Bernward Vesper 1. Die Kultbücher im Überblick a) Bernward Vesper

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Bernward Vesper 1. Die Kultbücher im Überblick a) Bernward Vesper
IV. Die Kultbücher – Bernward Vesper
1. Die Kultbücher im Überblick
a) Bernward Vesper: Die Reise. Romanessay (1977)
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BRD-Autor
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„Kultbuch der Linken“ (Der Spiegel)
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der „intellektuell[e] Höhepunkt der Bewegung des Jahres 68“ (Peter Weiss:
Notizbücher 1971 – 1980, 1981)
b) Verena Stefan: Häutungen. Autobiographische Aufzeichnungen Gedichte Träume
Analysen (1975)
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Schweizer Autorin, die lange in der BRD lebte
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Geschlechterverhältnis, lesbisches Coming out, feministische Kritik der
patriarchalischen Machtstrukturen
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eines der Hauptwerke der Neuen Frauenliteratur
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„neue Bibel der Frauenbewegung“ (Renate Just), „Koran der Frauenbewegung“ (Der
Spiegel)
c) Fritz Zorn: Mars (1977)
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Schweizer Autor, eigentlich Fritz Angst (1944 – 1976)
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autobiographischer Krankheitsbericht
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wähend einer psychotherapeutischen Behandlung der Depressionen der Kehlkopfkrebs
diagnostiziert, Niederschrift des Textes im Juli 1976, Einsetzen des Schriftstellers
Adolf Muschg für das Mansukript, postum mit dessenVorwort publiziert
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Kultbuch – Revolte der Schweizer Jugend gegen die Eltern-Generation
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„Zeugnis: der Aufschrei eines Todkranken, den moderne Wissenschaft gelehrt hat,
sich als Opfer seiner Gesellschaft zu verstehen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
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der Stil des Autors gefeiert: „absolut diszipliniert“, „immer souverän“ (Süddeutsche
Zeitung), „eine blendend genaue Satire auf das Unheil einer heilen Welt“ (Der
Spiegel)
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2. Bernward Vesper: Die Reise. Romanessay
Entstehung, Publikation und unmittelbare Rezeption
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unvollendeter autobiographischer Romanessay
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seit Ende der 60er Jahre konzipiert, bis zum Tod des Autors weitergeschrieben
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ursprünglich für die Publikation im März-Verlag bestimmt, ökonomischer
Zusammenbruch des Alternativverlags, das Manuskript von den führenden deutschen
Verlagen abgelehnt
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erst 1977 vom März-Verleger Jörg Schröder im Verlag Zweitausendeins publiziert
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1979 Ergänzungen zu „Die Reise. Romanessay“. Aus der Ausgabe letzter Hand von
Schröder in demselben Verlag herausgegeben: Notizen des Autors zur Fortsetzung,
Vespers Briefwechsel mit dem März-Verlag
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das Buch zunächst nur per Postversand erhältlich, in einem Jahr 40 000 Exemplare
verkauft, fast eindeutig positive Aufnahme in der Literaturkritik
Drei biographische Faktoren als Grundlage für literarische Sensation und Erfolg
a) Vespers Vater = der NS-Dichter Will Vesper
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der Sohn: geboren 1938 in Frankfurt an der Oder, aufgewachsen auf Gut Triangel in
Niedersachsen
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der Vater (1882 – 1962): ein erprobter und von Adolf Hitler geehrter literarischer
Nazi-Aktivist (u. a. Gauobmann des Reichsverbandes deutscher Schriftsteller), von
1936 bis zu seinem Tod (d. h. auch nach der NS-Zeit) Leben auf dem Gut seiner
Ehefrau Rose – Landwirt und literarische Tätigkeit (Autor, Herausgeber, Organisator
von literarischen Veranstaltungen)
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literarische Anfänge des Sohnes um 1960: Gedichte und Aufsätze – publiziert in
konservativen und reaktionären Zeitungen und Zeitschriften, deutlicher Einfluss des
völkisch-nationalen Vaterhauses
b) Vespers Rolle in den Kreisen der APO, der Studentenbewegung und des Terrorismus
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seit 1961 Studium der Geschichte, Germanistik und Soziologie in Tübingen
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seine Freundin = Gudrun Ensslin: 1967 Geburt des Sohnes Felix Ensslin, Februar
1968 Trennung des Paars wegen ihrer Beziehung mit Andreas Baader, die
Kaufhausbrandstiftungen und die Verhaftung der Mutter, 1970 Mitbegründerin der
RAF, Gruppenselbstmord der RAF-Mitglieder Ensslin, Baader und Jan-Carl Raspe in
der Justizvollzugsanstalt Stuttgart (1977)
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der Sohn Felix: April 1968 – September 1969 beim Vater, dann auf Betreiben der
Mutter bei Pflegeeltern; heute Theaterautor – Dramaturg – Regisseur, Philosoph –
Hochschullehrer
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Vespers politisches Engagement gemeinsam mit seiner Freundin:
1. in der Anti-Atomtod-Bewegung – gemeinsame Herausgabe der Anthologie Gegen den
Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe (1964) mit Beiträgen z.
