Maurice Maeterlinck: Der Blaue Vogel
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Maurice Maeterlinck: Der Blaue Vogel
Sind wir heute noch berechtigt, optimistisch zu sein? Dr. Bernhard Prediger1 I. Eine große Frage – eine berechtigte Frage vielleicht nie gekannter Aktualität – angesichts der offenbaren Fehlentwicklungen gigantischen Ausmaßes, mit denen es die lebendigen und daher fühlenden Wesen dieser Welt zu tun haben. Umweltverschmutzung und damit einhergehende Umweltzerstörung, vor allem aber die augenfällige Innenweltverschmutzung bis hin zur Innenweltzerstörung des Menschen, das Ganze nicht punktuell hier und da, sondern in globalem Ausmaß macht wenig Mut, sich mit einer solchen Frage überhaupt zu beschäftigen. Die eine oder andere geistige Nische lässt sich wohl finden, in der man sich, sich einigermaßen sicher fühlend, einrichten kann, aber tief drinnen weiß man wohl, dass das Abschmelzen der Eisschilde (Antarktis, Grönland) auch diese Nischen überfluten wird. Ein paar simple Ausflüchte lassen sich finden, aber auch ein paar intellektuelle Ausflüchte und sogar Ausflüchte wirklich philosophischer Art, eine Beschäftigung mit diesem Thema, die ja leicht in Verzweiflung bis hin zur Selbstvernichtung, sprich Selbstmord, enden kann, doch lieber zu unterlassen. Die Trivialpsychologie unseres Zeitalters kennt den Begriff der self fullfilling prophecy und – darauf aufbauend – den Begriff des Zweckoptimismus, in Köln zu dem Ausspruch verkürzt „Et is noch immer jut jejangen“. Viele leben nach dieser Devise, und wie es aussieht, kommen sie ganz gut zurecht damit – aber es scheint immer schwerer zu gehen, schaut man sich die manchmal bis zur Verzerrtheit angespannten Gesichter insbesondere von Großstadtmenschen in den Straßen an. Aber auch dafür gibt es wieder intellektuelle Lösungen, wie sie z. B. einer gefunden hat, wenn er sagt: „Wirkliche Sorge um die Welt würde ich mir erst machen, wenn die Leute angesichts der äußeren und inneren Weltlage auch noch mit fröhlichen Gesichtern einhergehen würden“. 1 Niederschrift des gleichnamigen Vortrags während der Sommertagung 2008 der Theosophischen Gesellschaft i. D. (Auszug). 42 Eine intellektuell-philosophische Möglichkeit, um angesichts der Ausgangsfragestellung nicht alsbald zu verzweifeln, bietet eine Feststellung, deren Richtigkeit grundsätzlich nicht zu bestreiten ist: Wir sehen nie das Ganze und unterliegen, sofern wir das, was wir sehen und uns bewusst machen, für das Ganze nehmen, immer einer Täuschung. Außerdem: Wie groß das für uns Unsichtbare ist, welches Gewicht es für das Ganze hat, können wir nicht annähernd beurteilen. Und dabei kommt hinzu, dass sich als Wahrzunehmendes das Böse immer in den Vordergrund drängt – bad news are good news. Auch gehören die Anfangserfolge im Kampf zwischen Gut und Böse immer dem Bösen, weil es seiner Natur nach aggressiv ist. Es hat diese Erfolge bereits eingefahren, bevor das Gute überhaupt gemerkt hat, dass es kämpfen muss und dass der Kampf schon begonnen hat. Auf das Unsichtbare, dessen Größe, Kraft und Gewicht wir ja auch nicht kennen, können wir immer hoffen. Bei Juristen gibt es, wenn es um die Entscheidung für eine von verschiedenen Rechtsauffassungen geht, ein geflügeltes Wort, das lautet: Schließen wir uns der herrschenden Meinung an, dann sprechen Gründe für uns, die wir gar nicht kennen! Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man daher, was bei genauer Betrachtung jedoch kein Trost ist, denn auch sie stirbt dieser Auffassung nach letztlich – oder nicht? Vielleicht endet sie nur, weil sie durch Wissen um Gelingen abgelöst wird? II. Artur Schopenhauer, einer unserer klassisch gewordenen Philosophen, hat sich selbst als Pessimisten bezeichnet und daraus noch etwas philosophischen Glorienschein abgeleitet, indem er sagte, gerade dadurch, dies zuzugeben, unterscheide er sich von den meisten seiner Berufskollegen, denen es über alles gehe, möglichst viele Anhänger und Zuhörer zu finden, was natürlich leichter sei, wenn man ihnen positive Antworten auf die letzten Lebensfragen gebe. Er dagegen erliege dieser Versuchung nicht. III. In unserem deutschen Menschheitsdrama, Goethes Faust, befasst sich Mephistopheles mit unserer Ausgangsfrage und behandelt diese im 43 „Prolog im Himmel“ gegenüber Gott, dem Herrn, mit folgenden Worten: „Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst Und fragst, wie alles sich bei uns befinde, Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst: So siehst du mich auch unter dem Gesinde. Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen, Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt; Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen, Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt. Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen. Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen. Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“2 Und etwas später äußert sich Mephisto in seinem ersten Gespräch mit Faust zu unserem Problem so: Mephistopheles: [Ich bin] ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Faust: Was ist mit diesem Rätselwort gemeint? Mephistopheles: Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht: denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht; Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.3 2 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Vv. 271-286. [Im Folgenden zitiert als „Faust“.] Faust, Vv. 1335-1341. 3 44 In diesem letzten Satz wird von Mephisto nicht mehr und nicht weniger als die tragische Natur allen Schöpfungsgeschehens behauptet. Der einzige Trost, der uns an dieser Stelle bleibt, ist, dass es sich um die Meinung eben des Mephistopheles handelt und dieser, so hoffen wir, doch nicht das letzte Wort in dieser Sache haben wird, und er sagt ja selbst von sich, dass er das Böse zwar wolle, aber letztlich Gutes bewirke. Recht hat er ja zunächst mit seiner Tatsachenfeststellung, dass alle Werke – ob von Gott geschaffen oder vom Menschen – sich schließlich wieder auflösen, keinen immerwährenden Bestand haben. Falsch könnte Mephisto mit seiner Insinuation (Unterstellung) liegen, die Begründung für diesen Niedergang, dieses Zugrundegehen, sei, dass das zuvor im Schöpfungsvorgang Entstandene wertlos sei. Das kann vordergründig Geltung nur beanspruchen, solange man Sinn und Wert der Schöpfung nur nach ihrem Ergebnis bemisst und nicht im Schöpfungsvorgang selbst sucht. Wäre ersteres der Fall, so würde ein einmal vollendeter Schöpfungsprozess mit hochgelobtem Endergebnis jeder weiteren lebendigen Entwicklung entgegenstehen. Es zeigt sich hier die Fragwürdigkeit der von Natur- und Umweltschützern immer wieder erhobenen Forderung, man müsse „die Schöpfung bewahren“. Bo Yin Ra4 formuliert in der Tat in seiner Schrift Das Buch vom Glück, für Mensch und Gott liege das Glück vermutlich darin, schöpferisch sein zu dürfen und nicht im Schöpfungswerk selbst. Lasst uns weiter darüber nachdenken. In ganz anderer, eben hochpoetischer Weise wird unser Thema von Antoine de Saint-Exupéry in seinem Märchen Der kleine Prinz abgehandelt und zwar in einem Dialog zwischen dem Protagonisten der Geschichte, dem mit seinem Flugzeug in der Wüste Abgestürzten, d. h. hier dem in seinem äußeren Leben gescheiterten und in eine tiefe Krise gestürzten Helden, und eben dem kleinen Prinzen, wir dürfen wohl sagen, seinem Höheren Selbst. Äußerer Rahmen dieses Dialoges ist der Folgende: Von dem kleinen Prinzen wissen wir schon an dieser Stelle des Märchens unter anderem, dass er über zwei innere Schätze verfügt, nämlich einmal über ein in einer Kiste verborgenes Schaf, das unser Pilot ihm gezeichnet hatte. Den anderen inneren Schatz lernen wir erst später in der Geschichte genauer kennen. Hier ergibt er sich aber schon aus der 4 Bo Yin Ra, eigentlich Joseph Anton Schneiderfranken, 1876-1943. 45 Fragestellung des kleinen Prinzen. Es handelt sich um eine Blume, die auf dem Planeten wächst, von dem er kommt, von seiner ersten großen und bis dahin einzigen Liebe, die er verlassen musste. Die Frage nach dem zukünftigen Verhältnis dieser beiden inneren Schätze des kleinen Prinzen führt uns zu einem der Höhepunkte der Geschichte: Am fünften Tag war es wieder das Schaf, das ein Lebensgeheimnis des kleinen Prinzen enthüllen half. Er fragte mich unvermittelt, ohne Umschweife, als pflückte er die Frucht eines in langem Schweigen gereiften Problems: „Wenn ein Schaf Sträucher frißt, so frißt es doch auch die Blumen?“ „Ein Schaf frißt alles, was ihm vors Maul kommt.“ „Auch die Blumen, die Dornen haben?“ „Ja. Auch die Blumen, die Dornen haben.“ „Wozu haben sie dann Dornen?“ Ich wußte es nicht. Ich war gerade mit dem Versuch beschäftigt, einen zu streng angezogenen Bolzen meines Motors abzuschrauben. Ich war in großer Sorge, da mir meine Panne sehr bedenklich zu erscheinen begann, und ich machte mich aufs Schlimmste gefaßt, weil das Trinkwasser zur Neige ging. „Was für einen Zweck haben die Dornen?“ Der kleine Prinz verzichtete niemals auf eine Frage, wenn er sie einmal gestellt hatte. Ich war völlig mit meinem Bolzen beschäftigt und antwortete aufs Geratewohl: „Die Dornen, die haben gar keinen Zweck, die Blumen lassen sie aus reiner Bosheit wachsen!“ „Oh!“ Er schwieg. Aber dann warf er mir in einer Art Verärgerung zu: „Das glaube ich dir nicht! Die Blumen sind schwach. Sie sind arglos. Sie schützen sich, wie sie können. Sie bilden sich ein, dass sie mit Hilfe der Dornen gefährlich wären…“ Ich antwortete nichts und sagte mir im selben Augenblick: Wenn dieser Bolzen noch lange bockt, werde ich ihn mit einem Hammerschlag heraushauen müssen. Der kleine Prinz störte meine Überlegungen von neuem: „Und du glaubst, daß die Blumen…“ 46 „Aber nein! Aber nein! Ich glaube nichts! Ich habe irgend etwas dahergeredet. Wie du siehst, beschäftige ich mich mit wichtigeren Dingen!