Der Widerspruch steckt in der Sache! - Reporter

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Der Widerspruch steckt in der Sache! - Reporter
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„Der Widerspruch steckt in der Sache!“
Felix Ensslin, Sohn der RAF-Gründerin Gudrun Ensslin und des Schriftstellers
Bernward Vesper, ist seit einigen Monaten Professor an der Stuttgarter Kunstakademie.
Ein Gespräch über schwäbische Wurzeln, falsche Erwartungen, aufschlussreiche
Briefwechsel, ästhetische Urteile und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft.
Frank Buchmeier, Stuttgarter Zeitung, 10.06.2010
Seine Altbauwohnung im Heusteigviertel ist noch nicht vollständig eingerichtet. Der
Kunstprofessor Felix Ensslin sagt zur Begrüßung, dass er lange gezögert habe, den
Lebensmittelpunkt nach Stuttgart zu verlegen. Nun sitzt er hier auf einem hellen Sofa
und raucht Kette.
Herr Ensslin, herzlich willkommen in Ihrer schwäbischen Heimat!
Danke. Es stimmt, dass ich Schwabe bin, auch wenn ich nicht im Ländle geboren
wurde, sondern in Berlin und dort auch zuletzt gelebt habe. Ich bin bei meiner
Pflegefamilie in Undingen groß geworden, einem Flecken auf der Schwäbischen Alb. In
meiner Kindheit habe ich regelmäßig meine Großeltern in Stuttgart besucht und die
Wilhelma oder das Planetarium erkundet. Ich kenne auch das Marienhospital gut, weil
ich dort nach meinem Unfall behandelt wurde.
Was ist passiert?
In Undingen gab es einen Steinbruch, der auch als Müllhalde diente. Ich habe dort
als Bub nach Fossilien gesucht und aus Versehen mit dem Hammer auf eine Kanüle mit
konzentrierter Salzsäure gehauen, die vermutlich aus einem alten Feuerlöscher
stammte. Das Ding ist mir ins Gesicht explodiert. Daher stammen meine Narben.
Und ich dachte, Sie seien Opfer eines rechtsradikalen Anschlags geworden.
Das glauben viele, die Margarethe von Trottas Film „Die bleierne Zeit" gesehen
haben. Das Attentat auf mich ist eine Fiktion.
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Sprechen wir über die Realität: Ihr Großvater Helmut Ensslin war Pfarrer der
Luthergemeinde in Bad Cannstatt. Ihre Mutter Gudrun Ensslin machte am König inKatharina- Stift das Abitur und hat sich im Cannstatter Kursaal mit Bernward
Vesper, Ihrem Vater, verlobt. Ihre Mutter nahm sich in der Justizvollzugsanstalt
Stammheim das Leben und wurde auf dem Dornhaldenfriedhof bestattet. Ist es reiner
Zufall, dass Sie Ihr Lebensweg nun in diese Stadt geführt hat?
Sie sind Journalist, Sie wollen eine schöne Story! Aber nüchtern betrachtet, ist es so,
dass ich mich auf die Professur an der Staatlichen Kunstakademie beworben habe,
nachdem ich meine Doktorarbeit abgegeben hatte. Ich wäre auch gerne in Berlin
geblieben. Gleichwohl habe ich mich gefreut, als ich nach Stuttgart berufen wurde, weil
das hier eine tolle Kunstakademie ist. Man könnte das vielleicht als „Ironie des
Schicksals" bezeichnen. Aber bitte laden Sie meine Beziehung zu Stuttgart nicht mit
einer Bedeutung auf, die es nicht gibt.
Als Sohn einer RAF-Mitbegründerin und eines politischen Schriftstellers müssen
Sie mit solchen Deutungen und Vorurteilen leben.
Haben Sie Vorurteile gegen mich?
Ja. Ich bin Ihnen noch nie begegnet, aber gehe davon aus, dass Sie eine
Veranlagung zum Rebellentum haben. Rational weiß ich, dass das bescheuert ist.
