Theorieteil als PDF

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Laura Maikowski
WIDERSTANDSBILDER
Repräsentation von antikolonialem und
antirassistischem Widerstand im Bild
Danke
an alle die mich in diesem
Suchprozess unterstützt haben.
Insbesondere an Christoph,
most charming and pragmatic coach ever,
Tanja, the argument, fürs lachen, ernst
nehmen, »dann schreib das doch auch«,
Olaf, the structure,
Martin fürs da sein, Kaffee kochen,
Basketball spielen,
Susi für Feedback und Support,
Nadja und Gerlinde fürs Korrekturlesen,
Rainer fürs hosting,
meiner WG, der Praxis,
Prof. Jelena Jamaikina, Prof. Betina Müller,
Prof. Gisela Scheidler, Prof. Zaki Omar,
Prof. Michael Bette.
Impressum
Theorieteil der Diplomarbeit
Laura Maikowski 2005
Studiengang Kommunikationsdesign
Fachbereich Design
Fachhochschule Potsdam
Gutachter
Prof. Jelena Jamaikina
Prof. Betina Müller
Druck
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Inhalt
I EINLEITUNG
11
II NICHTBILDER
Verschüttete Repräsentationen: Widerstand gegen Kolonialismus
21
2.1 Kontext des Widerstandes: Deutscher Kolonialismus
23
2.2 Fotografie und Kolonialismus:
Selbstdarstellungen und Fremdzuschreibungen
25
2.2.1 Selbstdarstellung
26
2.2.2 Fremdzuschreibungen im Kontext des Kolonialismus: Fotografie
2.2.3 Fremdzuschreibungen im Kontext des Kolonialismus: Film
29
2.3 Widerstand: Antikoloniale Kämpfe
31
2.4 Repräsentation von Widerstand im Bild: Nichtbilder
34
2.4.1 nicht existente Bilder
34
2.4.2 nicht verbreitete Bilder
35
2.4.3 denunziatorische Bilder
42
2.5 Weiterführende Überlegungen
43
27
III GEGENBILDER
Sichtbarkeit: Widerstand gegen Rassismus in den 60ern
45
3.1 Kontext des Widerstandes: Rassismus in den USA
47
3.2 Widerstand: Antirassistische Praxis
49
3.3 Repräsentation von Widerstand im Bild: Gegenbilder
54
3.3.1 Widerstand sichtbar machen
55
3.3.2 Gegenwahrnehmungen stärken und
Identifikationsmöglichkeiten aufbauen
58
3.3.3 Dokumentation von Lebensrealitäten
62
3.4 Weiterführende Überlegungen
67
IV AUFLÖSENDE BILDER
Verschiebung: Widerstand gegen Rassismus in den 90ern
69
4.1 Kontext des Widerstandes: Rassismus in der BRD
72
4.2 Theoretische Ansätze: Dekonstruktion,
Postcolonial Studies und Whiteness
74
4.3 Widerstand: Antirassistische Bewegungen
81
4.4 Repräsentation von Widerstand im Bild: Auflösende Bilder
85
4.4.1 Verschiebung von Grenzen
85
4.4.2 Widerständige Aneignung/Selbstermächtigung
90
4.4.3 Aneignung als Subversion?
94
4.4.4. Irritation und die Konstruktion des Anderen – Warum gut gemeint
nicht gut gemacht ist
98
4.5 Weiterführende Überlegungen
101
V SCHLUSSBETRACHTUNGEN
VI QUELLEN
111
103
I
»Letzten Endes ist die Photographie
nicht dann subversiv,
wenn sie erschreckt, aufreizt oder gar stigmatisiert,
sondern wenn sie nachdenklich macht.«
(Barthes 1980)
I Einleitung
Gegenstand meiner Diplomarbeit ist die Gestaltung des Buches Widerstandsbewegungen.
Antirassismus zwischen Alltag und Aktion. Bei dem Buch handelt es
sich um eine gegenwartsbezogene Bestandsaufnahme antirassistischer
Bewegungen in der BRD mit ausschnitthaften Rückblicken auf die
Geschichte antirassistischen Widerstandes. Es werden verschiedene antirassistische Aktionen und Ereignisse thematisiert – das schließt ein
unterschiedliches Verständnis davon mit ein, was alles als Widerstand zu
gelten hat. AktivistInnen berichten von ihren Protesten in Flüchtlingsheimen sowie von migrantischer Netzwerkarbeit und Kampagnenund Bündnisarbeit.
Dieses Buch habe ich zum Anlass genommen, mich im vorliegenden theoretischen
Teil meiner Diplomarbeit genauer mit der antirassistischen Bildproduktion auseinander zu setzen sowie über die Rolle der GestalterInnen
darin nachzudenken.
»Design ist unsichtbar« (Burckhardt 1995, 13). Das scheint zunächst paradox.
Denn Gestalter bewegen sich größtenteils auf der Ebene des Visuellen
und natürlich kann man sie sehen, die Produkte der Gestaltung.
Der Designer Lucius Burckhardt will in seinem Text verdeutlichen, dass
die Gestaltung eine unsichtbare Komponente hat, die institutionellorganisatorischen Randbedingungen, die durch die Einteilung der Umwelt in Gegenstände und Produkte im Verborgenen bleiben. Er
wirft die Frage auf, wie GestalterInnen diese Bedingungen hinterfragen
sollten.
Im Rahmen dieser Gedanken steht mein Nachdenken über die Bildproduktion: Begreifen wir Fotografien als Abbild der Wirklichkeit oder als Illustration
der Geschichten oder als Bilder, die ein Buch »schöner« machen?
Oder begreifen wir sie als ein System von Beziehungen zwischen Menschen? Auch diese Beziehungen sind »entworfen« von Geschichte
und Tradition, aber auch von heute lebenden BildproduzentInnen.
Bilder sind keine neutralen 1:1-Wiedergaben einer unabhängig existierenden äußeren
Realität. Bilder sind vielmehr spezifische Ausschnitte aus einer
bestimmten Realität: In jedem Bild kommt der individuelle Blickwinkel
13 | Einleitung
der fotografierenden Person zum Tragen. Bilder können deshalb nie
objektive Abbilder dieser Realität sein. Vielmehr leisten sie im Sinne des
Blickwinkels, aus dem heraus sie gemacht wurden, einen Beitrag
dazu, wie der durch sie adressierte Gegenstand wahrgenommen werden
kann. Mit anderen Worten: Als symbolischer Kommentar sind Bilder
beteiligt an der Hervorbringung spezifischer Wahrnehmungsweisen von
bestimmten Gegenständen aus der gesellschaftlichen Realität. In
diesem Sinne sind sie selber Teil der Konstitution gesellschaftlicher Realität. Von einer Trennung zwischen Bildern und gesellschaftlicher
Realität, die einfach nur abgebildet würde, kann also keine Rede sein.
Als Teil der gesellschaftlichen Realität sind Bilder stattdessen
am Zustandekommen gesellschaftlicher Machtverhältnisse beteiligt.
Auch die geschichtliche Gewordenheit dessen, was wir wissen, wahrnehmen
und sehen in Bildern ist konstruiert durch die Geschichtsschreibung und
formiert sich immer wieder neu. Bildgeschichte ist nicht neutral,
sondern die Geschichte von Dominanz- und Machtverhältnissen. In Bezug auf Widerstand gegen Rassismus unterliegt diese Unsichtbarkeit
des Widerstandes einer Doppelung. Das Recht zu betrachten blieb meist
ungleich verteilt innerhalb der Mitglieder einer Gesellschaft. Während die einen schauten und dabei selbst unsichtbar blieben, wurden
die anderen als Objekte des Blicks fixiert, bestimmt und definiert.
Konkret auf Rassismus bezogen sind Bilder immer schon wichtig gewesen für die Definition von Fremdheit und Normalität.
Der Schriftsteller Ralph Ellison beschreibt diese Fremddefinition in Der unsichtbare
Mann mit folgenden Worten: »Heute werde ich so und morgen
wieder anders genannt, aber nie wollte jemand wissen, wie ich selbst
mich nannte. Nachdem ich jahrelang versucht hatte, mir die
Meinungen anderer zu eigen zu machen, wurde ich schließlich rebellisch. Ich bin ein Unsichtbarer« (Ellison 2003, 152).
Es wird deutlich, weshalb es nicht einfach ist, im Rahmen von Antirassismus
mit Bildern zu operieren. Die Diskussionen ranken sich um das Bild
selbst, um die Auswahl des Bildes sowie um den Kontext, in dem
es gezeigt wird. Konkret geht es um folgende drei Fragen, die immer
wieder auftauchen:
14 | Einleitung
Erstens wird immer wieder die Kritik formuliert, dass Bilder als solche rassistisch seien.
Dass dies überhaupt möglich ist (schließlich sind ja eigentlich antirassistische AktivistInnen am Werk), hat damit zu tun, dass Bilder
abhängig vom Blickwinkel der fotografierenden Person sind. Die fotografierende Person ist jedoch selbst Teil der gesellschaftlichen Realität,
denn die Art zu denken, zu fühlen, zu sehen etc. ist ja von der Gesellschaft geprägt; insofern kann via Blickwinkel auch eine Person rassistische Fotos machen, die eigentlich das Gegenteil beabsichtigt. Wenn
zum Bespiel demonstrierende Schwarze Menschen in besonders intensiver Schreipose fotografiert werden, kann dies rassistisch interpretiert werden, da das Bild das Stereotyp bedient, dass Schwarze
Menschen insgesamt expressiver, unbändiger, emotionaler etc. seien als
Weiße. Nicht präsent sind durch eine solche Motivwahl außerdem
schreiende Weiße Menschen oder nicht schreiende Schwarze Menschen,
die ebenfalls auf besagter Demonstration anwesend waren. Hier geht
es also um den Blickwinkel der FotografInnen, ihre Motivation und Perspektive, die unter Umständen versucht, das Andere, möglichst Fremde
einzufangen und davon fasziniert ist.
Ein weiteres Beispiel, das eng mit dem eben geschilderten zusammenhängt, bezieht
sich auf die Auswahl von Bildern: beispielsweise könnte die Auswahl
eines Bildes einer trommelnden, schreienden oder tanzenden Schwarzen
Person dahingehend verstanden werden, dass eine rassistische
Erwartungshaltung bedient wird, wonach es immer Schwarze sind, die
als ›tanzende, lebendige Exoten‹ dargestellt werden.
Der Kontext der Bilder kann diesen eine problematische Konnotation geben, wenn z.B.
bei einer Aktion, an der Flüchtlinge und Nichtflüchtlinge beteiligt
sind, am Ende nur die evtl. spektakulärere Aktion der Nicht-Flüchtlinge
gezeigt wird. Die Nicht-Flüchtlinge kletterten beispielsweise auf ein
Dach und ließen ein Transparent runter, weil sie es sich juristisch leisten konnten. Die Flüchtlinge hingegen blockieren ›nur‹ ein Tor. Das
ist problematisch, weil somit nur die Realität der an der Aktion beteiligten Nicht-Flüchtlinge gezeigt wird, nicht aber die Realität der Flüchtlinge, die ohnehin oft ausblendet wird.
Teilweise haben diese Debatten auch dazu geführt, in der antirassistischen Gestaltung
ganz auf Bilder zu verzichten – oder nur solche zu verwenden, die
als absolut unproblematisch angesehen werden, hauptsächlich dokumen15 | Einleitung
tarische Bilder sowie gegenständliche Bilder von Pässen u.ä. oder
abstrakte Bilder, die keine Personen zeigen.
Im Zuge dieser Überlegungen bin ich auch zu der Frage gekommen, die ich im vorliegenden theoretischen Teil meiner Diplomarbeit bearbeiten
möchte: Wie wurde antikolonialer und antirassistischer Widerstand im
Bild repräsentiert? Welche Bilder brechen mit hegemonialen
Repräsentationen?
Welche Widerstandshandlungen wurden dargestellt und in welcher Weise – und welche
nicht? Wie hängt die Darstellung bzw. Nicht-Darstellung vom Blick
des Betrachters ab? Von einer solchen Rekonstruktion, wie Widerstand
(nicht) dargestellt wurde/wird, erhoffe ich mir Anhaltspunkte für
meine eigene Arbeit als Gestalterin antirassistischer Bücher, Zeitungen
etc. Ich möchte herausfinden, welche Bilder irritierend, aufrüttelnd,
subversiv, Gewissheiten in Frage stellend wirken – und welche Bilder
problematisch sind. Mein Ziel ist es, Anhaltspunkte für die Strategien der antirassistischen Bildproduktion zu gewinnen. Hierbei hat mich
die These, die Roland Barthes in dem der Einleitung vorangestellten
Zitat aufstellt, fortwährend begleitet.
Diese Frage lässt sich im Rahmen einer Diplomarbeit nicht abschließend klären. Denn
antikolonialen und antirassistischen Widerstand gibt es bereits
länger, als es die Fotografie gibt, und das weltweit. Wollte man also die
aufgeworfene Frage systematisch bearbeiten, müsste mensch weit
mehr als 100 Jahre Widerstandsgeschichte im globalen Maßstab aufarbeiten, und zwar hinsichtlich dessen, wie diese Widerstandsgeschichte
je nach Blickwinkel bzw. Position der fotografierenden Personen und
außerdem in Abhängigkeit vom jeweiligen Foto-Genre (nicht)
wiedergegeben wurde. Insofern muss ich es bei einer Suchbewegung
belassen und in zweifacher Hinsicht eine exemplarische Auswahl
treffen. Bezogen auf die Widerstandshandlungen möchte ich mich drei
exemplarischen Ereignissen bzw. Epochen widmen: der Jahrhundertwende mit ihren kolonialen Expansionen, fokussiert auf die deutsche
Kolonialherrschaft und die antikolonialen Kämpfe der Nama und
Herero, den 60er- Jahren als Phase der Entkolonialisierung und beginnenden Bürgerrechtsbewegung in den USA und den 90er-Jahren
aufgrund des erstarkenden Rassismus mit Fokus auf Deutschland.
16 | Einleitung
Zum einen decken diese Beispiele in zeitlicher und geografischer Hinsicht eine große
Spanne ab, stehen also für relativ unterschiedliche gesellschaftliche
Situationen. Zum anderen spiegeln die drei gewählten Beispiele unterschiedliche Phasen des Rassismus wieder: Kolonialismus steht für
weitgehende Entrechtung. Die 60er-Jahre stehen für eine Phase des
Übergangs, in der auf der formalen Rechtsebene mehr und mehr
Gleichheit erkämpft wurde. In den 90er-Jahren gab es (bei aller juristischen Diskriminierung qua Ausländergesetzgebung) formal völlige
Rechtsgleichheit, trotzdem jedoch massive Diskriminierung und Verfolgung auf ganz verschiedenen Ebenen. Jeder Epoche werde ich mich
aus einem ganz bestimmten Blickwinkel nähern:
Die Phase des Kolonialismus werde ich vor allem hinsichtlich der Nichtbilder betrachten.
Nichtbilder markieren hier eine Leerstelle, die meine These zum
Ausdruck bringen soll, dass die Repräsentation von antikolonialem
Widerstand nicht bzw. kaum existent ist in Deutschland.
Die Phase der 60er- Jahre möchte ich unter der Kategorie Gegenbilder analysieren.
Gegenbilder stehen für eine Strategie, Bilder als eine Gegenmacht
bzw. als eine Gegenöffentlichkeit einzusetzen.
Die Phase der 90er- Jahre möchte ich vor allem hinsichtlich von Auflösenden Bildern
betrachten. Auflösende Bilder versuchen eine symbolische
wie auch materielle Infragestellung von Aus- und Begrenzungen.
Diese Bildstrategien stehen dabei nur tendenziell für die jeweilige Epoche, denn es gab
auch nach Kolonialzeiten Nichtbilder und es wurde bereits vor den
90er-Jahren mit auflösenden Bildern operiert.
Hinsichtlich der Widerstandspraxen habe ich keine Einschränkung vorgenommen.
Innerhalb der jeweiligen historischen Phasen werden also sämtliche
Widerstandspraxen berücksichtigt, auch wenn nicht alle immer
zur Sprache kommen. Der Grund hierfür ist schlicht: auch wenn es möglich ist, unterschiedliche Arten von Widerstand zu unterscheiden, so
gibt es kein vernünftiges Kriterium, die eine Art von Widerstand gegenüber einer anderen zu privilegieren. Das wäre ein zu starker Eingriff
in die Sache selbst – und das ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund formuliert, dass genau diese Frage eine unter AktivistInnen selbst
umkämpfte ist. Dennoch will ich das Feld des Widerstandes ein wenig
umreißen:
17 | Einleitung
Der Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus ist ein Kampf für gleiche Rechte und
gegen jede Art von rassistischer Diskriminierung, Verfolgung und
Ausbeutung. Dieser Kampf kann erstens politisch organisiert stattfinden
und sich mit Hilfe klassischer Mittel wie Demonstrationen u.ä. an
die Öffentlichkeit richten mit dem Ziel, Druck aufzubauen und so langfristig Veränderungen zu erzielen. Widerstand kann sich des Weiteren
künstlerisch äußern, mit Hilfe von Bildern, Filmen etc. Hier wird zwar
auch die Öffentlichkeit gesucht, allerdings sind die Formen, mit
denen an die Öffentlichkeit getreten wird, andere. Und trotzdem: politischer und künstlerischer Widerstand sind nicht komplett getrennt.
Sie überschneiden sich stark, insbesondere bei der Produktion von Plakaten bzw. beim Erstellen für Layouts von Zeitungen, Flugschriften,
Büchern, etc. Dieses Zwischenfeld spielt insbesondere in den 90er-Jahren eine Rolle – vor allem bei dem Versuch, Auflösende Bilder zu
schaffen. Widerstand kann ebenso individuell bzw. entlang sozialer
Vernetzungen organisiert sein. Menschen können etwa mit Hilfe
ihrer Community-Netzwerke die Grenzen unerlaubt überwinden und ihr
Leben ohne Papiere organisieren. Wer so vorgeht, leistet ebenfalls
Widerstand, allerdings ganz anders als politisch organisierte oder künstlerisch agierende Menschen und vor allem nicht öffentlich.
Bei der Auswahl der Bilder greife ich sowohl auf dokumentarische, journalistische und
künstlerische Fotodokumente zurück sowie auf Standbilder aus Filmen.
In dieser weiten Auswahl kommt vor allem zum Ausdruck, dass es mir
nicht darum geht, systematisch die Geschichte eines bestimmten Genres
oder einer bestimmten Epoche unter dem Blickwinkel der bildlichen
Repräsentation von antikolonialem bzw. antirassistischem Widerstand zu
rekonstruieren, sondern darum, Anhaltspunkte für den Umgang mit
Bildern in der antirassistischen Praxis zu gewinnen. Außen vor gelassen
wurden Bilder, die keine Personen abbilden, da die Problematik der
antirassistischen Bildproduktion sich zu großen Teilen an der Oberfläche
von Personen festmacht.
Vor diesem Hintergrund möchte ich einen kurzen Überblick über den Aufbau der
vorliegenden Arbeit geben: Im Anschluss an dieses Einleitungskapitel
(I) werde ich zunächst im Kapitel Widerstandsbilder (II) die drei
18 | Einleitung
Epochen behandeln. Diese sind mit Nichtbilder (II), Gegenbilder (III)
und Auflösende Bilder (IV) betitelt und sind jeweils ähnlich aufgebaut:
am Anfang erfolgt ein Überblick über die historische Epoche und über
den Widerstand, den es gegeben hat, anschließend werden jeweils kurz
die Bilderarten vorgestellt, die vor allem untersucht werden sollen,
danach erfolgen die Untersuchungen anhand konkreter Beispiele sowie
weiterführende Überlegungen zu den jeweiligen Strategien. Im
Kapitel V werde ich meine Schlussbetrachtungen vorstellen. Im Anhang
VI finden sich die Quellenangaben.
Die Schwerpunktsetzungen in den Kapiteln sind jeweils an den mir für diese Zeit
wichtig erscheinenden Themen orientiert; so gibt es einen ausführlicheren Ausflug in die Theorie bei den Auflösenden Bildern und auch
etwas ausführlichere Bildbeschreibungen, weil ich diese Art der Bilder
weiterzudenken für die Bildproduktion als herausfordernd sehe. Die
schwerpunktmäßige Betrachtung von Widerstandspraxen in oder bezogen auf Deutschland ergibt sich aus der praktischen Arbeit, welche
sich ebenfalls hauptsächlich auf Antirassismus in Deutschland bezieht.
In meiner Begriffssetzung beziehen sich »Schwarz«, »Weiß« und »Nicht-Weiße« nicht
auf Hautfarbe oder phänotypische Ausprägungen, sondern sind als
sozial konstruierte, durch rassistische Machtverhältnisse hervorgebrachte und unterschiedlich positionierte politische Identitäten zu verstehen. In diesem Sinne soll die Großschreibung der Markierung des
konstruktivistischen Charakters dienen.
19 | Einleitung
II
»These solemn images
of middle- and working-class black families,
crafted according to the styles
(in gestures, props and clothing)
of Georgian and Victorian portrait painting,
portray a class of black people which,
according to my education,
did not exist at the time they were made!«
(Santu Mofokeng in Revue Noire, 1999)
II Nichtbilder
Verschüttete Repräsentationen: Widerstand gegen Kolonialismus
Das Kapitel Nichtbilder beschäftigt sich mit Bildern, die nicht hegemonial sind, die
verdrängt wurden, die unsichtbar gemacht wurden. Diese Art von Nichtrepräsentation von Widerstand will ich beispielhaft an der Epoche
der kolonialen Expansion um die Jahrhundertwende deutlich machen.
Konkret wird es um drei Arten von Nichtbildern gehen: nicht
existierende Bilder, nicht verbreitete Bilder und denunziatorische Bilder.
2.1 Kontext des Widerstandes: Deutscher Kolonialismus
Um der Frage nachzugehen, wie Widerstand während des Kolonialismus dargestellt
wurde, umreiße ich kurz die deutsche Kolonialgeschichte. Hierbei
nehme ich nicht nur auf die Hoch-Zeit des deutschen Kolonialismus,
sondern insgesamt auf die koloniale Debatte in Deutschland Bezug.
Erst nachdem die territoriale Zersplitterung der verschiedenen deutschen Fürstentümer
und Verwaltungseinheiten durch die Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 überwunden worden war, gab es die politischen, ideologischen und ökonomischen Voraussetzungen für die Realisierung der
kolonialen Bestrebungen. Mit Blick auf die verspätete Nationalstaatenbildung wurde immer wieder auf das Recht auf einen »Platz an der
Sonne« gepocht (vgl. Pech 2003, 95). Vorerst wurden von Kaufmännern
Koloniale Gesellschaften gegründet, die ohne Reichsauftrag Land
›erwarben‹1. Auf Druck der Handelsgesellschaften, die ein Interesse an
der Sicherung ihrer Landerwerbungen und damit ihrer ökonomischen
Bestrebungen in Übersee hatten, und um von der gespannten innenpolitischen Lage – dem Wirtschaftsboom war eine Wirtschaftskrise gefolgt –
abzulenken, wurden ab April 1884 die ›erworbenen‹ Gebiete von Bismarck unter kaiserliche Schutzherrschaft gestellt (vgl. Canis 2002, 27).
