Maurice Maeterlinck: Der Blaue Vogel

Transcrição

Maurice Maeterlinck: Der Blaue Vogel
Sind wir heute noch berechtigt,
optimistisch zu sein?
Dr. Bernhard Prediger1
I.
Eine große Frage – eine berechtigte Frage vielleicht nie gekannter Aktualität – angesichts der offenbaren Fehlentwicklungen gigantischen Ausmaßes, mit denen es die lebendigen und daher fühlenden Wesen dieser
Welt zu tun haben. Umweltverschmutzung und damit einhergehende
Umweltzerstörung, vor allem aber die augenfällige Innenweltverschmutzung bis hin zur Innenweltzerstörung des Menschen, das Ganze nicht
punktuell hier und da, sondern in globalem Ausmaß macht wenig Mut,
sich mit einer solchen Frage überhaupt zu beschäftigen. Die eine oder
andere geistige Nische lässt sich wohl finden, in der man sich, sich einigermaßen sicher fühlend, einrichten kann, aber tief drinnen weiß man
wohl, dass das Abschmelzen der Eisschilde (Antarktis, Grönland) auch
diese Nischen überfluten wird.
Ein paar simple Ausflüchte lassen sich finden, aber auch ein paar
intellektuelle Ausflüchte und sogar Ausflüchte wirklich philosophischer
Art, eine Beschäftigung mit diesem Thema, die ja leicht in Verzweiflung
bis hin zur Selbstvernichtung, sprich Selbstmord, enden kann, doch
lieber zu unterlassen. Die Trivialpsychologie unseres Zeitalters kennt
den Begriff der self fullfilling prophecy und – darauf aufbauend – den
Begriff des Zweckoptimismus, in Köln zu dem Ausspruch verkürzt „Et is
noch immer jut jejangen“. Viele leben nach dieser Devise, und wie es
aussieht, kommen sie ganz gut zurecht damit – aber es scheint immer
schwerer zu gehen, schaut man sich die manchmal bis zur Verzerrtheit
angespannten Gesichter insbesondere von Großstadtmenschen in den
Straßen an. Aber auch dafür gibt es wieder intellektuelle Lösungen, wie
sie z. B. einer gefunden hat, wenn er sagt: „Wirkliche Sorge um die
Welt würde ich mir erst machen, wenn die Leute angesichts der äußeren
und inneren Weltlage auch noch mit fröhlichen Gesichtern einhergehen
würden“.
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Niederschrift des gleichnamigen Vortrags während der Sommertagung 2008 der Theosophischen
Gesellschaft i. D. (Auszug).
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Eine intellektuell-philosophische Möglichkeit, um angesichts der Ausgangsfragestellung nicht alsbald zu verzweifeln, bietet eine Feststellung,
deren Richtigkeit grundsätzlich nicht zu bestreiten ist: Wir sehen nie das
Ganze und unterliegen, sofern wir das, was wir sehen und uns bewusst
machen, für das Ganze nehmen, immer einer Täuschung. Außerdem:
Wie groß das für uns Unsichtbare ist, welches Gewicht es für das Ganze
hat, können wir nicht annähernd beurteilen.
Und dabei kommt hinzu, dass sich als Wahrzunehmendes das Böse
immer in den Vordergrund drängt – bad news are good news. Auch gehören die Anfangserfolge im Kampf zwischen Gut und Böse immer dem
Bösen, weil es seiner Natur nach aggressiv ist. Es hat diese Erfolge bereits eingefahren, bevor das Gute überhaupt gemerkt hat, dass es
kämpfen muss und dass der Kampf schon begonnen hat.
Auf das Unsichtbare, dessen Größe, Kraft und Gewicht wir ja auch
nicht kennen, können wir immer hoffen. Bei Juristen gibt es, wenn es
um die Entscheidung für eine von verschiedenen Rechtsauffassungen
geht, ein geflügeltes Wort, das lautet: Schließen wir uns der herrschenden Meinung an, dann sprechen Gründe für uns, die wir gar nicht
kennen!
Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man daher, was bei genauer Betrachtung jedoch kein Trost ist, denn auch sie stirbt dieser Auffassung
nach letztlich – oder nicht? Vielleicht endet sie nur, weil sie durch Wissen um Gelingen abgelöst wird?
II.
Artur Schopenhauer, einer unserer klassisch gewordenen Philosophen,
hat sich selbst als Pessimisten bezeichnet und daraus noch etwas philosophischen Glorienschein abgeleitet, indem er sagte, gerade dadurch,
dies zuzugeben, unterscheide er sich von den meisten seiner Berufskollegen, denen es über alles gehe, möglichst viele Anhänger und Zuhörer
zu finden, was natürlich leichter sei, wenn man ihnen positive Antworten auf die letzten Lebensfragen gebe. Er dagegen erliege dieser Versuchung nicht.
III.
In unserem deutschen Menschheitsdrama, Goethes Faust, befasst sich
Mephistopheles mit unserer Ausgangsfrage und behandelt diese im
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„Prolog im Himmel“ gegenüber Gott, dem Herrn, mit folgenden
Worten:
„Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst
Und fragst, wie alles sich bei uns befinde,
Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst:
So siehst du mich auch unter dem Gesinde.
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;
Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen.
Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.
Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.
Ein wenig besser würd’ er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“2
Und etwas später äußert sich Mephisto in seinem ersten Gespräch mit
Faust zu unserem Problem so:
Mephistopheles: [Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Faust: Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?
Mephistopheles: Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht: denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.3
2
Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Vv. 271-286. [Im Folgenden
zitiert als „Faust“.]
Faust, Vv. 1335-1341.
3
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In diesem letzten Satz wird von Mephisto nicht mehr und nicht weniger
als die tragische Natur allen Schöpfungsgeschehens behauptet. Der einzige Trost, der uns an dieser Stelle bleibt, ist, dass es sich um die Meinung eben des Mephistopheles handelt und dieser, so hoffen wir, doch
nicht das letzte Wort in dieser Sache haben wird, und er sagt ja selbst
von sich, dass er das Böse zwar wolle, aber letztlich Gutes bewirke.
Recht hat er ja zunächst mit seiner Tatsachenfeststellung, dass alle
Werke – ob von Gott geschaffen oder vom Menschen – sich schließlich
wieder auflösen, keinen immerwährenden Bestand haben. Falsch könnte
Mephisto mit seiner Insinuation (Unterstellung) liegen, die Begründung
für diesen Niedergang, dieses Zugrundegehen, sei, dass das zuvor im
Schöpfungsvorgang Entstandene wertlos sei. Das kann vordergründig
Geltung nur beanspruchen, solange man Sinn und Wert der Schöpfung
nur nach ihrem Ergebnis bemisst und nicht im Schöpfungsvorgang
selbst sucht. Wäre ersteres der Fall, so würde ein einmal vollendeter
Schöpfungsprozess mit hochgelobtem Endergebnis jeder weiteren lebendigen Entwicklung entgegenstehen.
Es zeigt sich hier die Fragwürdigkeit der von Natur- und Umweltschützern immer wieder erhobenen Forderung, man müsse „die Schöpfung bewahren“.
Bo Yin Ra4 formuliert in der Tat in seiner Schrift Das Buch vom
Glück, für Mensch und Gott liege das Glück vermutlich darin, schöpferisch sein zu dürfen und nicht im Schöpfungswerk selbst. Lasst uns
weiter darüber nachdenken.
In ganz anderer, eben hochpoetischer Weise wird unser Thema von
Antoine de Saint-Exupéry in seinem Märchen Der kleine Prinz abgehandelt und zwar in einem Dialog zwischen dem Protagonisten der Geschichte, dem mit seinem Flugzeug in der Wüste Abgestürzten, d. h. hier
dem in seinem äußeren Leben gescheiterten und in eine tiefe Krise gestürzten Helden, und eben dem kleinen Prinzen, wir dürfen wohl sagen,
seinem Höheren Selbst. Äußerer Rahmen dieses Dialoges ist der Folgende:
Von dem kleinen Prinzen wissen wir schon an dieser Stelle des
Märchens unter anderem, dass er über zwei innere Schätze verfügt, nämlich einmal über ein in einer Kiste verborgenes Schaf, das unser Pilot
ihm gezeichnet hatte. Den anderen inneren Schatz lernen wir erst später
in der Geschichte genauer kennen. Hier ergibt er sich aber schon aus der
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Bo Yin Ra, eigentlich Joseph Anton Schneiderfranken, 1876-1943.
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Fragestellung des kleinen Prinzen. Es handelt sich um eine Blume, die
auf dem Planeten wächst, von dem er kommt, von seiner ersten großen
und bis dahin einzigen Liebe, die er verlassen musste. Die Frage nach
dem zukünftigen Verhältnis dieser beiden inneren Schätze des kleinen
Prinzen führt uns zu einem der Höhepunkte der Geschichte:
Am fünften Tag war es wieder das Schaf, das ein Lebensgeheimnis des
kleinen Prinzen enthüllen half. Er fragte mich unvermittelt, ohne
Umschweife, als pflückte er die Frucht eines in langem Schweigen
gereiften Problems:
„Wenn ein Schaf Sträucher frißt, so frißt es doch auch die Blumen?“
„Ein Schaf frißt alles, was ihm vors Maul kommt.“
„Auch die Blumen, die Dornen haben?“
„Ja. Auch die Blumen, die Dornen haben.“
„Wozu haben sie dann Dornen?“
Ich wußte es nicht. Ich war gerade mit dem Versuch beschäftigt, einen
zu streng angezogenen Bolzen meines Motors abzuschrauben.
Ich war in großer Sorge, da mir meine Panne sehr bedenklich zu erscheinen begann, und ich machte mich aufs Schlimmste gefaßt, weil
das Trinkwasser zur Neige ging.
„Was für einen Zweck haben die Dornen?“
Der kleine Prinz verzichtete niemals auf eine Frage, wenn er sie einmal
gestellt hatte. Ich war völlig mit meinem Bolzen beschäftigt und
antwortete aufs Geratewohl:
„Die Dornen, die haben gar keinen Zweck, die Blumen lassen sie aus
reiner Bosheit wachsen!“
„Oh!“
Er schwieg. Aber dann warf er mir in einer Art Verärgerung zu:
„Das glaube ich dir nicht! Die Blumen sind schwach. Sie sind arglos.
Sie schützen sich, wie sie können. Sie bilden sich ein, dass sie mit
Hilfe der Dornen gefährlich wären…“
Ich antwortete nichts und sagte mir im selben Augenblick: Wenn
dieser Bolzen noch lange bockt, werde ich ihn mit einem Hammerschlag heraushauen müssen.
Der kleine Prinz störte meine Überlegungen von neuem:
„Und du glaubst, daß die Blumen…“
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„Aber nein! Aber nein! Ich glaube nichts! Ich habe irgend etwas dahergeredet. Wie du siehst, beschäftige ich mich mit wichtigeren Dingen!“
Er schaute mich verdutzt an.
„Mit wichtigeren Dingen!“
Er sah mich an, wie ich mich mit dem Hammer in der Hand und vom
Schmieröl verschmutzten Händen über einen Gegenstand beugte, der
ihm ausgesprochen häßlich erscheinen mußte.
„Du sprichst ja wie die großen Leute!“
Das beschämte mich. Er fügte aber unbarmherzig hinzu:
„Du verwechselst alles, du bringst alles durcheinander!“
Er war wirklich sehr aufgebracht. Er schüttelte sein goldenes Haar im
Wind.
„Ich kenne einen Planeten, auf dem ein puterroter Herr haust. Er hat
nie den Duft einer Blume geatmet. Er hat nie einen Stern angeschaut.