B. von Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Heinrich Böll, Hans Magnus
Enzensberger
2. im Wahlkontor deutscher Schriftsteller – von Günter Grass angeregt, 1965 zur
Unterstützung der Wahlkandidatur von Willy Brandt (SPD) gegründet
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Verleger bzw. Herausgeber der Reihe Voltaire Flugschriften (ab 1966, die wohl
wichtigste publizistische Agentur der frühen Studentenbewegung) und der Edition
Voltaire im Heinrich-Heine-Verlag (1968, Publikation einiger Handbücher):
Überwindung seiner „liberal-pazifistischen Phase“ (B. Vesper), Publikation der
Programm- und Verständigungstexte der antiautoritären Bewegung, der Schriften
marxistischer Theoretiker und der Manifeste der Befreiungsbewegungen der Dritten
Welt
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keine Teilnahme an der nachfolgenden Fraktionsbildung der Studentenbewegung
(reformerischer Flügel, linke Kaderparteien, Terrorismus), obwohl persönliche
Verbindungen zu späteren RAF-Mitgliedern (Baader-Meinhof-Gruppe)
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kritische Stellungnahme zum Terrorismus: persönlich und politisch motiviert
c) Vespers Beziehung zu Drogen und sein Selbstmord in einer psychiatrischen Klinik
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1969 Abgleiten in die Drogenszene (v. a. LSD), viele Reisen, Beginn der Arbeit am
Romanessay
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ab Februar 1971 Patient in psychiatrischen Kliniken, Selbstmord in Hamburg mit einer
Überdosis Schlaftabletten
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Entwicklung der Konzeption des Romanessays
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ursprünglich geplant als Aufzeichnung eines 24-stündigen LSD-Trips
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durch immer längere Rückblenden Ausweitung zur Autobiographie bzw. zur
biographischen Autofiktion
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am Ende Übergang ins Tagebuch, das Vespers letzte Wochen beschreibt
Interpretation des Titels und des Untertitels
a) alternative Titel, die Vesper erwogen hat
1. Trip – Doppelbedeutung Reise, Ausflug und LSD-Trip zugleich
2. Haß – Beziehung zum Vater, zur Gesellschaft und zur Welt allgemein
3. Logbuch = eine Textsorte aus dem Bereich der Seefahrt, Schiffstagebuch
(Schiffsjournal); Hinweis auf die reale oder metaphorische Reisesituation und auf die
Form kontinuierlicher Aufzeichnungen
b) Selbstinterpretation des Titels Die Reise in einem Brief von Vesper (zitiert bei Ralf
Schnell)
1. „die reale Erzählebene, die Reise von Dubrownik nach Tübingen“
2. „der Trip München – Tübingen“
3. „die Rückerinnerung“ (Vesper)
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eine weitere Ebene nach Ralf Schnell :
4. die Ebene der spezifischen Ästhetik des Werks, die mitthematisiert wird
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problematisch: Ist diese Ebene, die mit der Konzeption des Buchs zusammenhängt,
eigentlich vom Autor intendiert? Oder ist sie ein Resultat des unfertigen, nicht zu
Ende gebrachten Textes?