1 Die »Schutzverträge«, mit denen die Erwerbungen meist abgeschlossen wurden, wurden von
AfrikanerInnen häufig als Handels- und Bündnisverträge interpretiert, die meistens für sie einen
negativen Ausgang hatten (vgl. Gründer 2002, 19), beispielsweise durch gezieltes Operieren
mit unterschiedlichen Maßeinheiten wie der geografischen Meile, die fast fünfmal größer ist als die
geläufige englische Meile (vgl. Kuß 2004, 26).
23 | Nichtbilder
Von November 1884 bis Februar 1885 fand in Berlin die von Bismarck einberufene Kongo-Konferenz statt, auf der 13 europäische Staaten, die USA und das
Osmanische Reich ihre kolonialen Ambitionen und Besitzstände in Afrika völkerrechtlich zur gegenseitigen Anerkennung und Sicherung
festlegten. Afrika war nicht vertreten, es galt als herrenloses Land (vgl.
Gründer 2002, 22f ). Dem deutschen Kolonialreich wurden dort die
Gebiete Namibia (Deutsch-Südwestafrika), Tansania, Ruanda, Burundi,
Sansibar (Deutsch-Ostafrika), Togo, Kamerun, Papua-Neuginea, Bismarck-Archipel, nördliche Salomonen, Marshallinseln, Nauru, Marianen,
Karolinen und Palau (Deutsch-Neuginea), Samoa (Deutsch-Samoa)
und Kiatschou (China) zugesprochen (vgl. Lämmermann 2004, 24f ).
Insgesamt umfassten diese Gebiete eine Million Quadratmeilen
mit einer geschätzten Bevölkerung von 15 Millionen Menschen. Das
Deutsche Kaiserreich bestand dagegen aus 208 000 Quadratmeilen
mit 63 Millionen Menschen (vgl. Blackshire-Belay 1996, 100f ).
Ideologisch wurde die Kolonialisierung als Erziehungsmission ausgegeben – aufgrund
der selbst zugeschriebenen »Höherwertigkeit« wurde die Legitimation
abgeleitet, »Kulturarbeit über See« (Schnee, Heinrich, ehemaliger Gouverneur in Deutsch-Ostafrika, in: Norris 1993, 120) zu betreiben.
Praktisch wurden große Teile der afrikanischen Bevölkerung als Arbeitskräfte ausgebeutet. Blutige Unterdrückungspraxen, Gewalt und Willkür, Verschleppungen, Zwangsarbeit, Zerstörung der regionalen Ökonomie und sozialen Strukturen, Passgesetze, Zwangsumsiedlungen, ein
ungleiches Rechtssystem für Weiße und Schwarze und Einschränkungen
in den Eigentumsmöglichkeiten für Schwarze, sicherten die deutsche
Herrschaft (vgl. Pech 2003, 97). Einer der blutigsten Kolonialkriege der
Geschichte wurde gegen die Aufstände der Herero und Nama in Südwestafrika geführt. In diesen Kämpfen starben 80 Prozent der Herero
und 50 Prozent der Nama. Ab 1905 begannen die Deutschen, überlebende Herero und Nama in Konzentrationslager zu sperren, wo aufgrund
der katastrophalen sanitären, medizinischen und hygienischen Zustände
und der mangelnden Verpflegung 45 Prozent der Gefangenen
starben (vgl. Rost 1992, 119).
Deutschland war Kolonialmacht von 1884 bis zur erzwungenen Abgabe der Kolonien
im Versailler Vertrag 1919 nach Ende des 1. Weltkrieges. Das Spezifische
an der deutschen Kolonialherrschaft war und ist, dass es keine Auf24 | Nichtbilder
lösung durch Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonialisierten gab
und kaum eine Auseinandersetzung 2 mit der eigenen Kolonialgeschichte
(vgl. Rost 1992, Reed-Anderson 2005). Im Gegensatz zu England
etwa, wo sich in den 80er- Jahren durch Stimmen von MigrantInnen 3
eine Infragestellung der weißen Geschichtsschreibung entwickelte
(vgl. Steyerl 2003).
Die Geschichte der deutschen kolonialen Vergangenheit ist also bislang kaum sichtbar.
Sie gehört nicht zum Allgemeinwissen oder zur Schulbildung, und
die Spuren finden sich eher in nostalgischen oder gar verherrlichenden
Erinnerungen. So sind beispielsweise in Berlin Straßen im Afrikanischen Viertel nach Kolonialherren wie dem Kaufmann Adolf Lüderitz 4
benannt. Die Erinnerung gilt allein den gefallenen deutschen
Soldaten, wie auch ein Gedenkstein auf dem Garnisonsfriedhof am
Columbiadamm zeigt. Er trägt die Inschrift: »Von 41 Angehörigen
des Regiments, die in der Zeit vom Januar 1904 bis zum März 1907 am
Feldzuge in Süd-West-Afrika freiwillig teilnahmen, starben den Heldentod (7 Namen). Das Offizierskorps ehrt mit diesem Stein das Andenken der Helden.« Dieser Gedenkstein ist allerdings das einzige
erhalten gebliebene Kolonialdenkmal im öffentlichen Raum von Berlin
(vgl. Zeller 2002, 168).
2.2 Fotografie und Kolonialismus: Selbstdarstellungen und Fremdzuschreibungen
Für die Fragen der Repräsentation, der Fremd- und Selbstbeschreibung sowie Fremdund Selbstbetrachtung ist die Fotografie ein wichtiges Medium.
Deswegen will ich als Hintergrundwissen für die antirassistische bzw.
widerständige Bildproduktion auf einige zentrale Aspekte in Bezug
auf Kolonialismus und Fotografie eingehen, die nicht thematisieren, wie
2 Im Jahr 2004, in dem sowohl der Hereroaufstand als auch die Kongo-Konferenz sich zum 100sten Mal
jährten, rückten diese Ereignisse wieder mehr ins Zentrum der Öffentlichkeit. Dennoch gibt es
keine offizielle Entschuldigung von der deutschen Regierung und keine Entschädigungszahlungen, wie
es RepräsentantInnen der Herero fordern.
3 Der Einfluß kam durch Unabhängigkeitsbewegungen in den Herkunftsländern und die dadurch mit
vorangetriebene Einführung von Postcolonial Studies an Universitäten.
4 Lüderitz war ein Bremer Kaufmann, der seit 1882 forderte, seine ›erworbenen‹ Gebiete in Süd-WestAfrika unter den Schutz des Reiches zu stellen (Canis 2002, 27).
25 | Nichtbilder
Widerstand im Kolonialismus bildhaft verschwiegen wurde, sondern die
Kontrastfolie des Widerstandes (also die Bedingungen der Bildproduktion) aufzeigen. Denn auch die widerständigen BildproduzentInnen sind
nicht frei von den phänotypischen, gesellschaftlich etablierten rassistischenWahrnehmungsweisen. Um klar zu machen, welche Rolle die
Fotografie für die Frage der Repräsentation spielt(e), gehe ich
zunächst auf die gesellschaftliche Rolle der Fotografie in ihren Anfängen ein und thematisiere den Zusammenhang von Kolonialismus und
Fotografie als Macht- und Beherrschungsinstrument. Im Anschluss daran
werde ich einen kleinen Überblick über die Rolle des Filmes in Bezug
auf Fremdzuschreibungen geben. Dies bietet sich an, da in der Filmbranche die Produktionsprozesse besser überliefert sind und mehr Material
vorhanden ist, das Einblicke in Widerstände gegen hegemoniale Repräsentationsprozesse ermöglicht. Außerdem besaß und besitzt Film
eine besondere Bedeutung für die »Repräsentation ethnokultureller Differenz« (nach Pascal Grosse 2002).
2.2.1 »Selbstdarstellung«
In Anlehnung an die Porträtmalerei diente die Fotografie als Medium, um die Darstellung des Individuums zu zelebrieren. Im Gegensatz zur Malerei, wo
Technik und Qualität der Bilder den gesellschaftlichen Status der Porträtierten zeigten – so waren Ölbilder teurer als Silhouettenzeichnungen – waren fotografische Porträts relativ billig. Sich porträtieren zu
lassen, bedeutete sich selbst wertzuschätzen sowie sich selbst zu
inszenieren und damit eine Definitionsmacht über den eigenen Körper
zu erlangen. Das fotografische Porträt hatte weniger Symbolcharakter,
sondern faszinierte durch lebensnahe Darstellung und die dadurch mögliche Anwesenheit von toten und abwesenden Menschen (vgl. Pultz
1995).
Die Visitenkartenfotografie 5 gehörte zu den am besten vermarkteten Konsumgütern
dieser Zeit. Durch die veränderten Produktionsmöglichkeiten, die
massenhafte und erschwingliche Kopien der Porträts ermöglichten,
5 Patentiert 1854 von André Disdéri, ermöglichte die Visitenkartenfotografie auf einmal bis zu 12
Aufnahmen (vgl. Pultz 1995, 16).
26 | Nichtbilder
änderte sich auch der Stellenwert der Körperrepräsentation in der
gesellschaftlichen Wertschätzung. Neue Zugänge zu symbolischer Macht
(vor allem für die Mittelklasse) entstanden über die Möglichkeit,
andere Menschen durch ihre Darstellung zu beeinflussen. So gab es Sammelalben, in denen sowohl Freunde als auch Personen des öffentlichen
Lebens gesammelt wurden, z.B. Politiker wie Napoleon oder SchauspielerInnen wie Sarah Bernhardt. Dadurch stellte sich eine gewisse Intimität
und scheinbare Gleichheit zwischen BildinhaberIn und Abgebildeten her.
Die Alben hatten jedoch klare Grenzen der Repräsentanz, Abbildungen
von Armen und Kranken waren z.B. nicht erwünscht (Pultz 1995, 17f).
2.2.2 Fremdzuschreibungen im Kontext des Kolonialismus: Fotografie
Auch im Geiste der kolonialen Bestrebungen wurde ›gesammelt‹. Zu Kolonialzeiten
wurde die Fotografie ethnographisch 6 eingesetzt. Sie wurde zum
Mess- und Kontrollinstrument für die ›Rassenkunde‹. Im Rahmen der
europäischen Expansion, d.h. der Eroberung fremden Eigentums und
der Vertreibung und Vernichtung anderer Völker gegen Ende des 19. Jahrhunderts, benutzten die EuropäerInnen zur Legitimation der Idee
›höherer‹ und ›niederer Rassen‹ die Kulturen Asiens, Afrikas und Amerikas zur Abgrenzung, um sich selbst als ›höherwertig‹, d.h. ›weiß‹ und
›zivilisiert‹ darzustellen (vgl. Pultz 1995, 20). Als Werkzeug dazu diente
unter anderem die Fotografie: Durch koloniale Bildersammlungen in
Form von Postkarten, Einzelabzügen und Fotoalben, wurden die ›Anderen‹ kategorisiert und eingeordnet. Als angeblich wirklichkeitsgetreue
und unverfälschte Abbildungen von der Welt, gingen die Klischees und
Stereotype der europäischen Überlegenheitsfantasien um die Welt. Die
Beschreibungen der Kolonialisierten dienten dazu, die Kontrolle und
Macht der Kolonisatoren sicherzustellen. Fotografien dienten sowohl als
Souvenirs für Touristen als auch als ›wissenschaftliche‹ Dokumente
für Anthropologen und Ethnografen, um andere Völker zu vermessen,
zu katalogisieren und zu definieren (vgl. Pultz 1995, 24).
6 Die Völkerkunde und Ethnographie (Kulturbeschreibung) wurden um 1770 in Deutschland (Universität Göttingen) geprägt, die Bezeichnung Ethnologie etwa im gleichen Zeitraum im französischen
Sprachraum (Meyers Taschenlexikon).
27 | Nichtbilder
Im Gegensatz zu den kommerziellen Porträtaufnahmen, bei denen die Leute sich aus
eigenem Wunsch heraus fotografieren ließen und die Fotografen
dafür bezahlten, wurde Indigene einfach abfotografiert. Mit diesen Fotografien wurde versucht, beispielsweise die Kategorie der ›Indianer‹ zu
bestimmen, als Objekte, als Exemplare eines Typus. 1850 gab Louis Agassiz, Naturwissenschaftler der Harvard-Universität, Daguerreotypien7
von Schwarzen Sklaven in den Südstaaten in Auftrag, um die Unterlegenheit der Schwarzen zu beweisen 8 (Pultz 2002, 25).
Die Sinneswahrnehmung wurde damals unter einigen SozialwissenschaftlerInnen
(den Positivisten) als einzige Grundlage menschlichen Wissens
und Denkens angesehen (Pultz 1995, 26). Fotografie galt somit als Wissenschaft, die einen angeblich objektiven Standpunkt vertrat. Der
ethnografische Blick auf die ›Rasse‹ wurde damals anhand von phänotypischen Merkmalen konstruiert und hat bis heute Auswirkungen
auf unsere Wahrnehmung. Die visuellen Merkmale werden verknüpft mit
zugeschriebenen Eigenschaften. Die Fotografie funktioniert hier als
unsichtbare Definitionsmacht, da die enorme Realitätswirkung über den
Status als Darstellung hinwegtäuschte. Bilder wurden geschaffen und
festgeschrieben: So wurde beispielsweise das Bild des ›tanzenden Schwarzen‹ auch dadurch befördert, dass das Showbusiness eine der wenigen
Arbeitsmöglichkeiten für Schwarze in Europa war (Nagl 2004, 81).
Eine weitere wichtige Funktion der ethnografischen Aufnahmen war es, gesellschaftliche Normen zu etablieren. ›Die Anderen‹ sollten auf den Bildern
so fremd und je nach Kontext so exotisch oder bedrohlich wie möglich
erscheinen. Die Markierung visueller Differenz wurde mit dem
›wissenschaftlich‹ argumentierenden Rassismus systematisiert und objektiviert. ›Das Fremde‹ wurde – aus dem eigenen Blickwinkel – als fremd
sichtbar gemacht, sich zu Eigentum gemacht. Diese Bilder repräsentieren die Macht zu besitzen und zu betrachten. Das Recht zu schauen
bleibt meist Ausdruck von Weißen männlichen Privilegien. Die Welt der
Blicke und die Erfahrung der Sichtbarkeit ist eines der zentralen Felder,
7 Louis Jacques Mandé Daguerre erfand 1839 die Daguerreotypie, welches das erste weitverbreitete
fotografisches Verfahren war, bei dem Bilder durch Quecksilberdämpfe auf Glas gebannt wurden.
8 Diese Untersuchungen fanden nicht nur in fotografischer Form statt: So mussten die Herero-Frauen in
den Konzentrationslagern die Schädel der Toten mit Glasscherben säubern, damit sie z.B. zu ethnologischen Zwecken nach Berlin in die Charité geschickt werden konnten.
28 | Nichtbilder
auf denen Rassismus im Alltag erlebt und gelebt wird. Bildproduktion
und damit Fotografie war und ist ein Mittel zur Strukturierung der
Gesellschaft, zur Etablierung und Stützung des Konzeptes des Weißen
Raumes.
2.2.3 Fremdzuschreibungen im Kontext des Kolonialismus: Film
Weitere Kristallisationspunkte in der Konstruktion von Fremdheit im Bild waren,
neben der Fotografie, die Völkerschauen und Kolonialfilme: BewohnerInnen der deutschen Kolonien wurden als ›exotische Exponate‹ nach
Deutschland ›exportiert‹ – das bedeutete konkret: Es gab Anwerbungen
auf Vertragsbasis, aber auch erzwungene Teilnahme und Verschleppungen (vgl. Thode-Arora 2002, 153). Die Völkerschauen, die meist im
Zoo stattfanden, boten den Weißen BesucherInnen die Möglichkeit,
sich vom ›Primitiven‹ und ›Tierischen‹ abzugrenzen und die imaginierte
eigene kulturelle Überlegenheit zu bestätigen 9.
Nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft wurden die Völkerschauen allmählich
durch den Film abgelöst, mit dessen Hilfe sich rassistische Perspektiven und kolonialpolitische Sehnsüchte fortsetzen ließen. Die Rollen
für Schwarze Darsteller blieben beschränkt und undifferenziert:
›treue Diener‹, Pagen und Portiers, ›fanatisierte Eingeborene‹, dämonische ›Mohren‹ und später auch Musiker und Boxer (vgl. Nagl).
Während zu Beginn des Jahrhunderts in der Filmbranche relativ gesehen ein »Verwöhnklima« (Michael, Theodor, in: Pagen in der Traumfabrik 2004) existierte – der Wunsch nach Exotismus führte zu einer hohen Gage für
die DarstellerInnen –, änderte sich dies mit Beginn des 1. Weltkriegs. Der
Kampf von Schwarzen Soldaten in den Reihen der Besatzungsmacht
Frankreich im Rheinland wurde in Deutschland als »Schwarze-Schmach«Kampagne propagandistisch aufgeladen, auch um die mit Frankreich
verbündeten Kriegsgegner zu spalten. Die gesamte Presse unterlag Richtlinien des Kriegspresseamts und einer militärischen Vorzensur. Begründet wurde diese rassistische Kampagne mit den »Gefahren für die weiße
9 Der rassistische und sexistische Charakter der Ausstellungen wurde auch in der Werbung für die
Völkerschauen deutlich, wie ein Plakat aus dem Jahre 1913 belegt, das unter der Überschrift »50 wilde
Kongoweiber« eine halbnackte, liegende schwarze Frauenfigur zeigt (vgl. van der Heyden 2002, 134).
29 | Nichtbilder
Vorherrschaft«. Die Kolonialisierten, so die Argumentation, würden im
Angesicht der Verwundbarkeit der Weißen ihren Respekt verlieren und
seien weniger leicht zu lenken (vgl. Alonzo/Martin 2004, 106). Es wurde
ein Bild vom Schwarzen als Vergewaltiger gezeichnet, der die Weiße
Reinheit schände. Das äußerte sich besonders in dem Begriff »Rheinland-Bastard«, der plötzlich für alle afrodeutschen Kinder benutzt
wurde: »Ich war ganz erstaunt, weshalb ich aus dem Rheinland kommen
sollte…« (Michael, Theodor, in: Pagen für die Traumfabrik). Eine Fülle
von Karikaturen in satirischen Zeitschriften wie Simplicissimus
unterstützte die rassistische Stoßrichtung, was dazu führte, dass sich
die Situation für Schwarze und ihr Bild in der öffentlichen Wahrnehmung enorm änderte.
Das Weimarer Kino war von einer ›exotischen‹ Ambivalenz ›Schwarzer‹ Rollen zwischen
Faszination und Dämonie geprägt. In den 30er- Jahren gehörten
Schwarze SchauspielerInnen zu den wenigen Privilegierten. Ihre Arbeit
war mit der Chance zur Selbstinszenierung, Verweigerung und subjektiver Aufwertung verbunden (vgl. Nagl). Im Gegensatz dazu war der Alltag vieler gezeichnet von Diskriminierung und Verfolgung. Das Leben
war geprägt von Übergriffen und Anfeindungen. Die Umstände hatten
oftmals den Versuch zur Folge sich »unsichtbar« zu machen. Juliane Michael beschreibt diesen Alltag in Pagen in der Traumfabrik folgendermaßen: »Wir haben uns immer so verhalten, dass wir nicht auffielen.
Manchmal wäre ich schon explodiert, aber dann dachte ich, das
geht nicht.« Diese Realitäten sind verschüttet und somit unsichtbar.
Im Nationalsozialismus verschlechterten sich die ohnehin prekären Lebensbedingungen schwarzer Deutscher beträchtlich. Zunächst wurden Bühnen und
andere Unterhaltungsetablissements von Schwarzen Darstellern
›gereinigt‹. In der Filmbranche war das nicht der Fall, da man für die
Kolonialspielfilme auf die Schwarzen Darsteller angewiesen war.
In den Filmen dominierten jetzt jedoch ausschließlich Bilder stets unterwürfiger Dienstboten oder naiver ›Eingeborener‹, die den Herrschaftsanspruch Nazi-Deutschlands zu bestätigen hatten. In dieser Zeit
war der Film für Schwarze eine der wenigen Arbeitsmöglichkeiten
überhaupt. Werner Egiomue, Komparse, beschreibt die Situation beim
Film mit folgenden Worten: »Das ist das Merkwürdige eben gewesen
damals, wenn man in Babelsberg drin war, da passierte dir nichts, vor
30 | Nichtbilder
der Tür wurde man verhaftet oder beleidigt, da drinnen waren sie alle
einer Meinung.« Teilweise wurden die Komparsen später von Schwarzen
Kriegsgefangenen abgelöst. Insgesamt wurden ca. 2 000 - 3 000 Schwarze
in Konzentrationslagern ermordet 10.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Berufe für Schwarze wie Kellner, Artisten,
Musiker und Tänzer meist mit einer Zurschaustellung einhergingen.
Die erzwungene Einschränkung auf diese Berufe prägte das Bild des
exotischen Fremden.
Dieser Blick setzt sich durchaus bis in die Gegenwart fort, denn MigrantInnen sind
auch heute in der Differenz gefragt, was Choi und Oulios folgendermaßen beschreiben: »Zu oft wird mittlerweile etwa von Bereicherung
gesprochen – hört sich im ersten Moment gut an. Aber was heißt
das? Bereicherung von was und für wen? Es gibt darin immer das Subjekt und das Objekt. Objekt bereichert Subjekt. Die weißen Deutschen
haben es ganz gern, dass die Kanaken ihre Welt so bunt gestalten –
farblich, kulturell, thematisch und die Beiträge in die Rentenkassen
nicht zu vergessen. […] Wir waren genervt, dass MigrantInnen seit
Jahrzehnten immer nur ihre Exotik präsentieren sollen.« (Choi/Oulios
2005, 223).
2.3 Widerstand: Antikoloniale Kämpfe
Vor dem Hintergrund der mangelnden Diskussion um die deutsche Kolonialgeschichte
ist es nicht verwunderlich, dass der Widerstand gegen diese unsichtbar
blieb, und das, obwohl es durchaus bedeutenden Widerstand gegen
die Kolonialmächte gab. Der Widerstand reichte von militärischen Aktivitäten über den alltäglichen Widerstand Einzelner bis hin zu symbolischen Aktionen. Zum militärischen Widerstand zählen beispielsweise
10 Beispielhaft sei hier die Geschichte von Mohammed Husen erwähnt. Er gehörte zu den meistbeschäftigten Komparsen und bekam auch kleine Sprechrollen. 1909 in Deutsch-Ost-Afrika geboren, arbeitete er als Askari - afrikanische Soldaten, die für die Kolonialmacht kämpften. Als ihm sein Kriegssold
verweigert wurde, reiste er nach Deutschland, um diesen einzufordern. Doch seine Forderungen
wurden abgelehnt. Er blieb in Deutschland und wurde Schauspieler. Seine Rollen stellten den Platz des
Schwarzen Mannes als Diener und Unterlegener im Verhältnis zum Weißen Mann klar. 1941 wurde er
wegen angeblicher Rassenschande verhaftet ins KZ Sachsenhausen deportiert. Dort starb er 1944 (vgl.