“ Er schaute mich verdutzt an. „Mit wichtigeren Dingen!“ Er sah mich an, wie ich mich mit dem Hammer in der Hand und vom Schmieröl verschmutzten Händen über einen Gegenstand beugte, der ihm ausgesprochen häßlich erscheinen mußte. „Du sprichst ja wie die großen Leute!“ Das beschämte mich. Er fügte aber unbarmherzig hinzu: „Du verwechselst alles, du bringst alles durcheinander!“ Er war wirklich sehr aufgebracht. Er schüttelte sein goldenes Haar im Wind. „Ich kenne einen Planeten, auf dem ein puterroter Herr haust. Er hat nie den Duft einer Blume geatmet. Er hat nie einen Stern angeschaut. Er hat nie jemanden geliebt. Er hat nie etwas anderes als Additionen gemacht. Und den ganzen Tag wiederholt er wie du: Ich bin ein ernsthafter Mann! Ich bin ein ernsthafter Mann! Und das macht ihn ganz geschwollen vor Hochmut. Aber das ist kein Mensch, das ist ein Schwamm.“ „Ein was?“ „Ein Schwamm!“ Der kleine Prinz war jetzt ganz blaß vor Zorn. „Es sind nun Millionen Jahre, daß die Blumen Dornen hervorbringen. Es sind Millionen Jahre, daß die Schafe trotzdem die Blumen fressen. Und du findest es unwichtig, wenn man wissen möchte, warum sie sich so viel Mühe geben, Dornen hervorzubringen, die zu nichts Zweck haben? Dieser Kampf der Schafe mit den Blumen soll unwichtig sein? Weniger ernsthaft als die Additionen eines dicken, roten Mannes? Und wenn ich eine Blume kenne, die es in der ganzen Welt nur ein einziges Mal gibt, nirgends anders als auf meinem kleinen Planeten, und wenn ein kleines Schaf, ohne zu wissen, was es tut, diese Blume eines Morgens so mit einem einzigen Biß auslöschen kann – das soll nicht wichtig sein?“ Er wurde rot vor Erregung und fuhr fort: „Wenn einer eine Blume liebt, die es nur ein einziges Mal gibt auf allen Millionen und Millionen Sternen, dann genügt es ihm völlig, daß er zu ihnen hinaufschaut, um glücklich zu sein. Er sagt sich: Meine 47 Blume ist da oben, irgendwo… Wenn aber das Schaf die Blume frißt, so ist es für ihn, als wären plötzlich alle Sterne ausgelöscht! Und das soll nicht wichtig sein?!“ Er konnte nichts mehr sagen. Er brach plötzlich in Schluchzen aus. Die Nacht war hereingebrochen. Ich hatte mein Werkzeug weggelegt. Mein Hammer, mein Bolzen, der Durst und der Tod, alles war mir gleichgültig. Es galt auf einem Stern, einem Planeten, auf dem meinigen, hier auf der Erde, einen kleinen Prinzen zu trösten! Ich nahm ihn in die Arme. Ich wiegte ihn. Ich flüsterte ihm zu: „Die Blume, die du liebst, ist nicht in Gefahr… Ich werde ihm einen Maulkorb zeichnen, deinem Schaf… Ich werde dir einen Zaun für deine Blume zeichnen… Ich…“ Ich wußte nicht, was ich noch sagen sollte. Ich kam mir sehr ungeschickt vor. Ich wußte nicht, wie ich zu ihm gelangen, wo ich ihn erreichen konnte… Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen.5 Und am Ende des Märchens sagt der Autor: […] Jetzt habe ich mich ein bißchen getröstet. Das heißt… nicht ganz. Aber ich weiß gut, er ist auf seinen Planeten zurückgekehrt, denn bei Tagesanbruch habe ich seinen Körper nicht wiedergefunden. Es war kein so schwerer Körper… Und ich liebe es, des Nachts den Sternen zuzuhören. Sie sind wie fünfhundert Millionen Glöckchen… Aber nun geschieht etwas Außergewöhnliches. Ich habe vergessen, an den Maulkorb, den ich für den kleinen Prinzen gezeichnet habe, einen Lederriemen zu machen! Es wird ihm nie gelungen sein, ihn dem Schaf anzulegen. So frage ich mich: Was hat sich auf dem Planeten wohl ereignet? Vielleicht hat das Schaf doch die Blume gefressen… Das eine Mal sage ich mir: Bestimmt nicht! Der kleine Prinz deckt seine Blume jede Nacht mit seinem Glassturz zu und er gibt auf sein Schaf gut acht. Dann bin ich glücklich. Und alle Sterne lachen leise. Dann wieder sage ich mir: Man ist das eine oder andere Mal zerstreut, und das genügt! Er hat eines Abends die Glasglocke vergessen, oder das Schaf ist eines Nachts lautlos entwichen… Dann verwandeln sich die Schellen alle in Tränen!… 5 Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz. Mit freundlicher Genehmigung des Karl Rauch Verlags, Düsseldorf 1950 und 2008, Kapitel VII. 48 Das ist ein sehr großes Geheimnis. Für euch, die ihr den kleinen Prinzen auch liebt, wie für mich, kann nichts auf der Welt unberührt bleiben, wenn irgendwo, man weiß nicht wo, ein Schaf, das wir nicht kennen, eine Rose vielleicht gefressen hat oder vielleicht nicht gefressen hat… Schaut den Himmel an. Fragt euch: Hat das Schaf die Blume gefressen oder nicht? Ja oder nein? Und ihr werdet sehen, wie sich alles verwandelt… Aber keines von den großen Leuten wird jemals verstehen, daß das eine so große Bedeutung hat!6 Es ist kein Wunder, wenn uns dieser Text tief im Herzen berührt, geht es doch um das Grundproblem des Menschen – um Liebe und Sinn: Der kleine Prinz liebt seine dornenbewehrte Blume und er liebt auch sein Schaf – in der Symbolsprache Rose und Lamm –, beide trägt er in sich, will sie behalten und schützen, und was geschieht? Das Schaf frisst die Blume – ganz ohne zu wissen, was es tut – ratzfatz – das ist der Lauf der Welt und nicht wirklich leuchtender Sternenhimmel, sondern aschgrau und fahl – ohne Sinn – ohne Ziel, und hier der kleine Mensch, der zu ihm aufschaut und konstatieren muss, dass sich das oder der da oben nicht im mindesten interessiert für seine Ängste, seine Schmerzen, seine Tränen, wie auch Jaques Monod, der große Naturwissenschaftler, Philosoph und Skeptiker in dem Zitat, das ihn weltbekannt gemacht hat, die Sache und die Frage auf den Punkt brachte! „Er [der Mensch] weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“7 Eine ähnliche Punktlandung in dieser Fragestellung macht Albert Einstein mit dem Satz: „Die wichtigste Frage, die ein Mensch stellen kann, lautet: Ist das Universum ein freundlicher Ort?“ Wenn wir mit den Augen der Schulwissenschaft hinausschauen ins Universum, fällt es schwer, dies zu bejahen. Was, um Himmels willen, sucht ein Mensch, der sich mit seinem Körper identifiziert, auf dem Mond? Dies alles hat offenbar mit unserer Frage, unserem Thema zu tun, ob es gut ausgeht, was man Schöpfung nennt, oder alles in Wahnsinn 6 Der kleine Prinz, a.a.O. Kapitel XXVII. Jaques Lucien Monod (1910-1976), Nobelpreisträger für Medizin. Zitat entnommen aus: Jaques Monod: Zufall und Notwendigkeit, München 1971, S. 211. 7 49 (man beachte das Wort!), Zerstörung und Tod endet – Vorgänge, bei denen der Umstand, dass auch sie einmal enden, das einzig positive ist, was man von ihnen sagen kann. Ganz so wie Mephisto es ausdrückt mit dem oben zitierten Vers, dass „alles was entsteht, wert ist, daß es zugrunde geht“. Leben und Schöpfung als eine letztlich absurde Veranstaltung? Fragen Sie Ihr Herz, welcher Antwort Sie zuneigen, und genießen Sie, wenn Sie können, die Antwort, die Antoine de Saint-Exupéry uns gibt als Pilot in seiner Geschichte vom kleinen Prinzen: Er wiegt den kleinen Prinzen in seinen Armen – an seinem Herzen – sein Handeln vor allem ist die Antwort und weniger, was er denkt und sagt. Wenn wir Glück haben, fällt die Antwort unseres Herzens ähnlich positiv aus, und die emotionale Kraft, die uns daraus zufließt, vermittelt uns zugleich eine Sicherheit – eine Evidenz –, dass es so ist, und sogleich die Aufforderung, mit dafür Sorge zu tragen, dass der unvermeidbare Kampf der unterschiedlichen Auffassungen mit einem Sieg des Guten, des Sinnes und der Liebe endet. Wenden wir uns der Theosophie im engeren Sinne – auch das bisher Zitierte sind natürlich theosophische Texte im weiteren Sinne – zu, so fällt einem natürlich zuerst das Karmagesetz ein. Das für den materiellen sowie für den geistigen Bereich geltende Gesetz, dass jede Ursache eine bestimmte Wirkung hervorruft und diese dann in bestimmter Weise auf den Verursacher zurückwirkt und zwar so, dass die Harmonie des Ganzen nicht gefährdet, sondern, soweit gestört, wiederhergestellt wird. Je stärker die Störung, umso stärker die Rückwirkung auf den Störer bis hin zu dessen Vernichtung. Funktionieren die Dinge so, dann haben wir mit dem Karmagesetz zugleich die vom Weltschöpfer in den Schöpfungsprozess eingebaute Sicherung gegen ein Scheitern des Ganzen durch ein Versinken im Chaos vor uns. Für den einzigen möglichen Störer, den Menschen, stellt sich unsere Ausgangsfrage damit ganz anders, nämlich dahin, ob er – bei dem notwendig gelingenden Ganzen – als Mitschöpfer und Teilnehmer an der Verwirklichung des göttlichen Willens, ausgedrückt im Karmagesetz, seinerseits dabei ist oder aber – bei halsstarrigem Verharren in der Störerposition bis zu dessen schwarzmagischer Steigerung hin zu lebensfeindlicher Böswilligkeit, selbst seiner Vernichtung entgegengeht. Haben wir dies erkannt, so bekommt die Ausgangsfrage einen ganz neuen Akzent: Ob das Ganze gut geht oder nicht, diese Frage soll und muss der Mensch getrost dem Veranstalter des Ganzen überlassen. Die für ihn 50 allein relevante, dabei aber gleichwohl existentiell wichtige Frage ist die, ob er erfolgreich ist oder scheitert. Ob er im Hinblick auf sein Schicksal Grund hat, optimistisch zu sein oder eher nicht! Sich mit dieser Frage zu beschäftigen, hat er ein Leben lang Zeit und danach noch viele weitere Leben, und alle diese Leben sind angefüllt mit Hinweisen für ihn, ob die Richtung, in die er marschiert, so im Großen und Ganzen stimmt oder eher nicht! Ein Helfer auf diesem beschwerlichen Wege steht ihm zur Seite: Sein höheres Selbst und dessen wichtigste Funktion – sein Gewissen! Aus der Geschichte der Menschheit wissen wir, wie viele an diesen Maßstäben gescheitert sind – aber zugleich auch wissen wir um diejenigen, die ihr Ziel, das Ziel eines jeden Menschen, erreicht haben, die Heiligen, die Erleuchteten, die Meister, wie wir sie nennen wollen, die anerkannt vom Göttlichen – „dies ist mein lieber Sohn“ – das ihnen in der göttlichen Welt zugedachte Erbe angetreten haben. Niemand sollte die Torheit begehen, dieses Erbe für ein Linsengericht zu verspielen. All das, was wir bisher gesagt haben, spiegelt sich wider in dem weltbekannten und berühmten theosophischen Schlüsseltext, erneut abgedruckt im letzten Heft von Theosophie heute, erstmals wiedergegeben als Meisterwort in Die Lotoskönigin von Mabel Collins. „Mein Bruder“, sprach er, „höre mich. Es gibt drei Wahrheiten, die ewig, unvergänglich sind und nie verloren gehen können, mag auch der Mangel richtigen Ausdrucks sie verborgen halten. 