Südkurier, 20.07.2011 - See

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Südkurier, 20.07.2011 - See
Südkurier, 20.07.2011, Maria Schorpp
Menschliche Abgründe
Das See-Burgtheater in Kreuzlingen bringt einen grandiosen Nestroy auf die Bühne
Wenn die Sonne im See versinkt und Scheinwerfer ihr Licht ersetzen – dann ist See-Burgtheater. In diesem Jahr mehr Ufer- als
Seebühne ist die Spielfläche für Johann Nestroys Posse „Der Zerrissene“ nahe der Kreuzlinger Seeburg zwar karg, dafür aber
umso gewichtiger bestückt: Überdimensionierte Goldbarren liegen wie nachlässig hingeworfen auf den Bühnenbrettern. Dem
gespaltenen Herrn von Lips bedeuten sie alles und nichts: Weil er so viele davon hat, kann er leben in Saus und Braus und
kann sie gleichzeitig verachten als Ursache seines existentiellen Überdrusses.
Fehlt es Florian Steiner und seinem Lips anfangs noch etwas an Farbe, hat Madame Schleyer mehr als genug davon. Astrid
Keller ist gleich präsent wie der bekannte bunte Hund und beweist wieder, dass sie nicht nur komisches, sondern sogar
skurriles Talent besitzt, das in menschliche Abgründe tief wie Höllenschlünde blicken lässt. Mit ihrem glitzrigen
Partykleidchen und dem Leoparden-Look verkörpert ihre Witwe das Monströse der ganz alltäglichen kleinbürgerlichen Gier.
Leopold Huber, als Regisseur bekannt für seine deftige Zeichensprache, die erstaunlich subtil den Verästelungen der
menschlichen Natur nachzuspüren versteht, liefert eine dieser See-Burgtheater-Aufführungen ab, die so leichtsinnig
daherkommen, als würden sie sich von selbst spielen, und die gleichzeitig der Hammer sind: Mit dem wird dreingeschlagen,
dass die Funken sprühen. Da kommt anfangs diese Bussi-Bussi-Gesellschaft mit Schweinsmasken auf die Bühne. Dass
Nestroys „Zerrissener“, uraufgeführt 1844, als Kommentar zu heutigen Verhältnissen taugt, ergibt sich fast von selbst.
Ein paar Couplets, von Volker Zöbelin wunderbar zu Musik gemacht, wurden im wesentlichen mit aktuellen Themen versehen
– mehr braucht's nicht, um mit Nestroy über eine Gesellschaft zu verhandeln, die den Mammon an Gottesstatt verehrt.
Alle bekommen ihr Fett ab. Indem Huber die Figuren bis ins Maskenhafte überzeichnet und sie in groteske SlapstickSituationen stolpern lässt, schafft er diesen fast amüsierten Blick auf das menschliche Treiben. In welchem Herr von Lips in
seinem Ennui die erstbeste Frau ehelichen möchte, die ihm über den Weg läuft, und prompt an Astrid Kellers durchtriebenes
Aas gerät. Wegen der er dann mit dem vermeintlichen Nebenbuhler Gluthammer, von Erich Hufschmid sinnig mit der
Egomanie selbstgewisser Männlichkeit ausgestattet, im See landet und dort zusammen mit seinem Gegner scheinbar ersäuft.
Jetzt kommt Kathi ins Spiel, als Bauernmagd die kraftvolle Verkörperung des Natürlichen und so von Katharina Schenk auch
gespielt. Je mehr Florian Steiner sich ihr als überhaupt nicht toter Lips liebend nähert, desto mehr bekommt er Farbe. Als ob
die frische Landluft sein Blut erst in Fluss bringen würde. So erspielt sich die Inszenierung nach und nach ihre grell skurrilen
Menschengestalten. Bastian Stoltzenburg und Simon Engeli als gewissenlose Schmarotzer Sporner und Wixer, Werner
Biermeier als tumber Krautkopf und Ulrich Fausten als Justitiarius geben jeder für sich eine formidable menschliche Komödie
ab.
Höhepunktqualität hat, wie sich Gluthammer und Lips im Keller begegnen und sich gegenseitig für Geister halten. Bei allem
Spaß – da steht den beiden die pure Panik ins Gesicht geschrieben. Das spaßeshalber ans Bauerntheater anspielende Volkslied
am Ende legt den Deckel gnädig wieder über diesem Abgrund und beschließt einen grandiosen Sommertheater-Abend.
***
Thurgaukultur.ch 17.07.2011, János Stefan Buchwardt
Der Hype ums See-Burgtheater
Das alljährliche Medienkarussell dreht sich seit geraumer Zeit. – «Der Zerrissene», eine Posse mit Gesang aus dem
abgründigen Biedermeier. Fazit: Auf künstlerisch bedachtsame Weise erfüllt sich, was hiesige Journalistinnen und
Journalisten an Erwartungshaltung aufgebaut haben. Erneut zeigt ein zuverlässiges See-Burgtheater-Team eine
Komödie von Johann Nestroy, die es dem Regisseur Leopold Huber geradezu vorschreibt, Handgriffe in die Trickkiste
zeit- und gesellschaftskritischer Bissigkeiten vorzunehmen.