Nagl 2004, 89).
31 | Nichtbilder
die Kämpfe der Herero und Nama. Am 12. Januar 1904 begann in
Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) der Aufstand der Herero. An
der Spitze des Aufstandes stand Samuel Maharero – der zuerst mit den
Deutschen paktiert hatte, um in den Auseinandersetzungen mit anderen
Bevölkerungsgruppen einen Vorteil zu gewinnen. Nach Aufforderungen
von u.a. Hendrik Witbooi, einem Führer der Nama, änderte er seinen
Kurs und rief zum Aufstand gegen die deutschen Kolonisatoren auf. Dieser wurde jedoch blutig niedergeschlagen. Parallel zu den Hereroaufständen erhoben sich auch die Nama unter Hendrik Witbooi und Jakob
Morenga im Süden des Landes in Form eines Guerillakrieges. Die
260 Aufständischen konnten sich der am Ende auf 15 000 Personen angewachsenen Schutztruppe mit ihrer geschickten Taktik von 1903 bis
1906 widersetzen. Im Deutschen Reich gab es angesichts des brutalen
Vorgehens der deutschen Truppen Proteste – u.a. von August Bebel –
gegen die Art der Niederschlagung der Aufstände. Der Einspruch führte
dazu, dass General von Trotha, der die Operationen vor Ort leitete,
entlassen wurde und die Konzentrationslager aufgelöst wurden (Rost
1992, 119).
Die kolonialen Phantasien lebten auch nach der Abgabe der deutschen Kolonien an
England und Frankreich fort, was sich insbesondere in den damaligen
Filmproduktionen zeigte, wie bereits ausgeführt. Es gab jedoch auch
Widerstand gegen die hegemonialen Repräsentationen. So wehrten sich
koloniale MigrantInnen gegen die stereotypen Fremdrepräsentationen
im Film. Damit traten sie in den Kampf um die Machtverhältnisse, um
die Frage, wer darf wen wie definieren? Während der Filmproduktionen
kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Gage und die
Produktionsbedingungen. Das wird beispielsweise aus den Äußerungen
in der Filmpresse zu den Dreharbeiten von Fremdenlegionär Kirsch
(1921) deutlich: »Es ist nicht immer leicht, einem Negerhirn begreiflich
zu machen, dass ein Kohlentrimmer nicht in Lackstiefeln zur Arbeit
antritt. Und barfüssig wollen die Herren Nigger auch nicht gehen, denn
der Kohlenstaub, der den Boden stilecht belebte, hätte ihren zarten
Füssen geschadet. Nach vielem Hin und Her gelang es endlich die widerspenstigen Herren zu einem Kompromiss zu bewegen.« (Aubinger 1921)
Man könnte dies auch als Auseinandersetzung um die Diskrepanz zwi32 | Nichtbilder
schen Darstellung und Lebensrealität von Schwarzen interpretieren, als
Widerstand, an den Festschreibungen mitzuwirken.
Von vielen Frauen wurden in den Kolonialfilmen verlangt, mit nacktem Oberkörper zu
spielen, was dazu diente, das Klischee ›der fremden exotischen
Schönheit‹ und zugleich ›der primitiven Wilden‹ zu festigen. Eine der
wenigen, deren Verweigerung an den stereotypen Darstellungen
mitzuwirken bekannt ist, ist Juliette Hiller Cruz, eine afrikanische Filmschauspielerin und Komparsin. Sie bestand darauf, bekleidet in den
Kolonialfilmen aufzutreten – beispielsweise in Quax, der Bruchpilot mit
Heinz Rühmann. Aufgrund dieser Weigerung wurde sie immer
weniger engagiert. Ihr deutscher Ehemann, Adolf Hiller Cruz, unterstützte sie und verlor daraufhin seine Arbeitsstelle. Er gründete
die Deutsche-Afrika-Schau in der Afrikaner und Schwarze Deutsche in
Eigenregie bis 1939 diverse Vorstellungen durchführten. Ihr Fokus
lag auf kulturellen Darbietungen und sie traten auf Jahrmärkten und
nicht im Zoo auf (vgl. Pagen in der Traumfabrik).
Gegen die schlechten Lebensbedingungen der MigrantInnen in Deutschland und gegen
die rassistischen Darstellungen formierte sich auch auf einer alltagspraktischen Ebene Widerstand. So gründete der Schauspieler, Sänger,
Musiker und Ringer Louis Brody (Ludwig Mbebe Mpessa 1892-1951)
mit Peter Makembe und anderen MigrantInnen 1918 den Afrikanischen
Hilfsverein zur Unterstützung kolonialer MigrantInnen bei der
Arbeits- und Wohnungssuche. 1921 protestierte der Verein in der Presse
gegen die »Schwarze-Schmach«-Kampagne, die auch außerhalb des
Rheinlandes einzelne Übergriffe auf Schwarze zur Folge hatte (vgl. Nagl
2004, 85): »Die aus den ehemaligen Kolonien stammenden, jetzt in
Deutschland ansässigen Schwarzen haben viel unter den in gewissen
Zeitungen über die ›Schwarze Schmach‹ veröffentlichten Schilderungen zu leiden. Die Deutschen scheinen sich absolut nicht Rechnung
zu tragen, dass sie selbst auch einmal Kolonien hatten und dass bis
heute noch keine Entscheidung über das Schicksal der Eingeborenen der
ehemaligen deutschen Kolonien getroffen worden ist; werden sie
Angehörige der Entente oder bleiben sie Deutsche?« (Louis Brody in B.Z.
am Mittag 24.5.1921, in: Nagl 2004, 85).
33 | Nichtbilder
2.4 Repräsentation von Widerstand im Bild: Nichtbilder
Dass weder die deutsche Kolonialgeschichte noch der antikoloniale Widerstand in der
Öffentlichkeit Relevanz besitzen, trägt zur Nichtexistenz der Darstellung
von antikolonialem Widerstand im Bild bei. Die Bezeichnung Nichtbilder
umfasst: 1. Widerstandsbilder, die nicht existent sind, da ein Großteil
des Widerstandes nicht dargestellt bzw. festgehalten wurde, 2. Bilder, die
nicht verbreitet wurden und 3. Bilder, die Widerstand zeigen, diesen
aber denunzieren. Es macht zwar einen großen Unterschied, ob Bilder
überhaupt nicht existieren oder ob sie nicht verbreitet wurden, in
beiden Fällen handelt es sich jedoch meiner Definition nach um im Bildgedächtnis nicht vorhandene Bilder, also um Nichtbilder. Das bedeutet,
der Widerstand existiert kaum im Bildergedächtnis – auch kaum im Textgedächtnis –, er ist nicht gegenwärtig, also unsichtbar. Präsent ist
allein der Weiße Blick auf die koloniale Vergangenheit, in dem Stereotype weiter fortgeschrieben werden. An der am Anfang des Kapitels
zitierten Aussage von Santu Mofokeng (geb. 1956 in Johannesburg, Fotograf seit 1985) zeigt sich wie weit reichend sich die Weiße Geschichtsschreibung durchgesetzt hat. Auch in der Schwarzen Selbstwahrnehmung haben sich diese Fremdzuschreibungen niedergeschlagen.
2.4.1 Nicht existente Bilder
Viele Bilder, die antikolonialen Widerstand zeigen könnten, wurden erst gar nicht
gemacht; das hat verschiedene Ursachen. Zum Einen gab es aus hegemonialer Sicht kein Interesse an Gegenperspektiven. Es existieren z.B.
kaum Bilder, auf denen Hereros ihre Sicht auf die Weißen zeigen bzw.
auf denen Schwarze Weiße fotografiert haben. Dies ist bedingt durch
die Machtverhältnisse, da die Technik der Fotografie und die Verbreitungsmöglichkeiten für Bilder Schwarzen (und besonders Kolonialisierten) nur eingeschränkt zur Verfügung standen. Auch über alltäglichen Widerstand ist wenig bekannt. Vermutlich erschien er aus dem
damaligen hegemonialen Geschichtsverständnis heraus nicht dokumentationswürdig zu sein. Explizitere Formen des Widerstands dagegen
waren schwer zu dokumentieren aufgrund von drohender Repression
(Ordnungskräfte, Militär, etc). Auch wenn diese Formen der Doku34 | Nichtbilder
mentation aus heutiger journalistischer Perspektive denkbar wären,
waren doch die Fotoapparate damals zu groß und behäbig für solcherlei
Einsatz.
Zwar sind die Widerstandsgeschichten zumindest bei den Überlebenden der Kämpfe
und deutschen Massaker wie auch bei deren Nachfahren durch Bilder im
persönlichen Gedächtnis präsent. Da die orale Erzähltradition jedoch
andere, brüchigere Kontinuitäten schafft als Schrift und Bild und sich
auf die Familiennarration oder auf einen bestimmten ethnischen
Zusammenhang beschränkt, besitzen diese Bilder nicht die gleichen
Durchsetzungsmöglichkeiten wie die Bilder der KolonisatorInnen.
»Bilder im Kopf« besitzen keine repräsentative Funktion, auch wenn sie
Individuen in ihrem Selbstbild und -verständnis durchaus stärken
können. So lange ihnen eine offizielle Anerkennung versagt bleibt, bilden sie jedoch ›nur‹ eine Innenperspektive ab.
Statt die sozialen und politischen Realitäten abzubilden, versuchten die FotografInnen
der frühen Jahre den rassistischen anthropologischen Klischees etwas
anderes entgegenzusetzen: Sie zeigten lokale Umgebungen und Leute
mit dem Ziel, die verlorene Würde wiederherzustellen (Willis 1999, 381).
Diese Erkenntnis lässt mich den Widerstandsbegriff bei der folgenden
Betrachtung von Widerstandsbildern weiter fassen.
2.4.2 Nicht verbreitete Bilder
Dieser Abschnitt will den Bildern Rechnung tragen, die keine große Wirkungsreichweite erlangt haben, also nur in bestimmten Szenen und lokalen
Kreisen präsent waren und sind. »Nicht verbreitet« bezieht sich insofern
sowohl auf die Bilder an sich als auch auf das Wissen um ihre Existenz
und Entstehungsgeschichte.
So existieren Porträts der Anführer der Aufstände wie Maharero und Witbooi (s. Abb.
1+2). In diesen Repräsentationen werden Stärke und Stolz gezeigt.
Die Fotografierten bestimmen über ihre Präsentation mit – sie posieren.
Maharero steht dort mit herausgestreckter Brust, in Uniform, in
leichter Unterperspektive, was seine Größe hervorhebt. Im Unterschied
dazu zeigt sich Witbooi als Guerillakämpfer in einfacher Kleidung mit
Gewehr in der Hand und in Gruppenportraits. Dies betont seine Identifikation mit der Gruppe von Widerstandskämpfern, er ist einer unter
35 | Nichtbilder
vielen. Gemeinsam ist den Bildbeispielen der Vorbildcharakter: Sie zeigen, dass Widerstand möglich ist und machen ihn so erst vorstellbar
für die BetrachterInnen. Diese Bilder sind einerseits Gegenbilder, da sie
AfrikanerInnen als Führungskräfte zeigen, die sich gegen die
Kolonialmächte auflehnen und somit auch gegen andere Bilder intervenieren. Ich zähle sie allerdings zu den Nichtbildern, da ihr Verbreitungsgrad so marginal ist, dass sie vermutlich kaum Wirkung hatten
und haben oder sie denunziatorisch gewendet wurden. Beispielsweise wurde eine Fotografie, die Samuel Maharero von Hendrik Witbooi
aufnahm, mit der Bildbeschriftung »der feige Oberhäuptling« versehen
als Postkarte verbreitet (vgl. Ausstellung Bilder verkehren).
1
36 | Nichtbilder
2
Zu nicht verbreiteten Widerstandsbildern gehören für mich auch viele Aufnahmen afrikanischer FotografInnen, da sie die gesellschaftlich hegemoniale Wahrnehmung von Schwarzen zu dieser Zeit unterlaufen und in Frage stellen.
Schwarze FotografInnen prägten die Fotografie seit ihren Anfängen11
und hatten Teil an ihrer Geschichte als Daguerreotypisten, Journalisten,
Künstler, Porträtfotografen, Studio- und DokumentarfotografInnen
(vgl. Willis 1999, 380). »The fact that African photography developed
simultaneously with photographs elsewhere is perhaps the most important thing to bear in mind«12 (Einleitung Anthology, 7).
Im Gegensatz zu den Fremddarstellungen fanden die Selbstdarstellungen afrikanischer
und afroamerikanischer FotografInnen zur Kolonialzeit – vor allem
damals, aber auch heute – wenig bis keine Verbreitung. Die Intention
der Produktion dieser Bilder war nicht an die Öffentlichkeit gerichtet,
sondern man wollte das Abbild von Prominenten und Familien für die
Nachwelt erhalten (vgl. Willis 1999, 380). Die erste Fotografieausstellung (Daguerrotypien) eines Schwarzen Fotografen – Jules Lion –
fand am 15. März 1840 in New Orleans statt, sechs Monate nach
der Veröffentlichung der Entwicklungen in Frankreich, Paris (vgl. Willis
1999, 380).
Eine Art aufklärerischen Fotojournalismus betrieb James Presley Ball (1825-1905) in
Cincinnati, Ohio und Connecticut. Er enthüllte mit seinen Fotos
die »Inhumanität« der Sklaverei. Die Fotografie The Hanging of William
Biggerstaff (1896) von Ball (s. Abb. 3) zeigt den Körper eines Mannes,
der am Morgen des 6. April 1896 den Tod durch den Strick erlitt. Er wurde für schuldig befunden im Streit einen anderen Mann getötet zu
haben. Biggerstaffs Schwarzer, toter Körper befindet sich zwischen zwei
lebenden Weißen. Dadurch scheint das Bild einen unüberbrückbaren
Unterschied zwischen den abgebildeten Körpern anzudeuten, als sei der
Unterschied zwischen Schwarz und Weiß so gewaltig wie der zwischen
11 Niepce erfand 1827 in Frankreich die camera obscura und 1839 Louis Jacques Mandé Daguerre die
Daguerreotypie.
12 »We do not attempt to define what African photography is, or to present it as homogeneous in any
way. On the contrary, the intention is to include all the techniques and forms of artistic expression that
have been represented on the continent making no assumptions about an African style or specific African identity.« (Einleitung Anthology, 6).
37 | Nichtbilder
3
Leben und Tod. Dieses Bild steht außerdem symbolisch für die Verurteilung eines Schwarzen ehemaligen Sklaven durch das von Weißen
Amerikanern eingesetzte und geleitete Rechtssystem. Die Wechselbeziehung zwischen dem Fotografen und dem Bild beeinflusst auch die Rezeption des Bildes, denn Ball war ein freier Afroamerikaner, der in den
Jahren nach dem Bürgerkrieg viele Aufnahmen im Westen der Vereinigten Staaten machte und das Leben Schwarzer Amerikaner dokumentierte (vgl. Pultz 1995, 34f). Das Bild scheint ›wahrheitsgetreu‹ das
Geschehen abzubilden, wenn man aber den historischen und kulturellen
Kontext mitdenkt, dann entfaltet sich der Bedeutungsspielraum dieses ›rein‹ dokumentarisch erscheinenden Fotos. Indem Fotos eine marginalisierte Lebensrealität sichtbar machen, können also auch dokumentarische Fotos eine widerständige Entstehungsgeschichte beinhalten.
Um einen weiteren Aspekt widerständiger Bildproduktion geht es bei der Studio- und
Porträtfotografie. Liberia und Sierra Leone waren Anfang des 19. Jhs.
Gebiete, die von emanzipierten und weggelaufenen Sklaven aus den Vereinigten Staaten zum Leben bevorzugt wurden. In Sierra Leone
begannen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ehemalige Sklaven, die
sich selbst Kreolen nannten, als Fotografen zu arbeiten. Beispielsweise entwickelte sich in der Republik Freetown die Portätfotografie
(vgl. Viditz-Ward 1999, 38). Diese Bilder brechen mit dem vorherrschenden Weißen Blick auf Afrika als ›unterentwickeltem‹ Kontinent.
Das Porträt The Baker Family von WS Johnston 13 zeigt eine gut situierte Schwarze
Familie um 1870 in Sierra Leone (s. Abb. 4). Im Zentrum steht der Mann,
der Einzige, der sich repräsentiert. Zunächst scheint es keinen Anhaltspunkt für ein Widerstandsbild zu geben. Dieses Bild verweist jedoch auf
die Existenz einer Schwarzen wohlhabenden Lebensrealität zu dieser
Zeit, die fast völlig undokumentiert ist.
So berichtet der Fotograf Santu Mofokeng (s. Zitat am Anfang des Kapitels), dass diese
Porträts bzw. das Wissen um die Existenz dieser Menschen in seiner
Sozialisation nicht vorhanden war (vgl. Viditz-Ward 1999, 270). Diese
Form der afrikanischen Studiofotografie könnte man auch als Bilder
13 Johnston’s Fotografien finden sich in Archiven in London sowie in privaten Sammlungen in
Freetown (Viditz-Ward 1999, 38).
39 | Nichtbilder
4
gegen die hegemonialen Abwertungen von Schwarzen als »arm, faul und
dumm« etc. interpretieren. Was im Kontrast zu den ethnografischen
Aufnahmen besonders auffällt, ist, dass in diesen Aufnahmen die Leute
ins Bild sehen, also selbst aktiv in den Produktionsprozess des Bildes
eingebunden sind. Die Hintergrunddekoration im viktorianischen Stil
weist eine starke Orientierung an europäischen Statussymbolen auf, wie
sie für die Anfänge der Porträtfotografie charakteristisch ist.
Ein anderes Beispiel für Porträtaufnahmen ist die Karte von Meı̈ssa Gaye: Women aus
Saint-Louis, Senegal von ca. 1920 (s. Abb. 5). Gaye war der berühmteste
Fotograf in Saint-Louis in den 1940ern.
5
41 | Nichtbilder
2.4.3 Denunziatorische Bilder
Viele der Bilder, die real existieren, zeigen den Widerstand in einer denunziatorischen
Weise. Beispielhaft sind hier die Werbepostkarten für Aecht-Kaffeemühlen (s. Abb. 6), die den kolonialen Diskurs widerspiegeln. Die Herero
werden als Barbaren dargestellt, die ›unschuldige‹ Farmer ermorden
und plündern, ohne dass der Hintergrund dieser Aktionen – die Wiederaneignung des ›eigenen‹ Landes und Besitzes – thematisiert wird.
Hierdurch wird der Weiße Farmer als Opfer konstruiert. Diese Bilder hinterlassen unweigerlich den Eindruck, dass die Gewalt von den Herero
ausgeht. Die Postkarten könnte man als inszenierte Bilder ansehen, in
denen das denunziatorische Moment im Bild selbst konstruiert wird.
Der Kontext wird hier natürlich auch durch die Bildunterschrift
hergestellt. Die Diagonale in der Komposition von rechts oben nach
links vorne führt den Betrachter zu dem gefesselten Weißen Mann.
Dieser steht groß im Vordergrund des Bildes und dient als Identifikationsangebot.
6
Die Postkarte im allgemeinen steht repräsentativ für die koloniale Bildproduktion, mit
der große Firmengründungen einhergingen: Fotografien als Postkarten,
Einzelabzüge und Fotoalben sowie gezeichnete Karten wurden ab Beginn
der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts für den europäischen Markt produziert (Offizielle Einführung der Postkarte in Deutschland um 1870, (vgl.
Weidmann 1996, 13)), um die koloniale Expansion zu zelebrieren und zu
legitimieren (vgl. Pultz 1995, 21).
42 | Nichtbilder
1.5 Weiterführende Überlegungen
Widerstand wird unsichtbar gemacht durch die fehlende Verbreitung der Bilder, durch
seine denunziatorische Darstellung und durch das Nichtvorhandensein
von technischen oder materiellen Möglichkeiten zur Bildproduktion.
Nichtbilder sind diejenigen Bilder, die erst noch erstellt bzw. entgegen
der Bildhegemonie sichtbar gemacht werden müssen. Nichtbilder sind
die Bilder, die nicht abgebildet sind, nicht ausgewählt wurden, nicht
existent sind, nicht gesehen werden, verschwiegen werden. Der Begriff
Nichtbilder markiert eine Leerstelle.
Ein zentrales Moment für die rassistischen Zuschreibungen ist und war der Versuch, die
Durchsetzung von Machtinteressen – d.h. territoriale Gewinne und
ökonomische Einflusssphären – zu legitimieren. Das bedeutet, dass sich
die Zuschreibungspraxen und rassistischen Bilder je nach Bedarf und
Kontext ändern. Besonders wichtig erscheint mir, dass MigrantInnen
aufgrund ökonomischer und politischer Ausschlussmechanismen immer
wieder in bestimmte Berufe »gezwungen« wurden, welche die rassistischen Bilder bestätigen (sollten).
Es stellt sich die Frage, ob und wie sich unsere Bilderwelt verändert, wenn die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Sprache und Bild kolonialem
Denken verhaftet bleibt. Wie kann mit diesen Bildern umgegangen werden und wie können andere Quellen zugänglich gemacht werden?
Wie könnte eine kritische Darstellung von Täterbildern, hier also Kolonialherren aussehen? Geschichtsschreibung ist auch eine Frage
von Bildpolitik. Wie also können die Leerstellen sichtbar gemacht oder
durch neue Bildgeschichten gefüllt werden?
Zusammenfassend ergeben sich mehrere Möglichkeiten: Widerstand muss sichtbar
gemacht werden, indem vielfältige Perspektiven und Lebensrealitäten in
der Bildproduktion und –auswahl berücksichtigt werden. Die verwendeten Quellen müssen überprüft werden, um auf eine gleichberechtigte
Repräsentationspolitik in Bezug auf die Abgebildeten und die Abbildenden zu achten. Außerdem besteht die Herausforderung, die nicht abgebildeten Geschichten zu visualisieren. Mit dem vorhandenen Material
aus Weißer Perspektive könnte in dekonstruierender Manier durch
verschiedene Methoden wie etwa Collagetechniken, Verfremdung u.a.
verfahren werden.
43 | Nichtbilder
III
»Wir müssen unser eigenes
Bewußtsein von uns selbst ändern.
Wir müssen einander
mit neuen Augen sehen.