Er hat nie jemanden geliebt. Er hat nie etwas anderes als Additionen
gemacht. Und den ganzen Tag wiederholt er wie du: Ich bin ein
ernsthafter Mann! Ich bin ein ernsthafter Mann! Und das macht ihn
ganz geschwollen vor Hochmut. Aber das ist kein Mensch, das ist ein
Schwamm.“
„Ein was?“
„Ein Schwamm!“
Der kleine Prinz war jetzt ganz blaß vor Zorn.
„Es sind nun Millionen Jahre, daß die Blumen Dornen hervorbringen.
Es sind Millionen Jahre, daß die Schafe trotzdem die Blumen fressen.
Und du findest es unwichtig, wenn man wissen möchte, warum sie sich
so viel Mühe geben, Dornen hervorzubringen, die zu nichts Zweck
haben? Dieser Kampf der Schafe mit den Blumen soll unwichtig sein?
Weniger ernsthaft als die Additionen eines dicken, roten Mannes? Und
wenn ich eine Blume kenne, die es in der ganzen Welt nur ein einziges
Mal gibt, nirgends anders als auf meinem kleinen Planeten, und wenn
ein kleines Schaf, ohne zu wissen, was es tut, diese Blume eines Morgens so mit einem einzigen Biß auslöschen kann – das soll nicht
wichtig sein?“
Er wurde rot vor Erregung und fuhr fort:
„Wenn einer eine Blume liebt, die es nur ein einziges Mal gibt auf
allen Millionen und Millionen Sternen, dann genügt es ihm völlig, daß
er zu ihnen hinaufschaut, um glücklich zu sein. Er sagt sich: Meine
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Blume ist da oben, irgendwo… Wenn aber das Schaf die Blume frißt,
so ist es für ihn, als wären plötzlich alle Sterne ausgelöscht! Und das
soll nicht wichtig sein?!“
Er konnte nichts mehr sagen. Er brach plötzlich in Schluchzen aus. Die
Nacht war hereingebrochen. Ich hatte mein Werkzeug weggelegt. Mein
Hammer, mein Bolzen, der Durst und der Tod, alles war mir
gleichgültig. Es galt auf einem Stern, einem Planeten, auf dem
meinigen, hier auf der Erde, einen kleinen Prinzen zu trösten! Ich
nahm ihn in die Arme. Ich wiegte ihn. Ich flüsterte ihm zu: „Die
Blume, die du liebst, ist nicht in Gefahr… Ich werde ihm einen
Maulkorb zeichnen, deinem Schaf… Ich werde dir einen Zaun für
deine Blume zeichnen… Ich…“
Ich wußte nicht, was ich noch sagen sollte. Ich kam mir sehr ungeschickt vor. Ich wußte nicht, wie ich zu ihm gelangen, wo ich ihn
erreichen konnte… Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen.5
Und am Ende des Märchens sagt der Autor:
[…] Jetzt habe ich mich ein bißchen getröstet. Das heißt… nicht ganz.
Aber ich weiß gut, er ist auf seinen Planeten zurückgekehrt, denn bei
Tagesanbruch habe ich seinen Körper nicht wiedergefunden. Es war
kein so schwerer Körper… Und ich liebe es, des Nachts den Sternen
zuzuhören. Sie sind wie fünfhundert Millionen Glöckchen…
Aber nun geschieht etwas Außergewöhnliches.
Ich habe vergessen, an den Maulkorb, den ich für den kleinen Prinzen
gezeichnet habe, einen Lederriemen zu machen! Es wird ihm nie
gelungen sein, ihn dem Schaf anzulegen. So frage ich mich: Was hat
sich auf dem Planeten wohl ereignet? Vielleicht hat das Schaf doch die
Blume gefressen…
Das eine Mal sage ich mir: Bestimmt nicht! Der kleine Prinz deckt
seine Blume jede Nacht mit seinem Glassturz zu und er gibt auf sein
Schaf gut acht. Dann bin ich glücklich. Und alle Sterne lachen leise.
Dann wieder sage ich mir: Man ist das eine oder andere Mal zerstreut,
und das genügt! Er hat eines Abends die Glasglocke vergessen, oder
das Schaf ist eines Nachts lautlos entwichen… Dann verwandeln sich
die Schellen alle in Tränen!…
5
Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz. Mit freundlicher Genehmigung des Karl Rauch
Verlags, Düsseldorf 1950 und 2008, Kapitel VII.
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Das ist ein sehr großes Geheimnis. Für euch, die ihr den kleinen
Prinzen auch liebt, wie für mich, kann nichts auf der Welt unberührt
bleiben, wenn irgendwo, man weiß nicht wo, ein Schaf, das wir nicht
kennen, eine Rose vielleicht gefressen hat oder vielleicht nicht
gefressen hat…
Schaut den Himmel an. Fragt euch: Hat das Schaf die Blume gefressen
oder nicht? Ja oder nein? Und ihr werdet sehen, wie sich alles
verwandelt…
Aber keines von den großen Leuten wird jemals verstehen, daß das
eine so große Bedeutung hat!6
Es ist kein Wunder, wenn uns dieser Text tief im Herzen berührt, geht es
doch um das Grundproblem des Menschen – um Liebe und Sinn: Der
kleine Prinz liebt seine dornenbewehrte Blume und er liebt auch sein
Schaf – in der Symbolsprache Rose und Lamm –, beide trägt er in sich,
will sie behalten und schützen, und was geschieht? Das Schaf frisst die
Blume – ganz ohne zu wissen, was es tut – ratzfatz – das ist der Lauf der
Welt und nicht wirklich leuchtender Sternenhimmel, sondern aschgrau
und fahl – ohne Sinn – ohne Ziel, und hier der kleine Mensch, der zu
ihm aufschaut und konstatieren muss, dass sich das oder der da oben
nicht im mindesten interessiert für seine Ängste, seine Schmerzen, seine
Tränen, wie auch Jaques Monod, der große Naturwissenschaftler, Philosoph und Skeptiker in dem Zitat, das ihn weltbekannt gemacht hat, die
Sache und die Frage auf den Punkt brachte! „Er [der Mensch] weiß nun,
dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das
für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“7
Eine ähnliche Punktlandung in dieser Fragestellung macht Albert
Einstein mit dem Satz: „Die wichtigste Frage, die ein Mensch stellen
kann, lautet: Ist das Universum ein freundlicher Ort?“ Wenn wir mit den
Augen der Schulwissenschaft hinausschauen ins Universum, fällt es
schwer, dies zu bejahen. Was, um Himmels willen, sucht ein Mensch,
der sich mit seinem Körper identifiziert, auf dem Mond?
Dies alles hat offenbar mit unserer Frage, unserem Thema zu tun,
ob es gut ausgeht, was man Schöpfung nennt, oder alles in Wahnsinn
6
Der kleine Prinz, a.a.O. Kapitel XXVII.
Jaques Lucien Monod (1910-1976), Nobelpreisträger für Medizin. Zitat entnommen aus: Jaques
Monod: Zufall und Notwendigkeit, München 1971, S. 211.
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(man beachte das Wort!), Zerstörung und Tod endet – Vorgänge, bei
denen der Umstand, dass auch sie einmal enden, das einzig positive ist,
was man von ihnen sagen kann. Ganz so wie Mephisto es ausdrückt mit
dem oben zitierten Vers, dass „alles was entsteht, wert ist, daß es zugrunde geht“. Leben und Schöpfung als eine letztlich absurde Veranstaltung? Fragen Sie Ihr Herz, welcher Antwort Sie zuneigen, und genießen
Sie, wenn Sie können, die Antwort, die Antoine de Saint-Exupéry uns
gibt als Pilot in seiner Geschichte vom kleinen Prinzen: Er wiegt den
kleinen Prinzen in seinen Armen – an seinem Herzen – sein Handeln vor
allem ist die Antwort und weniger, was er denkt und sagt.
Wenn wir Glück haben, fällt die Antwort unseres Herzens ähnlich
positiv aus, und die emotionale Kraft, die uns daraus zufließt, vermittelt
uns zugleich eine Sicherheit – eine Evidenz –, dass es so ist, und sogleich die Aufforderung, mit dafür Sorge zu tragen, dass der unvermeidbare Kampf der unterschiedlichen Auffassungen mit einem Sieg des
Guten, des Sinnes und der Liebe endet.
Wenden wir uns der Theosophie im engeren Sinne – auch das bisher Zitierte sind natürlich theosophische Texte im weiteren Sinne – zu,
so fällt einem natürlich zuerst das Karmagesetz ein. Das für den materiellen sowie für den geistigen Bereich geltende Gesetz, dass jede Ursache
eine bestimmte Wirkung hervorruft und diese dann in bestimmter Weise
auf den Verursacher zurückwirkt und zwar so, dass die Harmonie des
Ganzen nicht gefährdet, sondern, soweit gestört, wiederhergestellt wird.
Je stärker die Störung, umso stärker die Rückwirkung auf den Störer bis
hin zu dessen Vernichtung. Funktionieren die Dinge so, dann haben wir
mit dem Karmagesetz zugleich die vom Weltschöpfer in den Schöpfungsprozess eingebaute Sicherung gegen ein Scheitern des Ganzen
durch ein Versinken im Chaos vor uns. Für den einzigen möglichen
Störer, den Menschen, stellt sich unsere Ausgangsfrage damit ganz
anders, nämlich dahin, ob er – bei dem notwendig gelingenden Ganzen –
als Mitschöpfer und Teilnehmer an der Verwirklichung des göttlichen
Willens, ausgedrückt im Karmagesetz, seinerseits dabei ist oder aber –
bei halsstarrigem Verharren in der Störerposition bis zu dessen schwarzmagischer Steigerung hin zu lebensfeindlicher Böswilligkeit, selbst
seiner Vernichtung entgegengeht.
Haben wir dies erkannt, so bekommt die Ausgangsfrage einen ganz
neuen Akzent:
Ob das Ganze gut geht oder nicht, diese Frage soll und muss der
Mensch getrost dem Veranstalter des Ganzen überlassen. Die für ihn
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allein relevante, dabei aber gleichwohl existentiell wichtige Frage ist
die, ob er erfolgreich ist oder scheitert. Ob er im Hinblick auf sein
Schicksal Grund hat, optimistisch zu sein oder eher nicht! Sich mit
dieser Frage zu beschäftigen, hat er ein Leben lang Zeit und danach
noch viele weitere Leben, und alle diese Leben sind angefüllt mit Hinweisen für ihn, ob die Richtung, in die er marschiert, so im Großen und
Ganzen stimmt oder eher nicht! Ein Helfer auf diesem beschwerlichen
Wege steht ihm zur Seite: Sein höheres Selbst und dessen wichtigste
Funktion – sein Gewissen! Aus der Geschichte der Menschheit wissen
wir, wie viele an diesen Maßstäben gescheitert sind – aber zugleich auch
wissen wir um diejenigen, die ihr Ziel, das Ziel eines jeden Menschen,
erreicht haben, die Heiligen, die Erleuchteten, die Meister, wie wir sie
nennen wollen, die anerkannt vom Göttlichen – „dies ist mein lieber
Sohn“ – das ihnen in der göttlichen Welt zugedachte Erbe angetreten
haben. Niemand sollte die Torheit begehen, dieses Erbe für ein Linsengericht zu verspielen.
All das, was wir bisher gesagt haben, spiegelt sich wider in dem
weltbekannten und berühmten theosophischen Schlüsseltext, erneut abgedruckt im letzten Heft von Theosophie heute, erstmals wiedergegeben
als Meisterwort in Die Lotoskönigin von Mabel Collins.