c) Untertitel Romanessay
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Betonung der strukturellen Verbindung von erzählenden und reflexiven Elementen
und damit der Tradition des modernen Romans schlechthin
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Die Gattungsfrage und die literaturhistorische Einordnung
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Autobiographie bzw. biographische Autofiktion: trotz des distanzierenden Untertitels
steht im Mittelpunkt die existentielle Authentizität
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Einordnung in die Traditionslinie der Autobiographik: keine Darstellung einer
gelungenen Identitätsfindung, sondern einer krisenhaft scheiternden Identitätssuche
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nicht nur Autobiographie (biographische Autofiktion), sondern auch:
1. ein Bewusstseinsdiagramm einer Generation – Vespers Anspruch, mit seinen
spezifischen Erfahrungen repräsentativ für eine ganze Generation zu sprechen, die aus
dem unbewältigten Nationalsozialismus der Trümmerjahre in eine überwältigende
Welt des Wirtschaftswunders hineinwuchs, „Nachlaß einer ganzen Generation“ (Die
Weltwoche)
2. eine sozialhistorische Studie: ein „einzigartiges literarisches Dokument“ (Süddeutsche
Zeitung), das beweist, „wieviel eher als alle Sozialwissenschaften ein Stück Literatur
im Einzelfall Wirklichkeit [...] zu fassen vermag“ (Die Zeit)
3. Vorläufer einer ganzen Reihe von Vaterbüchern, in denen sich schreibende Söhne und
Töchter der Jahrgänge rund um 1940 mit ihren (Nazi)-Vätern auseinandersetzen, um
größere Klarheit über die eigene Identität zu gewinnen
Drei miteinander verflochtene Erzählebenen
a) die Schreibgegenwart
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bildet einen Rahmen vom Beginn bis zum Ende des Textes
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Notizen, die sich auf die aktuelle Befindlichkeit des Schreibenden und auf die
gesellschaftliche Situation beziehen
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Stil der Notizen: teils tagebuchartig und reflektierend, teils dokumentarisch, zitierend
und montierend (Zeitungsgedichte, Zeichnungen)
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zunächst am Anfang des Textes
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dann erst nach der Schilderung der Heimkehr und des Trips: Ankunft des IchErzählers bei seinem kleinen Sohn in Tübingen, Erreichen des Schreibbeginns selbst
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deutlich wieder zum Schluss: Aufzeichnungen aus den letzten Wochen von Vespers
Leben
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b) die erste Vergangenheitsebene
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die ersten ca. 300 Seiten
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die Schilderung einer realen Reise: Heimkehr von einer Irrfahrt, 1969 Dubrovnik –
München – Tübingen
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darin eingeschlossen die Darstellung eines LSD-Trips in München: Auflösung der
realen Zeit-und-Raum-Verhältnisse – die Vorgeschichte, Gegenwart und
Zukunftsphantasien sind dem Ich-Erzähler gleich präsent; der LSD-Trip = Auslöser
für das Schreibprojekt
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Stil des geschilderten Trip-Erlebnisses: assoziativ-fließend, bilderreich-phantastisch
c) die zweite Vergangenheitsebene
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ihre Schilderung beginnt erst nach der Rückkehr zu Felix
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gewinnt in den letztten zwei Dritteln des Textes an Umfang und Konsistenz,
Zurückdrängung der Gegenwartshandlung
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stets mit dem Zwischentitel Einfacher Bericht versehen
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die in etwa chronologisch geordneten Episoden aus Vespers Leben bis 1961 (ein Jahr
vor dem Tod des Vaters, Studienbeginn in Tübingen)
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Stil: scheinbar kunstloses, detailscharfes und erinnerungstarkes Erzählen, sparsame
Kommentare, Motivwiederholung