Wir müssen einander
mit Wärme begegnen.«
(Malcom X, in: Hooks 1999)
3 Gegenbilder
Sichtbarkeit: Widerstand gegen Rassismus in den 60ern
Gegenbilder setzen an der Leerstelle an, welche durch Nichtbilder hinterlassen wird:
Gegenbilder treten den Strategien des Schweigens, Unterdrückens und
Denunzierens, d.h. der Praxis der Nichtbilder offensiv entgegen. Ihr Ziel
ist es, Widerstand zu benennen und sichtbar zu machen, sie sind Teil
des Widerstands. Indem sie widerständige Praxen ins Bild setzen und die
Verhältnisse benennen, gegen die sich der Widerstand richtet, bilden
sie eine Art Resonanzkörper des Widerstands; sie geben ihm eine weithin sichtbare und verstehbare Stimme und leisten auf diese Weise einen
Beitrag zu seiner Ausweitung und Intensivierung. Im antirassistischen
bzw. antikolonialen Kontext sind Gegenbilder im großen Maßstab im Zuge der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er- Jahren in den
USA zum Tragen gekommen. Ich möchte deshalb anhand dieser Erfahrungen die Funktionsweise von Gegenbildern erläutern. Dafür werde ich
zunächst – wie bereits im vorangegangenen Kapitel – den historischen
Kontext skizzieren und im Anschluss daran einige Bilder exemplarisch
besprechen.
3.1 Kontext des Widerstandes: Rassismus in den USA
Auch wenn Schwarze in den USA formal bereits seit dem 19. Jahrhundert den Weißen
rechtlich gleichgestellt waren, so herrschte doch eine tiefe Kluft; dem
lag das Urteil des Supreme Court von 1894 zugrunde, wonach die Devise
seperate but equal gelten sollte. Konkret drückte sich das nicht nur in
weitgehender Segregation zwischen Weißen und Schwarzen aus – diese
herrschte in Schulen, Kirchen, öffentlichen Gebäuden, Bussen und
Zügen, selbst auf Toiletten –, sondern auch in einer massiven rechtlichen, kulturellen und sozio-ökonomischen Diskriminierung der
Schwarzen Bevölkerung.
1958 war die Arbeitslosenquote der Schwarzen mit 10% doppelt so hoch wie die der
Weißen. 40% der Schwarzen Erwerbstätigen arbeiteten als ungelernte
Arbeiter. Der Verdienst von 75% der Schwarzen betrug weniger als das
Jahresdurchschnittseinkommen von Weißen. Berufliche Aufstiegsmög47 | Gegenbilder
lichkeiten gab es für Schwarze nur sehr wenige – wenn, dann vor allem
im Sport und Show- und Musikgeschäft (vgl. Demny 2001). Auch bei
Wahlen existierte eine starke Benachteiligung. Zum einen wurden im
Süden Wahlsteuern erhoben, die arme Weiße und Schwarze vom Wählen
abhielten, zum anderen gab es ungerecht eingeteilte Wahlkreise 14.
Kulturelle und symbolische Diskriminierung war ebenso an der Tagesordnung, so
wurden etwa Schwarze Männer jeden Alters von Weißen »boy« gerufen.
Die Weiße (symbolische) Ordnung wurde und wird auch durch das Negieren Schwarzer Geschichte aufrechterhalten: »Ich war in dem Glauben
aufgewachsen, dass die Sklaven nie Widerstand geleistet hatten. Ich
erinnere mich, dass ich mich schämte, als wir die Sklaverei in der Schule durchnahmen. Die Lehrer stellten es so dar, als wenn die Schwarzen
mit der »offiziellen« Emanzipation von der Sklaverei rein gar nichts zu
tun gehabt hätten. Es waren Weiße, die uns befreit hatten. […] Es
ist wichtig zu begreifen, dass der Bürgerkrieg nicht geführt wurde, um
die Sklaven zu befreien. Es war ein Krieg zwischen zwei ökonomischen
Systemen…« (Shakur 1996, 222).
Des Weiteren bestand existentielle Gefahr durch rassistische Polizeigewalt und -diskriminierung: »Der Polizeifunk quäkt den ganzen Tag ›Ein Wagen mit
verdächtig aussehenden Farbigen – ein weißes Ford Coupé.‹ – ›Ein verdächtig aussehender Neger in einer blauen Jacke und Turnschuhen.
Treibt sich in der Nähe des Krankenhauses rum.‹ Keine verdächtig aussehenden Weißen werden gemeldet.« (Shakur 1996, 21). Auch wurden
Schwarze vom Ku-Klux-Klan 15 und anderen terrorisiert.
14 Zwischen 1960 und 1970 stieg im Zuge der erfolgreichen Proteste gegen diese Praxis die Zahl der als
WählerInnen registrierten Schwarzen von 20% auf über 60%.
15 Der Ku-Klux-Klan (abgekürzt KKK) ist ein noch heute bestehender, rassistischer Geheimbund in den
Südstaaten der USA. Die Mitglieder des Klans tragen weiße Kapuzengewänder, welche die Geister
der im Amerikanischen Bürgerkrieg gefallenen Konföderationssoldaten repräsentieren, die vom Tode
auferstanden sind,um sich an ihren Feinden zu rächen. Der originale Ku-Klux-Klan wurde am 24.
Dezember 1865 in Pulaski, Tennesse aus einer Laune heraus von sechs jungen Kriegsveteranen gegründet. Dieser ursprüngliche Klan hatte keine politische Zielsetzung, die Männer wollten eigentlich nur
der tödlichen Langeweile der Nachkriegsära entkommen und spielten der Öffentlichkeit Streiche. Unter
anderem tarnte man sich bei nächtlichen Ritten durch die Landschaft mit Weißen Bettlaken. Eine
politische Dimension bekam der Klan erst, als man erkannte, dass sich vor allem die abergläubischen
ehemaligen Sklaven von den nächtlichen Ausritten einschüchtern ließen. Schon bald erhielt der
Klan deshalb Zustrom aus dem ganzen Süden der USA (vgl. Wikipedia).
48 | Gegenbilder
3.2 Widerstand: Antirassistische Praxen
Aus diesem gesellschaftlichen Rahmen entwickelte sich seit den 50er- Jahren die
Schwarze Bürgerrechtsbewegung. Ihre Ziele bewegten sich zwischen
Integration und Separation, Assimilierung und Schwarzem Nationalismus. Die Bürgerrechtsbewegung war in ihren Methoden anfangs
vergleichsweise moderat, zum Teil explizit pazifistisch. Dies änderte
sich zunehmend, je stärker der Widerstand durch die Weißen wurde. Mit
den Black Panthers gründete sich 1966 erstmalig eine Partei, die sich
zur bewaffneten Selbstverteidigung bekannte. Hintergrund hiervon war
nicht zuletzt, dass bis dahin zahlreiche BürgerrechtsaktivistInnen
ermordet worden waren, unter ihnen Malcolm X 16.
Die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung verdankt sich vor allem zwei prominenten
Ereignissen in den 50er-Jahren. 1954 hob das Supreme Court im Fall
»Oliver Brown vs. Board of Education of Topeka« die seperate but equalDevise auf und erklärte Rassentrennung an den Schulen für verfassungswidrig. Trotzdem zögerten viele südliche Bundesstaaten die Umsetzung des Gerichtsurteils heraus, noch 1960 war die ›Rassen‹trennung
nicht an einer einzigen Schule in South Carolina, Georgia, Alabama, Missisippi oder Louisiana aufgehoben. Als der Gouverneur von Arkansas
1957 Schwarzen SchülerInnen den Zugang zu einer High School in Little
Rock verweigerte, schickte Präsident Eisenhower Truppen in den
Süden und stellte die Nationalgarde von Arkansas unter Bundesaufsicht.
Seitens der Schwarzen Community nahm der Kampf gegen Rassentrennung an den Schulen von Anfang an eine prominente Stellung in
ihrem Kampf für gleiche Rechte ein.
Das andere einschneidende Ereignis war der Busboykott von Montgomery. Rosa Parks,
eine 43 Jahre alte Schwarze Schneiderin, wurde am 1. Dezember 1955 in
Montgomery, Alabama dafür verhaftet, dass sie sich geweigert hatte,
ihren Sitzplatz im vorderen Teil eines Busses einem Weißen zu überlassen. Sie war damit die fünfte Person, die in diesem Jahr wegen eines
Verstoßes gegen lokale ›Rassen‹trennung festgenommen wurde. Dies war
16 Malcom X ersetzte den Nachnamen des früheren Sklavenhalters Malcolm Little durch ein »X« für
unbekannt.
49 | Gegenbilder
der Start für den Montgomery Bus Boycott, der die Busunternehmen
zwei Drittel ihres Umsatzes kostete und 381 Tage dauerte. Dann
entschied der Supreme Court auf Grundlage der vorangegangen Fälle der
›Rassen‹trennung in der Schule, dass ›Rassen‹trennung in den Bussen
gegen die Verfassung verstößt (vgl. Wikipedia).
Der Baptistenprediger Martin Luther King, der den Montgomery-Bus-Boykott maßgeblich mitorganisiert hatte und dafür sehr empfindliche Strafen hatte
hinnehmen müssen, galt schnell als Leitfigur der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung. 1957 hatte Martin Luther King die Southern Christian
Leadership Conference (SCLC) gegründet, deren erklärtes Ziel es war,
mit gewaltlosen Aktionen die rechtliche Gleichstellung von Schwarzen
zu erreichen. Bald gründeten sich auch andere Organisationen, etwa
das Student Non-violent Coordinating Committee (SNCC).
Konkret richtete sich der Protest gegen Segregation – ob in Restaurants und Bars, in
Schulen oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Dabei bedienten sich die
StudentInnen oftmals (damals noch) spektakulärer Aktionsformen wie
Sit-ins und »freedom rides« (Busfahrten Schwarzer und Weißer BürgerrechtlerInnen). Darüber hinaus ging es auch um Wahlrechtskampagnen,
insbesondere Anfang der 60er- Jahre. Die SNCC konzentrierte sich zudem
auf die Communities selbst und versuchte zusammen mit den Menschen
längerfristig angelegte, selbstorganisierte Strukturen zu entwickeln
(vgl. Demny 2001).
King wiederum reiste allein im Jahr 1957 über 1 Million Kilometer und hielt auf
Demonstrationen und Kundgebungen über 200 Reden. Am 28. August
1963 kam es zum berühmten Marsch auf Washington, an dem ca.
200 000 Schwarze und Weiße teilnahmen. Hier hielt King auch seine
berühmte Rede: »I have a dream«.
Ein weiteres wichtiges Ereignis war der Marsch von Selma nach Montgomery 1965.
Empört über die Tötung eines Demonstranten durch einen Polizisten,
entschlossen sich Schwarze von Marion, Alabama, einen Marsch zu
veranstalten, den Martin Luther King nach Montgomery, der Hauptstadt,
führen sollte. Ziel des Marsches war es, die Brutalität der Polizei zu
stoppen und Aufmerksamkeit auf den Kampf für das Wahlrecht zu lenken. Der Marsch wurde an der Stadtgrenze von der Polizei gewaltsam
aufgelöst und Demonstranten in ein Schwarzes Wohnviertel gejagt, wo
sie genauso wie unbeteiligte AnwohnerInnen geschlagen wurden.
50 | Gegenbilder
Der blutige Sonntag erhielt nationale Aufmerksamkeit und zahlreiche
Märsche wurden daraufhin als Antwort organisiert. Präsident Johnson
hielt im Kongress eine flammende Rede, und im gleichen Jahr noch
(Severin 2000, 106) wurde der Voting Rights Act 17, in dem allen die Wahlrechte zugesichert wurden – gewissermaßen als Ergebnis des blutigen
Sonntags – verabschiedet. Konkret hieß das u.a., dass Wahlsteuern und
die Schreibprüfung als Bedingung, wählen zu dürfen, verboten wurden
(vgl. Demny 2001).
Entscheidend war, dass die Praxis der Bürgerrechtsbewegung auf erbitterte Gegenwehr
der lokalen Weißen Bevölkerung stieß: So wurden mehr als zehn
BürgerrechtlerInnen bis Anfang der 60er- Jahre ermordet, Häuser und
Kirchen von Schwarzen wurden durch Bomben oder Brand zerstört –
in Missisippi etwa brannten allein zwischen Juni und Oktober 1964 24
Kirchen nieder – und der Ku-Klux-Klan wurde auch wieder aktiv,
seine Mitglieder paradierten öffentlich gegen ›Rassen‹gleichheit (vgl.
Demny 2001).
Nicht zuletzt diese Situation führte zur Radikalisierung von Teilen der Bürgerrechtsbewegung. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Nation of Islam,
eher bekannt als Black Muslim. Ihre Wurzeln lagen in nationalistischen
Strömungen unter den Schwarzen, die sich seit 20er- Jahren ausgebreitet hatten: Die Nation of Islam war eine religiöse Sekte mit strengen
Regeln: kein Alkohol, kein Rauchen, keine Drogen im Allgemeinen,
kein Tanzen, Flirten, Kino, schuldhafter Verlust des Arbeitsplatzes etc.
Sie war religiös und sozial aktiv, hatte eigene Restaurants, Schulen
und Universitäten sowie eine eigene Selbstverteidigungsgruppe. Sie vertrat eine Ideologie, wonach die Schwarze Rasse die überlegene sei.
Angestrebt wurde ein Schwarzer Staat auf dem Boden der USA. Sie hatte
bis zu 150 000 Mitglieder in 27 Bundesstaaten. Außerdem predigte sie
Schwarzes Selbstbewusstsein – und konnte vor allem unter Ex-Süchtigen
und (Ex-)Inhaftierten viele Anhänger rekrutieren. Auch ihr späterer
charismatischer Führer Malcolm X wurde im Gefängnis rekrutiert.
Er hatte eine Karriere als Kleinkrimineller hinter sich, saß im Gefängnis
17 Ein Jahr vorher am 2. Juli 1964 wurde der Civil Rights Act unterzeichnet, das neue Bürgerrechtsgesetz, das die Diskriminierung von Schwarzen aufhebt.
51 | Gegenbilder
und konvertierte zum Islam. Schnell stieg er nach seiner vorzeitigen Entlassung 1952 zum bedeutendsten Führer und Organisator der Organisation auf. Er predigte die ›Rassen‹theorie der Organisation – genauso
wie extremen Sexismus und Antisemitismus (vgl. Scharenberg 2005).
In Abgrenzung zu Dr. Martin Luther King bekannte sich Malcolm X zum
Recht auf Selbstverteidigung, rassistische Unterdrückung müsse »by
any means necessary« 18 bekämpft werden, denn »mit Knien und Beten
erkämpft man sich kein Recht.«
Ab 1963 entfernt sich Malcolm X zunehmend von der Nation of Islam sowie von seinem
Dogmatismus und Biologismus und beginnt, viele seiner früheren
Konzepte und Ideen zu kritisieren. Am 21.2.1965 wird er mutmaßlich
von Nation of Islam- Aktivisten – ob neben der Nation of Islam nicht
auch die Bundespolizei FBI in seinen Tod verstrickt war, ist noch immer
ungeklärt, Indizien hierfür gibt es jedenfalls einige – während einer
Ansprache im Audubon Ballroom in Harlem erschossen (vgl. Scharenberg
2005).
Als Reaktion auf die Ermordung vom Malcolm X kommt es zu schweren Unruhen, in
deren Verlauf über 300 Schwarze durch Militär und Polizei getötet
werden. Je konfrontativer das Klima wurde, desto stärker wurde auch
der Ruf nach Black Power. Zwei junge Schwarze in West-Oakland,
Kalifornien, Huey Newton und Bobby Seale, gründeten in diesem Sinne
Anfang 1966 die Black Panthers Party for Self-Defence, um die Ideen von
Malcolm X fortzuführen.
Der Zusatz Selbstverteidigung war bewusst als Abgrenzung zu gewaltlosen Gruppierungen gewählt worden, denn im Gegensatz zu diesen übten sich die
Black Panthers auch im Waffenumgang zum Selbstschutz, um in ihren
Wohngebieten gegen den gewalttätigen Rassismus anzutreten und gleichzeitig die Polizei bei deren Arbeit zu überwachen und gegen gewalttätige und/oder willkürliche Verhaftungen einzuschreiten. Schon im
Jahr darauf waren über 100 Mitglieder registriert. Die Gruppe
brachte eine eigene Zeitschrift, the black panthers, black community news
service in einer Auflage von 5 000 Stück heraus. Dieses Organ wuchs
18 Malcolm X bezog sich auf Beschlüsse der Vereinten Nationen, die besagten, dass jedes Volk das
Recht habe, sich bei »any means necessary« vom kolonialen Joch zu befreien (Shakur 1996, 72).
52 | Gegenbilder
bis zu einer Auflage von 125 000 Stück an. Es wurden soziale Projekte,
wie ein Frühstück für alle Kinder, Gesundheitsstationen, Rechtsberatung
sowie in einigen Fällen der Kampf gegen Drogendealer und Zuhälter
organisiert.
Eines der prominentesten Mitglieder der Black Panther Party wurde Angela Davis. Als
1970 George Jackson wegen seiner Mitgliedschaft in der Black Panthers
Party verhaftet wurde, schlug ihm Davis vor, ein Buch über seine
Haftbedingungen zu schreiben, was er mit Soledad Brother auch tat. Aufgrund dieser Verbindung wurde sie wenig später verhaftet. Jacksons
Bruder Jonathan Jackson hatte in einem Gerichtssaal eine Schießerei
mit der Polizei begonnen, und Davis wurde vorgeworfen, die Waffe
für diesen Überfall geliefert zu haben. Seit diesem Vorfall saß sie in Untersuchungshaft, ihr drohte wegen des Vorwurfs der »Unterstützung
des Terrorismus« die Todesstrafe. Ein enormer Protest in der Öffentlichkeit entstand gegen ihre Verhaftung. Sie wurde nach zwei Jahren in
allen Punkten der Anklage freigesprochen. Assata Shakur 19 über Davis:
»Ich wußte, wer sie war, ich hatte alle Zeitungsausschnitte über sie
in meinem Archiv. Sie war die Schwester, die ihren Job an einem amerikanischen College verloren hatte, weil sie allen erzählt hatte, sie sei
Kommunistin und wem das nicht gefalle, der könne sich zu Teufel scheren« (Shakur 1996, 261).
Die Black Panther gehörten schon bald zu den am stärksten durch FBI und andere
Sicherheitsbehörden überwachten und verfolgten Gruppen. Am Ende des
Jahrzehnts waren 28 AktivistInnen getötet worden, viele waren im
Exil oder saßen im Gefängnis. Hinzu kamen innere Probleme, so dass die
Gruppe bis Mitte der 70er- Jahre mehr und mehr zerfiel.
Die Radikalisierung der Schwarzen Bürgerrechtsbewegungen führte in den Sommern
1965 bis 1967 regelmäßig zu massiven Unruhen in den großen Städten
– häufig ausgelöst durch Polizeiübergriffe auf Schwarze oder Ähnliches,
mit Hunderten von Toten, Tausenden Verletzten, Tausenden geplünder-
19 Shakur genießt seit Mitte der 80er politisches Asyl auf Kuba. Sie war Anfang der 70er Jahre als führendes Mitglied der Black Panther Party und Militante der Black Liberation Army untergetaucht. Sie wurde 1973 angeschossen und verhaftet. 1977 wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt und 1979 nach
sechs Jahren Gefängnis von der BLA befreit.
53 | Gegenbilder
ten Geschäften und niedergebrannten Gebäuden, Zehntausenden Inhaftierten etc. An den Kämpfen waren stets Polizei und Nationalgarde
sowie Militär beteiligt. Zu den mit am heftigsten Kämpfen kam es, nachdem King (der 1964 den Friedensnobelpreis erhalten hatte) am 4. April
1968 ermordet worden war (vgl. Severin 2000, 106).
In den späten 60er- Jahren verschmolz die Bürgerrechtsbewegung zunehmend mit der
Anti-Kriegsbewegung. Auch die wachsende feministische Bewegung
war ein wichtiger Teil der Black Power Bewegung wie auch ein entscheidendes Auseinandersetzungsforum über Verflechtungen von Rassismus
und Sexismus sowie in Bezug auf die Infragestellung eurozentristischer
Weißer Sichtweisen (siehe auch im Kapitel Auflösende Bilder).
Insgesamt erreichte die Bürgerrechtsbewegung in rechtlicher und sozialer Hinsicht
viel – zumindest gemessen an den frühen 50er- Jahren. Parallel zur
zunehmenden Auflösung der Bewegung bemühten sich seit den frühen
70er- Jahren (nun erst war dies möglich) Schwarze PolitikerInnen in
Wahlen um Mandate, Ämter etc., auch und gerade im Süden. Dies ging
einher mit der allmählichen Herausbildung einer Schwarzen Mittelklasse.
3.3 Repräsentation von Widerstand im Bild: Gegenbilder
Die Aktivitäten der Bürgerrechtsbewegung wurden von Anfang an intensiv von sympathisierenden oder selbst aktiv beteiligten FotografInnen begleitet –
etwa durch Moneta Sleet Jr. 20 aus New York/Chicago oder Jack T. Franklin aus Philadelphia. Robert Sengetacke, Howard Bingham, Jeffrey
Scales und Brent Jones fotografierten die Aktivitäten der Black Panther
Party im Norden und an der Westküste. FotografInnen des SNCC wie
Doug Harris, Elaine Tomlin und Bob Fletcher dokumentierten die Wahlregistrierungskampagnen im Süden (vgl. Willis 1999, 382). Möglich
wurde dies dadurch, dass Kameras ab den frühen 60er Jahren erschwinglich wurden und sich Fotografieren zunehmend zu einem Massenphäno-
20 Er gewann 1969 als erster Afroamerikaner den Pulitzer Preis für Fotografie für seine Bilder vom
Begräbnis von Dr. Martin Luther King jr. und die von Mrs Coretta Scott King und ihrer Tochter (s. links)
(vgl. Willis 1999, 382).
54 | Gegenbilder
men entwickelte. Begleitet war dies von der Überzeugung, dass eigenhändig fotografierte Bilder ein ideales Medium seien, die eigene
Persönlichkeit bzw. den eigenen Lebensstil zu dokumentieren, was sich
für viele Schwarze FotografInnen mit den Ideen von Black Power und einem neu erwachenden Selbstbewusstsein der Schwarzen verband.
Gegenbilder lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, da sie ganz unterschiedliche
Funktionen erfüllen: sie machen 1. Widerstand sichtbar, d.h. sie repräsentieren Gegenmacht; sie stärken 2. Gegenwahrnehmungen und fungieren auf diese Weise als Identifikationsangebote; schließlich haben
sie 3. auch eine dokumentarische Funktion und machen auf diese Weise
die Lebensrealität von Menschen, die von Diskriminierung und Ausbeutung betroffen sind, sichtbar. Ich möchte dies nun anhand einiger
Bilder aus der Bürgerrechtsbewegung etwas genauer erläutern.
