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1. Nov. 2012, 16:23
Guter Stoff - und trügerische Gefühle
24.10.04
Guter Stoff - und trügerische Gefühle
Schauspiel-Talent im Doppelpack: Julia Hummer und Stipe Erceq in
René Polleschs "Stadt als Beute" Von Julia Siepmann
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Was ein gelungener Theaterfilm ist? Ein Zwitterwerk müßte es sein,
das beidem gerecht wird: der Bühne und der Leinwand. Es müßte
ein Streifen sein, der, wenn er nicht die 100prozentige Adaption des
Originaltextes leistet, doch die Grundaussage des Urstückes
einfängt. Bei der Verfilmung des Pollesch-Stoffes "Stadt als Beute"
hat man sich das getraut.
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Und entstanden ist so ein gelungenes Zwischending. Der erste Teil
von Polleschs Berliner-Prater-Trilogie ("Stadt als Beute"/"Menschen
in Scheiß-Hotels"/"Sex nach Mae West"), im Original eine virtuose
Quassel- und Schreiorgie um emotional satte und gleichzeitig
hungrige Großstädter, wurde gerade abgedreht. Und dabei
Zerrissenheit von Stück und Figuren kunstvoll aufs Zelluloid
gehoben.
Formal teilen sich die drei Regisseurinnen Irene von Alberti
("Halbmond"), Miriam Dehne ("99 Euro-Films") und Esther
Gronenborn (" Alaska.de ") den Stoff. Sie haben jeweils einen Teil
der "Beute" auf ihre Weise in Szene gesetzt. Die Figuren einer
Episode geistern aber unter anderem Namen und mit den
unterschiedlichen Gesichtern immer anderer Darsteller auch durch
die jeweils anderen beiden Teile - und verbinden sie auf diese
Weise. Wer jetzt erschrocken an schwerverständliche
Experimentalfilme denkt, dem sei erklärt, daß der Film durch diese
drei "Akte" nur daran erinnern will, daß er letztlich ja bloß ein Stück
Theater ist. Deshalb werden die Schauspieler regelmäßig gezeigt,
wie sie sich ihre Texte erarbeiten - und auch das ist alles
geschauspielert. Besonders realistisch kommt es rüber, wenn René
Pollesch in der Rolle des Regisseurs seine Schauspieler fordert und
anleitet. In der zweiten Episode, die sich "Lizzy" nennt, erklärt
Pollesch seiner gleichnamigen Hauptfigur (Inga Busch) seine
Arbeitsweisheit: "Wir müssen uns nicht ausziehen, um Sexismus zu
kritisieren - wir reden darüber." Natürlich weiß das Inga Busch als
alte Pollesch-Veteranin, die schon in vielen seiner Stücke im Prater
aufgetreten ist. Und trotzdem stecken in der "Lizzy"-Episode der
Regisseurin Miriam Dehne das Verlorene und Verwegene direkt in
den Bildern drin. Und das liegt nicht nur am guten Drehbuch,
sondern auch an den Schauspielern.
Nachdem Inga Busch als Lizzy erfolgreich einen Luxusmantel aus
einer Mitte-Boutique geklaut hat, trifft sie in einer Rotlichtbar auf die
junge Tänzerin Babe. Es ist Julia Hummer, die sich, mit Perücke und
falschem Busen fast bis zur Unkenntlichkeit aufgerüstet, als
Tabledancerin gerade gelangweilt um eine Stange dreht. Sie spiele
ein verdorbenes Mädchen, erklärt Julia Hummer, "eine, die
gleichzeitig naiv und doch gerissen ist". Ihr selbst sei das
berechnende Verhalten der Babe zwar fremd, aber "in diesem Milieu,
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in dieser Parallelwelt herrschen andere Regeln und eine eigene
Moral, deswegen verhält sich Babe normal", findet die 24jährige.
Gebürtig kommt Julia aus Hagen, und in Wirklichkeit hat sie einen
Bubikopf "wie Brian Jones, nur in Schwarz". Im Film trägt sie eine
blonde Perücke und falsche Wimpern. "Die tägliche Kostümierung
hat mir Spaß gemacht, aber so würde ich nie ausgehen", sagt sie.
