Was man so alles messen kann
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Was man so alles messen kann
Forschen Was man so alles messen kann... Vier Beispiele aus der Forschung 4Die forensische Linguistik versucht, in anonymen Schreiben Hinweise auf ihren Verfasser zu finden. Schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt 10 Imhoff hätte seine Probanden natürlich an einen Lügendetektor anschließen können. „Doch diese Geräte messen ja letztlich nicht die Lüge, sondern physiologische Stressreaktionen“, betont er. Ein abgebrühter Lügner besteht einen solchen Test daher womöglich mit Bravour. Andere Menschen bekommen schon aufgrund der bloßen Tatsache schwitzige Hände, dass sie an einen Lügendetektor angeschlossen wurden. Imhoff hat daher mit einem „gefaketen“ Lügendetektortest gearbeitet: „Wir haben unsere Probanden verkabelt, aber in Wirklichkeit nichts gemessen. Dennoch mussten die Teilnehmer annehmen, dass ihre Täuschungsversuche auffallen würden.“ Dieser Ansatz nennt sich in der Forschungsliteratur „bogus pipeline“. Haben Sie Vorurteile gegenüber Andererseits korrigieren wir vielSchwarzen? Verabscheuen Sie ins- leicht auch unbewusst Empfindungen, geheim Homosexuelle? Sind Ihnen die wir selbst nicht für gut halten: Menschen ohne Behinderungen lie- Mal angenommen, nachts kommt uns ber als Behinderte? Wer die verbor- auf einer menschenleeren Straße ein genen Tiefen seiner Psyche ausloten Obdachloser entgegen. Unsere Füße möchte, sollte an den Tests des „pro- wollen uns automatisch auf die andere ject implicit“ teilnehmen (implicit. Straßenseite führen. Doch halt, denken harvard.edu). Denn auch, wenn die wir, das ist doch ein armer Tropf. Also meisten Menschen die Fragen oben gehen wir weiter und werfen ihm wowohl mehr oder weniger strikt ver- möglich noch einen freundlichen Gruß neinen würden: Die dort ermittelten zu. Hätten wir dagegen in derselben Ergebnisse sprechen häufig eine ganz Situation gerade mit dem Handy teleandere Sprache. foniert, hätten wir wahrscheinlich die Straßenseite gewechselt: Uns wären Lässt sich Lügen messen? „Nein, nicht mehr genügend kognitive Kadas geht nicht“, sagt Dr. Alexander pazitäten geblieben, um gegen diesen Schmidt von der Abteilung für Sozial- Impuls anzukämpfen. In Imhoffs Fall scheint er funktiund Rechtspsychologie. „Manchmal oniert zu haben: Im „bogus pipeline“sagt unser Bauch jedoch etwas anderes Kopf oder Bauch – wer lügt? Experiment gaben seine Probanden als unser Kopf. Und diese Diskrepanz viel höhere Antisemitismus-Werte zu Psychologen sehen sich häufig mit Protokoll als unverkabelt. kann man aufdecken.“ Das „project implicit“ nutzt dazu eine Methode der Schwierigkeit konfrontiert, dass namens ’Impliziter Assoziations-Test‘ ihre Probanden nicht ihre „wirklichen“ Gesucht: Anonymus (IAT). Am Bildschirm erscheinen Einstellungen zu Protokoll geben. „Wobeispielsweise in zufälliger Folge Ge- bei sich die Frage stellt, ob der erste ImJan Seifert möchte der Lüge mit sichter von Schwarzen oder Weißen. puls tatsächlich immer ‚wahrhaftiger’ ist anderen Methoden auf die Schliche Dazwischen sind Begriffe wie „Lie- als das, was unser Kopf daraus macht“, kommen. Der promovierte Germanist be“, „Bombe“, „böse“ oder „glücklich“ gibt Schmidt zu bedenken. Gerade den arbeitet gelegentlich als Gutachter: eingestreut. Der Teilnehmer soll nun Einfluss der „sozialen Erwünschtheit“ Er „misst“ gewissermaßen die UrheGesichter und Begriffe per Tastendruck wollen Forscher jedoch meist ausblen- berschaft von Texten, die niemand nach links oder rechts sortieren. den. Schmidts Kollege Roland Imhoff geschrieben haben möchte. „Wobei hat kürzlich beispielsweise eine Studie das Wort ‚messen’ eine Exaktheit sugDie meisten Menschen haben zu antisemitischen Neigungen durchge- geriert, die wir mit unseren Methoden mit dieser Aufgabe kaum Probleme, führt. Bei einem solchen Thema, zumal nicht gewährleisten können“, relativiert wenn sie schwarze Gesichter und in Deutschland, ist nicht auszuschließen, er. Daher wehrt sich Seifert auch gegen negative Begriffe derselben Seite dass Teilnehmer ihre Angaben schönen. den Begriff „sprachwissenschaftlicher zuordnen müssen. Wenn sie dagegen schwarze Gesichter nach links sortieren sollen, Wörter wie „Bombe“ oder „böse“ jedoch nach rechts, sind sie langsamer und machen mehr Fehler. Mehr als 70 Prozent aller bisherigen Teilnehmer zeigten diese Auffälligkeit. Der Test interpretiert das als automatische Präferenz für Weiße. „Wenn man dieselben Personen zu ihrer Einstellung gegenüber Schwarzen befragt hätte, hätte das Ergebnis wahrscheinlich ganz anders ausgesehen“, vermutet Schmidt. „Wir neigen dazu, das anzukreuzen, was sozial erwünscht ist.