„Mein Bruder“, sprach er, „höre mich.
Es gibt drei Wahrheiten, die ewig, unvergänglich sind und nie
verloren gehen können, mag auch der Mangel richtigen Ausdrucks sie verborgen halten.
1. Des Menschen Seele ist unsterblich und ihre Zukunft ist
die Zukunft eines Wesens, dessen Wachstum und Vollendung ohne Grenzen sind.
2. Die Urkraft, welche Leben gibt, wohnt in uns und außer
uns. Sie ist unvergänglich und ewig segenbringend; sie
ist unsichtbar, kann mit keinem der körperlichen Sinne
wahrgenommen werden und wird dennoch von jedem erkannt, der Erkenntnis sucht.
3. Ein jeder Mensch gibt sich sein eigenes, unverbrüchliches Gesetz. Er selbst bestimmt sein Los – Glück oder
Elend –, ist selbst der Richter seines Lebens, gibt sich
selbst die Belohnung oder Strafe.
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Diese Lehren, welche groß sind wie das Leben selbst, sind
schlicht und einfach wie der schlichteste Verstand des
Menschen. Gib sie dem Hungrigen zur Nahrung.“8
Und Franz Hartmann schreibt über die Frage, welcher Zukunft wir entgegengehen:
„Wenn die Voraussagen der großen Erleuchteten aller Zeiten
Vorausgesichte der Wirklichkeit sind, stehen wir Heutigen im
Aufgang einer neuen Epoche in der Menschheitsgeschichte und
am Vorabend großer Ereignisse.
Das dunkle Zeitalter geht seinem Ende entgegen. Der
Übergang zum neuen lichteren Äon ist mit unvorstellbaren
politischen, wirtschaftlichen und religiösen Umwälzungen verbunden und, da Lebenswelt und Natur eins sind, auch mit
äußeren, geologischen Wandlungen…
In den uralten Voraussagen sind die sozialen Missverhältnisse unserer Übergangszeit unmissverständlich beschrieben:
die Zeichen der Abnahme der Rechtschaffenheit unter den
Menschen, die Zunahme der gegenseitigen Übervorteilung, die
unerträgliche Last der Steuern durch den zum Selbstzweck gewordenen Staatsapparat, das Anwachsen der Lieblosigkeit und
der globalen kriegerischen Auseinandersetzungen wie der Tyrannei, die unzählige Menschen heimatlos macht und zur Auswanderung treibt, die Nichtachtung der Heiligkeit der Ehe und der all
diesen Übeln folgende Untergang der alten Welt.
Diese Voraussagen beruhen teils auf dem Wissen der
Alten um kosmische Gesetzmäßigkeiten und rhythmische Abläufe, teils waren sie Frucht innerer Zukunftsschau. Alles in der
Welt verläuft nach bestimmen Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen und vollzieht sich in großen und kleinen Zyklen und
Rhythmen – einerlei, ob es sich um das Leben einer Eintagsfliege, eines Menschen, eines Volkes, der Menschheit, der Erde,
eines Sonnensystems oder des Universums handelt.
Eine ähnliche Wendezeit, die einem Weltuntergang im
Kleinen gleichkam, fand zur Zeit der Geburt des Christentums
8
Vgl. Theosophie heute, Heft 1/2008, S. 1.
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statt, obwohl die römischen Diktatoren alles unternahmen, um
sie aufzuhalten und dem Werden des neuen zu wehren.
Gleiches steht uns heutigen bevor, und zum Teil erleben
wir die immer stürmischer werdenden Wandlungen bereits. Was
die Welt braucht, um diesen Übergang vom Alten zu etwas
völlig Neuem zu meistern, sind nicht neue Systeme, neue
politische oder religiöse Einrichtungen und Vereinbarungen,
sondern der Glaube an das Gute und Wahre und das Festhalten
daran durch rechtes Tun, weiter der Geist der Selbst-Erkenntnis
und der Liebe, ohne die keine Meisterung der Welt und des
Lebens möglich ist.
Dieses Erwachen mitten in der Unruhe der Zeit zu einem
höheren lichteren Sein tritt ein, wenn die Voraussetzungen dazu
erfüllt sind. Erfüllen aber muss sie der Einzelne in sich selber.
Die jetzt vergehende Welt ist mit sich überstürzenden
politischen, pseudowissenschaftlichen, sozialen und religiösen
Theorien, Dogmen und Versuchen erfüllt, die die Menschen zunehmend verunsichern und entzweien. Erst mit der neuen Ära
tritt eine Welt der Ordnung und Harmonie, Einheit und Erleuchtung ins Dasein. Aus dem in immer mehr Herzen aufgehenden
Licht der Erkenntnis wird eine neue Freiheit erblühen, und die
Menschen werden ihre innere Einheit erkennen. Immer mehr
Einzelne werden gewahr werden, dass sie keinen anderen benachteiligen, schädigen oder unterdrücken können, ohne dadurch
sich selbst am meisten zu schaden. Die Flamme der Liebe wird
die Kruste des persönlichen und kollektiven Egoismus zum
Schmelzen bringen, der Ungeist des Ichwahns wird dem Geist
der Einheit und Freiheit weichen…
…Das Licht der Wahrheit und der göttlichen Weisheit
wird immer mehr Herzen erleuchten, und die Menschen werden
den Geist der Gottheit nicht mehr an äußeren Orten, in
steinernen Tempeln oder jenseits der Sterne suchen, sondern ihn
in sich selber finden. Sie werden ihres göttlichen Ursprungs
bewusster werden und den Himmel, den sie in sich entdecken,
auch um sich herum zum Wohle aller Wesen zu verwirklichen
streben.“9
9
Franz Hartmann: Was ist Theosophie?, hrsg. von K. O. Schmidt, Egolding 1990, S. 131ff.
53
Kameradschaft – Freundschaft – Liebe
Broder Christiansen
In Kameradschaft, Freundschaft und Liebe sollte das Ziel sein,
sich gegenseitig zu höhen. Das geschieht aber nicht wie ein
Tauschgeschäft, das zwei gleichgerichtete Willen voraussetzt,
sondern in der einfacheren Linie seelischen Wachsens:
Du erhebst den Freund, und damit zugleich hebst Du Dich
selbst. Ihm Scham zu ersparen und den peinlichen Anstoß seiner
Grenzen, das ist noch zu wenig: Du sollst den Ehrgeiz haben,
dass in Deiner Nähe seine besten Kräfte wach werden und beschwingt, dass ihm Einsichten kommen bei Dir und Sehnsüchte
und Vorsätze, davon er selber nichts wusste.
Und dazu ist dieses der Weg: dass Du Dich bemühst, des
Freundes Vorzüge zu entdecken. Lass liegen, was klein ist an
ihm – in jedem Menschen sind Engen: suche, was in ihm Steigendes ist und neu Verheißendes. Sammle, was er kann und was
er könnte; unterstreiche vor Dir und immer wieder seine Tüchtigkeiten, zumal die noch keimenden.
Und trittst Du zu ihm in solcher Gesinnung, dann, siehe! wird
es geschehen – ohne dass Du schöntust seinen Eitelkeiten –
dass diese seine geheimen Tugenden vor Dir, als vor dem Wissenden, zu Lichte kommen, und der Freund bei Dir zu funkeln beginnt, wie er sich selber nicht kannte.
Aber dabei wirst Du es sein, der ihm als der Befreier und Beschwinger erscheint und darum als der höher Gemutete, und in
Dir wird er Tüchtigkeiten ahnen, die er in anderen nicht fand; und
siehe: vor ihm, als vor dem Erwartenden, werden nun Deine
geheimen Tugenden sich breiten, Dir selber ungekannte Kräfte
verkündend: und siehe! an dem Leuchten, das Du dem Freunde
gegeben, hast Du nunmehr Dich selber entzündet.
Broder Christiansen: Lebenskunst, Reclam 1949, S. 19f.
54
Goldene Stufen
„Reines Leben, offener Sinn, lauteres Herz, reger Verstand, ungetrübter Blick, brüderliche Liebe für alle Wesen, Bereitwilligkeit, Rat
und Belehrung zu geben und zu empfangen, treues Pflichtgefühl
dem Lehrer gegenüber, williger Gehorsam gegenüber den Geboten der Wahrheit, sobald wir unser Vertrauen in den Lehrer gesetzt haben und glauben, dass er im Besitz der Wahrheit ist, mutiges Ertragen persönlicher Ungerechtigkeit, beherztes Sich-Bekennen zu den Grundsätzen, tapferes Verteidigen der ungerecht
Angegriffenen, den Blick unverwandt gerichtet auf das Ideal
menschlichen Fortschritts und menschlicher Vervollkommnung
wie es das heilige Wissen beschreibt – das sind die goldenen Stufen, die der Lernende erklimmen möge, um einzugehen in den
Tempel der göttlichen Weisheit.“
H. P. Blavatsky
Spirituelles Wachstum:
Meditationen über das okkulte Leben
Geoffrey Hodson
ERSTES KAPITEL
Der Pfad des beschleunigten Sieges
Der Mensch ist ein selbstbewusstes Wesen, und als solches besitzt er die
Kraft, sich einer spirituellen Disziplin zur Beschleunigung seiner Entwicklung zu unterziehen. Er kann sein Ziel schneller erreichen, wenn er
die Prinzipien, welche das normale Wachstum regieren, bewusst in intensiverer Form anwendet.
Der Vorgang besteht darin, dass der Mensch immer mehr, und
schließlich ununterbrochen, in seinem Denken und Fühlen, in seinen
Motiven und seiner Lebensführung alles das betont, was in ihm spirituell
55
ist, während er in ergänzender Weise aus diesen vier Aspekten seines
persönlichen Lebens alles ausscheidet, was zu dem spirituellen Ideal in
Widerspruch steht. Dies macht die Einrichtung eines Systems unaufhörlicher mentaler und emotioneller Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur
notwendig.
Eine solche systematische Selbstzucht verursacht in dem Neophyten zuerst eine Verstärkung seiner Konflikte. Alles Materielle in
seiner Natur widerstrebt dem vergeistigenden Prozess und versucht, sich
seiner mentalen Beherrschung zu entziehen. Der Schlüssel zum Erfolg
liegt deshalb in der Bemeisterung des Denkens, und auf diese Aufgabe
muß der Strebende alle seine Energien verwenden. Er wird gut daran
tun, soweit wie möglich die Impulse und Einflüsterungen seiner Gefühlsnatur und die Forderungen seines Körpers unbeachtet zu lassen und
sich auf die Beherrschung seines Denkens zu konzentrieren.
Das vergeistigte Leben
Die Bemeisterung des Verstandes erfordert, dass man das Bewusstsein
aus Gefühl und Handlung in den Intellekt zurückzieht, bis die Fähigkeit
zu rein mentaler Wahrnehmung entfaltet ist. Das Interesse am Leben
sollte zunehmend vorwiegend intellektueller und spiritueller Natur
werden, aber der spirituelle Zustand schließt dann die veredelten und beherrschten Gemütsbewegungen ein. Arbeit, Studium und Erholung
müssen intellektuell und spirituell gestaltet werden, bis der Neophyte
lernt, in seinem Denken zu leben und sein Leben durch seinen Intellekt
zu beherrschen und zu leiten. Als Folge verfeinert und läutert sich sein
persönliches Leben. Ernst und Askese werden seine Lebensführung
kennzeichnen, Zurückhaltung und Würde seine Sprache und Haltung.
Dennoch wird er dabei warmherzig und gütig bleiben und stets bereit,
seinen Mitmenschen zu helfen; besonders wird er darauf bedacht sein,
ihnen auf dem Pfad zum beschleunigten Sieg Beistand zu leisten.