Eltern-Kind-Beziehungen
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Panorama der bürgerlichen „Kindheitshölle“ (Die Reise)
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Geburts- und Nähephantasien, lustvolle Einheit mit der Mutter, schmerzlicher Verlust
dieser Nähe, Mutter – karrieristisch und herrisch
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der Vater: deutlich älter als der Sohn (bei der Geburt des Sohnes 55 Jahre alt),
Herrschaft über das Gut als Patriarch – autoritative Erziehung des Sohnes – Gehorsam
und Strafen – der alltägliche Faschismus des Vaters
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die Grundschule und das Gymnasium = Fortsetzung der Familiendressur
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der Sohn: erwachende Sexualität und ihre Unterdrückung, Fluchtwege in die Phantasie
und Lektüre, reale Fluchten und Freundschaften (negative Reaktion des Vaters),
Depressionen – Kommunikationsunfähigkeit – Todesphantasien
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Zusammenhang mit Die Massenpsychologie des Faschismus (1933) des
österreichischen Psychiaters, Psychoanalytikers und Sexualforschers Wilhelm Reich
(1897 – 1957): Vesper kannte seine Arbeiten und bemühte sich um ihre
Wiederverbreitung, Zusammenhang zwischen autoritärer Triebunterdrückung und
Faschismus (Nationalsozialismus), Analyse der repressiven und destruktiven
Erziehungspraxis des Kleinbürgertums
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nachträgliche Perspektive des Schreibenden: Aufbegehren, Hass, Rebellion
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Felix Ensslin = ihm ist das Buch gewidmet, Gegenfigur zu Will Vesper, utopischer
Bezugspunkt des Schreibprojekts
Das Bild der Drogen
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Auslöser eines psychoanalytischen Prozesses, der die Erinnerung in Gang setzt
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angebliches Mittel zur individuellen und gesellschaftlichen Befreiung im Sinne der
Hippies
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Anregung für das Schreiben, das der Selbstbefreiung dient: Bezug zu Drogenpoetiken
von Charles Baudelaire bis William S. Burroughs, v. a. zum automatischen Schreiben
der Surrealisten und zur Beat Generation
Literarische Defizite
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zu naive und zu schematische Vorstellung: das Ich und seine Ansprüche = gut, die
Umwelt = schlecht, böse; Folge = Narzissmus, Perspektive des Opfers
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Fehlen der geplanten Teile
1. Der lange Marsch durch die Illusionen – Schilderung der linken Politisierung und der
Tätigkeit in der Studentenbewegung
2. Porträts - die wichtigsten Bezugspersonen Vespers
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die vom Autor intendierte „allgemeine Verschmelzung“ (Die Reise) der verschiedenen
Erzählebenenen = formales Äquivalent der Erinnerungsarbeit: wird nicht im ganzen
Buch, sondern nur z. T. durchgeführt
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keine klare Konzeption des Textes (s. oben), ein unvollendeter Text
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Literaturhinweise
Durzak, Manfred: Die literarische Aufarbeitung der Studentenbewegung: Uwe Timm, Peter
Schneider, Eva Demski, Karin Struck. In: Barner, Wilfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen
Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., erw. Aufl. München: Beck, 2006. S. 602-609.
Kurzke, Hermann: Orientierungen der Prosa. In: Žmegač, Viktor (Hrsg.): Geschichte der
deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band III/2. 1945 – 1980. 2. Aufl.
Weinheim: Beltz Athenäum, 1994. S. 556-573.
Schnell, Ralf: Eine „Reise“ mit tödlichem Ausgang – Bernward Vespers Roman-Essay. In:
Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart - Weimar:
Metzler, 1993. S. 425-430.
Vogt, Jochen: Bernward Vesper. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Kritisches Lexikon der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ordner 12. Sel-V. 4/1986. S. 1-10 und A-E.
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