“ Foto: projekt.quartett Die Lüge. Üble Gerüche. Die Urheberschaft von Texten. Es ist schon verblüffend, was man so alles messen kann – oder zumindest zu messen versucht. Hier einige Beispiele. forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 10 01.07.2009 9:58:45 Uhr Forschen Foto: fl Foto: Frank Homann Fingerabdruck“, den der Kölner Lingu- Der Privatdozent an der Landwirt- belastete Fleisch z. B. zu Kochschinken ist Raimund Drommel in der Barschel- schaftlichen Fakultät tüftelt momen- verarbeiten, da bei der dazu vorgenomAffäre geprägt hatte. tan an einem Sensor, der den Geruch menen Erhitzung die geruchsaktiven männlicher Schweine messen kann. Komponenten entweichen. Der Kieler Ministerpräsident Uwe Barschel war Ende der 1980er Jahre in Vier von zehn Menschen sind Hochdruck an den Polen bringt die Schlagzeilen geraten. Ihm wurde für Ebergeruch geruchsblind. Für die Erde auf Touren vorgeworfen, eine Verleumdungskam- die restlichen 60 Prozent riecht das pagne gegen seinen Herausforderer Fleisch dagegen äußerst unangeDie Technik für die „künstliche Björn Engholm initiiert zu haben. Nach nehm – insbesondere, wenn man es Nase“ passt in einen mittelgroßen Kühldem Tode Barschels im Oktober 1987 erhitzt. Verantwortlich sind vor allem schrank. Das Messinstrument, mit dem tauchte ein Brief auf, der angeblich aus der Fäkalgeruchsstoff Skatol sowie Dr. Axel Nothnagel arbeitet, ist ein weseiner Feder stammte. Dem Schreiben ein Verwandter des Sexualhormons nig größer – so groß wie die Erde selbst, nach war der damalige CDU-Landes- Testosteron, das Androstenon. Männ- wenn man so will. Nothnagel ist Geodät, vorsitzende Gerhard Stoltenberg von liche Ferkel werden daher traditionell also ein Vermessungsspezialist. Sein Anfang an Mitwisser der Verleum- kurz nach der Geburt kastriert. Aus Maßband ist unsichtbar: Es besteht aus dungskampagne gewesen. Im Nachhi- Tierschutzerwägungen soll das jedoch Radiowellen, die von punktförmigen nein stellte sich der Brief als Fälschung verboten werden. Quellen im All ausgesandt werden, den heraus – trotz der „signifikanten Überso genannten Quasaren. Ein Netz von einstimmungen“ zum Schreibstil BarDer Bonner Agrarwissenschaftler mehr als 70 Radioteleskopen weltweit schels, die Drommel festgestellt haben Dr. Ernst Tholen möchte daher männ- fängt diese Wellen auf. Weil die Messwollte. liche Schweine züchten, deren Fleisch stationen so weit voneinander entfernt und Speck überhaupt nicht mehr stin- sind, empfangen sie das Signal ein- und So sehr der Name „forensische ken. „Wer züchten will, braucht ein desselben Quasars mit einer geringen Linguistik“ die Phantasie von Kri- Merkmal, dass er messen kann“, sagt zeitlichen Differenz. „Daraus können milesern beflügeln mag – wirklich er. „Das bisherige Standardverfahren wir den Abstand zwischen den Radiote„beweisen“ kann die Disziplin nichts. ist zwar für die oben genannten Leit- leskopen berechnen“, erklärt der Privat„Inzwischen steht sie jedoch auf einer komponenten ausreichend genau, aber dozent. „Und das auf wenige Millimeter festen empirischen Grundlage“, betont auch sehr aufwändig und teuer. Daher genau.“ Das Verfahren nennt sich VLBI – Jan Seifert. „Daher können die Gutach- benötigen wir die künstliche Nase.“ das steht für „Very Long Baseline Inter- 5Mit einer künstlichen ten oft auch tatsächlich wertvolle und Die Forscher wollen für die Zucht Tiere ferometry“. Damit lässt sich beispiels- Nase wollen Bonner gewichtige Indizien zur Urheberschaft aussuchen, die möglichst wenig Skatol weise nachweisen, dass Europa und Agrarwissenschaftler eines Textes geben.“ Es gibt verschie- und Androstenon im Körper einlagern. Nordamerika sich voneinander entfer- den Geruch von Ebern dene Spuren, denen ein „linguistischer Sie hoffen so, die Geruchskomponen- nen: Ihr Abstand wächst jährlich um 18 messen. Detektiv“ nachgehen kann. Auffällig ten innerhalb einiger Generationen Millimeter. sind beispielsweise regionalspezifische deutlich zu reduzieren. An dem Projekt 5 Privatdozent Ausdrücke. So kann der Gebrauch des sind mehrere Zuchtorganisationen beNothnagels Leib- und Magenthema Dr. Axel Nothnagel misst, Wortes „Sonnabend“ statt „Samstag“ da- teiligt. „Ob es klappt, ist mit absoluter ist jedoch die Bestimmung der Erdrota- wie schnell sich die Erde rauf hindeuten, dass der Autor aus Nord- Sicherheit nicht zu beantworten“, gibt tionsgeschwindigkeit. Der Blaue Planet dreht. deutschland stammt. Andere Merk- Tholen zu. „Schließlich handelt es sich eiert nämlich ein wenig: Wenn auf der male sind eher individuelle Vorlieben: bei Androstenon um eine hormonelle Nordhalbkugel Winter herrscht, braucht Ob der Anonymus Kausalsätze mit Substanz mit einem wichtigen Einfluss er im Schnitt eine halbe tausendstel Se„da“ oder „weil“ beginnt, ob er „des Er- auf die Fruchtbarkeit. Wir wollen ja kunde länger für eine Umdrehung als im folges“ schreibt oder „des Erfolgs“, ob Schweine züchten, die sich in ausrei- Sommer. „Grund ist vor allem die uner den „11. Januar“ in voller Länge aufs chendem Maße fortpflanzen können“. terschiedliche Verteilung der LuftmasPapier bringt oder schlicht zum „11.1.“ sen“, erläutert Nothnagel. „Wandernde kürzt oder ob er zu bestimmten chaZudem erklären Skatol und Andro- Hoch- und Tiefdruckgebiete verursarakteristischen Fehlern neigt. „Je mehr stenon den unerwünschten Ebergeruch chen Änderungen in den LuftmassenMerkmale man auswertet, desto si- nur zu 80 Prozent. „Wir beschränken verteilungen. Ein Hoch am Äquator cherer ist das Ergebnis“, sagt Seifert. uns zunächst auf diese zwei Leitsub- wirkt dann, als würde ein Eisläufer wäh„Das gilt insbesondere, wenn man ver- stanzen; mit Sicherheit gibt es aber noch rend einer Pirouette die Arme ausbreischiedene Ebenen untersucht – also weitere Komponenten“, betont Peter ten: Die Erde wird langsamer.“ neben Rechtschreibung und Formen- Boeker. Die fertige „künstliche Nase“ bildung auch Wortschatz, Wortbil- könnte dann nicht nur bei der Zucht zur Die Messungen der Geodäten sind dung und Satzkomplexität einbezieht.