Diesen allgemeinen Methoden der Vergeistigung müssen sich systematisch ausgeführte spirituelle Übungen anschließen, welche bezwecken, einerseits den Brennpunkt des Bewusstseins im höheren Verstand zu festigen, andererseits die mentale Beherrschung der Lebensführung zu stärken und zu erhalten wie auch die Fähigkeit des abstrakten
Denkens zu entwickeln. In einer späteren Zeit muss der Strebende das
intuitive Bewusstsein entfalten und sich dadurch für das Erreichen der
höchsten Selbstverwirklichung, jener des spirituellen Willens, vorbereiten.
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Die Entdeckung der Wahrheit
Die erforderlichen Übungen bestehen aus dem inneren Studium ewiger
Wahrheiten mittels Meditation und Kontemplation.
Diese und andere Wahrheiten sind die Grundlage aller Religionen
der Welt, und der Neophyte wird darum zu ihrem Studium hingeleitet.
Er muss bei dem Studium inspirierter exoterischer Lehren Denkkraft
und Intuition anwenden, um ihre esoterische Bedeutung zu erfassen.
Durch dieses Verfahren wird er eine sich stets vergrößernde Menge von
Vorstellungen über spirituelle Wahrheiten sammeln, welche er dann
methodisch in echte Wirklichkeiten für sich umwandeln muss. Er muss
sich zu einem „Kenner“ der Wahrheit entwickeln.
Dies wird durch unermüdliche Experimente erreicht, deren Art bei
jedem Menschen verschieden sein wird. Die Methode, die göttliche
Weisheit aus den Schriften der verschiedenen Religionen herauszuschälen, besteht darin, dass man sich mit jeder Darstellung einer Wahrheit mental eingehend beschäftigt, bis ihre wesentlichen Bestandteile
klar zutage treten. Diese werden dann in tiefer Meditation betrachtet, bis
man ihre volle Bedeutung erfasst und die Form ihrer Anwendung auf
das tägliche Leben entdeckt hat.
Dies erfordert mentale Anstrengung. Man muss sein Denken dazu
bringen, mit nie wankender Konzentration auf dem erwählten Gegenstand zu verharren, in der Absicht, ihn bis zu seinem inneren Kern zu
durchdringen. Der Erfolg ist möglich, weil die Wahrheit im Bewusstsein
des Menschen verborgen ruht. Dadurch, dass die Wahrheit, die er sucht,
im Strebenden gegenwärtig ist, vermag er sie im Gegenstand seiner Meditation zu erfassen. Durch das Studium der äußeren Ausdrucksformen
der Wahrheit wird er zur Entdeckung der Wahrheit in sich selbst geführt.
ZWEITES KAPITEL
Gehirn und Körper
Da das Gehirn eine überaus wichtige Rolle für die Erfassung der Wahrheit während des Wachbewusstseins spielt, muss der Neophyte sowohl
die Funktionsweise als auch die Entwicklung des Gehirns verstehen.
Wenn die im vorhergehenden Kapitel erwähnten Meditationen mit Ausdauer durchgeführt werden, verändern sie allmählich den Zustand des
Gehirns. Die Tätigkeit seiner Zellen wird verstärkt und die Fähigkeit
57
seiner Reaktion auf Schwingungen geweitet; die Atome, aus denen es
besteht, werden dadurch, dass sie durch die konzentrierte Gedankenkraft
dazu gebracht werden, Energie, Leben und Erkenntnisse aus übermentalen Bewusstseinsebenen zu übertragen, stärker belebt.
Das gesamte Gehirn wird durch die Meditation über abstrakte und
spirituelle Wahrheiten einer Anspannung unterworfen, und der Neophyte muss große Sorgfalt anwenden, um es in seiner Begeisterung nicht
zu verletzen. Leichter Schmerz oder Mattigkeit ist eine Warnung, dass
die Anspannung sich dem Gefahrenpunkt nähert, an dem eine bleibende
Schädigung möglich ist. Beim Auftreten eines solchen Zeichens sollte
die Meditation unterbrochen oder ihre Form gewechselt werden. Die den
Schmerz erzeugende Methode sollte unter äußerster Vorsicht experimentell geprüft werden. Das Ausbleiben von Schmerz zeigt die Gefahrlosigkeit einer Übung an.
Die Schulung des Gehirns eines geistigen Neophyten muss
während des Wachbewusstseins praktisch ununterbrochen vor sich
gehen. Wenn eine zu große Lockerung der Kontrolle und ein zu tiefes
Absteigen in grobes und materielles Denken erfolgt, wird nicht nur der
Schulungsprozess des Gehirns verzögert und die Anstrengung während
der Meditation fast erfolglos gemacht, sondern es entsteht sogar ein Einfluss in der entgegengesetzten Richtung. Seine Fähigkeit, auf Schwingungen zu reagieren, wird eingeengt und die Entwicklung der Atome
verlangsamt.
Schlaf, reine Nahrung
Das Gehirn muss als ein zartes und äußerst kostbares Instrument angesehen werden, welches durch seine Berührung mit der äußeren Welt und
die Arbeit in ihr fortwährend stumpf wird und darum immer wieder neue
Schärfung benötigt. Dies wird erreicht durch Meditation, Gedankenbeherrschung, sorgfältige Ausschaltung von Denkgewohnheiten, welche
die spirituelle Wahrnehmung verringern, durch geordnetes, ruhiges
Leben und richtige Nahrung. Alle Fleischnahrung verunreinigt den Blutstrom und stumpft das Gehirn ab. Sie vermehrt auch die Neigung zu
groben Gedanken und Gefühlen. Frische Früchte und Gemüse – besonders Rohkost – reinigen die Blutströme und vitalisieren Körper und
Gehirn.
Weisheitsschüler des Westens, welche die Praxis der Meditation
mit Regelmäßigkeit und Ernst aufnehmen, brauchen dazu als Ergänzung
58
ausreichenden Schlaf. Während der Schlafstunden erholt sich das Gehirn
von der Anspannung der täglichen Tätigkeiten und wird dadurch fähig
gemacht, immer vollkommener auf die Resultate der Meditation zu
reagieren. Darum ist während dieses Schulungsvorganges viel Ruhe notwendig, besonders in den ersten Stadien, und ein frühes Zubettgehen ist
dringend anzuraten. Reizmittel, die ein ermüdetes Nervensystem zur
Fortsetzung seiner Arbeiten befähigen sollen, sind schädlich. Ein
systematisch geordnetes tägliches Leben macht ihre Anwendung
überflüssig.
Geordnetes tägliches Leben
Die täglichen Tätigkeiten müssen sinnvoll geplant und so angeordnet
werden, dass sie eine direkte Beziehung zu dem Ziel der Selbsterkenntnis und Erleuchtung haben. Handlungen, die nicht diesem Zweck
dienen, müssen unterbleiben.
Die Umgebung des Anfängers wird ihn vielleicht zuerst daran
hindern, sich mit diesen Notwendigkeiten in Einklang zu setzen. Aber
während seines Fortschreitens wird er entweder eine andere Umgebung
erhalten, oder sie wird seinen geistigen Bedürfnissen angepasst werden.
Dieser Vorgang mag langsam erscheinen, doch er wird sich vollziehen,
und zwar in genauem Verhältnis zu dem Grad der Umwandlung in
seinem Inneren. Die Umgebung eines Menschen enthält alles das, was
seine entwicklungsgemäße Schulung erfordert. Der Mensch, welcher
spirituell erwacht und sich immer rascher und inniger mit dem Leben in
Einklang setzt, wird bemerken, dass seine Umgebung sich rasch ändert.
Seine Lebensumstände werden mit zunehmender Treue den Zustand und
die Veränderungen seines Bewusstseins widerspiegeln.
Reinheit des Körpers als Erfordernis für spirituelles Wachstum
Die das Gehirn betreffenden Gebote beziehen sich auch auf den ganzen
Körper. Er muss ebenfalls innen und außen rein gehalten werden. Sein
Magnetismus soll durch häufiges, regelmäßiges Baden, öfteren Kleidungswechsel und ein reines natürliches Leben geschützt und geläutert
werden, selbst in einer unreinen und unnatürlichen Umgebung. Die
Hände und die Füße sind jene Körperteile, welche am empfänglichsten
für äußere magnetische Unreinheiten sind. Sie sind sozusagen magnetische Mündungen – Eingangspforten in das magnetische System des
Körpers und gleichzeitig Austrittstore aus demselben. Man kann beim
59
Händereichen durch die Berührung der eigenen Hand mit der eines
anderen willentlich einen Strom von segnendem Magnetismus in diesen
Menschen leiten. Der Gruß eines Okkultisten muss aufrichtig und von
einer positiven Absicht getragen sein. Aufrichtige und positive Haltung
ist eine der bedeutendsten Sicherungen im okkulten Leben.
Das Gehirn kann als der Makrokosmos und der Körper als der Mikrokosmos angesehen werden, denn in jeder Körperzelle ist Gehirnleben
gegenwärtig, wird Gehirnbewusstsein geoffenbart und Gehirnenergie
zum Ausdruck gebracht. Umgekehrt werden alle Funktionen, Handlungen und Erfahrungen des Körpers durch das Medium der Sinne im
Gehirn reflektiert. Unreinheit des Körpers – ob durch Lebensführung
oder mangelhafte Sauberkeit – hat einen hemmenden Einfluss auf die
Höherentwicklung des Gehirns und trübt seine Schärfe. Außer seiner
Funktion als das spezifische Organ der Intelligenz ist das Gehirn auch
der Sitz des Ego-Bewusstseins. Es ist der physische Logos des KörperSonnensystems und befindet sich in ständiger Wechselwirkung mit ihm.
Daher die Notwendigkeit gewissenhafter aufmerksamer Sorge für die
Reinheit und das Wohlbefinden des Körpers.
Okkulte und andere Praktiken, die den Körper in abnorme Funktionszustände zwingen, die bestimmte Organe oder Glieder über- oder unempfindlich machen, bringen zerstörende Wirkungen auf Körper und
Gehirn hervor. Harmonie, Rhythmus, Leichtigkeit, Gleichgewicht und
Anmut sind die Eigenschaften, zu denen der Neophyte seinen Körper erziehen sollte.
Meditation
Wenn der Körper so geschult und das Gehirn sensitiv gemacht worden
ist, dann ist der Weg für das Herabsteigen und die physische Manifestation des Ego-Bewusstseins gebahnt. Das Licht des höheren Verständnisses beginnt die Dunkelheit des persönlichen Intellektes zu erhellen,
und der Mentalkörper entwächst seinen charakterlichen Eigenschaften,
nämlich, dem Mangel an Elastizität sowie der Neigung zu Analyse,
Kritik und Selbstabsonderung; diese werden durch geistige Aufgeschlossenheit, konstruktives Urteil und Vereinigungsstreben ersetzt.
Diese Wandlung im Mentalkörper ist wiederum für die Entwicklung des Gehirns von Wichtigkeit, denn jeder Zustand in dem einen Bewusstseinsorgan wird auch in dem andern widergespiegelt. Das Gehirn
und das Intelligenz-Zentrum im Mentalkörper können als der negative
60
und der positive Brennpunkt in der Ellipse des persönlichen Bewusstseins betrachtet werden. Veränderungen in dem einen erscheinen sofort
auch in dem anderen, die Vervollkommnung des einen ist ohne die des
anderen unmöglich. Im Zustand des Wahnsinns und nach dem Tod ist
das mentale Leben in hohem Grad subjektiv, weil ihm der negative Pol
fehlt.