3.3.1 Widerstand sichtbar machen
Wie entscheidend diese Funktion ist, lässt sich vor allem über die Effekte der Nichtbilder im Kolonialismus erschließen: Dort ist Widerstand fast gänzlich
verschwiegen, und wenn überhaupt thematisiert, so ist er denunziert
worden. Dadurch konnte er kaum Wirksamkeit entfalten, zum Beispiel Solidarität hervorrufen. Vor diesem Hintergrund hatten seit den
50er-Jahren Bildberichte über Proteste durchaus Einfluss. Durch
deren Verbreitung wurden auch Menschen in anderen Regionen in ihrem
Widerstand inspiriert, unterstützt und motiviert. Umgekehrt wurde
auf diese Weise auch Weißen ein klares Gefühl von Gegenmacht vermittelt, mit dem sie fortan konfrontiert sein würden. Wichtig war in
diesem Zusammenhang auch, dass Bilder aus empathischer Perspektive
aufgenommen worden waren. Die protestierenden Menschen wurden
nicht wie zu Kolonialzeiten als fanatisierte Massen aufgenommen und
als Gefahr für die westliche Zivilisation und Demokratie dargestellt.
Dies ist um so bemerkenswerter, da die Proteste der Bürgerrechtsbewegung klassischer Straßenprotest waren. Das heißt, die Menschen verkörperten ganz buchstäblich den Protest, indem sie mit ihren eigenen
Körpern die Demonstration, das Sit-in etc. formierten (vgl. Pultz 1995).
Gerade die Verkörperung von Protest läuft aber immer Gefahr, nachteil55 | Gegenbilder
hafte Bilder zu produzieren (schreiende, emotional aufgeputschte Menschen etc.), insbesondere wenn es zu Auseinandersetzungen mit der
Polizei kommt. Dies war aus zwei Gründen nicht der Fall: Zum einen bemühte sich zu Beginn der Proteste der Flügel um Martin Luther King
sehr um einen absolut gewaltfreien Ablauf seitens der DemonstrantInnen. Zum anderen war die Perspektive vieler aktiver FotografInnen
eindeutig sympathisierend und nicht denunzierend.
Das wird besonders deutlich im Bild von King (s. Abb. 7), als er seine berühmte Rede
»I have a dream« hält. Der Blickwinkel des Fotos ist so gewählt, dass
neben Obelisk und Kapitol vor allem die große Zahl (200 000) von Menschen, die zum Ende des Marsches auf Washington am Lincoln Memorial
versammelt sind, zu sehen ist. Martin Luther King steht auf das Geländer gestützt, mit dem Manuskript seiner Rede in der Hand, im Fokus.
Er wirkt wie ein Denkmal, fast so hoch wie der Obelisk. Der Blick
auf ihn ist seitlich und lässt so die Sicht auf die in Bann geschlagenen
ZuhörerInnen frei, die zu ihm aufblicken.
Typisch für die Märsche ist auch ein Bild von Moneta Sleet, während des Marsches von
Selma nach Montgomery (s. Abb. 8 & 9). Sleet war Fotograf fürs Ebony
Magazin und stand King und seiner Familie sehr nah. King war sich der
Wichtigkeit von Fotografien und Öffentlichkeit für die Bewegung
sehr bewusst und gewährte Sleet besonderen Zugang, um sich und
seine Familie häufig von ihm porträtieren zu lassen.
8
56 | Gegenbilder
9
7
3.3.2 Gegenwahrnehmungen stärken und Identifikationsmöglichkeiten aufbauen
Diese Funktion von Gegenbildern war ungeheuer wichtig und drückte sich u.a. in den
vielen Porträts von den führenden AktivistInnen der Bewegung aus.
Die Porträts geben dem Widerstand Gesichter, individuelle Biografien
und immer wieder Stolz, Selbstachtung und Selbstbewusstsein. Was
das bedeutet – und inwieweit das eine explizite Gegenwahrnehmung zu
dem darstellte, wie Schwarze in den USA eigentlich gesehen wurden
(und sich selbst gesehen haben), wird nur verständlich, wenn mensch
die 100 -350 Jahre (das negative Selbstbild ist ja v.a. im Kolonialismus
entstanden; und Mitte des 17. Jahrhunderts sind die ersten Sklaven in
die heutige USA gekommen) davor als Bezugspunkt nimmt: Schwarze
waren – in der Wahrnehmung von Weißen – ›dazu geboren‹, Sklaven zu
sein, sprich keine richtigen Menschen, sondern Arbeitstiere. Dazu
gehörte auch, dass ihnen die Fähigkeit abgesprochen wurde, für sich
selbst sprechen können und der Zwang zum Gehorchen. Schwarze
sollten den Weißen zu Diensten sein, und sollten und durften auf keinen Fall einen eigenen Willen artikulieren. Das Maß für Mensch-Sein
waren die Weißen. Die Mehrheit der Schwarzen hatte diese Bilder in einem bestimmten Ausmaß als Selbstbild übernommen, was sich im viel
thematisierten Schwarzen Selbsthass ausdrückte: »Und sie griffen nach
der Hässlichkeit, warfen sie sich wie einen Mantel um und gingen so
durch die Welt« (Morrison 1994). Bekanntes und immer wieder zitiertes
Beispiel dafür war der Wunsch vieler Schwarzer, kein gekräuseltes
Haar zu haben und möglichst helle Haut. Nicht nur für Weiße war der
Schwarze Widerstand und das Erwachen Schwarzen Selbstbewusstseins
eine Veränderung – noch wichtiger war die Veränderung für Schwarze
selbst. Indem mehr und mehr Schwarze als starke Persönlichkeiten in
der Öffentlichkeit präsent waren, wurden sie für Millionen anderer
Schwarzer zu Vorbildern, mit denen mensch sich identifizieren konnte.
In diesem Rahmen verdient auch noch eine bestimmte Strategie etwas genauer angesprochen zu werden. In dem Versuch, Gegenwahrnehmungen zu produzieren, spielten nicht zuletzt die Slogans Black is Beautiful and
Black Power eine zentrale Rolle, denn sie boten Anknüpfungspunkte und
Identifikationsmöglichkeiten für alle. Öffentlich auf einer Bühne
stehen und sprechen stand nicht für alle als Option offen, aber einen
58 | Gegenbilder
positiven Bezug zum eigenen Schwarz-Sein herzustellen – jenes
Schwarz-Sein, was im Rahmen von Rassismus so sehr abgewertet wurde
– war eine machtvolle Quelle für Selbst-Anerkennungsprozesse.
Das Porträt von Malcolm X (s. Abb. 10), mit dem für das Recht auf Selbstverteidigung
geworben wurde, ist wohl seine bekannteste Abbildung. Der Blick
fällt zuerst auf das Gewehr. Mit dem Lauf nach oben gerichtet, hält es
Malcolm, den Kolben auf die Hüfte gestützt, in der rechten Hand.
Das große Magazin zeigt, dass es sich um eine automatische Waffe handelt. Er steht am Fenster, mit der linken Hand schiebt er die Gardine
ein wenig zur Seite und lugt vorsichtig, den Kopf leicht nach vorne gebeugt, aus dem Fenster, als ob er einen Angriff erwarte.
Dieses Foto entstand unmittelbar vor seiner Ermordung. Zum Zeitpunkt der Aufnahme
wusste er bereits, dass sein Leben in Gefahr war. Nur eine Woche vor
seinem Tod war das Haus seiner Familie nachts mit Brandbomben angegriffen worden; nur durch Zufall wurde niemand verletzt. Zur Abschreckung ließ sich Malcolm X in militanter Pose ablichten, obwohl er
selbst nie eine Waffe benutzte. Doch dieses Bild bringt seine zentrale
politische Forderung auf den Punkt.: Ballot or Bullet, gebt uns das Wahlrecht oder wir wehren uns mit Waffengewalt.
Heute ist es schwer vorstellbar, welche Wirkung dieses Bild (und die Person Malcolm X)
auf die amerikanische Gesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte hatte.
Es war ein unerhörter Tabubruch, und Malcolm X wurde dafür vom weißen Amerika, das von den eigenen Verbrechen nichts wissen wollte,
gehasst. Unter Schwarzen jedoch wurde er dafür respektiert, ja verehrt,
dass er die ›Wahrheit‹ über den Rassismus aussprach.
Ein klares Nein zur Weißen Vorherrschaft und eine Absage an die zugeordneten Betätigungsfelder für Schwarze drückt das bekannte Olympia-Sieger-Bild
(s. Abb. 11) aus: die Athleten Tommie Smith (Mitte) und John Carlos –
als 1. und 3. platziert beim 200m -L auf – zeigen während der Olympischen Spiele 1968 in Mexico City auf dem Siegertreppchen die schwarzbehandschuhte Faust, in Solidarität mit der Black Power Bewegung,
um die Aufmerksamkeit auf die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung und
den Rassismus in den USA zu lenken. Zusätzlich tragen sie keine
Schuhe sowie Schnüre um den Hals, um gegen Armut und Lynchjustiz
59 | Gegenbilder
10
zu protestieren. Der Silbermedaillengewinner Peter Norman trägt einen
Aufnäher der OPHR (Olympic Project for Human Rights, einer Organisation Schwarzer Amateurathleten, die die Olympischen Spiele unter
anderem wegen der Apartheid in Südafrika boykottierten) auf der
Brust und scheint in Übereinstimmung mit der Aktion gewesen zu sein.
Smith und Carlos wurden schließlich 21 von den Spielen ausgeschlossen und mussten
das Olympische Dorf verlassen. Der Bericht der Associated Press
(und L.A. Times) beschreibt sie »in a Nazi-like salute« und der Kolumnist der Chicago Brent, Musburger, nennt sie »black-skinned storm
troopers«. Das Time Magazine verwendet eine Grafik für ihre Geschichte,
in der das Olympische Logo statt mit »faster, higher, stronger« mit
»angrier, nastier, uglier« beschriftet ist. Viele Weiße AmerikanerInnen
empörten sich, sahen die Aktion als unpatriotischen Akt gegen die
Nationalhymne, die währenddessen lief, und Angriff auf Amerika, zudem wurde der Gruß missverstanden als Zeichen der militanten
Black Panthers.
Carlos kommentierte die gemeinsame Aktion nach der Zeremonie mit folgenden
Worten: »We’re sort of show horses out there for the white people. They
give us peanuts, pat us on the back. And say, ›Boy, you did fine‹.«
Black America feierte die beiden als Helden, und für viele diente ihr
stiller Widerstand als Vorbild. Doch als sie nach Hause zurückkehrten,
wurden die Jobangebote rar, sie bekamen Todesdrohungen und ihre
Häuser wurden attackiert. »My (Carlos) first wife is deceased as a result.
She took her life. Because she couldn’t deal with the pressure from the
results of Mexico.«
Das Olympische Team, alle Weiß und alle aus Harvard, positionierten sich folgendermaßen: »We – as individuals – have been concerned about the place
of the black man in American society in their struggle for equal rights.
As members of the US Olympic team, each of us has come to feel a
moral commitment to support our black teammates in their efforts to
dramatize the injustices and inequities which permeate our society.«
Auch andere SportlerInnen unterstützten die Aktion, so wie Wyomia
21 Zunächst weigerte sich das US-amerikanische Olympische Komitee, der Aufforderung des IOC, die
Spieler zu sperren, nachzukommen, doch das IOC setzte es mit der Drohung, das ganze Track- and
Field-Team der USA vom Wettkampf auszuschließen, schließlich erfolgreich unter Druck.
61 | Gegenbilder
Tyus aus dem US-amerikanischen 4x100-Meter-Lauf-Team, die ihre Goldmedaille 1968 John Carlos und Tommy Smith widmete. Auch in
jüngeren Zeiten erklärte beispielsweise Steve Holman, ein Wettkämpfer
der 92er Spiele und einer der schnellsten Läufer Amerikas zwischen
1990 und 1995, dass ihn sehr beeinflußt habe, was die beiden 1968
getan haben.
Tommy Smith sagte kürzlich über diesen bildlich eingefrorenen Moment: »It’s not
something I can lay on my shelf and forget about. My heart and soul are
still on that team, and I still believe everything we were trying to
fight for in 1968 has not been resolved and will be part of our future.«
3.3.3 Dokumentation von Lebensrealitäten
Es ist bei weitem nicht so gewesen, dass die in der Bürgerrechtsbewegung entstandenen Bilder ausschließlich positiv, heroisch, stark und zukunftsweisend gewesen wären, d.h. heißt Bilder, die der grauen Realität der
Mehrheit der Schwarzen die beginnende Realität einer neuen und
immer machtvolleren Epoche Schwarzer Stärke entgegensetzen wollten.
Auch Bilder, deren Funktion es war aufzuklären, die Menschen über
rassistische Realitäten in Kenntnis zu setzen und sie auf diese Weise für
die Proteste zu interessieren und zu mobilisieren, spielten eine
zentrale Rolle in der Bürgerrechtsbewegung.
Das waren zum einen Fotos, auf denen rassistische Gewalt, insbesondere rassistische
Polizeigewalt – auch im Zuge von Auseinandersetzungen bei Aktionen –
abgebildet war. Diese Fotos fungierten als Dokumente dessen, wogegen
sich die Proteste im Kern richteten: die alltägliche Demütigung und
Diskriminierung, und die umfassende Entrechtung, der Schwarze ausgesetzt waren bzw. sind. Diese Bilder hatten entlarvende Wirkung,
wurden doch einerseits die Weißen in ihrem eigenen Wohnzimmer durch
Fernsehen 22 und Zeitung mit ihrem eigenen, oft abgestrittenen Rassismus unübersehbar konfrontiert. Andererseits hatten die Bilder für viele
Schwarze realitätsbestätigende Bedeutung. Die Wirkmächtigkeit derartiger Bilder geht weit über die Zeit der Bürgerrechtsbewegung hinaus:
erinnert sei nur an die schweren Unruhen in Los Angeles 1992, nachdem
22 Ende der 50er Jahre wurde der Fernseher zum Massenmedium, vgl. Wikipedia.
62 | Gegenbilder
11
vier Polizisten zunächst freigesprochen worden waren23, obwohl es ein
überall ausgestrahltes Video (s. Abb. 12) – aufgenommen von George
Holliday, einem Augenzeugen – ihrer Misshandlung von »Rodney« Glen
King24 gab (vgl. Wikipedia).
12
23 Als die Unruhen sich fortsetzten, erklärte Präsident Bush (sen.) am 1. Mai, dass er die Polizisten
für Vergehen an Kings Bürgerrechten anklagen würde. King sagte im Prozess am 9. März 1993 aus und
zwei Polizisten wurden zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt.
24 Der Name Rodney war nicht sein richtiger, doch wurde er durch die Medien so stark verbreitet, dass
es nicht mehr zu korrigieren war.
64 | Gegenbilder
Zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung entstand außerdem eine umfassende dokumentierende Reportage-Fotografie, in welcher die (tatsächlichen) Lebensrealitäten der Schwarzen Community zum Ausdruck gebracht und zum
ersten Mal von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden.
Gezeigt wurde die große Armut der Schwarzen Bevölkerung, aber
auch kulturelles Leben wurde dokumentiert, was postive Bezugspunkte
und Veränderungen ermöglichte. Die Kulturtheoretikerin bell hooks
beschreibt diese Bedeutung im Folgenden: »Die oppositionelle schwarze
Kultur, wie sie sich unter den Rahmenbedingungen von Apartheid und
›Rassen‹trennung herauskristallisierte, ist einer der wenigen Bereiche,
wo es Raum für Entkolonisierung gibt« (hooks 1994, 19).
Eine andere Art der Dokumentarfotografie spürte den Subjektivitäten der von Rassismus betroffenen Menschen nach: Gordon Parks etwa, der als erster Afroamerikaner zur fotografischen Abteilung der FSA (Farm Security
Administration, ein Programm der Bundesregierung, das die verheerenden
Auswirkungen der Depression auf das ländliche Amerika mildern sollte)
gelangt war und später viel für das führende amerikanische Bildmagazin
Life arbeitete, fokussierte mit seinen Fotos zugleich die körperlichen
und psychologischen Aspekte, die der Rassismus für seine Opfer beinhaltete. Als Beispiel ist das Bild Black Children with White Doll von 1942
(s. Abb. 13) zu nennen. Das Foto zeigt zwei Schwarze Kinder, zwischen
denen eine Weiße Puppe sitzt. Das Bild spielt auf Studien des Psychologen Kenneth B. Clark 25 an, in denen afroamerikanische Kinder,
die sich die beste Puppe aussuchen sollten, die Weiße wählten mit dem
Argument, dass sie ein glücklicheres Leben haben würde.
25 Diese Studie führte auch vor dem obersten Gerichtshof zur Aufhebung der ›Rassen‹trennung an
öffentlichen Schulen (Pultz 1995, 95).
65 | Gegenbilder
12
3.4 Weiterführende Überlegungen
Es kann keinen Zweifel geben, dass Gegenbilder eine herausragende Rolle für die
Schwarze Bürgerrechtsbewegung – und später auch im Vietnam-Krieg
für die Anti-Kriegsbewegung – gespielt haben. Und doch: Es gibt
auch Kehrseiten, die hier wenigstens kurz erwähnt werden sollen.
Indem auf Bilder-Ebene die Black is Beautiful-Strategie verfolgt wurde,
wurde der Gefahr einer neuen Essentialisierung Vorschub geleistet.
Das eigentlich durch Weiße in die Welt gesetzte Konstrukt, wonach es
unterschiedliche Rassen gäbe, wurde affirmiert und mit positiven
Vorzeichen fortgeschrieben. Dies verband sich immer wieder auch mit
reaktionären Ideen, zum Beispiel mit denen der Nation of Islam, die
ja bereits viel länger das Gegenkonzept einer selbstbewussten Schwarzen Identitätspolitik propagiert hatte. Ein anderer Effekt war und
ist, dass manche der vor allem auf den Körper bezogenen Zuschreibungen (der Schwarze Körper als besonders sportlich, leidenschaftlich,
schön etc.) seitens der Schwarzen Community übernommen und als Realität verkauft wurden – wobei dies zum Teil auch (siehe Sport u.a.
eingeschränkte Arbeitsgebiete) tatsächlich Realität war. Hieraus bildete
sich insbesondere unter Schwarzen Männern (der Unterschicht) eine
hochproblematische Hypermaskulinität heraus (die Kulturtheoretikerin
bell hooks spricht von einem »lebensgefährlichen Würgegriff patriarchaler Maskulinität« ). Auch Bilder – etwa von schwarzen Spitzensportlern – haben hierbei eine zentrale Rolle gespielt (vgl. Samsa 2001).
Es ist zwar problematisch, nur so knapp auf Schwarze Hypermaskulinität einzugehen,
da diese einerseits Fakt ist, aber andererseits auch ein neues
Stereotyp darstellt. Ich möchte damit jedoch beispielhaft die Gefahr der
Essentialisierung von Gegenbildern anreißen.
67 | Gegenbilder
IV
»Es geht nicht darum,
Grenzen (…) sichtbar zu machen.
Es geht darum sie zu verschieben,
sobald sie anfangen
zu Einschränkungen zu werden. (…)
Statt daran zu arbeiten,
das vorher Unsichtbare (…)
sichtbar zu machen,
müsste man mit einem solchen System
der Dualitäten brechen
und zum Beispiel zeigen,
was Unsichtbarkeit überhaupt ist
und was über die bloße Sichtbarkeit
hinausgeht.«
(Trinh T. Minh-ha 1999)
4 Auflösende Bilder
Verschiebung: Widerstand gegen Rassismus in den 90ern
Auflösende Bilder setzen dort an, wo die Gegenbilder an ihre eigenen Grenzen stoßen,
so wie das am Ende des vorausgegangenen Kapitels kurz angerissen
wurde. Gegenbilder haben den Anspruch, unter anderem die negativen
Wertungen aufzuheben oder umzudrehen, die z.B. mit Schwarzer
Hautfarbe im Rahmen rassistischer Zuschreibungen verknüpft sind. Der
Abwertung wurde unter anderem selbstbewusst die Parole Black is
Beautiful entgegengehalten. Das Problem ist jedoch, dass eine solche
Strategie nicht der ›Schwarz‹ - ›Weiß‹ - Dichotomie an sich zu entkommen vermag. Diese Dichotomie ist nichts Natürliches, denn dass die
Menschen gewohnt sind, Menschen überhaupt entlang der WeißSchwarz - Einteilung zu klassifizieren und somit auseinander zu dividieren, ist bereits der Effekt rassistischer Diskurse. Dies ist eine der
Kernaussagen dekonstruktivistischer TheoretikerInnen, die spätestens
seit den späten 80er- Jahren machtvoll die Bühne des linken politischen Diskurses betraten. Konkret hatte das zur Folge, dass antirassistische AktivistInnen seit Anfang/Mitte der 90er- Jahre bis heute nach
Möglichkeiten suchen, die dichotomen Trennungen zu überwinden. Dies
ist zum einen praktisch erfolgt – durch den Versuch, sich gemischt
politisch zu organisieren, jenseits der durch die rassistischen Strukturen
aufgezwungenen Identitätspositionen ›Flüchtling‹, ›MigrantIn‹,
›Deutsche/r‹ etc. Es wurde zum anderen aber auch versucht, durch
mediale Interventionen (Film, Fotografie etc.) Dichotomien aufzubrechen, um auf diese Weise das Denken und die Wahrnehmungsweisen
der Menschen zu hinterfragen. Auflösende Bilder können demnach
als Produkte dieser unterschiedlichen Praxen verstanden werden. Es gibt
sowohl auflösende Bilder von Aktionen, die sich einem Grenzen überschreitenden und verschiebenden Selbstverständnis verdanken, als auch
auflösende Bilder, die nicht eine äußere Realität dokumentieren,
sondern eine eigene Realität herstellen und auf diese Weise antirassistisch intervenieren und irritieren.
Dass ich anhand der 90er- Jahre (bis heute) auflösende Bildpraxen thematisiere, bedeutet nicht, dass in Deutschland (an dessen Beispiel die auflösenden
Bilpraxen schwerpunktmäßig dokumentiert werden) Auflösende Bilder
71 | Auflösende Bilder
hegemonial gewesen wären. Hegemonial im quantitativen Sinne sind
in der antirassistischen Bildproduktion weiterhin Gegenbilder, so wie sie
im vorherigen Kapitel bereits beschrieben wurden.