Sie sagen es. „Aber wenn es bescheuert" ist, so ist es doch normal: Wir sind
strukturiert durch unsere Erwartungen, daraus entwickeln sich solche Phantasmen. Ich
befürchte, ich muss Ihre Erwartungen enttäuschen. Und vergessen Sie nicht, dass ich zu
meinen leiblichen Eltern keinen Kontakt hatte, seit ich vier Jahre alt bin.
Andererseits wuchsen Sie in einem Kaff auf der Schwäbischen Alb auf, sind aber
nicht Landwirt oder Landarzt geworden, sondern suchen nach Antworten auf
philosophische Fragen. Da sehe ich durchaus Parallelen zu Ihren leiblichen Eltern.
Sie definieren den Bereich der Ähnlichkeit großzügig. Ich gehe bildungsbürgerlichen
Berufen nach. Meine Eltern kamen aus dieser Schicht wie auch meine Pflegeeltern.
Sie mögen das Thema nicht.
Wissen Sie, die Frage, was einen prägt, ist kompliziert. Natürlich hat meine
Familiengeschichte mir Schwierigkeiten bereitet. Wenn man als 14-Jähriger im Kino
einen Film sieht und die Erwachsenen einem mitteilen, „diese Figur ist deine Mutter,
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und die andere Figur bist du", wirkt das verstörend. Aber in gewissem Sinne macht
jeder die Erfahrung, dass er im Diskurs anderer Leute eine Rolle spielt und dass er mit
Erwartungen konfrontiert ist, die auf ihn wie ein Auftrag wirken, mit dem er sich
identifizieren soll. Das scheitert immer, und so entstehen Identitäten. Das geschieht
jedem!
Einverstanden. Gleichwohl ist Ihre Situation speziell, weil Sie - wie Ihr Vater bereits
ein Jahr nach Ihrer Geburt geschrieben hat - eine „Angelegenheit des öffentlichen
Lebens" sind. Kürzlich ist ein Briefwechsel zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater
aus den Jahren 1968/69 erschienen, in dessen Zentrum der Sohn Felix steht. Man
erfährt beispielsweise, dass Ihre Eltern Ihnen den Spitznamen „Pütsche-Mütsche"
gegeben haben. Privater geht`s kaum. Warum haben Sie die Rechte dafür
rausgerückt?
Zu dieser Frage habe ich ja ein Nachwort geschrieben, in dem ich darauf eingehe,
warum gerade diese Briefe wichtig für mich waren. Sie eröffnen die Möglichkeit, in eine
Zeit, in der eben noch nicht alles entschieden war, Einblick zu nehmen. Sonst liest man
die Geschichte ja immer rückwärts: Weil sie mit Toten endet, muss sie immer schon vom
Tod bestimmt gewesen sein. Das war aber nicht so. Ein Stück Trauerarbeit, wenn Sie so
wollen. Es ist ja nicht so, dass ich je die Wahl gehabt hätte, ob das Leben von Gudrun
und Bernward oder ihr Verhalten als Eltern in die Öffentlichkeit geraten oder nicht. Die
Entscheidung wurde von anderen getroffen, und zwar lange, bevor ich Entscheidungen
treffen konnte.
Das Buch befriedigt den Voyeurismus. Man erfährt auf 250 Seiten, wie sich Ihre
getrennten Eltern um das Sorgerecht gezankt haben.
Wer den vorbildlich editierten Briefwechsel Notstandsgesetze aus Deiner Hand" so
liest, den kann ich nur bedauern.
Der Stuttgarter Andres Veiel verfilmt zurzeit die tragische Liebesgeschichte Ihrer
Eltern. Das Werk soll im kommenden Jahr in die Kinos kommen. Was erwartet uns?
Veiel ist ein Filmemacher von fast schwäbischer Redlichkeit. Ich habe mit ihm
geredet, aber ich kenne das Drehbuch nicht. Und das will ich auch nicht: Ob der Film
gut wird, liegt allein in Veiels Verantwortung.
Dann beleuchten wir stattdessen Ihren Verantwortungsbereich. Sie sind an der
Kunstakademie für Ästhetik und Kunstvermittlung zuständig. Können Sie die
Begriffe in wenigen Worten erklären?
