Saustall im Bayernhimmel

Transcrição

Saustall im Bayernhimmel
Saustall im Bayernhimmel
theater
cult
DER BRANDNER KASPAR lebt – vielleicht wieder ewig
i
Im Telefonbuch von Deutschland findet
man 1349 Einträge für den Namen
„Brandner“, aber nur einen „Brandner,
Kaspar“, der wohnt in 83489 Strub. Im
Telefonbuch von München indes gibt es 81
Brandners, davon kürzt sich einer mit „K.“
ab. In Bayern, so sagt man, gab es seit
Menschengedenken nur einen einzigen
wahren Brandner Kaspar, der wohnte bis
Sommer 2001 etwa 26 Jahre lang im
Stückerepertoire des Münchner
Residenztheaters und bekam regelmäßig
Besuch von 530 Zuschauern. Aber die
Zeiten ändern sich, sogar in Bayern, und
eines Tages, wie der abgespielte Held lang
nimmer gesehen, doch längst nicht vergessen
ward, da suchte sich der Bühnenkaspar eine
neue Bleibe und zog mit Sack und Pack ins
Münchner Volkstheater. Mit Sack und Pack?
Nein. Wenn man genau hinsah, so trug er
nichts als seinen Charme mit sich hinein.
Da sitzt er nun allein am Stubentisch und
schmunzelt sich einen in seine Maß. Er lebt,
der Todesschuss des Boandlkramers hat ihn
verfehlt. Auch fürs Theater ist er zum Glück
wieder lebendig; Christian Stückl hat ihn so
frisch und frei und laut und leis’ und bunt
und musikalisch inszeniert, dass die Wehmut
es schwer hat mit der Mahnung an schöne alte
Resi-Zeiten. Denn wer kann und will hier schon
vergleichen? Wer dem verstorbenen
Schauspieler Toni Berger den Boandlkramer
vielleicht zu Recht als ‚Rolle seines Lebens’
zuschreibt, der kommt nun nicht umhin, das
Gleiche auch mit Maximilian Brückner zu tun
… obwohl dessen Leben erst zarte 26 Jährchen
zählt. Sein Boandlkramer ist ebenso
unnachahmlich, von großartiger Präzision und
gleichzeitiger Leichtigkeit: Er kommt frierend
mit dem Frost und geht beschwingt mit dem
großen Wirtshausradio; er ist der liebenswerte
Chaot, der plappernde Idiot, der lebenslustigste
Tod, der einen bescheidenen Bückling macht,
bevor er dem Menschen sein Alles nimmt; eine
barfüßige Vogelscheuche mit einem
strahlenden zahnlosen Lächeln, eine kalkweiße,
aber grundehrliche Haut; ein staunender Junge
und ein treuer Freund. Mit abgespreiztem
kleinen Finger verfällt er erst ins Grübeln und
danach dem Kerschgeist. Mit verschmitzt
beschwipster Naivität nimmt er sich dann
ausgerechnet den Brandner Kaspar, sein Opfer,
zum Kumpel, verliert beim falschen
Kartenspiel und schenkt dem Alten so zum
e
Ekelhaft! Ein niveauvoller, mitreißender,
schöner Abend soll er werden, der
Theaterabend, und dann bekommt man
immer wieder eines geboten: Nackte. Immer
wieder Nackte. Das gehört heute dazu, das
ist modern, das ist Kunst. Man kann sich
sicher sein: Spätestens im zweiten – oh,
Missverständnis! – Akt zieht sich jemand
aus und macht schamloses, im besten Falle
schamhaarloses Körpertheater. Da hat dann
Hamlet beim Monolog nicht mehr einen
Schädel in der Hand, da pflückt die Jungfrau
von Orleans nicht mehr Blumen, sondern
kratzt sich am Efeu. Viel Unschuld gibt’s
sowieso nicht mehr auf deutschen Bühnen,
alles wird gezeigt und der eigenen
schmutzigen Phantasie wird gar kein Raum
Falsche Kumpels: Der Boandlkramer
(Maximilian Brückner, großes Foto li.)
teilt mit dem Brandner Kaspar
(Alexander Duda) das Lebensabendbrot. Fotos: Declair
geselligen Lebensabendbrot noch 18 Jahre.
Kurz: Der Boandlkramer ist die falsche
Besetzung für den Tod, und deswegen ist
Maximilian Brückner die richtige Besetzung für
den Boandlkramer.