Der Weg zur höchsten intellektuellen Erleuchtung führt vom Gehirn zum Mentalkörper, von dort ins Ego-Bewusstsein und dann weiter
aufwärts und nach innen durch die Intuition zum spirituellen Willen.
Von dort führt er – beim Adepten – aus der individuellen in die universelle Sphäre, wo er der gleichen allgemeinen Richtung weiter ins kosmische Bewusstsein folgt. – Die Aufgabe, die vor dem Neophyten liegt,
welcher bereits seinem Körper, Gehirn und Verstand die bestmögliche
Aufmerksamkeit und Fürsorge erweist, besteht darin, ein gewisses Maß
von wachem Ego-Bewusstsein in sich zu begründen und es an Umfang
und Beständigkeit fortwährend zu verstärken. Er sollte sein Denken unablässig in das Reich der Ur-Prinzipien erheben, die Gewohnheit erringen, alle intellektuellen Tätigkeiten zu der Ebene der höheren Vernunft emporzutragen, und der Neigung widerstehen, das Denken von
Einzelheiten gefangennehmen zu lassen.
Die Meditation über die ewigen Wahrheiten wird allein nicht zum
Erfolg führen, sie muss durch eine standhafte und immer erfolgreichere
Anstrengung unterstützt werden, den Geist während der Zeiten zwischen
den Meditationen im höheren Bewusstsein festzuhalten. Die Haltung des
Neophyten zu einer Handlung, die Gemütsbewegungen mit in sich
schließt, wird ganz davon bestimmt werden, was für eine Wirkung sie
auf dieses sein Bemühen hat. Gemütsbewegungen, welche das Denken
ablenken und den Körper erregen, müssen konsequent vermieden
werden. Solche, die eine vollere und freiere Art des Selbstausdruckes
herbeiführen, wie reine Liebe, Sympathie, religiöse Hingabe und Schönheitsempfinden, sollten zur höchsten Ausdrucksfähigkeit entfaltet
werden, bis das Gefühlsleben aus ihnen allein besteht, wobei ihnen ihr
Platz von dem durch die Vernunft wirkenden Willen zugewiesen wird.
Zirbeldrüse und Hypophyse
Auch bei diesen Bestrebungen spielt das Gehirn mit seinen verschiedenen Teilen und Organen eine Rolle von überragender Bedeutung.
Das Gehirn ist die Wohnstatt des individuellen Selbstes im inkarnierten
Menschen. Es ist das innere Heiligtum im Tempel des Körpers. Alle
61
seine Zellen sind von dem Erkenntnis-Aspekt des individuellen Selbstes
durchdrungen. Jedes Molekül ist mit seiner Energie geladen, deren
Grundschwingung oder Frequenz die des Denkens ist. Im Verhältnis zu
dieser gedanklichen Beseelung des Gehirns ist die Gegenwart der beiden
anderen Aspekte des dreifältigen Selbstes von bloß untergeordneter Bedeutung. Daher ist das ganze menschliche Gehirn ein Träger des erwachenden individuellen Ich-Bewusstseins, und seine Abteilungen entsprechen den Facetten des Juwels des menschlichen Erkenntnisvermögens, das heißt, den verschiedenen Eigenschaften des konkreten und
abstrakten Verstandes.
Die Zirbeldrüse und die Hypophyse sind im Gehirn die Brennpunkte, durch welche sich das individuelle Bewusstsein in erster Linie
offenbart. Von ihnen breitet sich das Bewusstsein über das ganze Gehirn
aus, in Form von Energiewellen verschiedener Frequenz, je nach Art des
Denkens. Im gewöhnlichen Menschen besteht die Fähigkeit der Zirbeldrüse aus konkretem Denken, mit gelegentlichen Ausdehnungen in das
abstrakte Denken, während die Hypophyse Gemütsbewegungen übermittelt, mit gelegentlichen Ausdehnungen in die Intuition.
Im entwickelten Menschen dringt die Intuition durch das Erkenntnisvermögen herab und wird durch dasselbe gedeutet. Sie erreicht das
Gehirn durch die Zirbeldrüse. In dem Maß, in dem die Intuition sich entfaltet, wird das konkrete Denken allmählich in das Unterbewusstsein abgedrängt, es verbindet sich dort mit den Emotionen und erreicht das Gehirn durch die Hypophyse.
Die Entfaltung des Bewusstseins wird von einer parallell laufenden
organischen Entwicklung des Gehirns begleitet, die auch eine Erweiterung des Bereiches der Schwingungsempfänglichkeit dieser beiden
Drüsen mit sich bringt. Ihre positive und negative Polarität wird infolge
ihrer wachsenden Tätigkeit als Empfänger und Übermittler stärker ausgeprägt, so dass eine unmittelbare Wechselwirkung – in elektrischen Begriffen ein magnetisches Feld – zwischen ihnen entsteht. Die dritte Gehirnkammer wird in dieses Feld eingeschlossen und vervollständigt den
Aufbau eines dreifachen Mechanismus für die Offenbarung des dreifältigen Selbstes durch das Gehirn. […]
62
VIERTES KAPITEL
Leben und Form
In der Natur ist die Form dem Leben untergeordnet, und so sollte es
auch beim Menschen werden. Er muss von innen heraus leben und mehr
die Erfüllung des Lebens suchen als die Verewigung der Form. Die
Form ist die Dienerin des Lebens, aber in der Welt, in der der Strebende
lebt, hat man das Leben der Form untergeordnet. Das Leben ist trotzdem
alles besiegend, und die Form muss, so stark sie auch sein mag, schließlich vernichtet werden. Diese Vernichtung bringt jenen Leid, welche ihr
Vertrauen allein in die Form gesetzt haben. Dem aber, der gelernt hat,
auf das Leben zu bauen, ist das Leid fremd, denn er hat das Geheimnis
des Glückes gefunden. Da er eins mit dem Leben ist und dem Leben
vertraut, teilt er dessen Freiheit und kennt dessen Seligkeit. Schmerz gehört den Formen an. Leiden ist unvermeidlich für jene, die unter der
Herrschaft der Formen stehen, denn die Formen müssen, da sie vergänglich sind, unvermeidlich dahinschwinden; da sie sterblich sind, müssen
sie eines Tages vergehen. Das Leben ist ewig dauernd, unsterblich; jene,
die ihr Vertrauen auf das Leben setzen, werden den Tod überwinden und
ewige Seligkeit gewinnen.
Leben und Form sind jedoch in Wirklichkeit keine Gegner. Sie sind
zwei Aspekte des Einen, aus welchem sie beide hervorgehen. Dadurch,
dass er beides erfährt und verstehen lernt, findet der Mensch seinen Weg
zu dem Einen. Diese Vollendung ist das Ziel des menschlichen Lebens.
Der Weg nach oben
Leben und Form sind die beiden Pfeiler des Torweges, welcher zur
Wohnstatt des Höchsten Einen führt. Zwischen ihnen und sie verbindend liegt jener Weg, den man sich konkret als eine Straße vorstellen
kann, welche die Füße aller beschreiten müssen. Sogar die höchsten
Götter sind diese Straße gewandert, jene sieben hohen Geistwesen, in
welchen die sieben Töne oder Seinsweisen am vollkommensten geoffenbart sind. Selbst der Höchste Eine hat die Freuden und Mühsale dieser
Straße erfahren – vor langen, fernen Zeiten, in Universen, die jetzt zu
Staub zerfallen sind.
Tiere, zivilisierte und kultivierte Menschen, Genies und Propheten,
Weise und Heilige scharen sich auf der Straße, die zum ewigen Leben
führt, und nähern sich immer mehr dem Ziel: der Pforte der Befreiung
63
von den Paaren der Gegensätze. Jenseits dieser Pforte weilen die
„gerechten, vollkommen gewordenen Menschen“, die Adepten, die
spirituellen Könige in der Wohnstatt des Höchsten.10 Man kann diesen
mächtigen Wesen auch auf der Straße selbst begegnen, wenn sie
freiwillig in die Einkerkerung des Lebens in Formen zurückgekehrt sind,
um der strauchelnden Menschheit, ihren jüngeren Brüdern zu helfen, sie
zu heilen, zu leiten und zu inspirieren. Aber obwohl sie sich unter der
langsam empor klimmenden Menge bewegen, werden sie von den
Menschen nur selten erkannt; denn die an die Verschiedenheiten und
Teilungen der Offenbarungsformen des Einen gewohnten Augen der
Menschen sind blind für das Licht jener, welche in der Einheit wohnen.
Doch die Großen werden von jenen Menschen wahrgenommen, die
begonnen haben, die Einheit inmitten der Verschiedenheit, das Leben
innerhalb der Formen zu erkennen und dieser ihrer Einsicht gemäß zu
leben. Die Vollkommenen schauen immer nach jenen aus, in denen
diese Einsicht aufdämmert, nach jenen, welche sich bemühen, den
„Pfad“ zu beschreiten, und die daher bereit sind, ihre Hilfe anzunehmen.
Ältere und jüngere Brüder
Im gegenwärtigen Zeitalter sind spirituell gesinnte Menschen zahlreich
vorhanden; dadurch, dass sie sich zu Dienern der Menschheit machen,
werden sie näher zu den älteren Brüdern herangezogen. In dieser Zeit
wird der Schleier zwischen der äußeren Welt der Formen und der
inneren Welt des Lebens immer dünner. Erleuchtete Menschen beginnen, diesen Schleier zu durchdringen und in die Welt des Lebens einzutreten. Die Vollkommenen bemerken dieses Eindringen, sie segnen
und inspirieren ihre jüngeren Brüder, wenn diese sich dem inneren
Reiche nähern, in welchem sie wohnen. Das Vorrecht der Gemeinschaft
mit vollkommen gewordenen Menschen konnte immer von solchen
Menschen errungen werden, welche fähig waren, die Einheit von allem,
was lebt, die Tatsache der universalen Bruderschaft zu erkennen und ihr
Leben in Übereinstimmung mit dieser Wahrheit zu bringen. Allen jenen,
welche ihre Gemeinschaft suchen und sich sehnen, der Menschheit unter
ihrer Führung zu dienen, rufen die älteren Brüder in der Tat zu:
10
Vgl. Bibel, Brief an die Hebräer 12; 23 [Red.].
64
„Erhebet Euch! Erwachet! Werdet die Götter, die ihr seid! Lebet als
Götter, rein, selbstlos und stark!“11
„Der Gott, der ihr in der wirklichen Welt seid, leuchtet dort in makelloser Reinheit, er strahlt selbstlose Liebe aus und beginnt, jene Stärke
zu entfalten, welche die Verheißung der Allmacht ist.“
„Inmitten der Unreinheit der Welt seid rein! Inmitten der Selbstsucht der Menschen dienet! Inmitten der Schwachheit der Menschen
seid stark!“
„Durch solches Leben werdet ihr die Pforte zum ewigen Leben
finden. Durch solches Dienen werdet ihr uns finden, die wir leben, um
zu dienen. Durch solche Stärke werdet ihr unsere Stärke empfangen, die
wir Pfeiler im Tempel des allmächtigen Gottes geworden sind.“
„Im Schlaf und im Wachen wird unsere Kraft euch durchfluten für
den Dienst der Welt. In unserem Namen und durch unsere Kraft werdet
ihr zu Heilern der Welt werden, zu Tröstern in ihren Nöten und zu Inspiratoren jener, die fähig sind, auf das Ideal eines vollkommenen Lebens
und auf die Gegenwart vollkommener Menschen zu reagieren.“
„Eure Welt ist euer Erntefeld. Eure Mitmenschen sind seine Garben. Eure Aufgabe ist es, diese Garben einzusammeln, damit der göttliche Sämann, der sie ausgesät hat, nicht Menschen, sondern Götter als
Ernte in sich aufnehmen kann.“
„Lebet so, dass alle, die euer Leben sehen, danach trachten, eurem
Leben nachzueifern! Dienet so, dass jene, die euch dienen sehen, auch
ihrerseits dienen mögen! Seid so kraftvoll, dass alle, die eure Stärke
sehen, Niederlagen in Siege umzuwandeln vermögen!“
„Von solcher Art sind unsere Lebensregeln. Gehorsam gegen sie
wird euch uns näher bringen. Jeden von euch erwartet ein älterer Bruder,
um aus jedem von euch einen Erlöser der Welt zu machen.“
11
Vgl. Bibel, 1. Kor. 3, 16; Matth. 5, 48 [Red.].