“ Anwendung kommen, sondern auch in beispielsweise für die genaue PositiSchlachthöfen eingesetzt werden. Aller onsbestimmung per GPS wichtig. Die Künstliche Nase soll Eber Anstrengung zum Trotz werden manche funktioniert nämlich nur, wenn man erschnüffeln Tiere wahrscheinlich immer noch rie- dabei den Drehstand der Erde mit einchen. Diese ließen sich dann aber recht- kalkuliert. Ein paar unberücksichtigte Schwerpunktthema: Dieses Prinzip – je mehr Merkmale, zeitig einer gesonderten Verwertung Millisekunden können ansonsten in Die Vermessung desto besser das Ergebnis – würde wohl zuführen, bevor ihr Fleisch über die La- einer stundenlangen Suche nach dem der Welt auch Dr. Peter Boeker unterschreiben. dentheke geht. So ließe sich das geruchs- richtigen Weg resultieren. FL/forsch forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 11 11 01.07.2009 9:58:57 Uhr FoRscHeN Auf der Suche nach dem Maß aller Dinge Möglichkeiten und Grenzen der Bewertung von Forschung Kann man forschung messen? Welche Kriterien werden angelegt? Wo liegen die Stärken und Schwächen heutiger Bewertungssysteme? forsch hat bei Prof. Dr. Stefan hornbostel nachgefragt. om c ia. tol , fo rr y e b ty Na to: Fo raw st schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt 12 Der Sozialwissenschaftler Ste- hört heute in der Wissenschaft zum fan Hornbostel (Jahrgang 1955) ar- Alltagsgeschäft. Allerdings ist das beitete nach seinem Studium an den Peer Review auch immer wieder erUniversitäten Kassel, Köln, Jena und heblicher Kritik aus der Wissenschaft Dortmund sowie am Centrum für ausgesetzt. Dabei geht es meist um Hochschulentwicklung (CHE). Heute mangelnde Validität und Reliabilität, ist er Professor für Soziologie (Wissen- Urteilsverzerrung zugunsten wenig schaftsforschung) an der Humboldt- riskanter Forschung bzw. Universität zu Berlin und leitet das zuungunsten interInstitut für Forschungsinformation und diszipliQualitätssicherung (iFQ) in Bonn. Die- närer se Hilfseinrichtung der Wissenschaft wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Der Träger des Instituts ist ein gemeinnütziger Verein, dem auch die Universität Bonn angeAnhört. Mit Stefan Hornbostel sprach sätze Andreas Archut. oder die BeHerr Professor Hornbostel, kann nachteiman Forschung messen? ligung Forschung ist nur schwer bestimmter zugänglich für direkte UnterGruppen. suchungen, zudem muss man Auch wenn die zwischen Forschungsaktiempirischen Bevität und -qualität trennen. funde dazu sehr Die Qualitätsbeurteilung ambivalent sind, hat kann nur durch die diese Kritik dazu beiim jeweiligen Gebiet getragen, bibliometrische ausgewiesenen WisVerfahren zu entwickeln. senschaftler selbst Die Bibliometrie – also die erfolgen, desAnalyse der wissenschaftlichen halb zieht man Publikationen – hat ihre Stärke darin, entweder dass sie große Mengen von Peer Urdie teilen, die im Laufe der Publikation und Rezeption der wissenschaftlichen Urteile von ausge- Literatur anfallen, in quantitative Inwählten Wissen- dikatoren übersetzt. Auch die Biblioschaftlern als Maßstab metrie basiert zu großen Teilen auf heran (Peer Review), oder Peer Urteilen, denn aus der eigentman nutzt die im Wissenschafts- lichen wissenschaftlichen Arbeit entsystem routinemäßig erzeugten Be- steht i.d.R. ein Aufsatz, der durch wertungen, um an Aussagen über die Peers begutachtet wird, dann gedruckt Aktivität und Qualität von Wissenschaft und von anderen Wissenschaftlern gezu kommen (Indikatoren). Insbesonde- lesen und schließlich in deren Publire nutzen wir dazu den Zugriff auf den kationen auch zitiert wird, wenn er für wissenschaftlichen Kommunikations- wichtig erachtet wird. Aus den dabei anfallenden Informationen versucht prozess. die Bibliometrie Aussagen über Kooperationsstrukturen, thematische Wie funktioniert das? Der erste Weg über das Peer Re- Entwicklungen, vor allem aber über view hat eine lange Tradition und ge- den Impact von Publikationen zu ma- chen. Die Bibliometrie produziert in diesem Sinne kein eigenes Qualitätsurteil, sondern informiert über die Resonanz einer Publikation oder einer Arbeitsgruppe in der scientific community. Klingt gut. Aber ist das Messen von Zitaten und Publikationen nicht ein bisschen einseitig? Natürlich hat die Bibliometrie auch Schwächen. Ihre Indikatoren sind träge und haben stets einen Vergangenheitsbezug. Die Motive für eine Zitierung können recht unterschiedlich sein. Auch treffen die Indikatoren keine Aussage über die Nutzung der wissenschaftlichen Literatur, denn sie erfassen nur Zitate in anderen Publikationen, nicht aber die Rezeption und eventuelle Verwendung des Wissens in praktischen Kontexten. Hier bieten die Nutzungsanalysen elektronisch verfügbarer Literatur, die auch die Nichtschreiber erfassen, eine sehr interessante Ergänzung. Auch Strukturanalysen, die mit Algorithmen arbeiten, wie man sie von InternetVersandhäusern kennt („Kunden, die dieses Produkt angeschaut haben, haben auch jenes Produkt angeschaut“), geben sehr interessante Einblicke in die Formierung von Forschungsfeldern. Wichtig ist aber in jedem Fall, dass die Interpretation bibliometrischer Indikatoren ein fundiertes Wissen über ihre Konstruktion und die Publikations- und Zitationsgepflogenheiten der jeweiligen Disziplin voraussetzen. Das wird angesichts der leichten Verfügbarkeit vieler Indikatoren häufig übersehen und gilt analog auch für andere Wissenschaftsindikatoren (z.B. Drittmitteleinwerbungen). forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 12 01.07.2009 9:59:08 Uhr FoRscHeN Viele Geisteswissenschaftler kritisie- Ist diese Unzugänglichkeit nicht auch hinaus zusammenzuarbeiten, sich ren, dass die bibliometrische Bewer- ein Vorteil? mit der Hochschulleitung abzustimtung an die Gegebenheiten in den Solange sie folgenlos bleibt, viel- men und einen kohärenten Antrag Naturwissenschaften angelehnt sei leicht. Derzeit gibt es aber zum zu verfassen. Dies ist eine absolut und ihre Fachkultur nicht abbilde. Beispiel eine heftige Debatte – ange- untypische Anforderung gewesen. Anders als in den Naturwissen- stoßen durch die European Science Insofern kann man sagen: Der Anschaften, wo das Publizieren schon Foundation – über die Entwicklung trag bildet auch die Organisationssehr früh eine Internationalisierung einer Qualitätskategorisierung gei- fähigkeit einer Hochschule ab. Für steswissenschaftlicher Journale. In die Gutachter war es darüber hinaus Großbritannien, wo das zur Vertei- extrem schwierig, eine Qualitätslung der Forschungsmittel genutzte grenze zu ziehen. Das bedeutet: Nur „Research Assessment Exercise“ der- weil ein Antrag in der Exzellenzinizeit für die Natur- und Lebenswissen- tiative nicht erfolgreich war, muss schaften im Wesentlichen auf Indika- er noch nicht schlecht gewesen sein. toren umgestellt wird, fürchten die Dies zeigt sich auch daran, dass viele Geistes- und Sozialwissenschaften, abgelehnte Vorhaben anderweitig langfristig in der „Schmuddelecke“ weiterverfolgt und umgesetzt worden zu landen, wenn es nicht gelingt, sind. einige für ihre Fachgebiete geeignete Messgrößen zu etablieren. Die Messung von Forschungsleistung ist schon weit vorangekommen, aber Hängt der prozentual geringe An- wie sieht es mit der Messung von Exteil geisteswissenschaftlicher For- zellenz in der Lehre aus? schung an der Förderung im Rahmen Evaluation wurde ja zuerst in und der Exzellenzinitiative auch am Man- der Lehre eingeführt. Allerdings ist auch Hie- gel von Bewertungskriterien? das eine ganz andere Welt mit anderarchisierung Nein, die Geisteswissenschaften ren Mechanismen. Die Messung von der Zeitschriften er- haben vielmehr einfach einen deutlich Lehrleistung ähnelt eher der Kompefahren hat, stellt sich die kleineren Anteil an Forschungspro- tenzmessung im schulischen Bereich Publikationslandschaft in den Gei- jekten, in denen intensiv kooperiert wie bei der PISA-Studie. Die Frage steswissenschaften sehr viel bunter werden muss oder in großem Umfang ist hier meist, ob es gelungen ist, eiund vielfältiger dar. Auch die Quali- Forschungsinfrastruktur benötigt nen erfolgreichen Lernprozess zu tätskontrolle hat sich bei ihnen anders wird. In den Naturwissenschaften initiieren. Es ist schwierig, dafür Mesentwickelt. Die Fachkultur unter- findet dagegen die Wissenschaftspro- sungen zu etablieren, die über eine scheidet sich von den Naturwissen- duktion fast ausschließlich in Teams Akzeptanzmessung bei den Studierenschaften ebenso wie die Prozesse, mit statt. Folglich waren die Geisteswis- den hinausgeht. Immerhin arbeitet die denen Fächer und Forscher zu einer senschaften in den auf Verbundfor- OECD derzeit an einem international Bewertung von Forschungsleistungen schung ausgerichteten Förderlinien einsetzbaren Kompetenztest für Stugelangen. Diese sind natürlich auch der Exzellenzinitiative weniger aktiv dierende. in den Geisteswissenschaften vorhan- oder zumindest nur da, wo sie als den, aber eben nicht so zugänglich wie Kooperationspartner anderer Diszi- Wie kommt es, dass Rankings sich so etwa in der Physik oder den Lebens- plinen auftraten. häufig im Ergebnis widersprechen? wissenschaften. Die Schwierigkeit beIch habe den Eindruck, die Ergebsteht in den Geisteswissenschaften vor Kritiker der Exzellenzinitiative sagen, nisse der fachlich ernst zu nehmenden allem in der Verfügbarkeit von Daten. dabei sei vor allem „Antragsexzel- Rankings gleichen sich immer mehr In den Naturwissenschaften hat man lenz“ belohnt worden, also die Fähig- an. Zwar mag die einzelne Hochschuschon sehr früh damit begonnen, Da- keit, gute Anträge zu stellen. le mal so und mal so abschneiden, tenbanken anzulegen. Diese waren Bei der Exzellenzinitiative ha- jedoch findet man im oberen Dritzunächst lediglich als Hilfe bei der ben die Gutachter vor allem zwei tel immer wieder dieselben Namen. Suche nach Publikationen gedacht, Kriterien gewichtet: Die „past per- Allerdings gewichtet nicht jeder die erst später kam man auf die Idee, da- formance“, also bereits erzielte For- Kriterien gleich. Im Idealfall stellt der mit auch Messungen und Bewertungen schungsleistungen einerseits und die Nutzer seinen eigenen Kriterienkatadurchzuführen. In den Geisteswissen- Qualität der vorgelegten Konzepte log zusammen. Denn wer eine kleine, schaften gibt es keine vergleichbare andererseits. Fragt man führende gemütliche Uni will, kommt für sich Datenbasis, die etwa auch die dort Wissenschaftler, so benennen sie zu anderen Ergebnissen als jemand, viel wichtigeren Monographien und immer zuerst die früheren Erfolge der im Studium möglichst nah an der Sammelbände systematisch erfasst. eines Antragstellers als wichtigsten aktuellen Forschung sein will. Es geht Die beiden großen internationalen Bewertungsmaßstab. Aber auch das also meist nicht darum, „die beste Datenbanken Web of Science und Schreiben eines Antrags gehört na- Uni“ zu finden, sondern vielmehr „die Scopus sind jedenfalls für eine türlich dazu! Der Antrag reflektiert beste Uni für ...