Das ist kein Zufall, denn zwar erschienen in den 90ern erstmals die im rassistischen
Denken bereits als Grundlage angelegten Dichotomien gedanklich,
ästhetisch und in Ansätzen auch praktisch überwindbar. Gleichzeitig
verstärkte sich in den 90er- Jahren gerade in Deutschland extremer
Rassismus nicht nur seitens des Staates, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt, mit der Konsequenz, dass die Realität alles andere als grenzüberwindend war und somit auch die Bildproduktion nicht
primär auf auflösenden Pfaden wandeln konnte. Insgesamt beziehe
ich mich auf ein Feld von Bildern, die aus widerständiger Praxis kommen, und lasse somit das weite Feld der Kunstfotografie außen vor,
obwohl sich hier natürlich Schnittpunkte ergeben.
Um den Hintergrund und die Funktion der Auflösenden Bilder der 90er zu beschreiben
(natürlich lassen sich diese auch zu anderen Zeiten finden), umreiße
ich kurz den Kontext der Bildproduktion sowie die theoretischen Einflüsse, die für die antirassistischen Gruppierungen teilweise Bedeutung
erlangten, beschreibe das Feld der Widerstandspraxen und zeige anschließend einige Beispiele Auflösender Bilder.
4.1 Kontext des Widerstandes: Rassismus in der BRD
Anfang der 90er- Jahre kam es in Deutschland zu einer Eskalation rassistischer Gewalt
und Verfolgung. Auf der einen Seite standen zahlreiche, vielerorts
stillschweigend geduldete oder sogar beklatschte Anschläge bzw. Pogrome gegen Flüchtlinge und MigrantInnen: Hoyerswerda 1991, Mannheim
Schönau und Rostock-Lichtenhagen sowie Mölln im Jahr 1992 und Solingen 1993 27.
27 Das Ausländerwohnheim von Hoyerswerda war tagelang Ziel rechtsradikaler Angriffe. Skinheads und
Neonazis lieferten sich Strassenschlachten mit der Polizei. Erstmals wurde auch unverhohlene Sympathie der Anwohner für die rechtsextremen Randalierer deutlich. Bei dem Brandanschlag von Rechtsradikalen in Mölln 1992 kamen drei Türkinnen um. In Solingen fand der Brandanschlag auf das Haus
der türkischen Familie Genç am 29.05.1993 statt, es kamen fünf Angehörige der Familie ums Leben.
72 | Auflösende Bilder
Auf der anderen Seite standen diverse Maßnahmen des Staates: Die faktische Abschaffung des Asylrechts am 26. Mai 1993, zusätzliche Schikanen gegen
Flüchtlinge im Zuge der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes
1993 und schließlich ein explosionsartiger Anstieg von Abschiebungen.
Allein zwischen 1988 und 1993 verzehnfachte sich die Zahl von 3 000
auf über 30 000 Abschiebungen.
Auch die Wahlerfolge der rechtsextremen Partei Die Republikaner (REP) bei den Landtagswahlen in Hessen und Westberlin Anfang des Jahres 1989 waren
Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Situation. So zogen bei Berliner
Landtagswahlen am 29. Januar 1989 die REPs mit 7,5 Prozent in den
Senat ein, in ihren Westberliner Hochburgen erzielten sie Ergebnisse
von bis zu 20 Prozent.
Die ›Wiedervereinigung‹ löste in Politik, Medien und der deutschen Bevölkerung einen
enormen Schub an Nationalismus aus. Parolen wie »Wir sind ein Volk«,
»Wir sind das deutsche Volk« wurden gerufen und geschrieben und viele
Deutschlandfahnen in die Höhe gereckt, mit der klaren Botschaft: alle
anderen sind nicht erwünscht.
Dies traf auf die allgemeine politische Weigerung, anzuerkennen, dass Deutschland ein
Einwanderungsland ist (vgl. Pech 2003, 83). Faktisch gibt es einige
Millionen MigrantInnen, deren soziale und rechtliche Situation in vielerlei Hinsicht prekär ist, denn in Deutschland wurden verschiedenene
Stati von MigrantInnen geschaffen: Sie reichen von den regulären MigrantInnen, denen das Wahlrecht verweigert wird, über Papierlose, die
etwa keine offizielle Krankenversorgung nutzen können und sich in permanenter Abschiebegefahr befinden, bis zu Flüchtlingen, die durch
entsprechende Gesetze sogar einem Arbeits- und Studierverbot unterliegen und denen untersagt ist, den ihnen zugewiesenen Landkreis zu
verlassen.
Eine wichtige Funktion im Diskurs über die Einschwörung auf das neue, ›gesamtdeutsche Kollektiv‹ übernahm auch die Presse. Insgesamt waren die
90er von einer rassistischen Bildproduktion geprägt: »Das Boot ist voll«,
»Flüchtlingsströme«, »Asylantenflut«, »Asylmissbrauch«... Diese
Bilder manifestieren und illustrieren die sprachliche Rhetorik und den
politischen Kurs. Flüchtlinge laufen in anonymen Massen medial vermittelt geradewegs ins deutsche Wohnzimmer, ›wissenschaftlich‹ unter73 | Auflösende Bilder
mauert durch Grafiken, die die »Ströme« aus aller Welt direkt nach
Deutschland führen. Die Werbung hingegen nutzt eher die Strategie der
attraktiven Exotik: die exotische Schönheit, der lebenslustige Pizzabäcker ...
Zusammenfassend läuft diese rassistische, stereotype Rhetorik und Praxis darauf hinaus, »die Fremden« immer als »die Anderen« und als Objekte der
Darstellung zu konstruieren (Ansasunis/Kaltenborn 1999, 203).
4.2 Theoretische Ansätze: Dekonstruktion, Postcolonial Studies und Whiteness
»Entkolonisierung (...) heißt, sich auch weiterhin mit dem vorherrschenden Denksystem auseinander zu setzen. Diese bedeutende geschichtliche und
kulturelle Befreiung ist daher ein ständiger Prozess. So gesehen
bekämpft die Entkolonisierung alle herrschenden Formen und Strukturen, seien sie nun linguistischer, diskursiver oder ideologischer Natur.
Darüber hinaus wird die Entkolonisierung mehr und mehr als eine Art
Teufelsaustreibung bei Kolonisierten und Kolonisierenden verstanden.
Für beide Seiten muss es ein Befreiungsprozess sein: bei den Kolonisierten von Abhängigkeit und bei den Kolonisierenden von imperialistischen, rassistischen Wahrnehmungen, Bildern und Institutionen, die wir
bedauerlicherweise bis auf den heutigen Tag erleben.« (Samia Nehrez)
Für die politischen Bewegungen der 90er- Jahre sind verschiedene emanzipatorische
Diskussionen, v.a. aus der poststrukturalistischen, feministischen
Forschung und den postkolonialen Studien bedeutsam geworden, die
teilweise Auswirkungen auf die Formen der Organisierung und die
politische Praxis hatten. Auch für die Bildproduktion und innerhalb des
Kunst- und Popbetriebes sind diese Diskurse relevant geworden. Deshalb möchte ich, bevor ich die Auflösenden Bilder behandele, zunächst
einen Überblick über die theoretischen Ansätze geben, die teilweise
erst sehr verspätet in der deutschen Debatte ankamen und doch einen
entscheidenden Einfluss auf die Diskussionen linker Politik hatten.
Das Zitat von Samira Neherz, das bell hooks ihrem 1994 erschienenen Buch Black Looks.
Popkultur, Medien, Rassismus vorangestellt hat, beschreibt im Kern das
74 | Auflösende Bilder
Spannungsfeld der Postcolonial Studies. In diesem Forschungsfeld, das
sich in den 70er- Jahren in England etabliert hat, geht es um die
Frage nach dem Einfluss der kolonialen Erziehung und Sprache auf die
Kultur und Identität der Kolonisierten. Welche Spuren sind in den
postkolonialen Gesellschaften durch die koloniale Erziehung, Wissenschaft und Technologie zurückgeblieben? Und wie hat die westliche
Wissenschaft, Technologie und Medizin existierende Wissenssysteme verändert? In diesem Zusammenhang werden die Wahrheitssetzungen
der westlichen Welt hinterfragt. Die Kritik der Wahrheitssetzung bezieht
sich auf die Wissensproduktion in Westeuropa in Zusammenhang mit
dem Kolonialismus. Auf der Basis einer ethnozentristischen Logik wurde
ein Wissen über die Welt erzeugt, in welchem sich Europa als »wissendes Subjekt« und die neue Welt als zu »erforschendes Objekt« konstituierten. Um das Eigene als fortschrittlich zu kennzeichnen, wurde
Europa »die Wiege der Zivilisation« genannt, während der »Süden« und
der »Orient« als das »Wilde« und »Exotische« inszeniert wurden (vgl.
Gutiérrez Rodríguez, 1999, 41).
Dabei ist das zu Erforschende das ›Andere‹, während sich die europäische Kultur als die
Norm durchgesetzt hat. Diese Perspektive ist auch in das Selbstbild
der ehemals Kolonisierten eingeflossen. Es geht also auch um die Konstruktionsmechanismen des Orients als exotisch und fremd, um die
Wechselwirkung zwischen Fremdzuschreibung und Selbstbestimmung
und um die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen für
Widerstand. Es geht also im Kern darum, all die Geschichten und Bilder,
die unsichtbar sind, weil sie nie die Macht hatten in die hegemoniale
Geschichtsschreibung einzugehen, all diese Nichtbilder sichtbar zu machen und denen, die unterdrückt wurden, eine Stimme zu geben.
Gleichzeitig geht es um die Problematik von Unterwerfung und Herrschaft, die auch Samia Nehrez beschreibt – ein wechselseitiger
Prozess gegenseitiger Abhängigkeiten, der in die Konstitution der
Einzelnen einfließt.
Grundlage für die neuen Perspektiven war eine Wende innerhalb der Sozialwissenschaften hin zu konstruktivistischen, poststrukturalistischen Ansätzen.
Der Konstruktionsbegriff verweist darauf, dass auch Kategorien, die wir
als »natürliche« begreifen, gesellschaftlich hergestellt sind. Mit der
75 | Auflösende Bilder
Einsicht in den konstruktivistischen Charakter unseres Wissens, fand
eine Abwendung von biologistischen und essentialistischen Theorien
statt, die gesellschaftliche Ordnungskategorien als naturgegebene Tatsachen begreifen. Die verschiedenen Kategorien, die eine Identität
beschreiben und zugleich festlegen sollen, wurden auf den Prozess der
Bedeutungsherstellung hin untersucht. Zugrunde liegt die Einsicht,
dass z.B. die verschiedenen Ethnien (oder auch Mädchen und Jungen)
nicht einfach »sind«, sondern durch bestimmte geschichtliche und
aktuelle gesellschaftliche Diskurse und Normen erst zu dem gemacht
werden, als was sie bezeichnet werden, und zugleich selbst aktiv
an dem Prozess der Herstellung ihrer Identität und deren alltäglicher
Reproduktion beteiligt sind. Damit hat sich die Einsicht durchgesetzt,
dass die Wahrnehmung von sich selbst und anderen ein kulturelles
Produkt ist, das im Alltag durch soziale, diskursive und repräsentative
Praxen, in den Medien, in den Wissenschaften und in der Kunst
kontinuierlich hergestellt wird. So hat sich der Blick für die Mechanismen der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit geöffnet.
Den Kerngedanken dieses Ansatzes möchte ich an einem Beispiel, das Michel Foucault
für die Einleitung seines Buches Die Ordnung der Dinge gewählt hat,
veranschaulichen. Dort schreibt er: »Dieses Buch hat seine Entstehung
einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner
Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens
unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und
alle Pläne erschüttert, die für uns die zahlenmäßige Zunahme der
Lebewesen klug erscheinen lassen und unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen (du Même et de L ’Autre)
schwanken lässt und in Unruhe versetzt« (Foucault 1974, 17). Ich
denke, dass die Sicht von Foucault auf den Text von Borges die zentralen dekonstruktivistischen Gedanken zusammenfasst, bei denen es
um die geordneten Oberflächen und damit um die kategorisierte Einteilung von Menschen geht, die das »Gleiche« vom »Anderen« scheiden
soll und die in unserem Alltagsverständnis so selbstverständlich
erscheint.
Borges zitiert in seinem Text eine »gewisse chinesische Enzyklopädie«, in der angeführt ist, dass »sich die Tiere wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem
Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine,
76 | Auflösende Bilder
e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung
gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen
Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen«
(ebenda). Diese Klassifizierung nach einer uns unverständlichen Ordnung, die nur mit speziellem Hintergrundwissen zu erhellen wäre,
stellt für Foucault zugleich die »Grenze unseres Denkens« dar: »die
schiere Unmöglichkeit, das zu denken« (ebenda). Die Tatsache,
dass erst das Wissen um die Bezeichnungen unsere Welt verständlich
macht und ihr den berühmten »Sinn« verleiht, dient nicht nur als
Erklärung für unser Unverständnis gegenüber anderen Sinngebungen,
sondern stellt gleichzeitig unsere Logik in Frage. Im Anspruch der
›Natürlichkeit‹ taucht somit das Element der Willkür auf, das zugleich
Sinnbild für die Gewordenheit unserer Welt ist.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnis basieren einerseits die dekonstruktivistischen
Ansätze aus der feministischen Forschung, die die Bipolarität der
Zweigeschlechtlichkeit in Frage gestellt haben, d.h. die selbstverständliche Annahme von der Dualität der Geschlechter, sowie auch alle
anderen Ansätze, die die Grundlagen des abendländischen Denkens, das
dualistische Weltbild und die der Wissenschaft inhärenten Machtmechanismen kritisiert haben. Die Suche nach einem ›wahren Kern‹,
einer verdeckten tieferliegenden Essenz als Erklärung für menschliches
Handeln, ist der Erkenntnis gewichen, dass Menschen niemals außerhalb von Strukturen existieren, die sie durch ihr tägliches Handeln immer wieder reproduzieren und konstituieren.
In der feministischen Analyse wurde die Auseinandersetzung um Rassismus und um
die Konstruktion von Identitätskategorien v.a. durch den Einspruch
Schwarzer und jüdischer Frauen und MigrantInnen ausgelöst, die sich
in der Identitätskategorie ›Frau‹ und in den auf dieser Kategorie
beruhenden Politikformen nicht repräsentiert sahen. Da die Definition
dieses Begriffs auf den Erfahrungen und den Erkenntnissen Weißer
Frauen beruhte und von dort aus verallgemeinert worden war, konnten
sie sich mit ihren eigenen Lebenserfahrungen und Interessen darin
nicht wiederfinden.
Dekonstruktion bezeichnet in diesem Sinne ein Verfahren, das den Prozess der Bedeutungsherstellung innerhalb bestimmter Kategorien sichtbar machen
77 | Auflösende Bilder
möchte und nach den in diesen Kategorien inhärenten Machtverhältnissen fragt. Im Rahmen der poststrukturalistischen, feministischen
Analyse wurden aufgrund der Kritik an den essentialistischen Identitätskonzepten die Kategorien Geschlecht, Heterosexualität dekonstruiert, d.h. auf den Prozess der Bedeutungsherstellung und Naturalisierung innerhalb des dichotomen Denkens der abendländischen Welt hin
untersucht. Resultat der feministischen Diskussion war die Einsicht,
dass es notwendig ist, die Verzahntheiten der verschiedenen Machtverhältnisse (sexuelle, ethnische, nationale, religiöse, klassenspezifische –
um nur einige zu nennen) in die Analyse zu integrieren (vgl. Gutiérrez
Rodríguez 1996, Janjua 2000, Spivak 1989). Bezüglich der politischen
Organisierung entstand die Frage, wie den verschiedenen, sich überschneidenden und teilweise widersprechenden Identitätsanteilen und
damit verbundenen Interessen Rechnung getragen werden könnte.
Aus der Einsicht in die Verzahntheiten der verschiedenen Machtverhältnisse resultierte
die Warnung einer identitätsbezogenen Organisierung, da die Verschiebung nur eines dieser Machtverhältnisse einer Abspaltung gleichkommt,
die die anderen Identitätsanteile ignoriert. »Ich will Gerechtigkeit
gegen Rassismus, aber Gerechtigkeit gibt es nicht in hübschen kleinen
Päckchen. Es gibt keine Gerechtigkeit für einen Teil von mir, während
der Rest von mir leer ausgeht. Ich kann keine Gerechtigkeit bekommen
von Leuten, die sie in ihren engsten Beziehungen verletzen, in ihren
intimsten Verbindungen mit anderen, und die Frauen als Freiwild ansehen. Sie können mich nicht verstehen, wenn ich über Gerechtigkeit
spreche, weil sie sie nicht praktizieren.« (Janjua 2000, 21). Das Statement einer Schwarzen, irischen Feministin, die lange Zeit die irische
republikanische Bewegung unterstützte, verweist auf die Notwendigkeit,
die Verschränkung der verschiedenen Machtverhältnisse praktisch
anzuerkennen und sie nicht einfach nur per sozialer Übereinkunft als
Lippenbekenntnis zu übernehmen. Daraus resultiert die Empfehlung
einer kontextgebundenen Organisierung in strategischen Bündnissen
und die Hoffnung auf die Überwindung von Identitätskonstruktionen. Die permanente Neudefinition von Identitäten im politischen
Szenario sollte demnach die strategische Funktion der politischen
Forderungen repräsentieren. Insbesondere von Frauen, die sich innerhalb der postkolonialen Kritik an den »Wahrheitssetzungen« der
78 | Auflösende Bilder
westlichen kulturellen Systeme verorten, wurde zu einer Politik der »desidentification« (Entidentifizierung) aufgerufen (vgl. Anzaldúa 1990).
Im Rahmen eines Perspektivwechsels hat sich im angloamerikanischen Raum in den
90er- Jahren, zunächst v.a. innerhalb der Literatur- und Filmwissenschaften, eine weitere Ausdifferenzierung der Debatte durchgesetzt.
Ausgehend von der Kritik, dass sich die TheoretikerInnen bis dahin
v.a. auf sozial konstruierte Kategorien konzentriert haben, die untergeordnet und ausgegrenzt waren (Homosexuelle, Schwarze, etc.) –
und diese damit ein Stück weit als Problem markierten –, ist die Kategorie Whiteness ins Blickfeld gerückt. Diese Kategorie schien bis dahin
unsichtbar und gleichzeitig unproblematisch zu sein, definierte sie doch
die Norm. Wie sich diese Norm auf das Denken und Fühlen, die Sozialisation und die Beziehungen, die Privilegien und Handlungsspielräume
von Weißen auswirkte, war bis dahin nicht Gegenstand der Forschung.
Insofern deutete Whiteness als Forschungskategorie einen Blickwechsel
an, eine selbstbewusste Aneignung der Definitionsmacht und damit
eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Nur so lange Whiteness nicht
ebenfalls als sozial konstruiert identifiziert wurde, konnte sich
dieses Konzept weiterhin als ›natürlich‹ gegeben repräsentieren.
Weiß ist für Weiße eine Nichtfarbe, die Abwesenheit von Farbe so lange wie sie als
Norm definiert ist. Das Allgegenwärtige ist nicht bemerkbar: So
wird die Farbe des Lichts, da Licht immer da ist, nicht gesehen. Luft hat
keinen Geruch, Wasser keinen Geschmack, weil die Stimulation immer
präsent ist. Whiteness wird erst sichtbar, wenn sie mit Blackness kontrastiert wird. Die Norm braucht ›das Andere‹, um sich zu konstruieren und zu repräsentieren. Die Farbe Weiß ist symbolisch aufgeladen:
zugrunde liegt der moralische Gegensatz: weiß/gut, schwarz/böse.
In der christlich-westlichen Welt ist Weiß mit Reinheit, Unschuld, Neutralität, dem Guten, Güte und moralischer Integrität konnotiert.
Zugleich ist Weiß als Hautfarbe variabel und unklar an den Übergängen. Grundsätzlich
gilt, Weiße Menschen sind die, welche Weiße als Weiße anerkennen
und bezeichnen. Sie haben die Kontrolle darüber, wer Weiß ist. Für die
Bildproduktion sind auch die Veränderungen in der Darstellung
interessant: Früher galt das Weißmachen des Gesichts als edel. Weiße
Männer neben Frauen werden meist etwas dunkler dargestellt, weil
79 | Auflösende Bilder
Frauen somit als unschuldig und rein und gut gelten. Je dunkler die
Weiße Hautfarbe, desto ›tiefer‹ die Klassenzugehörigkeit.
Farbunterschiede/-differenzierungen innerhalb von Weißsein werden in
Relation zu Klasse und Geschlecht gemacht. Eine Weiße Frau ist so
Weiß wie sie kann, das Konzept der Whiteness ist zugleich immer auch
mit den Entwürfen Weißer Weiblichkeiten verknüpft (vgl. Dyer 1997, 45).
Nur scheinbar im Gegensatz dazu steht, dass heutzutage eher Bräunen angesagt ist: Es
steht jedoch mit Gesundheit, Freizeit, Reisen und insgesamt mit Wohlstand in Verbindung. Auch wenn es wohl einen Wunsch gibt, Schwarz zu
werden, um sich – im Sinne eines Positivrassismus – Schwarzen zugeschriebene Eigenschaften wie Schönheit anzueignen, wird vom Bräunen
eine Weiße Person niemals Schwarz. Mit dem Braunwerden geht kein
Privilegien- oder Statusverlust einher. Andere Dinge wie teure Kleidung
können auch den Klassenstatus aufwerten und rassistische Abwertung
›ausgleichen‹. Die Aufhellung der Haut Schwarzer ist allerdings nicht so
positiv besetzt. Es wird ihnen unterstellt, sie versuchten ihre Hautfarbe
zu wechseln, was nicht gelingen kann und lächerlich gemacht wird
(Bsp.: Michael Jackson). Manche Menschen sind manchmal Weiß und
manche Weiße sind Weißer als andere. Weiß ist nicht bestimmbar außer
im Gegensatz zu Schwarz. »Und für die Schwarzen Leute bist du eben
weiß und für die Weißen eben schwarz, und dann stehst du da und
fragst dich, ist da jemand, der sich für das, was ich zu sagen habe, interessiert?« (Tate 2003, 171).
»Die weiße Ethnizität zu ignorieren heißt, ihre Hegemonie zu verdoppeln, indem sie
als natürlich dargestellt wird«, schreibt Coco Fusco (bell hooks 1996,
180). In den kritischen Untersuchungen zu Whiteness wird die ökonomische und politische Geschichte, die in die Konstruktion von Whiteness
eingelassen ist, ebenso untersucht wie die kulturellen Praktiken (in der
Kunst, der Musik und der Literatur), die dazu beigetragen haben,
die Kategorie zu kreieren und zu stabilisieren. »Anti-Racist solidarity is
achieved only when basic conditions for self-definition, self-activity,
and community organization have been met. … It may be defined as
the conscious coordination of anti-racist commitment and action across
ethnonational and racial boundaries. Put another way, effectiveness in
anti-racist mobilization depends on the ability to make allies. What is
living and useful about the rather debased construct of multicultu80 | Auflösende Bilder
ralism, what is politically meaningful about it, can be identified with
this concept of solidarity«, schreibt Howard Winant (Winant 2001, 284).