65
FÜNFTES KAPITEL
Der Weg in die Freiheit – Meisterschaft
Die Welt ist ein Gefängnis, und das Herz des Menschen ist die Gefängniszelle, in welche seine Seele eingekerkert ist. Durch das vergitterte
Fenster der Sinne schaut die Seele in den Gefängnishof und sucht nach
einem Entkommen. Für viele ist die Stunde der Freiheit aber noch nicht
gekommen, denn sollten auch die Riegel zurückgeschoben und die Tore
aufgeschlossen werden, so harren draußen noch grimmige Wächter, die
den Weg versperren. Begierde, Leidenschaft, Sinnlichkeit, Hinterlist,
Habgier, Selbstzufriedenheit, Egoismus, Hass und Stolz – das sind die
einkerkernden Mächte. Sie sind wahrhaft grimmige Wächter, denn ihre
Existenz hängt von der Einkerkerung der Seele ab. Deshalb setzen sie
ihrer Vernichtung heftigen Widerstand entgegen. Gegen sie anzukämpfen, vermehrt jedoch nur ihre Stärke, denn die ihnen von der gefangenen Seele gewidmete Aufmerksamkeit ist die Quelle ihrer
Lebenskraft.
Der Weg des Entkommens wird nicht durch Kampf mit diesen
Mächten errungen. Der Weg in die Freiheit führt nicht nach außen durch
die Tore des Gefängnisses, welches dadurch entstanden ist, dass die
Seele sich den Fehlern und Lastern des niederen Selbstes ergeben hat.
Der Weg führt hinweg von äußerem Kampf und Streit zum inneren
Frieden. Der Gefangene muss nach innen entfliehen. Er muss aufhören,
durch das vergitterte Fenster der Sinne in den Gefängnishof hinauszustarren, wo nur die Hindernisse zu finden sind, die seiner Freiheit entgegenstehen, und er muss aufhören, seine Laster durch direkten Angriff zu
bekämpfen. Stattdessen muss er alles Denken von ihnen abwenden und
sich auf die ihnen entgegengesetzten Tugenden und Kräfte konzentrieren. Auf diese Weise wird er in sich selber den Weg finden, er wird
in einen höheren Bewusstseinsbereich eingehen und dort auf wunderbare Weise seine Freiheit erlangen.
Diesen Weg findet und beschreitet man durch die Übung der
Selbstbeherrschung, durch Reinheit des Lebens, durch ernstes Streben,
Idealismus und Selbstaufopferung. In Gegenwart der Reinheit erstirbt
das Verlangen. Reine Liebe vernichtet die Leidenschaft, besiegt jedes
Übel und befreit jene, in denen sie erblüht. Von solcher Art ist der Weg
der Befreiung aus dem Gefängnis der materiellen Welt, aus der Marter
der Versuchung, aus der Sklaverei der Sinnlichkeit und der Einkerkerung durch Hass und Gier.
66
Dieser Weg steht allen offen. Jede befreite Seele ist ihn gewandert. Er
wird der Pfad der Rasiermesserschneide, der Pfad der Heiligkeit oder
der direkte und der schmale Weg genannt, und „wenige sind es, die ihn
finden“. Nahezu zweitausend Jahre sind dahingegangen, seit diese
Worte gesprochen wurden. Während dieser Zeit ist die Menschheit vorangeschritten. Viele Menschen erkennen jetzt den Weg des Entrinnens,
aber sie verharren – freiwillig oder durch die Macht der Gewohnheit – in
der Gefangenschaft und ordnen sich freiwillig der Herrschaft des Verlangens unter. Sie sind die Blinden, welche nicht sehen w o l l e n ; diese
sündigen weit mehr als die jüngeren Seelen, die f ü r d e n R u f d e r
Freiheit noch nicht erwacht sind.
Viele Seelen empfinden jetzt eine göttliche Unzufriedenheit; Sinn
und Bedeutung derselben aber wird noch nicht verstanden. Die
Menschen halten dieses unaussprechliche Sehnen des inneren Menschen
irrtümlich für ein Verlangen der Sinne, ein physisches Begehren und
suchen seine nagende Pein dadurch zu stillen, dass sie sich noch tiefer in
Ausschweifungen stürzen. Sie sind noch nicht imstande, es als ein
Zeichen zu erkennen, dass sie im Begriff stehen, den Freuden, durch die
sie bisher unterjocht wurden (die die Spielzeuge der Kinderzeit ihrer
Seele waren), zu entwachsen.
Das spirituelle Jugendalter der Menschheit ist aber jetzt erreicht
und erfordert radikale und positive Wandlungen. Das Sich-GehenLassen muss weiser Askese und die Sinnlichkeit ernster Strenge gegen
sich selbst Platz machen. Selbstsüchtige Motive müssen durch Uneigennützigkeit und Philantropie ersetzt werden. So tritt man in das spirituelle
Jugendalter. So wird der zur spirituellen Reife führende Pfad gefunden
und beschritten.
Auf diesem Pfad sind jene vollkommenen Menschen gewandelt,
welche die spirituellen Herrscher der Welt, die wahren Lehrer der
Menschheit sind. Sie sind im Willen, in der Liebe und im Wissen vollendet, und sie offenbaren diese drei Eigenschaften des Höchsten in vollkommener Weise.
G. Hodson: Meditationen über das okkulte Leben. Aus dem Englischen übersetzt
von Beatrice Flemming, Graz 1964, S. 13-25, S. 34-40 (vergriffen, Neuauflage in
Vorbereitung).
67
„…gewöhnlich ist es nicht das Glück, was uns fehlt, sondern
das Wissen um das Glück. Wozu dient es, so glücklich wie
möglich zu sein, wenn man nicht weiß, dass man glücklich ist?
Das Bewusstsein des kleinsten Glückes trägt viel mehr zu
unserer Glückseligkeit bei als das größte Glück, das unsere
Seele achtlos übersieht.“12
Maurice Maeterlinck: Der Blaue Vogel
Ein Interpretationsansatz (Teil 1)
von Werner Bernadowitz
Biographische Notizen zu Maurice Maeterlinck
Maurice Maeterlinck wird am 29. August 1862 als
Sohn französischsprachiger Eltern im flämischen Gent
geboren. Er studiert Jura und verfasst bereits während
seiner Studienzeit erste Gedichte und Erzählungen.13
Als Rechtsanwalt ist er nur kurze Zeit tätig, wendet
sich
dann mehr und mehr der Literatur und dem
Maurice Maeterlinck
(www.nobelprize.org)
Schreiben zu. 1889 veröffentlicht er seinen ersten
Gedichtband Les Serres chaudes (Im Treibhaus). Sein literarischer
Durchbruch gelingt ihm im gleichen Jahr mit dem phantastischen Drama
La Princesse Maleine (Prinzessin Maleine), das nach einem Märchen
der Brüder Grimm verfasst ist. Im Jahre 1896 geht Maeterlinck für
einige Monate nach Paris, wo er Mitglieder der neuen literarischen
Bewegung des Symbolismus kennenlernt.
1906 erscheint sein bekanntestes Werk L’Oiseau Bleu (Der Blaue
Vogel).14 Maeterlinck arbeitet Zeit seines Lebens sowohl als Lyriker als
12
Maurice Maeterlinck: Weisheit und Schicksal. In das Deutsche übertragen von Friedrich von
Oppel-Bronikowski, Diederichs, Jena 1908, S. 97.
13
Vgl. www.felix-bloch-erben.de unter dem Eintrag „Maurice Maeterlinck (Stand: 25.08.2008).
Einen Überblick über Maeterlincks Leben und Werk gibt Heinrich Meyer-Benfeys MaeterlinckBuch, Dresden 1923.
14
Vgl. www.nobelpreis.org unter dem Eintrag „Maurice Maeterlinck“ (Stand: 25.08.2008).
68
auch als Dramatiker und wird insbesondere durch seine Theaterstücke
weltberühmt. Im Jahre 1911 erhält er den Nobelpreis für Literatur.
Maeterlinck unternimmt ausgedehnte Reisen durch weite Teile
Europas und Nordamerikas und lässt sich schließlich an der Französischen Riviera nieder. In Nizza erwirbt er 1930 ein Schloss, dem er den
Namen „Orlamonde“ aus seinen Quinze Chansons gab. Es wird heute
als Hotel „Palais Maeterlinck“ geführt. Für seine literarischen Verdienste wird er 1932 vom belgischen König Albert in den Grafenstand
erhoben. 1939 flieht Maeterlinck in die USA, wo er bis 1947 bleibt.15 Er
stirbt am 6. Mai 1949 auf seinem Schloss in Nizza.
Die geistige und innere Dimension des Schriftstellers
Maurice Maeterlinck gilt neben Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé
und Arthur Rimbaud als einer der wichtigsten Vertreter des literarischen
Symbolismus, einer Strömung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in
Frankreich, die im Gegensatz zum Naturalismus durch die Verwendung
von Symbolen und das Streben nach Musikalität in der Sprache
gekennzeichnet ist. Vertreter dieser Richtung in Deutschland sind R. M.
Rilke und St. George.
Gemeinsam war ihnen (den Symbolisten) das Unbehagen an der
vom positivistisch-materialistischen Denken geprägten Zeit …
Ihre Dichtung will die Zusammenhänge zwischen den äußeren
Erscheinungen und den verborgenen Seins- und Bewusstseinsschichten evozieren.16
Eine Vereinigung der inneren und äußeren Welt wird angestrebt. In diesem metaphysischen Sinne des Symbols besteht auch
ein Zusammenhang zwischen der idealistischen Philosophie
Immanuel Kants, dessen Unterscheidung zwischen Phänomen und
Noumenon sich deutlich auf den Symbolismus auswirkt.17(Red.)
Neben einer großen Anzahl von Bühnenwerken hat Maeterlinck aber
auch zahlreiche philosophische Abhandlungen verfasst, u. a. Der Schatz
der Armen (1896), Weisheit und Schicksal (1898), Der begrabene
15
16
17
Vgl. Wikipedia: Maurice Maeterlinck.
Vgl. Meyers Lexikon online.
Vgl. Wikipedia: Symbolismus.
69
Tempel (1902; gemeint ist der Tempel in der Menschenbrust) und Von
der inneren Schönheit.
Seine geistige Nähe zur Mystik drückt sich in seinen Essays über
den flämischen Mystiker Jan van Ruysbroeck18, über Ralph Waldo
Emerson19 und Novalis20 aus.
Aus seinen früheren Jahren (Studienzeit) stammen einige lyrische
Werke, die aber nicht mehr alle erhalten sind.
Als Imker in Oostakker bei Gent hat er sich später eingehend mit
dem Leben verschiedener Insekten befasst. So zählen Sachbücher wie
Das Leben der Bienen (1901), Das Leben der Termiten (1927) und Das
Leben der Ameisen (1931) zu seinen naturwissenschaftlichen Werken.