Für Hummer, die in den Medien oft als "ganz großes
Nachwuchstalent" gelobt und mit Preisen überhäuft wird, ist "Stadt
als Beute" die erste Low-Budget-Produktion, in der sie mitwirkt. Und
es ist ihre erste Rolle, die sie als Flittchen zeigt, völlig ohne jeden
Intellekt. Dagegen spielte sie schon oft junge Frauen, die ernst und
ein bißchen verloren wirken. In "Northern Star" war sie ein Mädchen,
das vergeblich aus der Provinzenge seiner Heimatstadt ausbrechen
will. In "Die innere Sicherheit" spielte sie die Tochter zweier ExTerroristen, auf der Flucht, unverstanden und vereinsamt. Danach
hat sie wieder mit Christian Petzold gedreht: In "Gespenster" klaut
sie als heimatloses Mädchen mit einer Freundin bei H & M am
Potsdamer Platz billige Klamotten. Das würde vielleicht auch zur
Barfrau Babe passen, vormittags, nach Dienstschluß. Auf jeden Fall
ist Julia in "Stadt als Beute" wieder eine haltlose Existenz, irgendwie
aus der Gesellschaft gefallen. "Wenn du Schauspielerin bist", sagt
sie im Film zu Inga Busch, "dann braucht das doch nichts mit dem
Leben zu tun zu haben." Stimmt! Für ihr eigenes Leben hat Julia
Hummer entschieden, nun erst mal Musikerin zu sein. Würde man
sie nächste Woche noch einmal treffen wollen, dann stünde sie wohl
eher in ihrem Kreuzberger Proberaum als an irgendeinem Filmset.
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Einer, der seine Vergangenheit im Pollesch-Film einfach neu
erfindet, ist der Callboy Julian, gespielt von Stipe Erceq. Als Kollege
von Babe arbeitet er im selben Nachtclub und ist auch charakterlich
ähnlich abgebrüht. "Ich wollte schon immer einmal im halbseidenen
Milieu drehen", erzählt Stipe, der privat eher sensibel als gefährlich
wirkt. Im Film trägt er die Haare streng zur Seite gegelt, das
Kinnbärtchen ist noch ein wenig spitzer zurechtgeschnitten - ein
kalter Bordell-Prolet, bei dem man schnell ahnt, daß er nichts Gutes
im Schilde führt. Von seiner Rolle war Stipe fasziniert, "denn Julian
kann auf Knopfdruck zwischenmenschliche Nähe schaffen, die er
sofort geschäftlich ausnutzt". Besonders die auf die Tränendrüse
drückende, erfundene Familiengeschichte seiner Filmfigur ("Dann
haben die bei meiner Mutter auch noch 'nen Tumor festgestellt") hat
den 29jährigen Jugoslawen beeindruckt. Weil, wie er sagt, die Frage
nach den eigenen Wurzeln mit zunehmendem Alter immer wichtiger
für einen wie ihn wird. "Ich bin der Sohn meiner Väter", formuliert er
sein Bekenntnis zur Herkunft.
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Und ein neues Schauspieltalent, das ist er auch. Im November läuft
sein letzter Film in den Kinos an. In "Die fetten Jahre sind vorbei"
spielt er neben Daniel Brühl einen jungen Rebellen, der durch
spektakuläre Einbrüche die Welt verändern will. Diese dritte große
Rolle seines Lebens brachte ihm viel Lob und auch einiges an
Glamour ein. Schließlich lief der Film im Mai in Cannes im
Wettbewerb - und Stipe über den roten Teppich ins Festival-Palais.
Hat er gewunken oder nur gelächelt? "Ach", sagt Stipe, "wir haben
getanzt."
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In Berlin geht die Julia-Hummer-Band bald auf Minitour (25.11. im
"Kaffee Burger"). Dann wird Julia mit der kindlich klingenden Stimme
eines ihrer selbstgeschriebenen Lieder singen. Vielleicht wird es
"Boxy, where are the spangles?" sein, ein Song in Anlehnung an den
gelobten Drogen-Roman "Boxy and Star" von Daren King. In dessen
zugedröhnter Zukunftsvision geht es um die "Chemical Generation",
drogensüchtige Kinder. Um Menschen, die in einer künstlichen Welt
leben. Ein bißchen wie Schauspieler im Theater.
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