4.3 Widerstand: Antirassistische Bewegungen
Seit Anfang der 80er- Jahre formieren sich verstärkt soziale und politische Praxen, die
aus der heutigen Sicht als antirassistisch bezeichnet werden können,
wenn antirassistische Praxen als politische Praxen begriffen werden, die
in als rassistisch definierte gesellschaftliche oder soziale Verhältnisse
zu intervenieren versuchen. Die Eigenbezeichnung der Agierenden war
dabei selten in Begriffsfeldern von Rassismus und Antirassismus verortet. Es wurde mit Begriffen wie Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass sowie Toleranz, Multikulturalismus und Integration operiert
(vgl. Pech, 126, Hess/Lindner 1997, 165).
Erst die zugespitzten aggressiven Diskurse Anfang der 90er- Jahre führten dazu, dass
antirassistische Arbeit zu einem zentralen Thema verschiedener
Gruppierungen wurde. Diese Arbeit variiert in ihren Analysen, Aktionsformen und dementsprechend in ihren politischen Forderungen. Insgesamt hat die antirassistische Öffentlichkeitsarbeit dazu beigetragen,
die Gesellschaft für Teile ihrer rassistischen Struktur zu sensibilisieren
und Veränderungen herbeizuführen.
Auf der einen Seite hat sich als Reaktion auf den biologistischen Rassismus (wer auffiel, dem wurden alle möglichen natürlichen oder kulturellen Eigenschaften unterstellt, die als minderwertig definiert waren) ein Antirassismus herausgebildet, der versuchte darzulegen, das nicht nur
Deutsche Menschen seien, sondern alle möglichen Anderen zumindest
Auch-Menschen, was erst mal nicht zu einer faktischen Gleichberechtigung führte. Eine andere Strategie war die der sogenannten
Betroffenen, sich anhand ihres jeweiligen Hintergrunds zu organisieren
– einerseits weil sie nicht einsahen, warum sie irgendwie minderwertig sein sollten, andererseits weil es andere Prioritäten gab, etwa die
jeweilige politische Situation in den Herkunftsländern sowie die
Schaffung von sozialen Netzwerken zur Bewältigung des rassistischen
Alltags. Gesamtgesellschaftlich hatten sie allerdings kaum Erfolg, da
MigrantInnen in der Öffentlichkeit nicht vorgesehen waren und schlicht
nicht zur Kenntnis genommen wurden. Dennoch erfüllten diese Netz81 | Auflösende Bilder
werke andere wichtige Funktionen, wie z.B. Räume jenseits von
ständiger Diskriminierung zu etablieren.
Nach 1990 kam eine andere Form von Rassismus auf – kultureller oder sekundärer Rassismus –, der Verschiedenheit symbolisch aufwertete: alle haben sich
voneinander zu unterscheiden, aber bitte an ihrem Platz. Die Argumentation änderte sich – bzw. wurde ergänzt –, das Ergebnis war jedoch
das gleiche. Gegen diese Form des Rassismus formierten sich anti-identitäre Ansätze der Organisierung: Einerseits ein Strang, der sich im
Felde der dekonstruktivistischen Theorien bewegte, dessen Debatten
aber auch nicht hinreichten gesellschaftliche Gleichberechtigung zu
befördern, zumal sie meist federführend von Weißen Männern geführt
wurden. Die theoretische Identitätskritik wurde also teilweise dazu
verwendet, die Forderungen nach Rechten zurückzuweisen, da ja ohnehin alles konstruiert sei und der Verweis auf Ethnien völlig fehlgeleitet. Auf der Seite der sog. Betroffenen formierte sich hingegen eine
anti-identitäre Politik im Sinne der Kritik der fest gefügten Identitäten.
Allerdings bewegte sich diese in Form von subversiver Umbesetzung
etwa des Begriffs Kanaken stark auf einer symbolischen Ebene. Außerdem stürzten sich die Medien auf die »originellen Ghettoburschen«
und verleibten sich die »Freakshowelemente in einen unersättlichen
Differenzmarkt« ein (Steyerl 1998).
Konkret bildeten sich im Laufe der 90er-Jahre verschiedene antirassistische Szenen
heraus: Die bürgerlich-humanistische Strömung, die linksradikalautonome Strömung, die feministische Strömung, verschiedene Formen
der Organisierung von MigrantInnen und Flüchtlingen sowie ein theoretisch ausgerichteter Antirasssimus. Diese Strömungen überschneiden
und beeinflussen sich gegenseitig, viele Gruppen und Einzelpersonen
bewegen sich in mehreren Strömungen.
In der bürgerlich-humanistischen Strömung sind vorwiegend liberal-kritische DemokratInnen tätig, deren Tätigkeitsfelder sich in Beratungsfunktionen abspielen als AnwältInnen, MitarbeiterInnen in Wohlfahrtsverbänden u.a.
Außerdem bildeten sich zahlreiche Arbeitsgruppen im kirchlichen und
humanistischen Rahmen, deren Arbeitsschwerpunkt auf der humanitären und asylrechtlichen Unterstützung von Flüchtlingen lag, wie zum
Beispiel die Flüchtlingsräte oder die Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl.
82 | Auflösende Bilder
Die Forderungen dieser Gruppierungen beziehen sich in erster Linie auf
sichere Aufenthalts- und Bürgerrechte für Flüchtlinge – dominierend
ist ein universeller Menschenrechtsdiskurs mit reformpolitischen Einstellungen. Praktisch wird versucht, dies durch politische Lobbyarbeit, Öffentlichkeitsarbeit sowie Informationsvermittlung, Beratungsstellen und Organisierung von Veranstaltungen und Kampagnen zu
erreichen. Oftmals findet sich hier eine paternalistische Haltung wieder
und in der Öffentlichkeitsarbeit wird häufig didaktisch versucht zu
erklären, »dass auch Ausländer Menschen« seien (Ansasunis/Kaltenborn
1999, 204).
Eine antirassistische Orientierung innerhalb der feministischen Strömung wurde von der
im Theorieteil beschriebenen Kritik Schwarzer Frauen und MigrantInnen
wie beispielsweise der ISD (Initiative Schwarzer Deutscher) forciert. Die
Anerkennung verschiedener miteinander verknüpfter Herrschaftsverhältnisse steht hier im Vordergrund. Der Schwerpunkt der Praxis liegt auf
einer theoretisch-diskursiven Ebene wie in der Bildung von Netzwerken
und konkreter Unterstützungsarbeit.
Die Thematisierung von Rassismus setzte in der linksradikal-autonomen Strömung im
großen Maßstab erst Anfang der 90er mit dem rasanten Anstieg rassistischer Gewalt ein. Dementsprechend befand sie sich größtenteils in
der Defensive. Mit einem explizit systemkritischen Ansatz versuchten
verschiedene Gruppen, einerseits Schutz vor Gewalt und Übergriffen
zu ermöglichen durch Einrichten von Notfall-Telefonen und Anlaufstellen sowie den Widerstand von Flüchtlings- und MigrantInnengruppen
durch Aktionen gegen Abschiebegefängnisse, Lager und prekäre Lebensbedingungen zu unterstützen. Die Forderungen nach »Bleiberecht für
alle«, »offene Grenzen« und »gegen nationalstaatliche Migrationskontrolle« setzte eine Gegenposition zu den herrschenden Abschottungsund Toleranzdiskursen. Mitte der 80er hatte der Schwerpunkt auf staatlichem Rassismus gelegen, Flüchtlinge wurden von den hauptsächlich
Weißen AntirassistInnen als neue revolutionäre Subjekte angesehen
(ähnlich dem Verhältnis der 68er zur Arbeiterklasse). Anfang der 90er
weitete sich die Analyse auf einen Rassismus der Weißen Mehrheitsbevölkerung aus, was zur Folge hatte, dass MigrantInnen und Flüchtlinge
zunehmend als hilflose Opfer betrachtet und objektiviert wurden.
Es entstand eine Polarisierung zwischen der so genannten Antira-Arbeit,
83 | Auflösende Bilder
die als paternalistische und unpolitische Sozialarbeit kritisiert wurde
und der Antifa-Politik, die sich hauptsächlich auf Anti-Naziarbeit
konzentrierte, sowie einem linksradikalen Aktionismus, der oft auf einer
symbolischen Ebene des Verbalradikalismus verblieb. Diese Arbeitsteilung wird seit Ende der 90er versucht auf politischer wie struktureller
Ebene in Ansätzen einer gemischten Organisierung aufzubrechen.
Der Schwerpunkt von Aktionen liegt auf Anti-Abschiebe- und AntiLager-Kampagnen, neuerdings auch auf der Perspektive »globale Rechte
für alle«. In der Bildsprache wird häufig auf dokumentarische Fotos
und viel Text gesetzt, da die Schwierigkeiten bei der antirassistischen
Bildproduktion den MacherInnen häufig präsent zu sein scheinen.
Es finden sich aber auch beispielsweise Plakate, die mit »ausdrucksstarken«, »wilden« MigrantInnen werben, mit einem Schwerpunkt auf
den widerständigen Praxen derselben. Dennoch bleibt dies eine Außenperspektive, die spezielle Projektionen ermöglichen soll. Diese
Außenperspektive ist ein grundsätzliches Problem der antirassistischen
Bildproduktion, denn häufig wird von Weißen Antiras für die
sogenannten Betroffenen gestaltet (vgl. Ansasunis/Kaltenborn
1999, 204).
Die Organisierung von MigrantInnen und Flüchtlingen findet ihren Ausdruck in verschiedenen Kampagnen, wie z.B. der Bleibrechtskampagne der Roma, diversen Netzwerken und Gruppierungen. Im Fokus der Flüchtlingsselbstorganisierung wie beispielsweise von The Voice und der Brandenburger
Flüchtlingsinitiative stehen die Kämpfe gegen Abschiebung, prekäre
Lebensbedingungen durch Arbeitsverbote, Unterbringung in Lagern im
Wald sowie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht. Die Organisierung linker MigrantInnen & FreundInnen wie
beispielsweise kanak attak (siehe auch Bildteil) fordern mit Slogans
wie »no integration«, »Legalisierung für alle« die Mehrheitsgesellschaft
in ihren rassistischen Wahrnehmungen heraus und thematisieren die
prekären Lebensverhältnisse von Menschen ohne Papiere.
Die Debatten des theoretisch ausgerichteten Antirassismus wurden oben beschrieben
und finden ihr Forum in Universitäten, zahlreichen Buchpublikationen,
aber auch in linken Zeitschriften von die beute bis jungle world.
84 | Auflösende Bilder
Hier zeigt sich die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis innerhalb des Antirassismus in Deutschland. Verschiedene Ansätze versuchen dem Rechnung
zu tragen durch das Aufbrechen getrennter Organisierung, der Thematisierung der Weißen privilegierten Position sowie durch eine
verwirrende Symbolpolitik, wie z.B. die Umbesetzung rassistisch konnotierter Begriffe.
4.4 Repräsentation von Widerstand im Bild: Auflösende Bilder
Als Auflösende Bilder habe ich die Bilder zusammengefasst, die in einem dekonstruktivistischen Sinn feststehende Kategorien, Normen und Wahrnehmungsweisen in Frage stellen. Es geht also um Bilder, die eingefahrene
Sehgewohnheiten irritieren und dadurch den Blick öffnen für Unvorhergesehenes und Neues. Die symbolische und materielle Infragestellung
bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse kann dazu beitragen,
einen Prozess des Nachdenkens anzuregen und die Kategorien zu
verschieben. Auch wenn diese Bilder nur eine begrenzte Verbreitung
erfahren, halte ich ihren Gehalt, der gleichermaßen in der Irritation
als auch in der Provokation liegen kann, dennoch für subversiv. Sie versuchen einen rassistischen Blick aufzubrechen oder zu dekonstruieren
und bilden so Widerstand gegen die herrschende hegemoniale Ordnung
ab. Es geht um Bilder, die 1. die Verschiebung von Grenzen thematisieren, also Grenzen übertreten und damit die Durchlässigkeit und Veränderbarkeit von Grenzziehungen aufzeigen, 2. Bilder, die eine
widerständige Aneignung von Medien praktizieren, 3. Bilder, die Aneignung als Subversionsstrategie versuchen und 4. Bilder, die etwa
durch den Text versuchen eine Irritation hervorzurufen, aber auch eine
Gratwanderung darstellen und manchmal an den eingefahrenen Seherwartungen der ProduzentInnen selbst scheitern.
4.4.1 Verschiebung von Grenzen
Grenzen trennen das »eine« vom »anderen«, zerschneiden eine Mitte, die es nicht
gibt, und separieren Menschen entlang dieser willkürlich errichteten
normativ aufgeladenen Trennlinien voneinander. In diesem Sinne
sind Grenzen symbolisch für die Reproduktion dualistischer Wahrneh85 | Auflösende Bilder
mungsschemata und Bilder, und materiell für die Einschränkung der
Bewegungsfreiheit, für Leid, Elend und Schmerz verantwortlich. Grenzen
stellen einen Ordnungsfaktor dar, der die Welt in Kategorien wie »Gut«
und »Böse«, »Weiß« und »Schwarz«, »Normal« und »Abweichend«,
»Innen« und »Außen« einteilt. Grenzen stellen einen Ordnungsfaktor
dar, mit dessen Hilfe Menschen, die nicht erwünscht sind, ausgeschlossen oder gefangen gehalten werden. Ich verwende den Begriff der
Grenze hier also in einem übertragenen Sinne, als Metapher für Abgrenzung und Begrenzung.
Da Grenzen jedoch auch flexibel und veränderbar, nicht nur geschlossen, sondern auch
durchlässig sind, da Grenzen geradezu dazu einladen, sie zu übertreten
und zu verschieben, da sich an den Rändern der Grenzen das Abweichende konstituiert, fordern sie eine antirassistische Praxis geradezu
heraus. Die Grenze ist dementsprechend in den 90er- Jahren, wie kein
anderes Symbol, in das Blickfeld des antirassistischen Widerstandes
gerückt. Grenzcamps, die in der BRD und in anderen Ländern durchgeführt wurden, um rassistische Gesetzgebungen und Abschiebepraxen
sowie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in Flüchtlingslagern
zu thematisieren, haben den Charakter der Grenze, der Festung Europa
mit ihren Ausschlussmechanismen immer wieder in symbolischen
Aktionen thematisiert. Darüber hinaus hat sich im Rahmen der AntiLager-Bewegung ein breites Spektrum von Praxen, die sich gegen
die Internierung von Flüchtlingen in Lagern richten, entwickelt, in
deren Dokumentation der Angriff auf Grenzzäune sichtbar wird.
Diese dokumentarischen Fotos, die das Rütteln an den Zäunen von Abschiebegefängnissen, die Entzaunung von im Bau befindlichen Flüchtlingslagern
bis hin zur Befreiung von Flüchtlingen mittels der Zerstörung und Öffnung von Zäunen festhalten, zeigen symbolisch und materiell eine
Auflösung an. Die Grenze zwischen »uns« und »denen« wird eingerissen,
die Demarkationslinie überschritten bis hin zur Befreiung der Eingeschlossenen. Häufig dienen die Aktionen der Unterstützung von (Massen-)Protesten (Aufständen, Hungerstreiks, etc.) innerhalb der Lager.
Allerdings bleibt in der symbolischen Anordnung der Aktionen die Frage: wer verschiebt hier die Grenze?, da die Bilder der Lesart Vorschub
leisten, dass die militanten Weißen AntirassistInnen die ›hilflosen‹
Flüchtlinge befreien. Es haben sich diese Anordnungen beispielsweise
86 | Auflösende Bilder
im Rahmen der gemischten Organisierungsprozesse der Anti-Lageraction-Tour und der Antirassistischen Grenzcamps auch teilweise
verschoben: Wenn früher die Flüchtlinge drinnen waren und die mehrheitlich Weißen AktivistInnen draußen vorm Zaun, so gibt es jetzt
gemeinsame Bewegungen in die Lager, um die Isolation zu durchbrechen, sowie aus den Lagern heraus. Ausdruck versucht dies in
Praktiken wie Blue & Silver (blaue Overalls, Puschel, afrikanische Trommelrythmen, mehrsprachige Protestslogans und afrikanisch-europäische fighting-songs) zu finden, die die später beschriebene Tutti
Bianchi Strategie weiterentwickelt haben. Im Übrigen wurde das
gemeinsame Auftreten in blauen Overalls von einem Aktivisten der
Flüchtlingsinitiative Brandenburg als öffentlichkeitswirksames Aufbrechen der rassistischen Norm interpretiert, wonach (›Schwarze‹)
Flüchtlinge und (›Weiße‹) Nicht-Flüchtlinge prinzipiell unterschiedlichen Personenkreisen angehören würden und deshalb nicht
Mitglieder derselben Gruppe sein könnten.
Die ersten beiden Bilder zeigen eine großangelegten öffentliche Aktion in Bologna im
Januar 2002 (s. Abb. 13 & 14), bei der Teile eines im Bau befindlichen
Abschiebe-Internierungslagers CPT (centri di permanenza temporanea, vergleichbar mit den deutschen Abschiebegefängnissen) zerlegt wurden.
Über 100 italienische disobedienti, Ungehorsame, wie sie sich selbst nennen, entzaunen zuerst das Gelände und demontieren dann die Anlage.
Sie schaffen es, in dem Moment ihres Agierens eine symbolische Aussage
und eine militante Aktion zu verbinden. Auch wenn die Aktion weniger
auf diesen symbolischen Gehalt angelegt war und vielmehr den Protest
gegen den staatlichen Rassismus und das Lagersystem zum Ausdruck
bringen sollte, entsteht ein Bild, das ich als Auflösendes Bild bezeichnen würde. Innerhalb des oben beschriebenen Spannungsfeldes
findet eine Verschiebung der Grenzen, ein Angriff auf das »Innen« und
»Außen«, Dazugehören und Ausgeschlossensein der Flüchtlingspolitik
statt (vgl. Sahara 2005).
Unter der gleichen Perspektive lese ich die nächsten Bilder. Sie sind bei der Demontage
eines Zaunes von einem Lager für minderjährige Flüchtlinge in Deelen
in den Niederlanden im Sommer 2003 entstanden (s. Abb. 15). Die Akti87 | Auflösende Bilder
vistInnen, die in der Tradition der Tutti Bianchi 28 in weißen Overalls zu
sehen sind, haben diese Aktionsform de-fencing genannt, ein Wortspiel,
das einen Perspektivwechsel beinhaltet. Das amerikanische Wort
»fence« bedeutet Zaun, de-fence Verteidigung. Damit wird zum Aus-
13
14
druck gebracht, dass sich die Aktion für etwas ausspricht: für die Verteidigung der Rechte und Lebensbedingungen minderjähriger MigrantInnen. Die in Weiß gekleideten, die den Unsichtbaren eine Stimme geben
wollen, bleiben allerdings auch in der paternalistischen Position: sie
geben. Durch das Weiß ihrer Overalls wird der Kontrast zu den Flüchtlingen nur noch deutlicher. Diese sind dennoch aktiv in den Prozess
eingebunden. Sie beteiligen sich an der Demontage der Zäune und
zeigen, was sie von diesen halten, indem sie strahlend darauf
herumspringen.
Diese Auflösenden Bilder sind jedoch nicht neu – sie sind so alt wie der Wunsch nach
Freiheit. Gefängnismauern einzurennen und Gefangene zu befreien, die
Fesseln zu sprengen – das sind alte Bilder, die diesen Wunsch markieren, festgehalten auf Stichen und Ölbildern. Die hier vorgestellten Bil28 Die Tutti Bianchi (ital.: ganz in Weiß) wollen die in der Gesellschaft Unsichtbaren sichtbar machen die Illegalen, Arbeitslosen, Obdachlosen. Es ist ein Aktionskonzept, bei dem die AktivistInnen in
Italien einen weißen Ganz-Körper-Overall tragen und bei Aktionen oft mit erhobenen Händen gehen,
um zu demonstrieren, dass sie ohne Angriffswaffen auftreten. Tutti Bianchi gibt es mittlerweile in
mehreren Ländern, in den USA tragen sie allerdings gelbe Overalls, um Assoziationen mit den Ku-KluxKlan zu vermeiden.
88 | Auflösende Bilder
15
der stehen allerdings in einem neuen Bedeutungskontext, in einem neuen Diskussionszusammenhang, der darauf abzielt, die symbolische
Ordnung der Dinge zu zerstören. Auch wenn der symbolische Gehalt
nicht intentional war, kann das Bild nicht außerhalb dieser Bedeutungsebene gelesen werden.
89 | Auflösende Bilder
4.4.2 Widerständige Aneignung/Selbstermächtigung
Genau an dem Punkt setzt Kanak TV an. Es will die »Opferposition« von Flüchtlingen
und MigrantInnen und damit die Angewiesenheit auf die moralische
Gutwilligkeit der Weißen Mehrheitsgesellschaft hinter sich lassen. Durch
Provokation will dieses Projekt die Maske der Multi-Kulti-Gesellschaft,
die die Anderen mit ihrem exotisierenden Blick festschreibt, demontieren. »Wir waren genervt, dass MigrantInnen seit Jahrzehnten immer
nur ihre Exotik präsentieren sollen. Dass die weißen Deutschen sie zu
Medien-Objekten machen, exotisieren, mit Fragen auf Klischees
reduzieren«, schreiben Sun-Ju Choi und Mitiadis Oulis in ihrem Artikel
Kanak-TV – der offensive Blick (Choi/Oulios 2005, 222).
Dieser Widerstand gegen die vorherrschende Repräsentation funktioniert über die Aneignung der technischen Möglichkeiten, und damit über die Macht
der JournalistInnen und der Kamera zu befragen anstatt befragt zu werden, selbst zu repräsentieren anstatt repräsentiert zu werden. »Das
Mikro, die Kamera verleiht dir Autorität. Nutze sie!«, lautet die Aufforderung an MitstreiterInnen. Beispiele sind die Standbilder aus dem
Clip, der anlässlich einer Festveranstaltung der Stadt Köln zum 40-jährigen Jubiliäum des Anwerbevertrages mit der Türkei gedreht wurde.
Die vornehmlich Weißen BesucherInnen dieser Veranstaltung wurden
von den Kanak TV-ModeratorInnen nach ihrer Perspektive auf die
deutsche Gesellschaft befragt: »Ist Frauen zu schlagen – wie ich hörte,
beispielsweise Dieter Bohlen, ein deutscher Sänger – Teil Ihrer
Kultur? (Reaktion s. Abb. 16) Der ehemalige Coach der deutschen Fußballmannschaft, Christoph Daum, nahm sehr viel Drogen, ist das
Bestandteil Ihrer Kultur?« Hier werden die Pauschalisierungen, die in
bezug auf MigrantInnen üblich sind, umgedreht. Bei einer anderen
Technik werden die Personen auf Englisch befragt, wodurch die Souveränität der Sprachmächtigkeit umgekehrt wird. Hinweise auf die übliche
Arbeitsteilung, MigrantInnen als KellnerInnen während die Weißen
die Arbeitsmigration feiern, dekonstruieren das Abfeiern der »Toleranz«.