Ebenfalls in diese Richtung zielen Arbeiten wie Die Intelligenz der
Blumen (1907) und Die vierte Dimension.
Unter seinen vielen Bühnenwerken sei das noch immer häufig inszenierte Schauspiel Pelléas und Mélisande (Uraufführung 1893 in
Paris) erwähnt, das mehrfach vertont wurde, u. a. als Oper durch Claude
Debussy. Seine Bühnenwerke haben ihm den Titel „Der belgische
Shakespeare“ eingetragen.
Keines seiner Theaterstücke spiegelt jedoch den symbolischen wie
auch den surrealistischen Charakter seines Denkens so deutlich wider
wie das Märchenspiel Der Blaue Vogel. Es entstand 1906 und wurde
1908 am Akademischen Künstlertheater in Moskau uraufgeführt.
Spätere Inszenierungen gab es in London, New York, Wien, Paris und
Berlin.
Dieses Märchenspiel hat zahlreiche Vertonungen, u. a. durch
Engelbert Humperdinck, erfahren und wurde 5-mal verfilmt. Es gilt als
ein Höhepunkt in Maeterlincks dramatischem Schaffen. Es spielt in
einer Zauberwelt, ist Lebensweisheit im dichterischen Gewande und hat
wesentlich zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises an den Autor im
Jahre 1911 beigetragen.21
18
Jan van Ruysbroeck (1293-1381) ist der bedeutendste Mystiker des niederländischen Raumes.
Ralph Waldo Emerson (1803-1882) war ein US-amerikanischer Philosoph, Geistlicher und
Schriftsteller.
20
Novalis (1772-1801), eigentlich Friedrich von Hardenberg, war einer der bedeutendsten Vertreter der Romantik. Er verfasste Gedichte, Kirchenlieder, Romanfragmente und Essays.
21
Die diesem Essay zugrunde gelegte Fassung ist die Ausgabe des Sachon Verlages, die sechs
Akte aufweist. Die Übertragung durch Stephan Epstein, Erich Reiß Verlag, Berlin 1910, enthält
demgegenüber nur 5 Aufzüge oder Akte. Obwohl die Zahl der sog. Bilder der jeweiligen Akte in
beiden Fassungen übereinstimmt (insgesamt 12), ist ihre Anordnung jedoch z. T. verschieden.
19
70
Maeterlincks Gedankenwelt und Botschaft kann wohl kaum besser ausgedrückt werden, als es ein ehemaliges Mitglied der Académie
Française22, Francois Albert-Buisson, getan hat:
„In der Stunde, da sich die Wissenschaft,
berauscht von ihren Erfolgen, anheischig macht,
das Geheimnis der Dinge des Lebens zu entschleiern, ist er gekommen, die Rechte des
Unsichtbaren und des Geheimnisses zu vertreten. Der im Guten wie im Bösen triumphierenden Technik setzt er die lächelnden Vorbehalte des Philosophen entgegen.“
Wie zeitlos und darum stets verblüffend aktuell!
Der Blaue Vogel –
Kurze inhaltliche Zusammenfassung des Schauspiels
Es ist Heiligabend, aber für die zwei Kinder Tyltyl und Mytyl, die in
einer ärmlichen Holzfällerhütte in ihren Betten liegen, gibt es keine Bescherung wie bei den reichen Kindern, die sie im gegenüberliegenden
Haus beobachten.
Plötzlich tritt eine alte Frau ein, die mit ihrer Kleidung einer Fee
gleicht. Sie ist auf der Suche nach dem Blauen Vogel als Heilmittel für
ihre kranke und unglückliche kleine Tochter. Zunächst meinen die
Kinder in ihr die Nachbarin zu erkennen, die sich aber beharrlich als Fee
Berylune ausgibt und die Kinder auffordert, sich mit ihr auf die Suche
nach dem Blauen Vogel zu begeben. Dazu soll ihnen ein auf einer
Kappe befestigter Diamant behilflich sein, der sehend macht und ungeahnte Einblicke in das Innerste der Lebewesen und Dinge ermöglicht, so
dass die Seelen dieser Erscheinungen mit den Menschen kommunizieren
können. Als der Knabe Tyltyl diese Kappe aufsetzt und den Diamanten
dreht, sieht er, dass die Fee tatsächlich wunderschön ist, und er kann mit
der Katze, seinem Hund Tylo, aber auch mit dem Zucker und dem Brot
wie mit Menschen reden.
Die erste Station der nun beginnenden Reise ist der prunkvolle
Palast der Fee Berylune. Bevor die Fee und die Kinder diesen Palast be22
Älteste und prestigereichste Institution im geistigen Leben Frankreichs.
71
treten, warnt die Katze, die zusammen mit dem Hund die Kinder auf
ihrer Reise begleitet, stellvertretend für die gesamte Natur alle anderen
Mitreisenden, wie das Brot oder das Feuer, vor den Folgen, die entstehen könnten, wenn die Kinder den Blauen Vogel fänden. Denn entdecken die Kinder den Vogel, so werden sie – und damit die Menschen – alles wissen und alles sehen und die Natur wäre ihnen dann
gänzlich ausgeliefert. Diesen möglichen Machtmissbrauch durch die
Menschen, die durch den Blauen Vogel einen tiefen Einblick in die
Mysterien der Naturseele bekämen, möchte die Katze, im Gegensatz
zum treuen Hund, verhindern: Keinesfalls dürften die Kinder den
Blauen Vogel finden.
Auf dem weiteren Weg übernimmt das Licht die Begleitung der
Kinder. Eine Nebelwand weicht zurück und sie sehen ihre verstorbenen
Großeltern und Geschwister im Land der Erinnerung. Dort finden sie
eine blaue Amsel, die sie für den gesuchten Vogel halten und als
Geschenk mitnehmen dürfen. Als sie dieses Land aber verlassen, ist die
blaue Amsel der Großeltern wieder ganz schwarz geworden.
Wenig später sind sie im Palast der Nacht angelangt. Die Nacht als
Symbol für die Mysterien der Welt wird flankiert vom Tod und seinem
Bruder, dem Schlaf. Hinter den verschlossenen Türen dieses Palastes,
die Tyltyl sich alle öffnen lässt, verbergen sich schreckliche Dinge wie
Krankheit und Krieg, aber auch Traumgärten von unglaublicher Schönheit, in denen märchenhafte blaue Vögel hin und her fliegen. Die Kinder
fangen so viele davon, wie sie können, müssen aber schon bald enttäuscht feststellen, dass sich die Vögel am hellen Tage als nicht lebensfähig erweisen.
In der anschließenden Waldszene müssen die Kinder vor der
wütenden Natur um ihr Leben fürchten. Gewarnt von der Katze, die den
Kindern vorausgeeilt ist, halten die Bäume des Waldes Gericht über die
Köhlerkinder und beschließen deren Tod als Sühne für die vielen
gefällten Brüder und Schwestern. Die alte Eiche ist nach langer Diskussion auch bereit, das Urteil zu vollstrecken. Aber die Kinder werden
durch das Licht gerettet, das sie daran erinnert, den Diamanten zu
drehen und so die Bäume wieder stumm und unbeweglich zu machen.
Zur mitternächtlichen Stunde auf dem Friedhof drehen die Kinder
ihren Diamanten erneut und hoffen, in einem der Gräber, die sich daraufhin tatsächlich öffnen, den Blauen Vogel zu entdecken. Doch statt
der zu erwartenden Toten sehen sie aus den Gräbern einen sich immer
üppiger entwickelnden Flor heraufsteigen, der den Friedhof in einen
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wunderbaren Zaubergarten verwandelt. Den Blauen Vogel finden sie
auch hier nicht.
In den Glücksgärten machen die Kinder Bekanntschaft mit den
unterschiedlichen Glücksarten. Sie treffen dort auf grobes physisches
Glück wie z. B. das Glück-reich-zu-sein, das Glück-befriedigterEitelkeit oder das Glück-zu-faulenzen, danach auf die feineren Freuden,
z. B. der Freude-am-blauen-Himmel, am Sonnenuntergang oder der
häuslichen Glückseligkeiten. Zuletzt aber treffen sie auf die großen
Freuden, die in hohen ethischen Werten gründen wie z. B. die Freudegerecht-zu-sein oder die Freude-zu-lieben. Unter diesen ist die höchste
die Freude-der-Mutterliebe als Sinnbild der reinsten Freude. Diese
öffnet den Kindern auch die Augen für die verborgene wahre Schönheit
ihrer eigenen Mutter.
Im Land der Zukunft, einem blauen Palast mit riesigen Sälen, tummeln sich viele ungeborene, blaue Kinder, die noch auf ihre irdische Geburt warten. Tyltyl und Mytyl spielen mit diesen Kindern, können sich
jedoch nicht richtig mit ihnen verständigen, da vieles von dem, was sie
sagen, von den blauen Kindern nicht verstanden wird. Einige dieser
Kinder erläutern Tyltyl und seiner Schwester ihre Bestimmung auf der
Welt, so wird eines eine große Entdeckung machen und ein blindes Kind
soll sogar den Tod besiegen. Die meisten der blauen Kinder freuen sich
auf ihre Geburt und können es kaum erwarten, andere aber wollen um
keinen Preis geboren werden. Durch die Zeit, Herrscher über diesen
Palast in der Gestalt eines Greises, werden die Geschwister schließlich
entdeckt und müssen fliehen. Wie in der Waldszene werden sie auch
hier durch die Hilfe des Lichtes gerettet.
Nachdem die Kinder (ihre Seelen) ein Jahr lang auf ihrer Suche
nach dem Blauen Vogel waren, sind sie wieder in ihrem Elternhaus
angelangt, ohne ihn jedoch gefunden zu haben. Sie sind enttäuscht und
müssen zu ihrer Verwunderung feststellen, dass sie ihr Haus
anscheinend gar nicht verlassen haben. Es scheint nur eine Nacht seit
dem Beginn ihrer Reise vergangen zu sein und ihre Eltern nennen ihre
erlebten Abenteuer einen Traum.
Als die Nachbarin zu Besuch kommt, ist die zuvor nicht blau genug
erschienene Turteltaube Tyltyls plötzlich ganz blau geworden und der
Junge schenkt sie der kranken Nachbarstochter. Als diese den Vogel in
Händen hält, kann sie plötzlich wieder gehen, ja sogar tanzen und
fliegen. Aber während der Fütterung entweicht der Vogel und fliegt
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davon. Aber Tyltyl tröstet sie mit der Zuversicht, dass man den Vogel
bestimmt wieder einfangen könne.
Redaktionell überarbeitet und mit Ergänzungen versehen (CW).
Sommertagung 2008
Bericht von Reiner Ullrich
Vollgepackt und abwechslungsreich war diese Sommertagung in Calw,
die 56. theosophische Zusammenkunft seit 1953 am gleichen Orte. Nur
wenige der Teilnehmer(innen) waren damals schon dabei gewesen (die
älteste seitdem sogar jedes Jahr!). Manches hat sich verändert, aber es
gab – auch wenn die tragenden Schultern längst nicht mehr dieselben
sind – keinen Bruch, sondern eine allmähliche, kaum merkliche Entwicklung, vor allem hin zu größerer Offenheit.