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Das geht nicht mit ein paar Worten.
Nehmen Sie sich ausreichend Raum!
Ästhetik ist eine relativ junge Teildisziplin der Philosophie. Im Groben beschäftigt sie
sich mit allen Aspekten der ästhetischen Erfahrungen, dem Verständnis, wie diese
Erfahrungen einzuordnen sind in dem Spektrum von Erfahrungsmöglichkeiten und
welchen Platz sie einnehmen innerhalb der Gesellschaft. Kunstvermittlung ist der
problematischere Begriff, weil darunter Unterschiedliches verstanden wird,
beispielsweise Kunstpädagogik, aber auch Kuratieren oder Kunstkritik.
Ist nicht alles Kunst, was innerlich berührt?
Nein. Da müssten Sie erst mal klären, woher das, was Sie für Ihr „Inneres" halten,
kommt, welches Äußere", etwa welche historischen, diskursiven, gesellschaftlichen und
familiären Voraussetzungen Sie darin selbstverständlich als Ihr Ureigenstes empfinden.
Aber warum fragen Sie das?
Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass man Kunst und ihre Wirkung theoretisch
fassen kann. Jeder muss doch für sich selbst entscheiden dürfen, was er kunstvoll
findet.
Wenn Sie Kant fragen würden, dann wäre die Antwort, dass das, was Sie als sinnlich
angenehm empfinden, keine Kunst ist. Und wenn Sie nach Ihrem reinen Geschmack
bewerten, dann ist das ein ästhetisches Urteil und steht damit im Raum des Diskurses,
der Suche nach Allgemeinheit. Sie behaupten: Subjektivität kann nicht Gegenstand von
allgemeinen Erörterungen sein. Aber es ist fraglich, was denn „selbst entscheiden"
heißt: Wie Sie eingangs sagten, kommen Sie automatisch auf vermeintlich eigene
Vorstellungen, wenn Sie die Narben in meinem Gesicht sehen - dabei stammt Ihre
Wahrnehmung aus einem Film.
So weit komme ich mit. Ich habe aber im Vorlesungsverzeichnis der Kunstakademie
die Kommentare zu Ihren Lehrveranstaltungen gelesen und wenig verstanden.
Woher kommt Ihr Anspruch, dass eine spezielle Ausbildung und die Angebote, die
dazu führen, so verfasst sein müssen, dass sie für jedermann nachzuvollziehen sind? Ein
Studium ist eine Form der Arbeit. Auch Kunst zu rezipieren ist Arbeit, auch wenn man
es manchmal eher so erfährt, als ob es mit einem oder in einem arbeite.
Ich habe den Eindruck, dass Sie enorm anspruchsvoll sind.
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Man sollte an Aufgaben wachsen. Deshalb darf sich die Lehre an einer Hochschule
nicht daran orientieren, was die Studenten eh schon verstehen. Der Diskurs über Kunst
kann nicht für jeden ohne jegliche Arbeitsleistung sofort verständlich sein.
Schon recht, aber wenn nur ganz wenige Ihren Ausführungen folgen können,
werden ganz viele von diesem Erkenntnisprozess ausgeschlossen. Wenden Sie sich an
eine Elite?
Ich wende mich an die Studierenden, und von denen schließe ich niemanden aus.
Würden Sie einen Professor für Quantenphysik dasselbe fragen?
Nein, weil ich von Quantenphysik keinen Schimmer habe. Aber ich habe einen
geistes- und sozialwissenschaftlichen Hochschulabschluss und Dutzende Museen
besucht.
Deswegen meinen Sie, dass Sie Foucaults, Kants oder Lacans Gedanken zur Kunst
automatisch verstehen, ohne sich weiter intensiv damit auseinanderzusetzen? Oder
zeitgenössische Kunst? In einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Wenn es um Kunst geht,
besteht der Anspruch, dass sie irgendwie für alle sein soll. Das ist auch berechtigt, und
die Kunst wendet sich auch an alle. Gleichzeitig gibt es aber das Phänomen, dass die
Kunst schon lange nicht mehr Teil der Religion ist oder eingebettet in die
Repräsentationen der Politik und einer sozialen Gemeinschaft, die der Kunst ihren
Platz gibt und ihr Verständnis vermittelt. Sie ist in der Moderne ein eigenständiges, von
außen schwer durchschaubares System.
