittelalter meist in Klöstern erstellt, dem Leiter der Historischen Geogra- und ihre Schiffe oder eine Region und
um Wissen zu sammeln und zu archi- phie, ihre Doktorarbeit.
ihre Bewohner sind dargestellt. Texte
vieren. Meist stellten diese „Mappae
auf Karten bezeugen die politische
Mundi“ die heilige Stadt Jerusalem Eigene Sichtweise prägt
Einschätzung der Zeit, wenn etwa
als Nabel der Welt in die Mitte, was in Kartenwerke
der Sieg über eine Stadt lobend oder
der Regel zu starken Maßstabsverzertadelnd herausgestellt wird.
rungen führt. Außerdem gehen in ih„Alte Karten erzählen sehr viel
nen oft reale Landmarken und religiöse über die Sicht ihrer Produzenten auf
Karten werden zum Politikum,
Vorstellung ineinander über. Da die die Welt und nicht so sehr darüber, wenn Länder von ihnen verschwinzeichnenden Mönche nie selbst zu den wie es zu der Zeit wirklich war“, sagt den wie lange Zeit Polen: 1795 wurbeschriebenen Orten reisten, enthalten Jan-Erik Steinkrüger von der Histo- de es bis nach dem Ersten Weltkrieg
sie naturgemäß Fehler.
rischen Geographie und erklärt: „Die zwischen Russland, Österreich und
3Die Tabula
Peutingeriana aus dem
13. Jahrhundert ist fast
sieben Meter lang, aber
nur 38 Zentimeter hoch.
Sie zeigt die antike Welt
von Spanien bis Indien
in stark gestreckter
beziehungsweise
Foto: Müller-Peutinger
gestauchter Weise.
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der Welt
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F O R SC H E N
forschenkompakt
Preußen aufgeteilt und ein zweites
Mal 1939 von Stalin und Ribbentrop
zwischen Deutschland und der Sowjetunion – die Originalkarte mit ihren Unterschriften existiert noch. Auch sagen
die Auswahl und Bezeichnung von Orten oder Regionen wie „Bombay“ und
„Mumbay“, „DDR“ und „Sowjetisch
besetzte Zone“ oder die Wahl eines
Kartenausschnittes viel über die vertretene Weltanschauung aus. Manchmal
entstehen Länder erst durch Karten. So
folgte in Afrika die Einteilung der Ethnien den kolonial eingeteilten Territorien und nicht umgekehrt. Steinkrüger
beschäftigt sich zum Beispiel gerade
mit einer ethnologischen Karte von
1940, die die vermeintliche Entstehung
der afrikanischen Völker aus Sicht der
kolonialen und nationalsozialistischen
Rassenideologie darstellt. Dabei untersucht er, wie sich die Kolonialherren
die Entstehung der Volksgruppen der
Hutu und Tutsi in Ruanda vorgestellt
haben.
Schwerpunktthema:
Die Vermessung
der Welt
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GEOPORTAL FÜR WESTAFRIKA
Wissenschaftler vom Zentrum für
Entwicklungsforschung (ZEF) haben
ein Geoportal für Westafrika konzipiert. Es enthält unter anderem hydrologische und meteorologische
Messwerte, Daten zur Landnutzung
und zu Vegetationsänderungen,
aber auch zur Bevölkerung und zum
Konsumverhalten. „Das Besondere
an unserem Portal sind vor allem die
bislang etwa 60 interaktiven Karten“, sagt der Projektverantwortliche Antonio Rogmann. „Diese
können mit den Daten so verknüpft
werden, dass man als Nutzer je nach
Bedarf auch neue Karten erstellen
kann.“
„Das Geoportal ist enorm hilfreich“,
sagt Jacqueline Zoungrana, Direktorin der nationalen Wasserbehörde in
Burkina Faso. „Jetzt haben wir eine
Basis, auf der wir weiter arbeiten
können. Wir brauchen solche Daten,
um bessere Entscheidungen beim
Management unserer Wasserressourcen treffen zu können. Wenn
wir zum Beispiel wissen, wie viel
Wasser aus einem Stausee abfließt, können wir einschätzen,
wie viel davon für Strom, Industrie und für Haushalte zur Verfügung steht. Die Wissenschaftler
liefern aber nicht nur das nötige Wissen, sondern zeigen uns
auch, wie wir dieses Projekt in
Zukunft selbständig weiterführen
können.“ Zu diesem Zweck organisieren die Forscher nun eine
Reihe von Trainings für regionale
Nutzer und Entscheidungsträger
aus Politik, Wissenschaft und
Verbänden.
Das Portal ist im Rahmen des
GLOWA Volta Projekts entstanden, das vom ZEF geleitet und
durchgeführt wird. Ziel ist es, den
Umgang mit dem knappen Gut
Wasser in Westafrika zu verbessern.
„Für uns in der Historischen Geographie ist es vor allem interessant,
ehemalige und heutige Strukturen zu
vergleichen“, sagt Steinkrüger. „Gerade in der Kulturlandschaftsforschung
und -pflege können wir oft erhaltene
wie vergangene Nutzungen von Gebieten erkennen oder mit Hilfe der Karten
wieder freilegen.“ Das ist weltweit,
aber natürlich besonders für die unmittelbare Umgebung interessant: Unter
den großmaßstäbigen Karten gab es
bereits in der frühen Neuzeit erstaunlich genaue Werke. Für die Region
Bonn besonders wichtig sind die Karten von Jean Joseph Tranchot. Er kartierte auf Befehl Napoleons zwischen
1801 und 1814 das französisch besetzte
Rheinland, seine Karte des früheren
Bonn ziert die Homepage der Historischen Geographen. Und nicht zuletzt
sind viele der alten Kupferstiche einfach schön. So hat der junge Wissenschaftler als Bildschirmschoner keinen
Palmenstrand, sondern wechselnde
Stadtkarten von Matthäus Seutter und
aus der Civitates Orbis Terrarum von
Frans Hogenberg vor Augen.
UK/forsch
4 Eine Ausstellung „Alexander von
Humboldt – Reise zum Gipfel der
Erde“ zeigt bis zum 21. August die
wichtigsten Stationen seiner Amerikareise zur Vermessung einer
neuen Welt. Siehe auch Seite 35
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