Dass Theosophie nichts Starres, Statisches, Abgeschlossenes ist,
deutete schon das diesjährige
Motto an: Theosophie als Quelle
der Zuversicht. Es forderte alle
heraus, die ans Pult traten oder
Gesprächskreise leiteten, auf „Perspektiven“ (wörtlich „Durchblicke“) spiritueller Evolution hinzuweisen – Perspektiven, die nicht
mit Heilsversprechen vertrösten,
sondern sich aus dem Zusammenwirken aller aufbauenden, ordnenden Kräfte in uns und in der
Tausendarmiger Bodhisattva Avalokiteshvara
uns umgebenden Welt, der sichtbaren und der (noch) unsichtbaren, ergeben. Dass wir uns mit unserem
individuellen Leben in diese umfassende Wirkungskette in voller Verantwortung dienend einreihen mögen, klang immer wieder durch, vor
allem natürlich, wenn – wie im Einführungsvortrag – Charlotte Wegner
Unser irdisches Leben als Teil eines größeren Entfaltungszyklus darstellte und – in ihrer Schlussbetrachtung über das Bodhisattva-Ideal –
das ferne Ziel in Abbildungen buddhistischer Kunstwerke anschaulich
vor Augen führte.
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Vortrag und Gesprächsrunde mit Dr. Peter Michel.
Eine Art Überblick – mit besonderer Berücksichtigung der theosophischen Bewegung – bot der Vortrag Weltreligion des „Aquamarin“Verlegers und Gastreferenten der Tagung, Dr. Peter Michel, der sich dadurch auszeichnete, dass man große Teile seiner Ausführungen in den
gleichzeitig projizierten Textseiten aus seinem Buche gleichen Titels
mitlesen konnte; so war man für das anschließende Gespräch gut
gerüstet.
Um bei den „Lichtbildvorträgen“
zu bleiben: Friedel Lehracks Auswahl aus dem Werk des russischen Malers Nikolas Roerich
bestach vor allem durch die Gegenüberstellung
von
dessen
Bildern mit Fotos derselben oder
ähnlicher Landschaften im Himalaya, und es wäre schwergefallen,
sich nicht von der Begeisterung
des begeisterten Bergsteigers für
die Erhabenheit der Berge und
der Bilder anstecken zu lassen. Zu anderen Höhen menschlichen
Geistes, den gewaltigen Bauwerken Ägyptens, lenkte uns der Vortrag
von Eva Jahn, ebenfalls mit Lichtbildern, über die Pyramiden von Gizeh.
Dieses einzige der antiken „Weltwunder“, das bis heute überdauert hat,
fasziniert durch die Maßverhältnisse nicht nur, sondern durch das
Nikolas Roerich, Perle des Suchens, 1924.
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„Innenleben“, besonders der Cheopspyramide; sie fordern immer wieder
heraus zum Forschen und Nachdenken darüber, welche Absichten ihre
Erbauer wohl hatten: Waren sie „nur“ Grabdenkmäler ruhmbedürftiger
Herrscher? Schwer vorstellbar! Eher schon umgekehrt: Was mit kosmischen Analogien (z. B. mit den Gürtelsternen des Orion) ausgezeichnet ist und wohl
Einweihungen in die Geheimnisse dessen diente,
was die Welt im Innersten zusammenhält –
Eva Jahn präsentierte entsprechende Kernstellen
aus der Geheimlehre von
Blavatsky –, eignete sich
(später) möglicherweise
auch als würdige Begräbnisstätte. Wie alt diese
Pyramiden wirklich sind?
Archäologen haben die Bedeutung des „Tierkreises von Dendera“ dafür
wieder in Zweifel gezogen – aber „uralte Weisheit“ gewinnt ihre Bedeutung nicht durch Anciennität, sondern durch den Widerhall, den sie in
uns auslöst.
Unmöglich, auf alles Dargebotene so ausführlich einzugehen:
reichte es doch von (an)klagenden Worten über gegenwärtige Mißstände
(Unsere Verantwortung betreffend Ausbeutung der Umwelt, der Pflanzen und der Tiere – Siegfried Ebersbach) und Aufzeigen von Heilungsmöglichkeiten (z. B. beim Lebendigen Lebensmittel Wasser – Walter
Wiesmann) über Krankheit und Karma (Charlotte Wegner), den Tod,
das große Abenteuer, als Erwachen (Margret Brandt) und theosophische
Ausdeutung dichterischer Mythen (Die Irrfahrten des Odysseus – Hans
Beetz) bis zu Erläuterungen theosophischer Lehrtradition (Selbsterkenntnis: Kerngedanken Franz Hartmanns – Karola Appel; Die Magie
der Symbolik – Wilfried Goltz; Barborkas Göttlicher Plan – Dr. Ruth
Fischer).
Gewissermaßen programmatisch fragte, vor dem Hintergrund philosophisch-spiritueller Traditionen, Dr. Bernhard Prediger Gibt es heute
noch Grund, optimistisch zu sein? (s. S. 42-53) und vertiefte damit die
Überlegungen Reiner Ullrichs, der das Motto der Tagung als Thema
seines Vortrags gewählt hatte (erscheint im nächsten Heft).
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Während des Vortrags: Reiner Ullrich (oben) und Dr. Bernhard Prediger (unten).
Die nach den Vorträgen geplanten Aussprachen fielen zuweilen knapp
aus, teilweise durch die Fülle des von den
Referenten Gebotenen, zum Teil auch durch die
erfreulich größere Zahl von Teilnehmern der
Sommertagung, die den Anteil derer, die zu
Wort kommen konnten, schrumpfen ließ.
Inzwischen zur Tradition geworden ist der
gesellige Nachmittag in Zavelstein, wo an
langer Tafel Kaffee und Kuchen serviert und
dazu Sonderberichte z. B. über den Weltvegetarier-Kongress in Dresden, dazu auch eigene
Geschichten und Gedichte vorgetragen werden.
Wer die Burgruine noch nicht kennt, vertritt
sich die Füße auf dem Wege zu ihr durchs
„Städtle“, und wer gern wandert und nicht sein Wasserkaskaden im Kurpark
von Bad Teinach.
Auto lenken muss (denn der Hinweg war in den
PKWs von Teilnehmern zurückgelegt worden),
wird zu Fuß durch Feld und Wald zurückgeleitet nach Spessart. (…)
77
Eine Busfahrt führte uns nach Bad Teinach, eine zweite brachte uns am
vorletzten Tage nach Weil der Stadt, einer ehemals „Freien Reichsstadt“, deren größter Sohn nicht als Schriftsteller berühmt wurde (wie
Calws Hermann Hesse), sondern als Naturwissenschaftler mit
Kopernikus, Galilei und Newton in deren
früher „Spitzenklasse rangiert“: Johannes
Kepler. Wir besuchten das Museum in
seinem Geburtshaus und waren so viele,
dass wir in die kleinen Räume nur hineinpassten, wenn wir uns in zwei gegenläufig geführte Gruppen aufteilten.
Wer allerdings nicht mit Vorkenntnissen
in dieses Haus kommt, behält aus der
Fülle der Informationen, die in knapp
zwei Stunden auf ihn einstürzen, nur
weniges: über die Biographie des Gelehrten, der in einer Zeit konfessionellen Streites in Tübingen den Mut hatte, seiner inneren Überzeugung treu zu bleiben mit der Konsequenz, keinen Lehrstuhl zu
bekommen und zeitlebens auf tolerante „Arbeitgeber“ angewiesen zu
sein (z. B. Kaiser Rudolf II.).
Zum Broterwerb rechnete Kepler
Horoskope oder stellte für die
Stadt Ulm ein Eichmaß her,
hatte aber ganz anderes,
Größeres im Sinne – nicht etwa
die nachträglich so genannten
„Keplerschen Gesetze“ zu entdecken, sondern die Harmonie
der Weltordnung verständlich zu
machen.
Ein unermüdlicher (Rechen-)Fleiß (vgl. die „Rudolphinischen Tafeln“ – Computer
werden erst vier Jahrhunderte
später
gebaut!) war Vorausset„Tempel der Astronomie“ aus Keplers Rudolphinischen Tafeln und der Vermessungssatellit Hipzung und Grundlage seiner Entparcos (1989), der Messungen im Umkreis von
deckungen, ohne die weder New20.000 Lichtjahren (!) ermöglichte.
ton seine Himmelsmechanik hätte ausdenken noch heutige Satel78
liten-Technik z. B. die Wettervorhersage verlässlicher machen können.
Und dann gelang es dem Protestanten Kepler auch noch, seine der
Hexerei beschuldigte Mutter im katholischen Weilderstadt „herauszupauken“! – Wahrlich ein Höhepunkt unserer Sommertagung, dessen
wissenschaftliches i-Tüpfelchen die Bildschirm-Darstellung der Planetenbahnen wurde. (…)
Und „die Theosophie“? Wir haben sie nicht gepachtet noch gar
mit Löffeln gegessen. Reden können wir von ihr vor allem „theoretisch“
(d. h. wörtlich „anschauungsweise“); „praktische“ Theosophie geschieht
im alltäglichen Tun, ist unauffällig, „innerlich“, zeigt sich vielleicht
darin, wie Menschen miteinander umgehen (auch bei Sommertagungen),
wie sie versuchen, auf dem Wege zur Theosophie einander zu begleiten,
ein paar Schritte weit. Wir sind keine Kult- oder Ritualgemeinschaft,
aber das hindert uns nicht, uns immer wieder in Minuten der Stille auch
gemeinsam zu beSINNen: ein Saatbeet zu pflegen, in dem Keime
tieferer Einsicht, seelischen Aufschwungs, ernster Entschlüsse heranwachsen können zu zarten Pflänzchen, aus denen einst mächtige, schöne
Bäume werden mögen, bergend und tragend das Gute, das unseres
Lebens Mitte ist – oder wird, wie wir voll Zuversicht hoffen, gestärkt
auch durch die Sommertagung 2008.23
Text gekürzt (vollständiger Bericht mit weiteren Photos
in den Mitteilungen der Theosophischen Gesellschaft i. D.)
23
Bildnachweise: S. 74: Katalog der Ausstellung „Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern“,
S. 260; S. 75: Nicholas Roerich Museum, New York (www.roerich.org); S. 78: Titelbild auf dem
Kepler-Katalog des Museums in Weil der Stadt.
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Das Auge scheint einen Horizont zu verlangen.
Wir sind niemals müde (oder unglücklich),
solange wir weit genug sehen können.
Ralph Waldo Emerson
Für Ihre Terminplanung 2009:
Sommertagung
der Theosophischen Gesellschaft i. D.
6. bis 12. August 2009
in Calw (Schwarzwald)
Kontaktanschriften der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland
Hans Beetz
Argentinische Allee 159
14169 Berlin
Tel.: 030 – 813 16 80
Gerhard Förster
Bredowstr. 18a
44309 Dortmund
Tel.: 0231 – 41 51 27
M. u. U. Brandt
Scharenweg 10
45894 Gelsenkirchen
Tel.: 0209 – 59 24 13
Charlotte Wegner
Getrudenhof 7
44866 Bochum
Tel.: 02327 – 32 15 26
Eva-Maria Köpp
Knöffelstr. 37
01217 Dresden
Tel.: 0351 – 470 93 77
Bahnhofstr. 15
69115 Heidelberg
Tel.: 06221 – 16 93 91
Auskunft auch über
R. Ullrich, Calw
Reiner Ullrich
Hermann-Löns-Str. 8
75365 Calw
Tel.: 07051 – 9 50 42
Dr. Ruth C. Fischer /
Walter Wiesmann
Augustusstr. 35
60439 Frankfurt/Main
Tel.: 069 – 58 24 37
Karola Appel
Bingstr. 30 /
20525 Wohnstift
90480 Nürnberg
Tel.: 0911 – 403 07 72
www.theosophische-gesellschaft.net
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