1. Des Menschen Seele ist unsterblich und ihre Zukunft ist die Zukunft eines Wesens, dessen Wachstum und Vollendung ohne Grenzen sind. 2. Die Urkraft, welche Leben gibt, wohnt in uns und außer uns. Sie ist unvergänglich und ewig segenbringend; sie ist unsichtbar, kann mit keinem der körperlichen Sinne wahrgenommen werden und wird dennoch von jedem erkannt, der Erkenntnis sucht. 3. Ein jeder Mensch gibt sich sein eigenes, unverbrüchliches Gesetz. Er selbst bestimmt sein Los – Glück oder Elend –, ist selbst der Richter seines Lebens, gibt sich selbst die Belohnung oder Strafe. 51 Diese Lehren, welche groß sind wie das Leben selbst, sind schlicht und einfach wie der schlichteste Verstand des Menschen. Gib sie dem Hungrigen zur Nahrung.“8 Und Franz Hartmann schreibt über die Frage, welcher Zukunft wir entgegengehen: „Wenn die Voraussagen der großen Erleuchteten aller Zeiten Vorausgesichte der Wirklichkeit sind, stehen wir Heutigen im Aufgang einer neuen Epoche in der Menschheitsgeschichte und am Vorabend großer Ereignisse. Das dunkle Zeitalter geht seinem Ende entgegen. Der Übergang zum neuen lichteren Äon ist mit unvorstellbaren politischen, wirtschaftlichen und religiösen Umwälzungen verbunden und, da Lebenswelt und Natur eins sind, auch mit äußeren, geologischen Wandlungen… In den uralten Voraussagen sind die sozialen Missverhältnisse unserer Übergangszeit unmissverständlich beschrieben: die Zeichen der Abnahme der Rechtschaffenheit unter den Menschen, die Zunahme der gegenseitigen Übervorteilung, die unerträgliche Last der Steuern durch den zum Selbstzweck gewordenen Staatsapparat, das Anwachsen der Lieblosigkeit und der globalen kriegerischen Auseinandersetzungen wie der Tyrannei, die unzählige Menschen heimatlos macht und zur Auswanderung treibt, die Nichtachtung der Heiligkeit der Ehe und der all diesen Übeln folgende Untergang der alten Welt. Diese Voraussagen beruhen teils auf dem Wissen der Alten um kosmische Gesetzmäßigkeiten und rhythmische Abläufe, teils waren sie Frucht innerer Zukunftsschau. Alles in der Welt verläuft nach bestimmen Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen und vollzieht sich in großen und kleinen Zyklen und Rhythmen – einerlei, ob es sich um das Leben einer Eintagsfliege, eines Menschen, eines Volkes, der Menschheit, der Erde, eines Sonnensystems oder des Universums handelt. Eine ähnliche Wendezeit, die einem Weltuntergang im Kleinen gleichkam, fand zur Zeit der Geburt des Christentums 8 Vgl. Theosophie heute, Heft 1/2008, S. 1. 52 statt, obwohl die römischen Diktatoren alles unternahmen, um sie aufzuhalten und dem Werden des neuen zu wehren. Gleiches steht uns heutigen bevor, und zum Teil erleben wir die immer stürmischer werdenden Wandlungen bereits. Was die Welt braucht, um diesen Übergang vom Alten zu etwas völlig Neuem zu meistern, sind nicht neue Systeme, neue politische oder religiöse Einrichtungen und Vereinbarungen, sondern der Glaube an das Gute und Wahre und das Festhalten daran durch rechtes Tun, weiter der Geist der Selbst-Erkenntnis und der Liebe, ohne die keine Meisterung der Welt und des Lebens möglich ist. Dieses Erwachen mitten in der Unruhe der Zeit zu einem höheren lichteren Sein tritt ein, wenn die Voraussetzungen dazu erfüllt sind. Erfüllen aber muss sie der Einzelne in sich selber. Die jetzt vergehende Welt ist mit sich überstürzenden politischen, pseudowissenschaftlichen, sozialen und religiösen Theorien, Dogmen und Versuchen erfüllt, die die Menschen zunehmend verunsichern und entzweien. Erst mit der neuen Ära tritt eine Welt der Ordnung und Harmonie, Einheit und Erleuchtung ins Dasein. Aus dem in immer mehr Herzen aufgehenden Licht der Erkenntnis wird eine neue Freiheit erblühen, und die Menschen werden ihre innere Einheit erkennen. Immer mehr Einzelne werden gewahr werden, dass sie keinen anderen benachteiligen, schädigen oder unterdrücken können, ohne dadurch sich selbst am meisten zu schaden. Die Flamme der Liebe wird die Kruste des persönlichen und kollektiven Egoismus zum Schmelzen bringen, der Ungeist des Ichwahns wird dem Geist der Einheit und Freiheit weichen… …Das Licht der Wahrheit und der göttlichen Weisheit wird immer mehr Herzen erleuchten, und die Menschen werden den Geist der Gottheit nicht mehr an äußeren Orten, in steinernen Tempeln oder jenseits der Sterne suchen, sondern ihn in sich selber finden. Sie werden ihres göttlichen Ursprungs bewusster werden und den Himmel, den sie in sich entdecken, auch um sich herum zum Wohle aller Wesen zu verwirklichen streben.“9 9 Franz Hartmann: Was ist Theosophie?, hrsg. von K. O. Schmidt, Egolding 1990, S. 131ff. 53 Kameradschaft – Freundschaft – Liebe Broder Christiansen In Kameradschaft, Freundschaft und Liebe sollte das Ziel sein, sich gegenseitig zu höhen. Das geschieht aber nicht wie ein Tauschgeschäft, das zwei gleichgerichtete Willen voraussetzt, sondern in der einfacheren Linie seelischen Wachsens: Du erhebst den Freund, und damit zugleich hebst Du Dich selbst. Ihm Scham zu ersparen und den peinlichen Anstoß seiner Grenzen, das ist noch zu wenig: Du sollst den Ehrgeiz haben, dass in Deiner Nähe seine besten Kräfte wach werden und beschwingt, dass ihm Einsichten kommen bei Dir und Sehnsüchte und Vorsätze, davon er selber nichts wusste. Und dazu ist dieses der Weg: dass Du Dich bemühst, des Freundes Vorzüge zu entdecken. Lass liegen, was klein ist an ihm – in jedem Menschen sind Engen: suche, was in ihm Steigendes ist und neu Verheißendes. Sammle, was er kann und was er könnte; unterstreiche vor Dir und immer wieder seine Tüchtigkeiten, zumal die noch keimenden. Und trittst Du zu ihm in solcher Gesinnung, dann, siehe! wird es geschehen – ohne dass Du schöntust seinen Eitelkeiten – dass diese seine geheimen Tugenden vor Dir, als vor dem Wissenden, zu Lichte kommen, und der Freund bei Dir zu funkeln beginnt, wie er sich selber nicht kannte. Aber dabei wirst Du es sein, der ihm als der Befreier und Beschwinger erscheint und darum als der höher Gemutete, und in Dir wird er Tüchtigkeiten ahnen, die er in anderen nicht fand; und siehe: vor ihm, als vor dem Erwartenden, werden nun Deine geheimen Tugenden sich breiten, Dir selber ungekannte Kräfte verkündend: und siehe! an dem Leuchten, das Du dem Freunde gegeben, hast Du nunmehr Dich selber entzündet. Broder Christiansen: Lebenskunst, Reclam 1949, S. 19f. 54 Goldene Stufen „Reines Leben, offener Sinn, lauteres Herz, reger Verstand, ungetrübter Blick, brüderliche Liebe für alle Wesen, Bereitwilligkeit, Rat und Belehrung zu geben und zu empfangen, treues Pflichtgefühl dem Lehrer gegenüber, williger Gehorsam gegenüber den Geboten der Wahrheit, sobald wir unser Vertrauen in den Lehrer gesetzt haben und glauben, dass er im Besitz der Wahrheit ist, mutiges Ertragen persönlicher Ungerechtigkeit, beherztes Sich-Bekennen zu den Grundsätzen, tapferes Verteidigen der ungerecht Angegriffenen, den Blick unverwandt gerichtet auf das Ideal menschlichen Fortschritts und menschlicher Vervollkommnung wie es das heilige Wissen beschreibt – das sind die goldenen Stufen, die der Lernende erklimmen möge, um einzugehen in den Tempel der göttlichen Weisheit.“ H. P. Blavatsky Spirituelles Wachstum: Meditationen über das okkulte Leben Geoffrey Hodson ERSTES KAPITEL Der Pfad des beschleunigten Sieges Der Mensch ist ein selbstbewusstes Wesen, und als solches besitzt er die Kraft, sich einer spirituellen Disziplin zur Beschleunigung seiner Entwicklung zu unterziehen. Er kann sein Ziel schneller erreichen, wenn er die Prinzipien, welche das normale Wachstum regieren, bewusst in intensiverer Form anwendet. Der Vorgang besteht darin, dass der Mensch immer mehr, und schließlich ununterbrochen, in seinem Denken und Fühlen, in seinen Motiven und seiner Lebensführung alles das betont, was in ihm spirituell 55 ist, während er in ergänzender Weise aus diesen vier Aspekten seines persönlichen Lebens alles ausscheidet, was zu dem spirituellen Ideal in Widerspruch steht. Dies macht die Einrichtung eines Systems unaufhörlicher mentaler und emotioneller Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur notwendig. Eine solche systematische Selbstzucht verursacht in dem Neophyten zuerst eine Verstärkung seiner Konflikte. Alles Materielle in seiner Natur widerstrebt dem vergeistigenden Prozess und versucht, sich seiner mentalen Beherrschung zu entziehen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt deshalb in der Bemeisterung des Denkens, und auf diese Aufgabe muß der Strebende alle seine Energien verwenden. Er wird gut daran tun, soweit wie möglich die Impulse und Einflüsterungen seiner Gefühlsnatur und die Forderungen seines Körpers unbeachtet zu lassen und sich auf die Beherrschung seines Denkens zu konzentrieren. Das vergeistigte Leben Die Bemeisterung des Verstandes erfordert, dass man das Bewusstsein aus Gefühl und Handlung in den Intellekt zurückzieht, bis die Fähigkeit zu rein mentaler Wahrnehmung entfaltet ist. Das Interesse am Leben sollte zunehmend vorwiegend intellektueller und spiritueller Natur werden, aber der spirituelle Zustand schließt dann die veredelten und beherrschten Gemütsbewegungen ein. Arbeit, Studium und Erholung müssen intellektuell und spirituell gestaltet werden, bis der Neophyte lernt, in seinem Denken zu leben und sein Leben durch seinen Intellekt zu beherrschen und zu leiten. Als Folge verfeinert und läutert sich sein persönliches Leben. Ernst und Askese werden seine Lebensführung kennzeichnen, Zurückhaltung und Würde seine Sprache und Haltung. Dennoch wird er dabei warmherzig und gütig bleiben und stets bereit, seinen Mitmenschen zu helfen; besonders wird er darauf bedacht sein, ihnen auf dem Pfad zum beschleunigten Sieg Beistand zu leisten. Diesen allgemeinen Methoden der Vergeistigung müssen sich systematisch ausgeführte spirituelle Übungen anschließen, welche bezwecken, einerseits den Brennpunkt des Bewusstseins im höheren Verstand zu festigen, andererseits die mentale Beherrschung der Lebensführung zu stärken und zu erhalten wie auch die Fähigkeit des abstrakten Denkens zu entwickeln. In einer späteren Zeit muss der Strebende das intuitive Bewusstsein entfalten und sich dadurch für das Erreichen der höchsten Selbstverwirklichung, jener des spirituellen Willens, vorbereiten. 