“ Evaluation geisteswissenschaftlicher ja auch die Fähigkeit einer Gruppe Fächer ungeeignet. von Antragstellern, über Grenzen Vielen Dank für das Gespräch! schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 13 13 01.07.2009 9:59:13 Uhr FoRscHeN Inseln schlagen festland neun zu eins Weltkarten dokumentieren biologische Vielfalt Foto: universität Bonn Die auf den Weltmeeren gelegenen Inseln sind für den Erhalt der globalen biologischen Vielfalt rund neun Mal so wertvoll wie ein gleich großes Stück festland. Zu diesem Ergebnis kommen forscher der Universität Bonn und der fachhochschule Eberswalde zusammen mit US-Kollegen in einer aktuellen Studie. hierfür haben sie die bislang größte Datensammlung zum globalen Vorkommen von Pflanzen- und Wirbeltierarten zusammen gestellt. Auf dieser Grundlage haben sie einen Index berechnet, der sowohl die Anzahl der vorkommenden Arten als auch ihre Seltenheit widerspiegelt. Die Ergebnisse liegen nun in form von Weltkarten vor. 5Artenvielfalt und Seltenheit der Pflanzen – die Weltkarte mit 90 Regionen zeigt beides in einem kombinierten Index. Besonders wertvolle Regionen sind demzufolge Foto: Prof. Dr. Wilhelm Barthlott ozeanische Inseln. Zu den festlandregionen mit den höchsten Werten gehören vorrangig tropische Gebirge und Gebiete mit mediterranem Klima. 4Beispiel für die Bedrohung der Biodiversität auf Inseln: Ein fossiles Ei des Elefantenvogels, der bis vor wenigen hundert Jahren auf Madagaskar heimisch war. Die bis zu 3 Meter großen und 400 kg schweren Elefantenvögel wurden nach der Besiedlung Madagaskars durch den Menschen ausgerottet. schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt 14 Spitzenreiter im „BiodiversitätsRanking“ ist die Insel Neukaledonien. Auf einer Fläche vergleichbar mit Rheinland-Pfalz beherbergt sie 3.270 Pflanzenarten, von denen 2.432 nur auf dieser Insel vorkommen. Darunter ist beispielsweise Amborella, die ursprünglichste aller lebenden Blütenpflanzen. „Karten wie unsere hatte es bislang nur für einzelne Kontinente gegeben“, erläutert Projektleiter Dr. Gerold Kier von der Universität Bonn. „Man kann damit beispielsweise unseren ‚ökologischen Fußabdruck’ berechnen oder etwa erkennen, welche Regionen im weltweiten Vergleich besonders wichtig für den Naturschutz sind.“ Auch die Bedrohungen durch menschliche Einflüsse nahmen die Wissenschaftler unter die Lupe. Ihre für das Jahr 2100 errechneten Szenarien lassen befürchten, dass die Tierund Pflanzenwelt auf Inseln zukünftig deutlich stärker beeinträchtigt wird als auf dem Festland. Grund dürfte vor allem die Änderung der Landnutzung sein, also etwa die Ausweitung von Ackerbauflächen und die damit verbundenen Rodungen. Für die AusDr. Holger Kreft, Ökologe von der wirkungen des Klimawandels gilt University of California in San Diego hingegen die gegenläufige Prognose: und einer der beiden Leitautoren der Hier scheinen Inseln durch die pufStudie: „Inseln sind zwar schon seit fernde Wirkung der Ozeane etwas Charles Darwin für ihre einmalige geringer bedroht zu sein – sieht man Pflanzen- und Tierwelt bekannt. Aber einmal von den Auswirkungen des es fehlte bislang an einer weltweiten Meeresspiegelanstiegs ab. Gerold Analyse, die ihren Wert im Hinblick Kier mahnt zum Handeln: „Der Kliauf den Naturschutz mit Kontinenten mawandel bleibt eine der Hauptbevergleicht.“ Allerdings haben auch ei- drohungen für die biologische Vielfalt nige Festlandgebiete bemerkenswert der Erde. Wenn wir ihn nicht deutlich hohe Index-Werte, allen voran die als bremsen können, werden NaturKapensis bekannte Südspitze Afrikas. schutzgebiete nur noch wenig helAuch viele Gebirge, insbesondere in fen.“ den Tropen, gehören zu den aus Sicht der biologischen Vielfalt besonders Die weltweite biologische Vielwertvollen Regionen, gefolgt von Ge- falt ist demnach zahlreichen neuarbieten mit mediterranem Klima. tigen Gefährdungen ausgesetzt. In der Geschichte war es dagegen be„Wir haben jetzt neue, wichtige Da- sonders der direkte Einfluss des Menten an der Hand, aber weiterhin keine schen, der zum Aussterben von Arten einfachen Patentrezepte für den Na- geführt hat. „Madagaskar, die zweitturschutz“, betont Kreft und ergänzt: größte Insel der Erde, ist ein beson„Insbesondere müssen wir die Frage ders dramatisches Beispiel“, erläutert beantworten, wie sich Schutzgebiete in Professor Dr. Wilhelm Barthlott vom ihrer Tier- und Pflanzenwelt am besten Bonner Nees-Institut für Biodiversigegenseitig ergänzen können. Auch tät der Pflanzen. „Der Elefantenvogel, Leistungen der Ökosysteme, etwa ihre der Vogel Roc der arabischen MärFähigkeit zur Bindung des Treibhaus- chen, ist eine von zahlreichen Arten, gases Kohlendioxid oder ihre Beiträge die hier im Laufe der letzten Jahrhunzum großräumigen Wasserhaushalt, derte ausgestorben sind.“ Bereits sollten verstärkt berücksichtigt werden.