Gezielt auf die wärmste der vier Jahreszeiten hin sorgt ein Mann mit Strohhut dafür, dass das Bedarfsgut Freilichttheater –
jahraus, jahrein – eine verdiente, im besten Fall sogar gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt. Es macht den Anschein, als ranke
sich ein Hype um die Welt des Kreuzlinger See-Burgtheaters. Und der Begriff darf für einmal nicht als Kritik-Vokabel
verstanden werden. Schon vor vielen Jahren, nämlich 1994, stand mit «Talisman», in jenen Tagen noch auf Schloss Girsberg
gezeigt, ein erstes geistreiches Nestroystück auf dem Spielplan der Theatertruppe. Der Premierenabend 2011 legt die
Vermutung nahe, man könne 17 Sommerperioden später die einstigen Besucherzahlen – 2500 Zuschauer sahen 16
Aufführungen – gut und gerne überrunden.
Satire-Potenzial abgeklopft
Vordergründig betrachtet hat sich der aktuelle Bühnenstoff der Volksbelustigung im besten Sinne verschrieben. Aber Huber
wäre nicht Huber, würde er den Satirewillen Nestroys nicht gründlich auf sein selbstverständliches kritisches Potenzial hin
abklopfen. Und Nestroy nicht Nestroy, würde er nicht erlesen-scharfsinniges und nach wie vor taufrisches Sprachmaterial
liefern, um die komische Paarung zwischen Witz und Bockbeinigkeit auf der einen und moralistischen Verweisen auf der
anderen Seite zu begünstigen. Neben aller Erheiterung im Seeburgpark tritt deutlich hervor, dass der populärste Vertreter des
Wiener Volkstheaters im 19. Jahrhundert zwar kein explizit politischer Autor, aber doch ein virtuoser gesellschaftspolitischer
Bühnen-Wortführer ist.
Heilungsprozess durch Liebe
Trotzdem und mit Verlaub, die Frage scheint berechtigt, inwieweit sich die steile, vor Wind und Wetter geschützte
Zuschauertribüne über scharfen Humor in Form von schillernden Scherzen und tagespolitischen Anspielungen, über Slapsticks
und spitzzüngige Couplets (aktualisierte Strophen: Manfred Koch) in Tat und Wahrheit zu einem schicklicheren Dasein
ermahnen lässt. Zeuge dessen zu werden, wie ein gelangweilter und grossspuriger Reicher durch die Erfahrung echter
Zuneigung und menschlicher Güte von seiner inneren Zerrissenheit geheilt wird, hinterlässt aber ein zumindest aussenseitig
anhaltendes Behagen.
In der freudigen Verbindung zwischen dem Kapitalisten von Lips und seiner Anverwandten Kathi – sie stehen für Exzentrik
und Grundehrlichkeit – erfährt die Posse aus dem Jahr 1844 ihr vom Glück begünstigtes Ende: Liebe als Heilmittel gegen
inkorrekte Lebensweisen. Nach Schicksalsschlägen also die Eingliederung in disziplinierte Verhältnisse. Und trotzdem war es
Johann Nepomuk Nestroy (1801 bis 1862) keineswegs fremd, die angestrebte Besserung der Menschen als illusorisch
blosszustellen. Wenn das Bittere der gesellschaftskritischen Passagen in Hubers Inszenierung trotz Happy End inwendig nicht
abklingen will, dann ist genau darin eine Qualität seiner szenischen Überzeugungsleistung auszumachen.
Hervorragend aufbereitet
Konkret verhilft eine vitale Crew aus achtköpfigem Hauptpersonal – darunter langjährig bekannte Gesichter – und
siebenköpfigem Nebenpersonal dazu, reihenweise unleugbare Wirklichkeitsbezüge herzustellen. Das überzeugend reduzierte
Bühnenbild (Bühne/Kostüme: Klaus Hellenstein) aus monumentalen Goldbarren, das von einer ländlichen Strohlballenwelt
abgelöst wird, tut ein Übriges, um Nestroy nicht unnötig mit Modischem zu behängen. Mit gelingendem Einsatz versucht sich
das Schauspielkorps an den köstlichen Charakteren dieses gleichermassen possenhaften wie mundfertigen Ringelreitens des
Zufalls und der Wesensarten. Wie üblich werden die Stimmen verstärkt; schade, sind sie manchmal spontan nicht zu orten, die
von Volker Zöbelin komponierten Musikeinheiten in diesem Jahr nur eingespielt.
Der direkte Blick auf die Besetzung hinterlässt dennoch rundum positive Gefühle: Florian Steiner, ein mit feiner Dekadenz
ausgestatteter und vermeintlich als Mörder gesuchter Protagonist, den das Leben zwingt, sich neu zu erschaffen. Astrid Keller
eine exzellent unverfrorene Madame Schleyer, die mit Lips heuchlerischen Freunden Sporner (Bastian Stoltzenburg) und
Wixer (Simon Engeli) die fatale Überschätzung des Wertes materieller Güter teilt. Katharina Schenk, ausgewogen in der Rolle
der loyalen Frauenfigur Kathi; ein erwartet souveräner Erich Hufschmid, der die Einfältigkeit des Schlossers Gluthammer
pfundig umzusetzen weiss. Werner Biermeier als herrlich aufgewühlter Krautkopf, Pächter auf einem Hof des Herrn von Lips
und schliesslich Ulrich Fausten als gekonnt verschrobener Juristitiarius Staubmann.