56 Die Entdeckung der Wahrheit Die erforderlichen Übungen bestehen aus dem inneren Studium ewiger Wahrheiten mittels Meditation und Kontemplation. Diese und andere Wahrheiten sind die Grundlage aller Religionen der Welt, und der Neophyte wird darum zu ihrem Studium hingeleitet. Er muss bei dem Studium inspirierter exoterischer Lehren Denkkraft und Intuition anwenden, um ihre esoterische Bedeutung zu erfassen. Durch dieses Verfahren wird er eine sich stets vergrößernde Menge von Vorstellungen über spirituelle Wahrheiten sammeln, welche er dann methodisch in echte Wirklichkeiten für sich umwandeln muss. Er muss sich zu einem „Kenner“ der Wahrheit entwickeln. Dies wird durch unermüdliche Experimente erreicht, deren Art bei jedem Menschen verschieden sein wird. Die Methode, die göttliche Weisheit aus den Schriften der verschiedenen Religionen herauszuschälen, besteht darin, dass man sich mit jeder Darstellung einer Wahrheit mental eingehend beschäftigt, bis ihre wesentlichen Bestandteile klar zutage treten. Diese werden dann in tiefer Meditation betrachtet, bis man ihre volle Bedeutung erfasst und die Form ihrer Anwendung auf das tägliche Leben entdeckt hat. Dies erfordert mentale Anstrengung. Man muss sein Denken dazu bringen, mit nie wankender Konzentration auf dem erwählten Gegenstand zu verharren, in der Absicht, ihn bis zu seinem inneren Kern zu durchdringen. Der Erfolg ist möglich, weil die Wahrheit im Bewusstsein des Menschen verborgen ruht. Dadurch, dass die Wahrheit, die er sucht, im Strebenden gegenwärtig ist, vermag er sie im Gegenstand seiner Meditation zu erfassen. Durch das Studium der äußeren Ausdrucksformen der Wahrheit wird er zur Entdeckung der Wahrheit in sich selbst geführt. ZWEITES KAPITEL Gehirn und Körper Da das Gehirn eine überaus wichtige Rolle für die Erfassung der Wahrheit während des Wachbewusstseins spielt, muss der Neophyte sowohl die Funktionsweise als auch die Entwicklung des Gehirns verstehen. Wenn die im vorhergehenden Kapitel erwähnten Meditationen mit Ausdauer durchgeführt werden, verändern sie allmählich den Zustand des Gehirns. Die Tätigkeit seiner Zellen wird verstärkt und die Fähigkeit 57 seiner Reaktion auf Schwingungen geweitet; die Atome, aus denen es besteht, werden dadurch, dass sie durch die konzentrierte Gedankenkraft dazu gebracht werden, Energie, Leben und Erkenntnisse aus übermentalen Bewusstseinsebenen zu übertragen, stärker belebt. Das gesamte Gehirn wird durch die Meditation über abstrakte und spirituelle Wahrheiten einer Anspannung unterworfen, und der Neophyte muss große Sorgfalt anwenden, um es in seiner Begeisterung nicht zu verletzen. Leichter Schmerz oder Mattigkeit ist eine Warnung, dass die Anspannung sich dem Gefahrenpunkt nähert, an dem eine bleibende Schädigung möglich ist. Beim Auftreten eines solchen Zeichens sollte die Meditation unterbrochen oder ihre Form gewechselt werden. Die den Schmerz erzeugende Methode sollte unter äußerster Vorsicht experimentell geprüft werden. Das Ausbleiben von Schmerz zeigt die Gefahrlosigkeit einer Übung an. Die Schulung des Gehirns eines geistigen Neophyten muss während des Wachbewusstseins praktisch ununterbrochen vor sich gehen. Wenn eine zu große Lockerung der Kontrolle und ein zu tiefes Absteigen in grobes und materielles Denken erfolgt, wird nicht nur der Schulungsprozess des Gehirns verzögert und die Anstrengung während der Meditation fast erfolglos gemacht, sondern es entsteht sogar ein Einfluss in der entgegengesetzten Richtung. Seine Fähigkeit, auf Schwingungen zu reagieren, wird eingeengt und die Entwicklung der Atome verlangsamt. Schlaf, reine Nahrung Das Gehirn muss als ein zartes und äußerst kostbares Instrument angesehen werden, welches durch seine Berührung mit der äußeren Welt und die Arbeit in ihr fortwährend stumpf wird und darum immer wieder neue Schärfung benötigt. Dies wird erreicht durch Meditation, Gedankenbeherrschung, sorgfältige Ausschaltung von Denkgewohnheiten, welche die spirituelle Wahrnehmung verringern, durch geordnetes, ruhiges Leben und richtige Nahrung. Alle Fleischnahrung verunreinigt den Blutstrom und stumpft das Gehirn ab. Sie vermehrt auch die Neigung zu groben Gedanken und Gefühlen. Frische Früchte und Gemüse – besonders Rohkost – reinigen die Blutströme und vitalisieren Körper und Gehirn. Weisheitsschüler des Westens, welche die Praxis der Meditation mit Regelmäßigkeit und Ernst aufnehmen, brauchen dazu als Ergänzung 58 ausreichenden Schlaf. Während der Schlafstunden erholt sich das Gehirn von der Anspannung der täglichen Tätigkeiten und wird dadurch fähig gemacht, immer vollkommener auf die Resultate der Meditation zu reagieren. Darum ist während dieses Schulungsvorganges viel Ruhe notwendig, besonders in den ersten Stadien, und ein frühes Zubettgehen ist dringend anzuraten. Reizmittel, die ein ermüdetes Nervensystem zur Fortsetzung seiner Arbeiten befähigen sollen, sind schädlich. Ein systematisch geordnetes tägliches Leben macht ihre Anwendung überflüssig. Geordnetes tägliches Leben Die täglichen Tätigkeiten müssen sinnvoll geplant und so angeordnet werden, dass sie eine direkte Beziehung zu dem Ziel der Selbsterkenntnis und Erleuchtung haben. Handlungen, die nicht diesem Zweck dienen, müssen unterbleiben. Die Umgebung des Anfängers wird ihn vielleicht zuerst daran hindern, sich mit diesen Notwendigkeiten in Einklang zu setzen. Aber während seines Fortschreitens wird er entweder eine andere Umgebung erhalten, oder sie wird seinen geistigen Bedürfnissen angepasst werden. Dieser Vorgang mag langsam erscheinen, doch er wird sich vollziehen, und zwar in genauem Verhältnis zu dem Grad der Umwandlung in seinem Inneren. Die Umgebung eines Menschen enthält alles das, was seine entwicklungsgemäße Schulung erfordert. Der Mensch, welcher spirituell erwacht und sich immer rascher und inniger mit dem Leben in Einklang setzt, wird bemerken, dass seine Umgebung sich rasch ändert. Seine Lebensumstände werden mit zunehmender Treue den Zustand und die Veränderungen seines Bewusstseins widerspiegeln. Reinheit des Körpers als Erfordernis für spirituelles Wachstum Die das Gehirn betreffenden Gebote beziehen sich auch auf den ganzen Körper. Er muss ebenfalls innen und außen rein gehalten werden. Sein Magnetismus soll durch häufiges, regelmäßiges Baden, öfteren Kleidungswechsel und ein reines natürliches Leben geschützt und geläutert werden, selbst in einer unreinen und unnatürlichen Umgebung. Die Hände und die Füße sind jene Körperteile, welche am empfänglichsten für äußere magnetische Unreinheiten sind. Sie sind sozusagen magnetische Mündungen – Eingangspforten in das magnetische System des Körpers und gleichzeitig Austrittstore aus demselben. Man kann beim 59 Händereichen durch die Berührung der eigenen Hand mit der eines anderen willentlich einen Strom von segnendem Magnetismus in diesen Menschen leiten. Der Gruß eines Okkultisten muss aufrichtig und von einer positiven Absicht getragen sein. Aufrichtige und positive Haltung ist eine der bedeutendsten Sicherungen im okkulten Leben. Das Gehirn kann als der Makrokosmos und der Körper als der Mikrokosmos angesehen werden, denn in jeder Körperzelle ist Gehirnleben gegenwärtig, wird Gehirnbewusstsein geoffenbart und Gehirnenergie zum Ausdruck gebracht. Umgekehrt werden alle Funktionen, Handlungen und Erfahrungen des Körpers durch das Medium der Sinne im Gehirn reflektiert. Unreinheit des Körpers – ob durch Lebensführung oder mangelhafte Sauberkeit – hat einen hemmenden Einfluss auf die Höherentwicklung des Gehirns und trübt seine Schärfe. Außer seiner Funktion als das spezifische Organ der Intelligenz ist das Gehirn auch der Sitz des Ego-Bewusstseins. Es ist der physische Logos des KörperSonnensystems und befindet sich in ständiger Wechselwirkung mit ihm. Daher die Notwendigkeit gewissenhafter aufmerksamer Sorge für die Reinheit und das Wohlbefinden des Körpers. Okkulte und andere Praktiken, die den Körper in abnorme Funktionszustände zwingen, die bestimmte Organe oder Glieder über- oder unempfindlich machen, bringen zerstörende Wirkungen auf Körper und Gehirn hervor. Harmonie, Rhythmus, Leichtigkeit, Gleichgewicht und Anmut sind die Eigenschaften, zu denen der Neophyte seinen Körper erziehen sollte. Meditation Wenn der Körper so geschult und das Gehirn sensitiv gemacht worden ist, dann ist der Weg für das Herabsteigen und die physische Manifestation des Ego-Bewusstseins gebahnt. Das Licht des höheren Verständnisses beginnt die Dunkelheit des persönlichen Intellektes zu erhellen, und der Mentalkörper entwächst seinen charakterlichen Eigenschaften, nämlich, dem Mangel an Elastizität sowie der Neigung zu Analyse, Kritik und Selbstabsonderung; diese werden durch geistige