“ 1996 hatte Barthlotts Arbeitsgruppe Es mache übrigens keinen Sinn, Schutz- eine vielbeachtete Weltkarte der bestrebungen jetzt einseitig auf Inseln pflanzlichen Artenvielfalt veröffentzu konzentrieren. Denn dort sei zwar licht, die in viele Lehrbücher aufgeder Studie zufolge jeder Quadratkilo- nommen wurde. Mit der nun meter besonders wertvoll. So seien dort fertiggestellten Arbeit, die auch den über 70.000 Pflanzenarten beheima- Aspekt der Seltenheit berücksichtigt, tet – fast ein Viertel der weltweit rund konnten sie aber erst Jahre später be315.000 Arten. In Anbetracht der Tatsa- ginnen, als sie Förderzusagen der che, dass Inseln weniger als vier Prozent Akademie der Wissenschaften und der gesamten Landfläche stellen, ist dies der Literatur Mainz, des Bundesforein erheblicher Anteil. Dennoch entfie- schungsministeriums und der Willen drei Viertel aller Pflanzenarten auf helm-Lauer-Stiftung erhielten. foRSCh das kontinentale Festland. forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 14 01.07.2009 9:59:25 Uhr Foto: Dr. Markus Braun, uni Bonn FoRscHeN Messen in der Schwerelosigkeit Biologin an der universität Bonn untersucht Pflanzenwurzeln im schwebenden Zustand Nicole Greuel muss sich einer Extrem-Situation aussetzen, um in ihrer forschung weiterzukommen: Sie benötigt den schwerelosen Zustand, um das Wachstum von Pflanzenwurzeln zu untersuchen. Dafür fliegt die Biologin nicht ins All, sondern nimmt an Parabelflügen teil. 5Nicole Greuel genießt ihre 22 Sekunden Schwerelosigkeit sichtlich. Das Forschungsflugzeug lässt sich aus 8.000 Metern Höhe in Richtung Erde fallen. Dabei entsteht für 22 Sekunden Schwerelosigkeit. „Diese wenigen Sekunden reichen aus, um diesen Zustand in vollen Zügen zu genießen“, schwärmt die Forscherin. Bevor der Flug startet, nimmt jeder der Teilnehmer ein Medikament mit dem Wirkstoff Scopolamin, einer Art Nervengift, zu sich. Danach sind die Probanden entspannter und können die „Achterbahnfahrt“ besser verarbeiten. „Es kommt nicht von ungefähr, dass unser Airbus A 300 auch als Kotzbomber bezeichnet wird“, schmunzelt Nicole Greuel. Der Innenraum des Flugzeugs ist komplett mit Turnmatten ausgelegt und erinnert an eine Art Gummizelle. An Bord sind meist mehrere Wissenschaftler-Teams, die ihre Experimente der Schwerelosigkeit aussetzen. Warum wachsen Pflanzenwurzeln rakterisieren, also den Teil in der nach unten? Diese Frage stellt sich auch Pflanze, der die Schwerkraft wahrNicole Greuel und schreibt darüber ihre nimmt.“ Mit „uns“ meint Nicole GreuDoktorarbeit am Institut für Moleku- el ihr Team unter der Leitung von lare Physiologie der Pflanzen. Dazu Privatdozent Dr. Markus Braun. führt sie Experimente in einem Para- „Ohne seine Unterstützung wäre die belflugzeug durch und setzt sich bei je- viele Arbeit gar nicht möglich gewedem Flug 31 Mal für je 22 Sekunden der sen“, erklärt die Forscherin. Schwerelosigkeit aus. Ihre Pflanzen könnte Nicole Greuel auch mit dem Nicole Greuel ist schon sieben Mal Spaceshuttle ins All schicken, dann im Parabelflugzeug mitgeflogen – entwürden sie 14 Tage lang in diesem Zu- weder vom Flughafen Köln/Bonn aus stand verharren. „Doch der Nachteil oder vom französischen Bordeaux. Auf daran ist, dass ich nicht mehr ins Expe- deutscher Ebene organisiert das Deutriment eingreifen könnte, wenn etwas sche Zentrum für Luft- und Raumfahrt schief läuft“, sagt die Biologin. die Flüge. Um daran teilzunehmen, muss man einen Projektantrag stellen Nicole Greuel untersucht die und seine Untersuchungen vorstellen. Grünalge Chara. Die „Quasi-Wurzeln“ Wenn man das geschafft hat, folgen Die Keimlinge für Nicole Greuels dieser einzelligen Pflanze, die Rhizo- aufwändige Vorbereitungen: So muss Versuch müssen fit sein und dürfen nur ide, sind Fortsätze des Zellkörpers. Ihr das Experimentrack, ein Regal, auf zwei bis vier Tage alt sein. Ein Teil daeinfacher Aufbau erleichtert eine ge- dem die Versuchsobjekte mit Gurten von liegt an Bord in einer Zentrifuge. nauere Untersuchung ihrer Funktion. festgeschnallt werden, nach strengen Hier wird zur Kontrolle die normale „Leider ist die Grünalge in ihrem Gen- Sicherheitskriterien gebaut werden. Schwerkraft durch die Zentrifugalmaterial noch nahezu unerforscht“, „Es muss 9g sicher sein, das heißt, die kraft simuliert. Nach dem Flug wird bedauert die Biologin. „Das erschwert neunfache Erdbeschleunigung aushal- es spannend: Die Krümmungswinkel es uns natürlich, den Rezeptor zu cha- ten“, erzählt Nicole Greuel. der beiden Pflanzenproben werden schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt forsch 2/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 15 15 01.07.2009 9:59:42 Uhr Forschen verglichen: Es ist kein Unterschied Nun stellt sich die Frage, worauf Auslöser gepredigt. „Wir haben diese feststellbar. Die Pflanze findet also der Rezeptor reagiert: auf den Druck, Aussage mit einem doch recht simplen auch in der Schwerelosigkeit den den die Statholiten durch ihre Schwer- Experiment widerlegt“, berichtet die Weg nach unten und wirkt nicht ori- kraft auf ihn ausüben, oder durch blo- Biologin stolz. entierungslos. „Aber welcher Mecha- ßen Kontakt? Bei dem Experiment in nismus ist dafür verantwortlich?