Regisseur Stückl setzt derweil die
launenhafte Dynamik des Kurt WilhelmStückes (nach der Erzählung von Franz von
Kobell) gebührend in Szene. Er, der die Passion
schon in Oberammergau gibt, bringt in
München die Gaudi. Er zelebriert das Spiel
seiner charmanten Hauptdarsteller, lässt ihnen
Zeit, ihren Rollen ein unverwechselbares Profil
zu geben. Dann wieder Tempo, Späßchen,
Heiterkeit – der Tod bedroht und amüsiert das
Leben, im Lachen lauert oft ein Stückchen
Tragik und dem Ernst sitzt dann schon wieder
der Schalk im Nacken. Alexander Duda braust
auf in der verschmitzten, sinkt in sich zusammen
in der rührenden Titelrolle, verleiht seinem
Brandner Kaspar die trotzige Schnute eines
dörflichen Urgesteins. Die munter
aufspielenden Bläser sind die Jungen
Riederinger Musikanten. Und waren sie zuvor
noch eine wilde Jägersbrut im stilisierten düstren
Wald, so hangeln sie sich nun als
lendenschürzige Engelsputti vom goldenen
Stuck vor Petrus’ Pforte.
Ja, der Bayernhimmel, da geht’s dem
theaterfrommen Stückl, seinem Bühnenbildner
Alu Walter und der Kostümbildnerin Ingrid
Jäger dann ein bisschen durch mit der fidelen
Herrlichkeit. Und dem nun schon etwas
lebensverdrossenen Brandner Kaspar, dem der
Boandlkramer listig einen himmlischen
Vorgeschmack gewährt, gehen die Augen über:
Als hätt’s ein Bruder Asam hingepinselt, türmen
sich da Papyrus und Pastelltöne, und über allem
Hosen runter
mehr gelassen: Romeo zeigt Julia, dass bei
ihm nicht die Nachtigall trällert, sondern
der Hahn tropft; Woyzecks Marie bläst dem
Tambourmajor den Marsch. Kein Spiel, nur
noch Vorspiel und Vollzug. Pfui!
Doch wie sich erwehren gegen das
postmoderne Pornotheater? Inspiration zum
Widerstand schenkt uns Spencer Tunick,
amerikanischer Fotograf und Freidenker.
Letzten Samstag lichtete er in einem Theater
in Brügge – Belgien, schon wieder! – 770 von
ihm einbestellte Besucher ab. Sie waren alle
nackt. Ein wunderbares Foto, wie man es sonst
nur beim Metzger findet. Fleisch an Fleisch,
Männer und Frauen, im Parkett und auf den
Rängen, in Reih’ und manchmal auch in Glied.
FKK im Theater, Sonnenbrandgefahr gebannt –
Tunick, du Teufelskerl, grandios!
Zuschauer Deutschlands – ach, Zuschauer
überall, Weltzuschauer – lasst uns nackt ins Theater
gehen! Der Smoking, das Abendkleid, der
Glitzerfummel können im Schrank bleiben – viva
la Theaterrevoluçion! Lasst uns die Kartenabreißer
mit unseren Prachtkörpern in die Flucht schlagen,
die Garderobenfrauen in den Bankrott treiben,
die Sitze mit unseren wunden Ärschen
blankscheuern! Die Bühne spiegelt die Welt? Pah!
Wir spiegeln das Theater, diesen Nudistenverein!
Klar, es gibt Probleme, man kann zum
Beispiel nichts verstauen, aber jetzt mal unter
wacht Hubert Schmid mit gar zu verkniffenen
roten Lippen als weibisch wallender ErzMichael. Nur den Saustall aus Suppe, Brezn,
Bier und Weißwurscht, den hat’s so im 18.
Jahrhundert nicht gegeben. Doch das ist’s eben
auch: ein Brandnerkasperltheater mit
barockem Überfluss in Deko und Späßeleien.
Lang ist es nicht her, da schien eine
Neuinszenierung der hohen bayerischen
Nationalkomödie noch ebenso utopisch wie
der Handel mit dem Tod. Doch der Stückl
Christian und der Brandner Kaspar haben
zweierlei gemein: Sie pfeifen mutig auf die
Konvention und lachen sich im Nachhinein
ins Fäustchen …
In Bayern, so sagt man, gibt es wieder
einen Brandner Kaspar, der lebt seit April im
Münchner Volkstheater und fühlt sich
sauwohl herinnen.
Teresa Grenzmann
Freunden: Das Programmheft war doch schon
immer für’n Arsch. Bedenkt stattdessen die
Möglichkeiten zum Protest: Zieht sich einer
dieser Schauspieler aus, können wir ihm
geschlossen Paroli bieten, bei Publikumsbeleidigungen heißt’s aufstehen und umdrehen,
pinkelt einer auf die Rampe, schießen wir zurück. Den verkrampft kopulierenden Pärchen
auf der Bühne können wir Vorbild sein, wir
stöhnen sie nieder und zeugen unsere eigenen
Theaterkinder – die Staatsbühne als Orgientempel! Und war’s denn doch ein anregender
Theaterabend, können zumindest die Männer
bei den Standing Ovations sitzen bleiben.
Freunde der Künste, die Zeit des
Widerstands ist gekommen: Runter mit den
Klamotten, ab ins Theater! Michael Stadler
Seite 3