Aufgeschlossenheit, konstruktives Urteil und Vereinigungsstreben ersetzt. Diese Wandlung im Mentalkörper ist wiederum für die Entwicklung des Gehirns von Wichtigkeit, denn jeder Zustand in dem einen Bewusstseinsorgan wird auch in dem andern widergespiegelt. Das Gehirn und das Intelligenz-Zentrum im Mentalkörper können als der negative 60 und der positive Brennpunkt in der Ellipse des persönlichen Bewusstseins betrachtet werden. Veränderungen in dem einen erscheinen sofort auch in dem anderen, die Vervollkommnung des einen ist ohne die des anderen unmöglich. Im Zustand des Wahnsinns und nach dem Tod ist das mentale Leben in hohem Grad subjektiv, weil ihm der negative Pol fehlt. Der Weg zur höchsten intellektuellen Erleuchtung führt vom Gehirn zum Mentalkörper, von dort ins Ego-Bewusstsein und dann weiter aufwärts und nach innen durch die Intuition zum spirituellen Willen. Von dort führt er – beim Adepten – aus der individuellen in die universelle Sphäre, wo er der gleichen allgemeinen Richtung weiter ins kosmische Bewusstsein folgt. – Die Aufgabe, die vor dem Neophyten liegt, welcher bereits seinem Körper, Gehirn und Verstand die bestmögliche Aufmerksamkeit und Fürsorge erweist, besteht darin, ein gewisses Maß von wachem Ego-Bewusstsein in sich zu begründen und es an Umfang und Beständigkeit fortwährend zu verstärken. Er sollte sein Denken unablässig in das Reich der Ur-Prinzipien erheben, die Gewohnheit erringen, alle intellektuellen Tätigkeiten zu der Ebene der höheren Vernunft emporzutragen, und der Neigung widerstehen, das Denken von Einzelheiten gefangennehmen zu lassen. Die Meditation über die ewigen Wahrheiten wird allein nicht zum Erfolg führen, sie muss durch eine standhafte und immer erfolgreichere Anstrengung unterstützt werden, den Geist während der Zeiten zwischen den Meditationen im höheren Bewusstsein festzuhalten. Die Haltung des Neophyten zu einer Handlung, die Gemütsbewegungen mit in sich schließt, wird ganz davon bestimmt werden, was für eine Wirkung sie auf dieses sein Bemühen hat. Gemütsbewegungen, welche das Denken ablenken und den Körper erregen, müssen konsequent vermieden werden. Solche, die eine vollere und freiere Art des Selbstausdruckes herbeiführen, wie reine Liebe, Sympathie, religiöse Hingabe und Schönheitsempfinden, sollten zur höchsten Ausdrucksfähigkeit entfaltet werden, bis das Gefühlsleben aus ihnen allein besteht, wobei ihnen ihr Platz von dem durch die Vernunft wirkenden Willen zugewiesen wird. Zirbeldrüse und Hypophyse Auch bei diesen Bestrebungen spielt das Gehirn mit seinen verschiedenen Teilen und Organen eine Rolle von überragender Bedeutung. Das Gehirn ist die Wohnstatt des individuellen Selbstes im inkarnierten Menschen. Es ist das innere Heiligtum im Tempel des Körpers. Alle 61 seine Zellen sind von dem Erkenntnis-Aspekt des individuellen Selbstes durchdrungen. Jedes Molekül ist mit seiner Energie geladen, deren Grundschwingung oder Frequenz die des Denkens ist. Im Verhältnis zu dieser gedanklichen Beseelung des Gehirns ist die Gegenwart der beiden anderen Aspekte des dreifältigen Selbstes von bloß untergeordneter Bedeutung. Daher ist das ganze menschliche Gehirn ein Träger des erwachenden individuellen Ich-Bewusstseins, und seine Abteilungen entsprechen den Facetten des Juwels des menschlichen Erkenntnisvermögens, das heißt, den verschiedenen Eigenschaften des konkreten und abstrakten Verstandes. Die Zirbeldrüse und die Hypophyse sind im Gehirn die Brennpunkte, durch welche sich das individuelle Bewusstsein in erster Linie offenbart. Von ihnen breitet sich das Bewusstsein über das ganze Gehirn aus, in Form von Energiewellen verschiedener Frequenz, je nach Art des Denkens. Im gewöhnlichen Menschen besteht die Fähigkeit der Zirbeldrüse aus konkretem Denken, mit gelegentlichen Ausdehnungen in das abstrakte Denken, während die Hypophyse Gemütsbewegungen übermittelt, mit gelegentlichen Ausdehnungen in die Intuition. Im entwickelten Menschen dringt die Intuition durch das Erkenntnisvermögen herab und wird durch dasselbe gedeutet. Sie erreicht das Gehirn durch die Zirbeldrüse. In dem Maß, in dem die Intuition sich entfaltet, wird das konkrete Denken allmählich in das Unterbewusstsein abgedrängt, es verbindet sich dort mit den Emotionen und erreicht das Gehirn durch die Hypophyse. Die Entfaltung des Bewusstseins wird von einer parallell laufenden organischen Entwicklung des Gehirns begleitet, die auch eine Erweiterung des Bereiches der Schwingungsempfänglichkeit dieser beiden Drüsen mit sich bringt. Ihre positive und negative Polarität wird infolge ihrer wachsenden Tätigkeit als Empfänger und Übermittler stärker ausgeprägt, so dass eine unmittelbare Wechselwirkung – in elektrischen Begriffen ein magnetisches Feld – zwischen ihnen entsteht. Die dritte Gehirnkammer wird in dieses Feld eingeschlossen und vervollständigt den Aufbau eines dreifachen Mechanismus für die Offenbarung des dreifältigen Selbstes durch das Gehirn. […] 62 VIERTES KAPITEL Leben und Form In der Natur ist die Form dem Leben untergeordnet, und so sollte es auch beim Menschen werden. Er muss von innen heraus leben und mehr die Erfüllung des Lebens suchen als die Verewigung der Form. Die Form ist die Dienerin des Lebens, aber in der Welt, in der der Strebende lebt, hat man das Leben der Form untergeordnet. Das Leben ist trotzdem alles besiegend, und die Form muss, so stark sie auch sein mag, schließlich vernichtet werden. Diese Vernichtung bringt jenen Leid, welche ihr Vertrauen allein in die Form gesetzt haben. Dem aber, der gelernt hat, auf das Leben zu bauen, ist das Leid fremd, denn er hat das Geheimnis des Glückes gefunden. Da er eins mit dem Leben ist und dem Leben vertraut, teilt er dessen Freiheit und kennt dessen Seligkeit. Schmerz gehört den Formen an. Leiden ist unvermeidlich für jene, die unter der Herrschaft der Formen stehen, denn die Formen müssen, da sie vergänglich sind, unvermeidlich dahinschwinden; da sie sterblich sind, müssen sie eines Tages vergehen. Das Leben ist ewig dauernd, unsterblich; jene, die ihr Vertrauen auf das Leben setzen, werden den Tod überwinden und ewige Seligkeit gewinnen. Leben und Form sind jedoch in Wirklichkeit keine Gegner. Sie sind zwei Aspekte des Einen, aus welchem sie beide hervorgehen. Dadurch, dass er beides erfährt und verstehen lernt, findet der Mensch seinen Weg zu dem Einen. Diese Vollendung ist das Ziel des menschlichen Lebens. Der Weg nach oben Leben und Form sind die beiden Pfeiler des Torweges, welcher zur Wohnstatt des Höchsten Einen führt. Zwischen ihnen und sie verbindend liegt jener Weg, den man sich konkret als eine Straße vorstellen kann, welche die Füße aller beschreiten müssen. Sogar die höchsten Götter sind diese Straße gewandert, jene sieben hohen Geistwesen, in welchen die sieben Töne oder Seinsweisen am vollkommensten geoffenbart sind. Selbst der Höchste Eine hat die Freuden und Mühsale dieser Straße erfahren – vor langen, fernen Zeiten, in Universen, die jetzt zu Staub zerfallen sind. Tiere, zivilisierte und kultivierte Menschen, Genies und Propheten, Weise und Heilige scharen sich auf der Straße, die zum ewigen Leben führt, und nähern sich immer mehr dem Ziel: der Pforte der Befreiung 63 von den Paaren der Gegensätze. Jenseits dieser Pforte weilen die „gerechten, vollkommen gewordenen Menschen“, die Adepten, die spirituellen Könige in der Wohnstatt des Höchsten.10 Man kann diesen mächtigen Wesen auch auf der Straße selbst begegnen, wenn sie freiwillig in die Einkerkerung des Lebens in Formen zurückgekehrt sind, um der strauchelnden Menschheit, ihren jüngeren Brüdern zu helfen, sie zu heilen, zu leiten und zu inspirieren. Aber obwohl sie sich unter der langsam empor klimmenden Menge bewegen, werden sie von den Menschen nur selten erkannt; denn die an die Verschiedenheiten und Teilungen der Offenbarungsformen des Einen gewohnten Augen der Menschen sind blind für das Licht jener, welche in der Einheit wohnen. Doch die Großen werden von jenen Menschen wahrgenommen, die begonnen haben, die Einheit inmitten der Verschiedenheit, das Leben innerhalb der Formen zu erkennen und dieser ihrer Einsicht gemäß zu leben. Die Vollkommenen schauen immer nach jenen aus, in denen diese Einsicht aufdämmert, nach jenen, welche sich bemühen, den „Pfad“ zu beschreiten, und die daher bereit sind, ihre Hilfe anzunehmen. Ältere und jüngere Brüder Im gegenwärtigen Zeitalter sind spirituell gesinnte Menschen zahlreich vorhanden; dadurch, dass sie sich zu Dienern der Menschheit machen, werden sie näher zu den älteren Brüdern herangezogen. In dieser Zeit wird der Schleier zwischen der äußeren Welt der Formen und der inneren Welt des Lebens immer dünner. Erleuchtete Menschen beginnen, diesen Schleier zu durchdringen und in die Welt des Lebens einzutreten. Die Vollkommenen bemerken dieses Eindringen, sie segnen und inspirieren ihre jüngeren Brüder, wenn diese sich dem inneren Reiche nähern, in welchem sie wohnen. Das Vorrecht der Gemeinschaft mit vollkommen gewordenen Menschen konnte immer von solchen Menschen errungen werden, welche fähig waren, die Einheit von allem, was lebt, die Tatsache der universalen Bruderschaft zu erkennen und ihr Leben in Übereinstimmung mit dieser Wahrheit zu bringen. Allen jenen, welche ihre Gemeinschaft suchen und sich sehnen, der Menschheit unter ihrer Führung zu dienen, rufen die älteren Brüder in der Tat zu: 10 Vgl. Bibel, Brief an die Hebräer 12; 23 [Red.]. 64 „Erhebet Euch! Erwachet! Werdet die Götter, die ihr seid! Lebet als Götter, rein, selbstlos und stark!“11 „Der Gott, der ihr in der wirklichen Welt seid, leuchtet dort in makelloser Reinheit, er strahlt selbstlose Liebe aus und beginnt, jene Stärke zu entfalten, welche die Verheißung der Allmacht ist.