“, Schwerelosigkeit hat sich herausgeIm September dieses Jahres wird fragt sich Nicole Greuel. Für eine stellt, dass der bloße Kontakt ausreicht. Nicole Greuel an ihrem nächsten PaAntwort muss man mehr ins Detail Wie der Rezeptor eigentlich aussieht, rabelflug teilnehmen. Diesmal aber gehen: Es gibt kleine Steinchen in bleibt aber noch völlig ungeklärt. Da nicht in eigener Sache, sondern sie beden Wurzelzellen der Pflanzen, auch die Grünalge Chara ein evolutionärer gleitet eine befreundete MedizinerStatholiten genannt. Diese aktivieren Vorgänger aller Pflanzen ist, gilt dieses Gruppe aus Berlin. Dann wird die den Rezeptor, der das Wachstum der Prinzip wahrscheinlich allgemein. Das Doktorandin wieder das unbeschreibWurzeln ausrichtet. Bei den Rhizo- Untersuchungsergebnis ist revolutionär, liche Gefühl der Schwerelosigkeit eriden der Grünalge Chara läuft das denn in der Forschungsliteratur wird leben. Corinna Bohn/forsch ganz analog. seit Jahren der Druckmechanismus als Vom „Flickenteppich“ zur Weltkarte Die Vermessung der Welt auf historischen Karten Detailgenaue Satellitenatlanten, Navigationssysteme und Geodatensammlungen haben uralte Wurzeln. Von Anbeginn waren Zwecke von Kartenwerken Wegbeschreibungen für Reisende, territoriale Herrschaft, aber auch Wissen festzuhalten. Die vielleicht erste kartographische Darstellung stammt aus der Jungsteinzeit: Bei Ausgrabungen entdeckte man in einem Haus in Çatal Hüyük in der Türkei eine Wandzeichnung, die das komplette Dorf bis hin zu den inneren Strukturen der Häuser um etwa 6200 v. Chr. zeigt. Eine exakte und einheitliche Karte der gesamten Welt existiert erst seit den 1990er Jahren, die „IGBP Global Land Use and Land Cover Map“. Bis dahin gab es nur Flickenteppiche von einzelnen Überflügen. Auch heute sind Karten manchmal von individueller Weltsicht geprägt – denn für Australier ist Australien eben nicht „Down Under“. Schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt 16 Weltkarten mit Phantasie – oder erstaunlich korrekt Von kleinen Strichzeichnungen bis zu mehrere Meter großen Darstellungen, mit Feder und Pinsel gezeichnet, später als Holzschnitt oder Kupferstich gestaltet, reichen historische Karten. Als „Urmutter“ großräumiger Darstellung gilt Wichtig bei Wegekarten war im- Verwaltung ihres Herrschaftsgebiets mer der praktische Nutzen: Sie nennen verlässliche geographische Daten. ErDistanzen und Stationen auf dem Weg staunlich präzise waren bereits die zum Ziel, nicht aber die „Richtung“. Karten des Ptolemaios aus dem 2. Jh.“ Deshalb wurden sie häufig nur als Linien dargestellt. Kaufleute, Kuriere oder Mathematik – Geometrie bedeutet Wallfahrer reisten von einer Landmar- ursprünglich Erdvermessung – und ke oder Herberge zur anderen. Auch auch die Astronomie spielten dabei die Schifffahrt nutzte lineare Küsten- eine wichtige Rolle: So löste sich die karten, die Portolane, denn das offene Seefahrt ab dem 13. Jahrhundert mit Meer war riskant. Orientierungskarten Hilfe des Kompasses von der Küste, auf des römischen Reiches waren eben- hoher See bestimmte man die Position falls als Linien dargestellt – schließlich mit einem Winkelmessgerät, dem Asführen sowieso alle Wege nach Rom. trolabium. Wie korrekt alte Werke oft Ähnlich arbeiten heutige Routenpla- sind, ist weniger erstaunlich, als man ner im Internet, die nur eine Liste von vielleicht denkt. Der Geodät Thomas Abzweigungen mit den dazwischen Kötter erläutert: „Auch heute in der Zeit liegenden Entfernungen liefern. „Die digitaler Atlanten mit Zoomfunktion Vorstellungen und Bedürfnisse antiker bis in kleine Einheiten und der PhotoReisender haben die Entwicklung der grammetrie entstehen Kartenwerke in Raumwahrnehmung beeinflusst“, sagt der Regel nicht nur aus Luftbildern. Je Dr. Michael Rathmann von der Alten nach Genauigkeitsanforderung werGeschichte, die dem Thema eine eige- den bei der terrestrischen Vermessung ne Tagung widmete. „Außerdem benö- Strecken und Winkel mit dem Thachytigten Reiche wie das Römische für die meter ermittelt.“ forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 16 01.07.2009 9:59:45 Uhr Forschen eine Tonscheibe aus Nuzi im heutigen Die ersten kartographischen Ausrichtung der Karte etwa hat viel Irak. Sie stammt aus der Zeit zwischen Zeugnisse, ein Globus und eine Kar- mit der ‚Leserichtung des Raumes’ zu 2340 und 2200 v. Chr. und zeigt haupt- te, die die „Neue Welt“ als Kontinent tun. So sind zum Beispiel Stadtpläne sächlich das Zweistromland mit seinen sehen und ihn Amerika nennen, stam- von Barcelona auch heute nicht genBergen und Flüssen. Die Ebsdorfer men übrigens von Deutschen: Martin ordet, da die Schachbrettstruktur der Weltkarte hat einen Durchmesser von Waldseemüller erstellte sie 1507 mit Stadt parallel zur Küste von Süd-West dreieinhalb Metern und gehört zu den Hilfe seines Partners Ringmüller. nach Nord-Ost verläuft. Diese Strukspannendsten und ungewöhnlichsten Woher die Beiden zu diesem Zeit- turen sind wichtiger zur Orientierung Quellen wie auch die Tabula Peutinge- punkt die östliche Kontur Amerikas als die übliche Nord-Süd-Achse. Einriana aus dem 13. Jahrhundert. Sie geht kannten, ist nicht geklärt. Rein wis- zelne australische Karten sind gesüdet auf eine spätantike Vorlage zurück, ist senschaftliches Reisen und Kartieren – denn Australien ist eben für Austrafast sieben Meter lang und stellt bei ei- begann erst später zu Zeiten Alexan- lier nicht Down Under. Oder Peking ner Höhe von nur 38 Zentimetern die der von Humboldts – zumindest in steht in der Mitte chinesischer Karten.