Das widerspricht aber Ihrem Kunst-ist-füralle-Anspruch.
Dieser Widerspruch ist nicht meiner, sondern steckt seit dem Anfang der Moderne in
der Sache! Dass Kunst eine universelle Dimension hat, heißt nicht, dass sie
selbstverständlich wäre oder geschmäcklerisch, fast schon eher das Gegenteil. Daher
bestehe ich darauf, dass sich ein Interesse an Kunst nicht ohne intensive Beschäftigung
befriedigen kann, sie ist sperrig und kein Konsumgut. Das hat nichts mit elitär zu tun,
ich bin der Allerletzte, der populärkulturellen Ereignissen wie Fernsehen oder Pop
abspricht, gleichberechtigter Teil von ästhetischen Phänomenen sein zu können.
Dann bin ich beruhigt und will Sie nicht länger mit meinem Halbwissen quälen.
Worüber sollen wir uns stattdessen unterhalten?
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Fußball! Auch ein ästhetisches Phänomen: wenn wir Schillers Worte abwandeln,
könnte man sagen. Fußball ist „Freiheit in der Erscheinung".
Wer wird Weltmeister?
Hoffentlich Deutschland!
Der Sohn von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper ist nicht nur Beamter auf
Lebenszeit, sondern drückt auch unserer Nationalmannschaft die Daumen?
Es kommt noch besser: ich bin seit meiner Kindheit Bayern-München-Fan.
Undingen, New York, Berlin, Stuttgart – Stationen eines
verschlungenen Lebenswegs
Kindheit Felix Ensslin wurde am 13. Mai 1967 in Berlin geboren. Als er sechs Monate
alt war, tauchte seine Mutter Gudrun Ensslin als Gründungsmitglied der Rote-ArmeeFraktion (RAF) in den Untergrund ab, nachdem sie ihren Gesinnungsgenossen Andreas
Baader kennengelernt hatte. Der Junge lebte zunächst bei seinem Vater, dem
Schriftsteller Bernward Vesper („Die Reise"), der sich am 15. Mai 1971 in der
Psychiatrie das Leben nahm. Danach wuchs Felix Ensslin in einer Pflegefamilie auf der
Schwäbischen Alb auf. Seine Mutter beging am 18. Oktober 1977 in der
Justizvollzugsanstalt Stuttgart Selbstmord.
Karriere Nach dem Abitur ging Felix Ensslin nach New York, um Philosophie und
Theaterregie zu studieren. 1995 kehrte er nach Deutschland zurück,wurde Mitarbeiter
der damaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer und später Büroleiter des
Stuttgarter Bundestagsabgeordneten und Grünen-Fraktionschefs Rezzo Schlauch. Im
Sommer 2003 begann Ensslin mit der Konzeption der umstrittenen Ausstellung Zur
Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung in den „Berliner Kunst-Werken". Seit
sieben Jahren ist er dem Nationaltheater Weimar als Regisseur und Autor verbunden. Im
Oktober 2009 hatte dort seine Inszenierung von Schillers „Don Carlos" Premiere.
Kunstakademie Seit 1994 ist Ensslin als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an
Hochschulen tätig gewesen. Im Juli 2009 hat er zu einem philosophischpsychologischen Thema an der Universität Potsdam promoviert (Note: summa cum
laude). Bald darauf wurde er als Theorieprofessor an die Staatliche Akademie der
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Bildenden Künste Stuttgart berufen. Der neu geschaffene Lehrstuhl beschäftigt sich mit
Kunstvermittlung und Ästhetik. Nebenher gibt Felix Ensslin die „Theoriereihe
Subjektile" beim Diaphanes Verlag heraus.