“ „Inmitten der Unreinheit der Welt seid rein! Inmitten der Selbstsucht der Menschen dienet! Inmitten der Schwachheit der Menschen seid stark!“ „Durch solches Leben werdet ihr die Pforte zum ewigen Leben finden. Durch solches Dienen werdet ihr uns finden, die wir leben, um zu dienen. Durch solche Stärke werdet ihr unsere Stärke empfangen, die wir Pfeiler im Tempel des allmächtigen Gottes geworden sind.“ „Im Schlaf und im Wachen wird unsere Kraft euch durchfluten für den Dienst der Welt. In unserem Namen und durch unsere Kraft werdet ihr zu Heilern der Welt werden, zu Tröstern in ihren Nöten und zu Inspiratoren jener, die fähig sind, auf das Ideal eines vollkommenen Lebens und auf die Gegenwart vollkommener Menschen zu reagieren.“ „Eure Welt ist euer Erntefeld. Eure Mitmenschen sind seine Garben. Eure Aufgabe ist es, diese Garben einzusammeln, damit der göttliche Sämann, der sie ausgesät hat, nicht Menschen, sondern Götter als Ernte in sich aufnehmen kann.“ „Lebet so, dass alle, die euer Leben sehen, danach trachten, eurem Leben nachzueifern! Dienet so, dass jene, die euch dienen sehen, auch ihrerseits dienen mögen! Seid so kraftvoll, dass alle, die eure Stärke sehen, Niederlagen in Siege umzuwandeln vermögen!“ „Von solcher Art sind unsere Lebensregeln. Gehorsam gegen sie wird euch uns näher bringen. Jeden von euch erwartet ein älterer Bruder, um aus jedem von euch einen Erlöser der Welt zu machen.“ 11 Vgl. Bibel, 1. Kor. 3, 16; Matth. 5, 48 [Red.]. 65 FÜNFTES KAPITEL Der Weg in die Freiheit – Meisterschaft Die Welt ist ein Gefängnis, und das Herz des Menschen ist die Gefängniszelle, in welche seine Seele eingekerkert ist. Durch das vergitterte Fenster der Sinne schaut die Seele in den Gefängnishof und sucht nach einem Entkommen. Für viele ist die Stunde der Freiheit aber noch nicht gekommen, denn sollten auch die Riegel zurückgeschoben und die Tore aufgeschlossen werden, so harren draußen noch grimmige Wächter, die den Weg versperren. Begierde, Leidenschaft, Sinnlichkeit, Hinterlist, Habgier, Selbstzufriedenheit, Egoismus, Hass und Stolz – das sind die einkerkernden Mächte. Sie sind wahrhaft grimmige Wächter, denn ihre Existenz hängt von der Einkerkerung der Seele ab. Deshalb setzen sie ihrer Vernichtung heftigen Widerstand entgegen. Gegen sie anzukämpfen, vermehrt jedoch nur ihre Stärke, denn die ihnen von der gefangenen Seele gewidmete Aufmerksamkeit ist die Quelle ihrer Lebenskraft. Der Weg des Entkommens wird nicht durch Kampf mit diesen Mächten errungen. Der Weg in die Freiheit führt nicht nach außen durch die Tore des Gefängnisses, welches dadurch entstanden ist, dass die Seele sich den Fehlern und Lastern des niederen Selbstes ergeben hat. Der Weg führt hinweg von äußerem Kampf und Streit zum inneren Frieden. Der Gefangene muss nach innen entfliehen. Er muss aufhören, durch das vergitterte Fenster der Sinne in den Gefängnishof hinauszustarren, wo nur die Hindernisse zu finden sind, die seiner Freiheit entgegenstehen, und er muss aufhören, seine Laster durch direkten Angriff zu bekämpfen. Stattdessen muss er alles Denken von ihnen abwenden und sich auf die ihnen entgegengesetzten Tugenden und Kräfte konzentrieren. Auf diese Weise wird er in sich selber den Weg finden, er wird in einen höheren Bewusstseinsbereich eingehen und dort auf wunderbare Weise seine Freiheit erlangen. Diesen Weg findet und beschreitet man durch die Übung der Selbstbeherrschung, durch Reinheit des Lebens, durch ernstes Streben, Idealismus und Selbstaufopferung. In Gegenwart der Reinheit erstirbt das Verlangen. Reine Liebe vernichtet die Leidenschaft, besiegt jedes Übel und befreit jene, in denen sie erblüht. Von solcher Art ist der Weg der Befreiung aus dem Gefängnis der materiellen Welt, aus der Marter der Versuchung, aus der Sklaverei der Sinnlichkeit und der Einkerkerung durch Hass und Gier. 66 Dieser Weg steht allen offen. Jede befreite Seele ist ihn gewandert. Er wird der Pfad der Rasiermesserschneide, der Pfad der Heiligkeit oder der direkte und der schmale Weg genannt, und „wenige sind es, die ihn finden“. Nahezu zweitausend Jahre sind dahingegangen, seit diese Worte gesprochen wurden. Während dieser Zeit ist die Menschheit vorangeschritten. Viele Menschen erkennen jetzt den Weg des Entrinnens, aber sie verharren – freiwillig oder durch die Macht der Gewohnheit – in der Gefangenschaft und ordnen sich freiwillig der Herrschaft des Verlangens unter. Sie sind die Blinden, welche nicht sehen w o l l e n ; diese sündigen weit mehr als die jüngeren Seelen, die f ü r d e n R u f d e r Freiheit noch nicht erwacht sind. Viele Seelen empfinden jetzt eine göttliche Unzufriedenheit; Sinn und Bedeutung derselben aber wird noch nicht verstanden. Die Menschen halten dieses unaussprechliche Sehnen des inneren Menschen irrtümlich für ein Verlangen der Sinne, ein physisches Begehren und suchen seine nagende Pein dadurch zu stillen, dass sie sich noch tiefer in Ausschweifungen stürzen. Sie sind noch nicht imstande, es als ein Zeichen zu erkennen, dass sie im Begriff stehen, den Freuden, durch die sie bisher unterjocht wurden (die die Spielzeuge der Kinderzeit ihrer Seele waren), zu entwachsen. Das spirituelle Jugendalter der Menschheit ist aber jetzt erreicht und erfordert radikale und positive Wandlungen. Das Sich-GehenLassen muss weiser Askese und die Sinnlichkeit ernster Strenge gegen sich selbst Platz machen. Selbstsüchtige Motive müssen durch Uneigennützigkeit und Philantropie ersetzt werden. So tritt man in das spirituelle Jugendalter. So wird der zur spirituellen Reife führende Pfad gefunden und beschritten. Auf diesem Pfad sind jene vollkommenen Menschen gewandelt, welche die spirituellen Herrscher der Welt, die wahren Lehrer der Menschheit sind. Sie sind im Willen, in der Liebe und im Wissen vollendet, und sie offenbaren diese drei Eigenschaften des Höchsten in vollkommener Weise. G. Hodson: Meditationen über das okkulte Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Beatrice Flemming, Graz 1964, S. 13-25, S. 34-40 (vergriffen, Neuauflage in Vorbereitung). 67 „…gewöhnlich ist es nicht das Glück, was uns fehlt, sondern das Wissen um das Glück. Wozu dient es, so glücklich wie möglich zu sein, wenn man nicht weiß, dass man glücklich ist? Das Bewusstsein des kleinsten Glückes trägt viel mehr zu unserer Glückseligkeit bei als das größte Glück, das unsere Seele achtlos übersieht.“12 Maurice Maeterlinck: Der Blaue Vogel Ein Interpretationsansatz (Teil 1) von Werner Bernadowitz Biographische Notizen zu Maurice Maeterlinck Maurice Maeterlinck wird am 29. August 1862 als Sohn französischsprachiger Eltern im flämischen Gent geboren. Er studiert Jura und verfasst bereits während seiner Studienzeit erste Gedichte und Erzählungen.13 Als Rechtsanwalt ist er nur kurze Zeit tätig, wendet sich dann mehr und mehr der Literatur und dem Maurice Maeterlinck (www.nobelprize.org) Schreiben zu. 1889 veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband Les Serres chaudes (Im Treibhaus). Sein literarischer Durchbruch gelingt ihm im gleichen Jahr mit dem phantastischen Drama La Princesse Maleine (Prinzessin Maleine), das nach einem Märchen der Brüder Grimm verfasst ist. Im Jahre 1896 geht Maeterlinck für einige Monate nach Paris, wo er Mitglieder der neuen literarischen Bewegung des Symbolismus kennenlernt. 1906 erscheint sein bekanntestes Werk L’Oiseau Bleu (Der Blaue Vogel).14 Maeterlinck arbeitet Zeit seines Lebens sowohl als Lyriker als 12 Maurice Maeterlinck: Weisheit und Schicksal. In das Deutsche übertragen von Friedrich von Oppel-Bronikowski, Diederichs, Jena 1908, S. 97. 13 Vgl. www.felix-bloch-erben.de unter dem Eintrag „Maurice Maeterlinck (Stand: 25.08.2008). Einen Überblick über Maeterlincks Leben und Werk gibt Heinrich Meyer-Benfeys MaeterlinckBuch, Dresden 1923. 14 Vgl. www.nobelpreis.org unter dem Eintrag „Maurice Maeterlinck“ (Stand: 25.08.2008). 68 auch als Dramatiker und wird insbesondere durch seine Theaterstücke weltberühmt. Im Jahre 1911 erhält er den Nobelpreis für Literatur. Maeterlinck unternimmt ausgedehnte Reisen durch weite Teile Europas und Nordamerikas und lässt sich schließlich an der Französischen Riviera nieder. In Nizza erwirbt er 1930 ein Schloss, dem er den Namen „Orlamonde“ aus seinen Quinze Chansons gab. Es wird heute als Hotel „Palais Maeterlinck“ geführt. Für seine literarischen Verdienste wird er 1932 vom belgischen König Albert in den Grafenstand erhoben. 1939 flieht Maeterlinck in die USA, wo er bis 1947 bleibt.15 Er stirbt am 6. Mai 1949 auf seinem Schloss in Nizza. Die geistige und innere Dimension des Schriftstellers Maurice Maeterlinck gilt neben Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und Arthur Rimbaud als einer der wichtigsten Vertreter des literarischen Symbolismus, einer Strömung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich, die im Gegensatz zum Naturalismus durch die Verwendung von Symbolen und das Streben nach Musikalität in der Sprache gekennzeichnet ist. Vertreter dieser Richtung in Deutschland sind R. M. Rilke und St. George. Gemeinsam war ihnen (den Symbolisten) das Unbehagen an der vom positivistisch-materialistischen Denken geprägten Zeit … Ihre Dichtung will die Zusammenhänge zwischen den äußeren Erscheinungen und den verborgenen Seins- und Bewusstseinsschichten evozieren.16 Eine Vereinigung der inneren und äußeren Welt wird angestrebt. In diesem metaphysischen Sinne des Symbols besteht auch ein Zusammenhang zwischen der idealistischen Philosophie Immanuel Kants, dessen Unterscheidung zwischen Phänomen und Noumenon sich deutlich auf den Symbolismus auswirkt.17(Red.) Neben einer großen Anzahl von Bühnenwerken hat Maeterlinck aber auch zahlreiche philosophische Abhandlungen verfasst, u. a. Der Schatz der Armen (1896), Weisheit und Schicksal (1898), Der begrabene 15 16 17 Vgl. Wikipedia: Maurice Maeterlinck. Vgl. Meyers Lexikon online. Vgl. Wikipedia: Symbolismus. 