“ antike Welt von Spanien bis Indien in Europa. In China gilt Xu Xiake fast Mitunter wurde auch auf Maßstabsstark gestreckter beziehungsweise ge- zweihundert Jahre zuvor als erster treue verzichtet, um bestimmte wichstauchter Weise dar. Forschungsreisender und Geograph. tige Gebäude noch auf eine Karte zu Über ihn schreibt derzeit die Geogra- bekommen. Vielfach sind alte Werke Die frühesten noch erhaltenen phin und Sinologin Bianca Hausherr bebildert: Tiere und Fabelwesen überKarten der bekannten Welt wurden im bei Professor Dr. Winfried Schenk, decken „blinde Flecken“, Entdecker Mittelalter meist in Klöstern erstellt, dem Leiter der Historischen Geogra- und ihre Schiffe oder eine Region und um Wissen zu sammeln und zu archi- phie, ihre Doktorarbeit. ihre Bewohner sind dargestellt. Texte vieren. Meist stellten diese „Mappae auf Karten bezeugen die politische Mundi“ die heilige Stadt Jerusalem Eigene Sichtweise prägt Einschätzung der Zeit, wenn etwa als Nabel der Welt in die Mitte, was in Kartenwerke der Sieg über eine Stadt lobend oder der Regel zu starken Maßstabsverzertadelnd herausgestellt wird. rungen führt. Außerdem gehen in ih„Alte Karten erzählen sehr viel nen oft reale Landmarken und religiöse über die Sicht ihrer Produzenten auf Karten werden zum Politikum, Vorstellung ineinander über. Da die die Welt und nicht so sehr darüber, wenn Länder von ihnen verschwinzeichnenden Mönche nie selbst zu den wie es zu der Zeit wirklich war“, sagt den wie lange Zeit Polen: 1795 wurbeschriebenen Orten reisten, enthalten Jan-Erik Steinkrüger von der Histo- de es bis nach dem Ersten Weltkrieg sie naturgemäß Fehler. rischen Geographie und erklärt: „Die zwischen Russland, Österreich und 3Die Tabula Peutingeriana aus dem 13. Jahrhundert ist fast sieben Meter lang, aber nur 38 Zentimeter hoch. Sie zeigt die antike Welt von Spanien bis Indien in stark gestreckter beziehungsweise Foto: Müller-Peutinger gestauchter Weise. Schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 17 17 01.07.2009 9:59:49 Uhr F O R SC H E N forschenkompakt Preußen aufgeteilt und ein zweites Mal 1939 von Stalin und Ribbentrop zwischen Deutschland und der Sowjetunion – die Originalkarte mit ihren Unterschriften existiert noch. Auch sagen die Auswahl und Bezeichnung von Orten oder Regionen wie „Bombay“ und „Mumbay“, „DDR“ und „Sowjetisch besetzte Zone“ oder die Wahl eines Kartenausschnittes viel über die vertretene Weltanschauung aus. Manchmal entstehen Länder erst durch Karten. So folgte in Afrika die Einteilung der Ethnien den kolonial eingeteilten Territorien und nicht umgekehrt. Steinkrüger beschäftigt sich zum Beispiel gerade mit einer ethnologischen Karte von 1940, die die vermeintliche Entstehung der afrikanischen Völker aus Sicht der kolonialen und nationalsozialistischen Rassenideologie darstellt. Dabei untersucht er, wie sich die Kolonialherren die Entstehung der Volksgruppen der Hutu und Tutsi in Ruanda vorgestellt haben. Schwerpunktthema: Die Vermessung der Welt 18 GEOPORTAL FÜR WESTAFRIKA Wissenschaftler vom Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) haben ein Geoportal für Westafrika konzipiert. Es enthält unter anderem hydrologische und meteorologische Messwerte, Daten zur Landnutzung und zu Vegetationsänderungen, aber auch zur Bevölkerung und zum Konsumverhalten. „Das Besondere an unserem Portal sind vor allem die bislang etwa 60 interaktiven Karten“, sagt der Projektverantwortliche Antonio Rogmann. „Diese können mit den Daten so verknüpft werden, dass man als Nutzer je nach Bedarf auch neue Karten erstellen kann.“ „Das Geoportal ist enorm hilfreich“, sagt Jacqueline Zoungrana, Direktorin der nationalen Wasserbehörde in Burkina Faso. „Jetzt haben wir eine Basis, auf der wir weiter arbeiten können. Wir brauchen solche Daten, um bessere Entscheidungen beim Management unserer Wasserressourcen treffen zu können. Wenn wir zum Beispiel wissen, wie viel Wasser aus einem Stausee abfließt, können wir einschätzen, wie viel davon für Strom, Industrie und für Haushalte zur Verfügung steht. Die Wissenschaftler liefern aber nicht nur das nötige Wissen, sondern zeigen uns auch, wie wir dieses Projekt in Zukunft selbständig weiterführen können.“ Zu diesem Zweck organisieren die Forscher nun eine Reihe von Trainings für regionale Nutzer und Entscheidungsträger aus Politik, Wissenschaft und Verbänden. Das Portal ist im Rahmen des GLOWA Volta Projekts entstanden, das vom ZEF geleitet und durchgeführt wird. Ziel ist es, den Umgang mit dem knappen Gut Wasser in Westafrika zu verbessern. „Für uns in der Historischen Geographie ist es vor allem interessant, ehemalige und heutige Strukturen zu vergleichen“, sagt Steinkrüger. „Gerade in der Kulturlandschaftsforschung und -pflege können wir oft erhaltene wie vergangene Nutzungen von Gebieten erkennen oder mit Hilfe der Karten wieder freilegen.“ Das ist weltweit, aber natürlich besonders für die unmittelbare Umgebung interessant: Unter den großmaßstäbigen Karten gab es bereits in der frühen Neuzeit erstaunlich genaue Werke. Für die Region Bonn besonders wichtig sind die Karten von Jean Joseph Tranchot. Er kartierte auf Befehl Napoleons zwischen 1801 und 1814 das französisch besetzte Rheinland, seine Karte des früheren Bonn ziert die Homepage der Historischen Geographen. Und nicht zuletzt sind viele der alten Kupferstiche einfach schön. So hat der junge Wissenschaftler als Bildschirmschoner keinen Palmenstrand, sondern wechselnde Stadtkarten von Matthäus Seutter und aus der Civitates Orbis Terrarum von Frans Hogenberg vor Augen. UK/forsch 4 Eine Ausstellung „Alexander von Humboldt – Reise zum Gipfel der Erde“ zeigt bis zum 21. August die wichtigsten Stationen seiner Amerikareise zur Vermessung einer neuen Welt. Siehe auch Seite 35 forsch 3/2009 universitätbonn forsch_3_09.indd 18 01.07.2009 10:00:09 Uhr