69 Tempel (1902; gemeint ist der Tempel in der Menschenbrust) und Von der inneren Schönheit. Seine geistige Nähe zur Mystik drückt sich in seinen Essays über den flämischen Mystiker Jan van Ruysbroeck18, über Ralph Waldo Emerson19 und Novalis20 aus. Aus seinen früheren Jahren (Studienzeit) stammen einige lyrische Werke, die aber nicht mehr alle erhalten sind. Als Imker in Oostakker bei Gent hat er sich später eingehend mit dem Leben verschiedener Insekten befasst. So zählen Sachbücher wie Das Leben der Bienen (1901), Das Leben der Termiten (1927) und Das Leben der Ameisen (1931) zu seinen naturwissenschaftlichen Werken. Ebenfalls in diese Richtung zielen Arbeiten wie Die Intelligenz der Blumen (1907) und Die vierte Dimension. Unter seinen vielen Bühnenwerken sei das noch immer häufig inszenierte Schauspiel Pelléas und Mélisande (Uraufführung 1893 in Paris) erwähnt, das mehrfach vertont wurde, u. a. als Oper durch Claude Debussy. Seine Bühnenwerke haben ihm den Titel „Der belgische Shakespeare“ eingetragen. Keines seiner Theaterstücke spiegelt jedoch den symbolischen wie auch den surrealistischen Charakter seines Denkens so deutlich wider wie das Märchenspiel Der Blaue Vogel. Es entstand 1906 und wurde 1908 am Akademischen Künstlertheater in Moskau uraufgeführt. Spätere Inszenierungen gab es in London, New York, Wien, Paris und Berlin. Dieses Märchenspiel hat zahlreiche Vertonungen, u. a. durch Engelbert Humperdinck, erfahren und wurde 5-mal verfilmt. Es gilt als ein Höhepunkt in Maeterlincks dramatischem Schaffen. Es spielt in einer Zauberwelt, ist Lebensweisheit im dichterischen Gewande und hat wesentlich zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises an den Autor im Jahre 1911 beigetragen.21 18 Jan van Ruysbroeck (1293-1381) ist der bedeutendste Mystiker des niederländischen Raumes. Ralph Waldo Emerson (1803-1882) war ein US-amerikanischer Philosoph, Geistlicher und Schriftsteller. 20 Novalis (1772-1801), eigentlich Friedrich von Hardenberg, war einer der bedeutendsten Vertreter der Romantik. Er verfasste Gedichte, Kirchenlieder, Romanfragmente und Essays. 21 Die diesem Essay zugrunde gelegte Fassung ist die Ausgabe des Sachon Verlages, die sechs Akte aufweist. Die Übertragung durch Stephan Epstein, Erich Reiß Verlag, Berlin 1910, enthält demgegenüber nur 5 Aufzüge oder Akte. Obwohl die Zahl der sog. Bilder der jeweiligen Akte in beiden Fassungen übereinstimmt (insgesamt 12), ist ihre Anordnung jedoch z. T. verschieden. 19 70 Maeterlincks Gedankenwelt und Botschaft kann wohl kaum besser ausgedrückt werden, als es ein ehemaliges Mitglied der Académie Française22, Francois Albert-Buisson, getan hat: „In der Stunde, da sich die Wissenschaft, berauscht von ihren Erfolgen, anheischig macht, das Geheimnis der Dinge des Lebens zu entschleiern, ist er gekommen, die Rechte des Unsichtbaren und des Geheimnisses zu vertreten. Der im Guten wie im Bösen triumphierenden Technik setzt er die lächelnden Vorbehalte des Philosophen entgegen.“ Wie zeitlos und darum stets verblüffend aktuell! Der Blaue Vogel – Kurze inhaltliche Zusammenfassung des Schauspiels Es ist Heiligabend, aber für die zwei Kinder Tyltyl und Mytyl, die in einer ärmlichen Holzfällerhütte in ihren Betten liegen, gibt es keine Bescherung wie bei den reichen Kindern, die sie im gegenüberliegenden Haus beobachten. Plötzlich tritt eine alte Frau ein, die mit ihrer Kleidung einer Fee gleicht. Sie ist auf der Suche nach dem Blauen Vogel als Heilmittel für ihre kranke und unglückliche kleine Tochter. Zunächst meinen die Kinder in ihr die Nachbarin zu erkennen, die sich aber beharrlich als Fee Berylune ausgibt und die Kinder auffordert, sich mit ihr auf die Suche nach dem Blauen Vogel zu begeben. Dazu soll ihnen ein auf einer Kappe befestigter Diamant behilflich sein, der sehend macht und ungeahnte Einblicke in das Innerste der Lebewesen und Dinge ermöglicht, so dass die Seelen dieser Erscheinungen mit den Menschen kommunizieren können. Als der Knabe Tyltyl diese Kappe aufsetzt und den Diamanten dreht, sieht er, dass die Fee tatsächlich wunderschön ist, und er kann mit der Katze, seinem Hund Tylo, aber auch mit dem Zucker und dem Brot wie mit Menschen reden. Die erste Station der nun beginnenden Reise ist der prunkvolle Palast der Fee Berylune. Bevor die Fee und die Kinder diesen Palast be22 Älteste und prestigereichste Institution im geistigen Leben Frankreichs. 71 treten, warnt die Katze, die zusammen mit dem Hund die Kinder auf ihrer Reise begleitet, stellvertretend für die gesamte Natur alle anderen Mitreisenden, wie das Brot oder das Feuer, vor den Folgen, die entstehen könnten, wenn die Kinder den Blauen Vogel fänden. Denn entdecken die Kinder den Vogel, so werden sie – und damit die Menschen – alles wissen und alles sehen und die Natur wäre ihnen dann gänzlich ausgeliefert. Diesen möglichen Machtmissbrauch durch die Menschen, die durch den Blauen Vogel einen tiefen Einblick in die Mysterien der Naturseele bekämen, möchte die Katze, im Gegensatz zum treuen Hund, verhindern: Keinesfalls dürften die Kinder den Blauen Vogel finden. Auf dem weiteren Weg übernimmt das Licht die Begleitung der Kinder. Eine Nebelwand weicht zurück und sie sehen ihre verstorbenen Großeltern und Geschwister im Land der Erinnerung. Dort finden sie eine blaue Amsel, die sie für den gesuchten Vogel halten und als Geschenk mitnehmen dürfen. Als sie dieses Land aber verlassen, ist die blaue Amsel der Großeltern wieder ganz schwarz geworden. Wenig später sind sie im Palast der Nacht angelangt. Die Nacht als Symbol für die Mysterien der Welt wird flankiert vom Tod und seinem Bruder, dem Schlaf. Hinter den verschlossenen Türen dieses Palastes, die Tyltyl sich alle öffnen lässt, verbergen sich schreckliche Dinge wie Krankheit und Krieg, aber auch Traumgärten von unglaublicher Schönheit, in denen märchenhafte blaue Vögel hin und her fliegen. Die Kinder fangen so viele davon, wie sie können, müssen aber schon bald enttäuscht feststellen, dass sich die Vögel am hellen Tage als nicht lebensfähig erweisen. In der anschließenden Waldszene müssen die Kinder vor der wütenden Natur um ihr Leben fürchten. Gewarnt von der Katze, die den Kindern vorausgeeilt ist, halten die Bäume des Waldes Gericht über die Köhlerkinder und beschließen deren Tod als Sühne für die vielen gefällten Brüder und Schwestern. Die alte Eiche ist nach langer Diskussion auch bereit, das Urteil zu vollstrecken. Aber die Kinder werden durch das Licht gerettet, das sie daran erinnert, den Diamanten zu drehen und so die Bäume wieder stumm und unbeweglich zu machen. Zur mitternächtlichen Stunde auf dem Friedhof drehen die Kinder ihren Diamanten erneut und hoffen, in einem der Gräber, die sich daraufhin tatsächlich öffnen, den Blauen Vogel zu entdecken. Doch statt der zu erwartenden Toten sehen sie aus den Gräbern einen sich immer üppiger entwickelnden Flor heraufsteigen, der den Friedhof in einen 72 wunderbaren Zaubergarten verwandelt. Den Blauen Vogel finden sie auch hier nicht. In den Glücksgärten machen die Kinder Bekanntschaft mit den unterschiedlichen Glücksarten. Sie treffen dort auf grobes physisches Glück wie z. B. das Glück-reich-zu-sein, das Glück-befriedigterEitelkeit oder das Glück-zu-faulenzen, danach auf die feineren Freuden, z. B. der Freude-am-blauen-Himmel, am Sonnenuntergang oder der häuslichen Glückseligkeiten. Zuletzt aber treffen sie auf die großen Freuden, die in hohen ethischen Werten gründen wie z. B. die Freudegerecht-zu-sein oder die Freude-zu-lieben. Unter diesen ist die höchste die Freude-der-Mutterliebe als Sinnbild der reinsten Freude. Diese öffnet den Kindern auch die Augen für die verborgene wahre Schönheit ihrer eigenen Mutter. Im Land der Zukunft, einem blauen Palast mit riesigen Sälen, tummeln sich viele ungeborene, blaue Kinder, die noch auf ihre irdische Geburt warten. Tyltyl und Mytyl spielen mit diesen Kindern, können sich jedoch nicht richtig mit ihnen verständigen, da vieles von dem, was sie sagen, von den blauen Kindern nicht verstanden wird. Einige dieser Kinder erläutern Tyltyl und seiner Schwester ihre Bestimmung auf der Welt, so wird eines eine große Entdeckung machen und ein blindes Kind soll sogar den Tod besiegen. Die meisten der blauen Kinder freuen sich auf ihre Geburt und können es kaum erwarten, andere aber wollen um keinen Preis geboren werden. Durch die Zeit, Herrscher über diesen Palast in der Gestalt eines Greises, werden die Geschwister schließlich entdeckt und müssen fliehen. Wie in der Waldszene werden sie auch hier durch die Hilfe des Lichtes gerettet. Nachdem die Kinder (ihre Seelen) ein Jahr lang auf ihrer Suche nach dem Blauen Vogel waren, sind sie wieder in ihrem Elternhaus angelangt, ohne ihn jedoch gefunden zu haben. Sie sind enttäuscht und müssen zu ihrer Verwunderung feststellen, dass sie ihr Haus anscheinend gar nicht verlassen haben. Es scheint nur eine Nacht seit dem Beginn ihrer Reise vergangen zu sein und ihre Eltern nennen ihre erlebten Abenteuer einen Traum. Als die Nachbarin zu Besuch kommt, ist die zuvor nicht blau genug erschienene Turteltaube Tyltyls plötzlich ganz blau geworden und der Junge schenkt sie der kranken Nachbarstochter. Als diese den Vogel in Händen hält, kann sie plötzlich wieder gehen, ja sogar tanzen und fliegen. Aber während der Fütterung entweicht der Vogel und fliegt 73 davon. Aber Tyltyl tröstet sie mit der Zuversicht, dass man den Vogel bestimmt wieder einfangen könne. Redaktionell überarbeitet und mit Ergänzungen versehen (CW). Sommertagung 2008 Bericht von Reiner Ullrich Vollgepackt und abwechslungsreich war diese Sommertagung in Calw, die 56. theosophische Zusammenkunft seit 1953 am gleichen Orte. Nur wenige der Teilnehmer(innen) waren damals schon dabei gewesen (die älteste seitdem sogar jedes Jahr!). Manches hat sich verändert, aber es gab – auch wenn die tragenden Schultern längst nicht mehr dieselben sind – keinen Bruch, sondern eine allmähliche, kaum merkliche Entwicklung, vor allem hin zu größerer Offenheit. Dass Theosophie nichts Starres, Statisches, Abgeschlossenes ist, deutete schon das diesjährige Motto an: Theosophie als Quelle der Zuversicht. Es forderte alle heraus, die ans Pult traten oder Gesprächskreise leiteten, auf „Perspektiven“ (wörtlich „Durchblicke“) spiritueller Evolution hinzuweisen – Perspektiven, die nicht mit Heilsversprechen vertrösten, sondern sich aus dem Zusammenwirken aller aufbauenden, ordnenden Kräfte in uns und in der Tausendarmiger Bodhisattva Avalokiteshvara uns umgebenden Welt, der sichtbaren und der (noch) unsichtbaren, ergeben. Dass wir uns mit unserem individuellen Leben in diese umfassende Wirkungskette in voller Verantwortung dienend einreihen mögen, klang immer wieder durch, vor allem natürlich, wenn – wie im Einführungsvortrag – Charlotte Wegner Unser irdisches Leben als Teil eines größeren Entfaltungszyklus darstellte und – in ihrer Schlussbetrachtung über das Bodhisattva-Ideal – das ferne Ziel in Abbildungen buddhistischer Kunstwerke anschaulich vor Augen führte. 74 Vortrag und Gesprächsrunde mit Dr. Peter Michel. Eine Art Überblick – mit besonderer Berücksichtigung der theosophischen Bewegung – bot der Vortrag Weltreligion des „Aquamarin“Verlegers und Gastreferenten der Tagung, Dr. Peter Michel, der sich dadurch auszeichnete, dass man große Teile seiner Ausführungen in den gleichzeitig projizierten Textseiten aus seinem Buche gleichen Titels mitlesen konnte; so war man für das anschließende Gespräch gut gerüstet. Um bei den „Lichtbildvorträgen“ zu bleiben: Friedel Lehracks Auswahl aus dem Werk des russischen Malers Nikolas Roerich bestach vor allem durch die Gegenüberstellung von dessen Bildern mit Fotos derselben oder ähnlicher Landschaften im Himalaya, und es wäre schwergefallen, sich nicht von der Begeisterung des begeisterten Bergsteigers für die Erhabenheit der Berge und der Bilder anstecken zu lassen. Zu anderen Höhen menschlichen Geistes, den gewaltigen Bauwerken Ägyptens, lenkte uns der Vortrag von Eva Jahn, ebenfalls mit Lichtbildern, über die Pyramiden von Gizeh. Dieses einzige der antiken „Weltwunder“, das bis heute überdauert hat, fasziniert durch die Maßverhältnisse nicht nur, sondern durch das Nikolas Roerich, Perle des Suchens, 1924. 75 „Innenleben“, besonders der Cheopspyramide; sie fordern immer wieder heraus zum Forschen und Nachdenken darüber, welche Absichten ihre Erbauer wohl hatten: Waren sie „nur“ Grabdenkmäler ruhmbedürftiger Herrscher? Schwer vorstellbar! Eher schon umgekehrt: Was mit kosmischen Analogien (z. B. mit den Gürtelsternen des Orion) ausgezeichnet ist und wohl Einweihungen in die Geheimnisse dessen diente, was die Welt im Innersten zusammenhält – Eva Jahn präsentierte entsprechende Kernstellen aus der Geheimlehre von Blavatsky –, eignete sich (später) möglicherweise auch als würdige Begräbnisstätte. Wie alt diese Pyramiden wirklich sind? Archäologen haben die Bedeutung des „Tierkreises von Dendera“ dafür wieder in Zweifel gezogen – aber „uralte Weisheit“ gewinnt ihre Bedeutung nicht durch Anciennität, sondern durch den Widerhall, den sie in uns auslöst. Unmöglich, auf alles Dargebotene so ausführlich einzugehen: reichte es doch von (an)klagenden Worten über gegenwärtige Mißstände (Unsere Verantwortung betreffend Ausbeutung der Umwelt, der Pflanzen und der Tiere – Siegfried Ebersbach) und Aufzeigen von Heilungsmöglichkeiten (z. B. beim Lebendigen Lebensmittel Wasser – Walter Wiesmann) über Krankheit und Karma (Charlotte Wegner), den Tod, das große Abenteuer, als Erwachen (Margret Brandt) und theosophische Ausdeutung dichterischer Mythen (Die Irrfahrten des Odysseus – Hans Beetz) bis zu Erläuterungen theosophischer Lehrtradition (Selbsterkenntnis: Kerngedanken Franz Hartmanns – Karola Appel; Die Magie der Symbolik – Wilfried Goltz; Barborkas Göttlicher Plan – Dr. Ruth Fischer). Gewissermaßen programmatisch fragte, vor dem Hintergrund philosophisch-spiritueller Traditionen, Dr. Bernhard Prediger Gibt es heute noch Grund, optimistisch zu sein? (s. S. 42-53) und vertiefte damit die Überlegungen Reiner Ullrichs, der das Motto der Tagung als Thema seines Vortrags gewählt hatte (erscheint im nächsten Heft). 76 Während des Vortrags: Reiner Ullrich (oben) und Dr. Bernhard Prediger (unten). Die nach den Vorträgen geplanten Aussprachen fielen zuweilen knapp aus, teilweise durch die Fülle des von den Referenten Gebotenen, zum Teil auch durch die erfreulich größere Zahl von Teilnehmern der Sommertagung, die den Anteil derer, die zu Wort kommen konnten, schrumpfen ließ. Inzwischen zur Tradition geworden ist der gesellige Nachmittag in Zavelstein, wo an langer Tafel Kaffee und Kuchen serviert und dazu Sonderberichte z. B. über den Weltvegetarier-Kongress in Dresden, dazu auch eigene Geschichten und Gedichte vorgetragen werden. Wer die Burgruine noch nicht kennt, vertritt sich die Füße auf dem Wege zu ihr durchs „Städtle“, und wer gern wandert und nicht sein Wasserkaskaden im Kurpark von Bad Teinach. Auto lenken muss (denn der Hinweg war in den PKWs von Teilnehmern zurückgelegt worden), wird zu Fuß durch Feld und Wald zurückgeleitet nach Spessart. (…) 77 Eine Busfahrt führte uns nach Bad Teinach, eine zweite brachte uns am vorletzten Tage nach Weil der Stadt, einer ehemals „Freien Reichsstadt“, deren größter Sohn nicht als Schriftsteller berühmt wurde (wie Calws Hermann Hesse), sondern als Naturwissenschaftler mit Kopernikus, Galilei und Newton in deren früher „Spitzenklasse rangiert“: Johannes Kepler. Wir besuchten das Museum in seinem Geburtshaus und waren so viele, dass wir in die kleinen Räume nur hineinpassten, wenn wir uns in zwei gegenläufig geführte Gruppen aufteilten. Wer allerdings nicht mit Vorkenntnissen in dieses Haus kommt, behält aus der Fülle der Informationen, die in knapp zwei Stunden auf ihn einstürzen, nur weniges: über die Biographie des Gelehrten, der in einer Zeit konfessionellen Streites in Tübingen den Mut hatte, seiner inneren Überzeugung treu zu bleiben mit der Konsequenz, keinen Lehrstuhl zu bekommen und zeitlebens auf tolerante „Arbeitgeber“ angewiesen zu sein (z. B. Kaiser Rudolf II.). Zum Broterwerb rechnete Kepler Horoskope oder stellte für die Stadt Ulm ein Eichmaß her, hatte aber ganz anderes, Größeres im Sinne – nicht etwa die nachträglich so genannten „Keplerschen Gesetze“ zu entdecken, sondern die Harmonie der Weltordnung verständlich zu machen. Ein unermüdlicher (Rechen-)Fleiß (vgl. die „Rudolphinischen Tafeln“ – Computer werden erst vier Jahrhunderte später gebaut!) war Vorausset„Tempel der Astronomie“ aus Keplers Rudolphinischen Tafeln und der Vermessungssatellit Hipzung und Grundlage seiner Entparcos (1989), der Messungen im Umkreis von deckungen, ohne die weder New20.000 Lichtjahren (!) ermöglichte. ton seine Himmelsmechanik hätte ausdenken noch heutige Satel78 liten-Technik z. B. die Wettervorhersage verlässlicher machen können. Und dann gelang es dem Protestanten Kepler auch noch, seine der Hexerei beschuldigte Mutter im katholischen Weilderstadt „herauszupauken“! – Wahrlich ein Höhepunkt unserer Sommertagung, dessen wissenschaftliches i-Tüpfelchen die Bildschirm-Darstellung der Planetenbahnen wurde. (…) Und „die Theosophie“? Wir haben sie nicht gepachtet noch gar mit Löffeln gegessen. Reden können wir von ihr vor allem „theoretisch“ (d. h. wörtlich „anschauungsweise“); „praktische“ Theosophie geschieht im alltäglichen Tun, ist unauffällig, „innerlich“, zeigt sich vielleicht darin, wie Menschen miteinander umgehen (auch bei Sommertagungen), wie sie versuchen, auf dem Wege zur Theosophie einander zu begleiten, ein paar Schritte weit. Wir sind keine Kult- oder Ritualgemeinschaft, aber das hindert uns nicht, uns immer wieder in Minuten der Stille auch gemeinsam zu beSINNen: ein Saatbeet zu pflegen, in dem Keime tieferer Einsicht, seelischen Aufschwungs, ernster Entschlüsse heranwachsen können zu zarten Pflänzchen, aus denen einst mächtige, schöne Bäume werden mögen, bergend und tragend das Gute, das unseres Lebens Mitte ist – oder wird, wie wir voll Zuversicht hoffen, gestärkt auch durch die Sommertagung 2008.23 Text gekürzt (vollständiger Bericht mit weiteren Photos in den Mitteilungen der Theosophischen Gesellschaft i. D.) 23 Bildnachweise: S. 74: Katalog der Ausstellung „Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern“, S. 260; S. 75: Nicholas Roerich Museum, New York (www.roerich.org); S. 78: Titelbild auf dem Kepler-Katalog des Museums in Weil der Stadt. 79 Das Auge scheint einen Horizont zu verlangen. Wir sind niemals müde (oder unglücklich), solange wir weit genug sehen können. Ralph Waldo Emerson Für Ihre Terminplanung 2009: Sommertagung der Theosophischen Gesellschaft i. D. 6. bis 12. August 2009 in Calw (Schwarzwald) Kontaktanschriften der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland Hans Beetz Argentinische Allee 159 14169 Berlin Tel.: 030 – 813 16 80 Gerhard Förster Bredowstr. 18a 44309 Dortmund Tel.: 0231 – 41 51 27 M. u. U. Brandt Scharenweg 10 45894 Gelsenkirchen Tel.: 0209 – 59 24 13 Charlotte Wegner Getrudenhof 7 44866 Bochum Tel.: 02327 – 32 15 26 Eva-Maria Köpp Knöffelstr. 37 01217 Dresden Tel.: 0351 – 470 93 77 Bahnhofstr. 15 69115 Heidelberg Tel.: 06221 – 16 93 91 Auskunft auch über R. Ullrich, Calw Reiner Ullrich Hermann-Löns-Str. 8 75365 Calw Tel.: 07051 – 9 50 42 Dr. Ruth C. Fischer / Walter Wiesmann Augustusstr. 35 60439 Frankfurt/Main Tel.: 069 – 58 24 37 Karola Appel Bingstr. 30 / 20525 Wohnstift 90480 Nürnberg Tel.: 0911 – 403 07 72 www.theosophische-gesellschaft.net 80