Ein weiteres Beispiel ist der Kanak TV-Clip Weißes Ghetto in dem es darum ging, den
Integrationsdiskurs anzugreifen – einen Diskurs, der dazu dient, zentrale Rechte zu verweigern, und der zum Maßstab für die Behandlung
von Leuten mit migrantischem Hintergrund in Deutschland geworden
90 | Auflösende Bilder
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18
ist. Die Medien unterstützen diese Sichtweise durch Reportagen, in
denen durch bestimmte Ausschnitte aus so genannten »Ausländervierteln« die »Desintegration« besonders deutlich gemacht werden soll.
»Denn eigentlich ist es nicht möglich, nicht integriert zu sein. Die Frage
ist, welches der vielen Rädchen du im System bist. Die Integrationsdiskussion macht aus Inländern Ausländer, auch um über soziale Ungleichheit zu schweigen«, kritisieren die AutorInnen. Die beiden
Standbilder aus dem Film zeigen einmal eine Situation, in der eine Frau
gefragt wird, was sie vorschlagen würde, damit sich die Deutschen
besser in die Gesamtgesellschaft (die ja »bunt« sei) integrieren können?
Das Bild der Irritation (s. Abb. 18 ), die durch diese Frage bewirkt
wird, spricht Bände. »Wie bitte, die Deutschen?« stottert sie, auf das
»Ja«, antwortet sie mit einem doch etwas verunsicherten »Ich denke,
wir sind integriert.« In dem Bild des Kanak TV-Reporters (s. Abb. 17) wird
der Reportagestil imitiert, in dem über migrantische Ghettos als
Problembezirke berichtet wird, und setzt so einen ganz anderen Fokus:
die ausgrenzende deutsche Gesellschaft, das Problem, sind hier die
Weißen. Natürlich sind diese Bilder nur dann lesbar, wenn man den Film
dazu kennt, sie dienen hier eher zur Illustration. Auflösende Bilder
machen von dem Medium Film verstärkt Gebrauch, da sich hier die flüssigen Übergänge und das Irritieren der Blickerwartungen anscheinend
leichter umsetzen lassen.
»Der Ausgangspunkt war für unsere Gruppe in Köln, eine Methode zu finden, mit der
man zeigen kann, dass wir es nicht akzeptieren, wenn über die
Köpfe der Eingewanderten hinweggeredet wird. Voraussetzung unserer
Arbeit war, dass wir die Vordefinition von bestimmten Begriffen
und Diskursen abgewiesen haben«, schreiben die AktivistInnen. Ich
habe diese Bilder deshalb zu den Auflösenden Bildern gezählt, weil sie
mit dem rassistischen Blick bewusst brechen, indem sie Situationen
und Bilder produzieren, die irritieren, lieb gewonnene Selbstverständlichkeiten ins Wanken bringen und provozieren. Alte Sehgewohnheiten lösen sich auf, bestimmte Erwartungen werden enttäuscht, Normen werden dekonstruiert. Die selbstbewusste Aneignung der Technik
und der SprecherInnenposition sowie der Macht zur Selbstrepräsentation bricht mit der Tradition der exotisierenden Zuschreibungen und
Stereotype. Dennoch nimmt Kanak TV so etwas wie eine Avantgarde93 | Auflösende Bilder
position innerhalb der MigrantInnen-Community ein, da viele MigrantInnen nicht (aufgrund von unterschiedlichem Know-how und Sprachkenntnissen) dieselben Möglichkeiten haben, sich eine solche Position
anzueignen.
4.4.3 Aneignung als Subversion?
Gibt es eine Verbindung zwischen Fummel tragen, Transvestitentum, Transsexualismus
(drag) und Subversion? Ist der Versuch Schwarzer als ›Weiß‹ durchzugehen (passing) eine Form von Widerstand? Judith Butler hat in ihrem
Buch Körper von Gewicht darauf hingewiesen, dass drag keine sekundäre
Imitation ist, die auf eine primäre, ursprüngliche Geschlechtsidentität
verweist. Vielmehr sei die hegemoniale Heterosexualität selbst ein
andauernder Versuch, die eigenen Idealisierungen zu imitieren. Damit
ist der Hinweis darauf umschrieben, dass es nichts ›Ursprüngliches‹,
›Eigentliches‹ gibt, sondern dass auch Kategorien wie Geschlecht im alltäglichen Handeln immer wieder hergestellt und reproduziert werden
(vgl. Butler 1995, 178).
Körper werden durch ein bestimmtes Wahrnehmungsraster gesehen, Gesten und Bewegungen sind nie frei von Bedeutung. Aus dieser Überlegung resultiert
die Frage nach dem subversiven Gehalt von Transgenderpraktiken (drag),
der in der Möglichkeit liegt, den Konstruktionscharakter der Geschlechtsidentität aufzuzeigen. In der Imitation wird deutlich, dass der
Versuch der hegemonialen Geschlechtervorstellungen, mit den eigenen
Idealisierungen übereinzustimmen, niemals vollendet werden kann. Die
Konstruktion von Geschlecht und Heterosexualität spielt sich in einem
komplexen Gefüge von Normen ab, die in die Einzelnen hineinwirken
und von den Einzelnen produziert werden. Und drag parodiert diesen
Versuch, zeigt die Unvollkommenheit auf. »In diesem Sinne also ist drag
in dem Maße subversiv, in dem es die Imitationsstruktur widerspiegelt,
von der das hegemoniale Geschlecht produziert wird, und in dem es den
Anspruch von Heterosexualität auf Natürlichkeit bestreitet«, schreibt
Butler (ebenda).
Passing steht für »passieren« »durchgehen«29 – entweder als ein anderes Geschlecht
29 Auch wenn es Positionen gibt, die passing als das selbstbewusste Einnehmen einer nicht kategorisierbaren, nicht eindeutig identifizierbaren Position beschreiben.
94 | Auflösende Bilder
oder als eine andere Hautfarbe. Auch hier soll das Augenmerk durch die
Problematisierung auf die sozialen Konventionen gelenkt werden,
derer sich gleichermaßen die als Weiß Durchgehenden und die sich als
Weiß Ausgebenden bedienen, um als Weiß durchzugehen (vgl. Butler
1995, 235).
Passing transportiert die Sehnsucht nach der von Weißsein ausgehenden Freiheit, nach
Klassenmobilität und die Macht der Verführung. Es geht auch in diesem
Fall um ein idealisiertes Bild von Weißsein, ein Bild, das Geld und
Macht, Mobilität und Freiheit mit der Weißen Hautfarbe assoziiert und
damit all das ausschließt, was sich an den Rändern dieser Vorstellungen
konstituiert. Diesem Ideal hecheln die Einzelnen gleichermaßen hinterher – egal, auf welcher gesellschaftlich zugeordneten Position sie
sich befinden. Es geht also auch in diesem Fall um die Imitation und
den Herstellungscharakter, die Gesten und die Verhaltensweisen. Und es
geht um die Macht der gesellschaftlich anerkannten Position.
Bringt die Ära der drag kings nun den Anstoß zum langerwarteten Ende der Zweigeschlechtlichkeit, oder bleibt das subversive Spiel mit der vermeintlichen
Männlichkeit und der Hautfarbe auf Bühne und ZuschauerInnenraum
beschränkt? Diese Frage könnte man dem Film Paris is burning (1991),
der unter der Regie und in der Produktion von Jennie Livingston
entstanden ist, voranstellen. Auf drag-Bällen in New York, die von afroamerikanischen und latino-›Männern‹ besucht und organisiert werden,
findet ein Wettkampf um die Perfektion der Imitation statt. Die in verschiedenen Häusern (Zusammenschlüssen) organisierten Darstellenden
treten gegeneinander an, imitieren verschiedene Weiblichkeiten bzw.
verschiedene Weißheiten aus den oberen Gesellschaftsschichten. Die
beste Imitation wird ausgezeichnet. Da nicht alle in die Rolle des Showgirls oder -boys passen, wurden Kategorien für alle erfunden: pretty
girl, fashionable winterdressing, luscious body, wealth, schoolboy/schoolgirl
realness, town & country, executive realness, realness (so hetereosexuell
wie möglich, wie ein richtiger Mann/wie eine richtige Frau aussehen)
und viele mehr. »Du kannst alles sein, was du willst, jemand anderes
sein« – zumindest auf der Oberfläche. Es geht um die Nachstellung von
Geschlechtsidealen und rassistischen Normierungen. Es geht um das
Parodieren von herrschenden Normen. Durch das Aneignen einer anderen Rolle/Performance, eines anderen Gestus besteht die Möglichkeit,
95 | Auflösende Bilder
die damit verbundenen Attribute von Macht und Ansehen auszukosten.
Dennoch bleibt die Frage, ob die Normen subversiv genutzt werden oder
ob sie nicht lediglich wiedereingesetzt und reproduziert werden.
bell hooks kritisiert an diesem Film die Nicht-Thematisierung des Hintergrundes der
Filmemacherin Livingston: Weiß und lesbisch – und damit das Verschweigen dessen, dass der Film ihre Perspektive und ihren Standpunkt
vertritt und nicht den der an den Bällen Partizipierenden – sowie die
auch damit verbundene potentielle wie reale Rezeption der ZuschauerInnen. Livingston nähert sich den Bällen als Außenstehende, in den
Filmrezensionen wird sie zur einfühlsamen Regisseurin, »die sich zu
einem zeitgenössischen ›dunklen Fleck‹ vorwagt, um Informationen
über die ›Eingeborenen‹ zu holen« (Hooks 1996, 186). Die Rituale und
Bälle würden in der Weißen Rezeption wie Regiearbeit auf ein lustiges
Spektakel reduziert. Weißsein würde nicht in Frage gestellt – bzw. das
Darunter-Leiden –, sondern als ideale Schönheitsnorm abgefeiert.
Ich habe ein Bild der Balldarstellerin Venus Xtravaganza ausgesucht (s. Abb. 19), um zu
verdeutlichen, dass die Möglichkeit des passing zumindest die SchwarzWeiß-Kategorien aufbricht und in Frage stellt. Venus beschreibt ihren
Wunsch nach der Welt der Weißen, nach schönen Kleidern und Reichtum, und zeigt in ihrer Performance ihre potentielle Zugehörigkeit – zumindest auf der Oberfläche, wenn auch ihr Lebensalltag eher dem Gegenteil (Armut und Diskriminierung) entspricht. Damit wird die Realität
von Menschen ins Spiel gebracht, die sich nicht eindeutig festlegen
lassen, was die ganze Dichotomie ins Schwanken bringt.
An der Kategorie wealth (Reichtum), aus der das Kapitänsbild (s. Abb. 20) kommt, lässt
sich eine Studie der Gesten der Dominanz betreiben. »Alles ist deins!
Das ist das weiße Amerika. […] Die Fischer-Price-Kids spielen nicht auf
einem Betonplatz. Sie spielen im Garten.« (Begleitstimme aus dem
Film).
96 | Auflösende Bilder
19
20
4.4.4 Irritation und die Konstruktion des Anderen –
Warum gut gemeint nicht gut gemacht ist
Erwartungen irritieren, lieb gewonnene Sehgewohnheiten in Frage stellen – Der schöne
Schein 30, eine Kampagne der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, die im Sommer 1997 mit Plakaten, Inseraten und TV- und KinoSpots lanciert wurde, scheint auf diese Devise zu setzen. Die Plakate
und Filmspots zeigen, wie es in der Pressemitteilung heißt, »eindringliche Bilder von Minderheitenangehörigen in der Schweiz: eine jüdische
Frau, ein schwarzer Knabe, ein fahrender Scherenschleifer, ein chinesischer Koch, ein Asylbewerber-Paar, ein türkischer Mechaniker, ein
schwarzer Disc Jockey…«. Schon an der Aufzählung lässt sich die Serie
an Klischees und Stereotypen ablesen, die hier reproduziert werden.
Vielleicht überflüssig zu sagen, dass die Jüdin natürlich eine ›schöne
Jüdin‹ darstellt, der fahrende Scherenschleifer einen ziemlich gezwirbelten Schnauzbart besitzt, der Discjockey sehr volle Lippen hat, etc.
Allein der Text soll hier den gewohnten Sehkontext aufbrechen, irritieren – ein
Beispiel dafür, wie es nicht funktioniert. Wie schon eingangs in dem
Kapitel zu Nichtbildern erwähnt, ist es häufig der Text, der die Bilder
erst in einen bestimmten Kontext einordnet, ihnen Bedeutung verleiht.
Indem der Text die Erwartungshaltung der LeserInnen irritiert, schafft
er eine Verunsicherung und kann zum Nachdenken anregen. Der Text
auf der Plakatserie der Kampagne spielt denn auch mit dieser Möglichkeit. Name, Alter, Beruf der Abgebildeten und die Slogans »Ich gehöre
zur Partygemeinde«, »Ich bin einer von Euch« stehen als Überschrift
über dem Bild. Erst auf den zweiten Blick fällt die Einschränkung in der
Unterzeile ins Auge: »Solang’ ich am Plattenteller stehe«, »Solang’
Eure Autos laufen«... Sicherlich gut gemeint, will diese Kampagne den
Rassismus, der sich »hinter der schweizerischen Alltagsoberfläche verbirgt«, thematisieren (Presseerklärung der EKR). Die Kampagne soll
laut Pressemitteilung den Alltagsrassismus ins Bewusstsein bringen, ihn
beim Namen nennen, das Schweigen brechen und den Diskurs öffnen.
30 Die Kampagne Der schöne Schein wurde in New York mit dem goldenen United Nations Award 1997
ausgezeichnet und gewann 1998 den ersten Preis des Art Directors’ Club ADC Schweiz.
98 | Auflösende Bilder
Doch bevor die BetrachterInnen in ihrer Wahrnehmung bei dem aufzubrechenden Diskurs angekommen sind, hat sich schon längst eine Anordnung ins Auge
eingeprägt, an der sich nichts verschiebt. Nicht nur dass in der Anordnung des Bildes Stereotype reproduziert werden, indem besondere
Gesichtspartien, wie etwa die dunklen Augen der ›schönen Jüdin‹
oder der Schnauzbart oder die vollen Lippen im Zentrum des Bildes platziert sind, da nur ein Ausschnitt des Gesichtes gezeigt wird. Auch
der Text macht diese Menschen deutlich als die ›Anderen‹ sichtbar und
reklamiert lediglich, dass sie rassistisch behandelt und ausgeschlossen
werden. Das Beispiel ist also eher ein Nicht-Beispiel für Auflösende Bilder, da die Fremden als Fremde sichtbar gemacht werden, die – so die
21
22
99 | Auflösende Bilder
Skandalisierung – nicht voll dazugehören. Die Kampagne klagt zwar an,
dass die Arbeitskraft konsumiert und der Mensch nicht akzeptiert wird,
verbleibt aber im Duktus des positiven Rassismus. In der Kombination
von Bild und Text werden so genannte positive Stereotype reproduziert,
die im Alltagbewusstsein weit verbreitet und gerade deshalb so problematisch sind.
Die ›positive‹ Verallgemeinerung (z.B. der Schwarze, der Musik im Blut hat, der Fahrende – Sinto wahrscheinlich –, der natürlich Scherenschleifer ist) ist
aufgrund ihrer Festschreibungen und der Möglichkeit, dass enttäuschte
Erwartungen in »negativen« Rassismus umschlagen, genauso, wenn
auch anders problematisch, wie der normale Alltagsrassismus. Sicherlich
haben die InitiatorInnen der Kampagne diese stereotype Verbindung
zwischen Text und Bild nicht bewusst gewählt, aber dass sie sie gewählt
haben, zeigt den hohen Verbreitungsgrad von Rassismus jedweder Art
in der Mehrheitsgesellschaft.
Ich habe dieses problematische Beispiel deshalb ausgewählt, weil es zeigt, dass der
gute Wille allein nicht ausreicht. Vielmehr besteht die Notwendigkeit
nach einer grundlegenden Selbstreflexion, die die Problematik der
eigenen Whiteness miteinschließt. Guter Wille reicht nicht aus, um
Bilder aufzulösen und zu verschieben. Vielmehr müssen die Konstruktionsmechanismen des ›Anderen‹ als ›fremd‹, genauso in den Blick
genommen werden wie die Mechanismen der Konstruktion des ›Eigenen‹
als ›Norm‹, um eingefahrene Sehgewohnheiten wirklich zu
irritieren und dekonstruieren.
Um auch noch ein gelungenes Beispiel ins Spiel zu
bringen: Das Plakat Das Boot ist voll aus von 1998
irritiert – auch wenn es gestalterisch recht »klassisch« daher kommt – mit den damals weit verbreiteten Flüchtlingsbootbildern die Interpretation
der BetrachterInnen des Bildes, indem es eine
andere Schlussfolgerung aus dem Bild zieht: »deshalb: Grenzen auf!« Somit dekonstruiert es
durch eine einfache Umkehrung die rassistische
Bildproduktion in den Medien – vom Bedrohungsszenario zum Solidaritätsaufruf (vgl. Ansasunis/
Kaltenborn 1999, 206).
100 | Auflösende Bilder
4.5 Weiterführende Überlegungen
Auflösende Bilder sind Bilder, die Grenzen verwischen, Positionen des Dazwischen formulierens, die nicht einzuordnen sind, konstruieren, dekonstruieren
und rekonstruieren sowie versuchen, differenzierte und brüchige Bilder
zu beschreiben. Hier bietet sich ein weites Feld für GestalterInnen
und KünstlerInnen sowie AktivistInnen Bilder umzukehren, in Frage zu
stellen und auseinander zu nehmen.
Auch wenn diese dekonstruktivistischen Methoden die Gefahr der Beliebigkeit und
Entpolitisierung beinhalten – alles ist gleich bzw. hineinlesbar – bringen
einige der Beispiele doch provokative Fragestellungen auf.
Auch die »Zaunbilder« bergen die Gefahr, sich auf die symbolische Kraft dieser Bilder
zu fixieren und damit die sozialen und politischen Praxen, die auf anderen Ebenen Veränderung bringen, aus dem Blick zu verlieren.
Insgesamt stehen die Auflösenden Bilder eher für eine Suchbewegung, und zwar
danach, welche Richtungen gangbar sind und wie mit Bildern umgegangen werden kann, sie suchen nach Schnittpunkten zwischen Theorie
und Praxis, Kunst und Politik. Sie stehen dafür, die Eindeutigkeit, den
Essentialismus und manchmal Dogmatismus auch verlassen zu können
und Wahrnehmungen zu hinterfragen und zum Nachdenken anzuregen.
101 | Auflösende Bilder
V
»Design ist unsichtbar«
(Lucius Burckhardt 1995)
V Schlussbetrachtungen
In dieser Arbeit habe ich Beobachtungen dazu angestellt, welche Strategien angewendet werden, um antirassistischen und antikolonialen Widerstand im
Bild zu repräsentieren. Ausgangspunkt meiner Überlegungen waren Beobachtungen in meiner eigenen gestalterischen und politischen Praxis
sowie Erfahrungen und Produkte von anderen. Da Gestaltung sowohl
von bestimmten Wahrnehmungsmustern beeinflusst ist als auch darauf
aufbaut, habe ich einen weiten Blick zurück auf die Repräsentationen
von antikolonialem und antirassistischem Widerstand geworfen.
Dies sollte dazu dienen, auszuloten, welche Wirkung von Widerstandsbildern emanzipatorische Prozesse unterstützt und wo die Grenzen und Schwierigkeiten liegen. Aus meiner Recherche und den darausfolgenden Beobachtungen haben sich drei grobe Bildkategorien ergeben: Nichtbilder,
Gegenbilder und Auflösende Bilder. Diese Strategien folgen aufeinander
und bestehen nebeneinander.
Das Kapitel Nichtbilder gibt Anlass dazu, sich die Frage zu stellen, welcher Widerstand
überhaupt gezeigt wird, was als widerständig gewertet und wahrgenommen wird und welche Formen des Widerstandes eine marginalere Repräsentation finden? Bei der Sichtbarmachung von Widerstand gilt
es, das Augenmerk auf die Frage zu lenken, wer wen und was sichtbar
macht und aus welcher Motivation heraus. Bei der notwendigen Bezugnahme auf Quellen jenseits der eurozentrischen Weißen Sichtweise
besteht auch immer die Gefahr der Kulturalisierung, des Benutzens
im eigenen Sinne. Andererseits ist es notwendig ohne spektakulären
Duktus, jenseits der westlich geprägten Geschichte der Fotografie,
andere Geschichten wahrzunehmen und anzuerkennen. Das bedeutet,
sich auf andere Geschichtsschreibungen zu beziehen, den Bezug auf
Quellen, die schwerer zugänglich sind, selbstverständlicher werden zu
lassen, die Vielfältigkeit der Perspektiven einzubeziehen und darin
Machtverhältnisse klar zu benennen.
Das Kapitel über Gegenbilder versucht aufzuzeigen, welche Wirkung, aber auch welche
Schwierigkeiten die Sichtbarmachung in sich trägt. Die Repräsentanz
durch individuelle Persönlichkeiten spielt eine große Rolle, birgt jedoch
die Gefahr von Führerkult und Eindimensionalität, dem Verkommen zu
105 | Schlussbetrachtungen
Propaganda und essentialistischen Zuschreibungen. Auch heute
finden sich noch Bildsprachen, die einerseits Mut machen, andererseits
ihre Wirkung verlieren können, wenn sie eher eine herbeigewünschte
widerständige Realität als eine tatsächliche heraufbeschwören. Bei der
Konzentration auf spektakuläre, militante oder symbolische Aktionen
werden außerdem die kontinuierlichen Prozesse alltäglicher politischer
Arbeit, die Widerstand erst möglich machen, unsichtbar gemacht.
Auch die Gratwanderung zwischen kultureller Wertschätzung und kultureller Vereinnahmung (vgl. Hooks 1994, 56) ist in Bezug auf die
Gegenbilder eine wichtige Frage. Hauptsächlich kennen wir das Phänomen der Einverleibung anderer Kulturen als ›Würze‹ für die deutsche
Gesellschaft aus der Werbung, doch ist es auch Thema in der widerständigen Bildproduktion.
Für die Auflösenden Bilder trifft Roland Barthes’ These »Letzten Endes ist die Photographie nicht dann subversiv, wenn sie erschreckt, aufreizt oder gar
stigmatisiert, sondern wenn sie nachdenklich macht« (Barthes 1985,
47f), die ich der vorliegenden Arbeit vorangestellt habe, am stärksten zu. Es stellt sich jedoch immer noch die Frage, welche Repräsentationen von Widerstand einen emanzipatorischen Prozess auf der
BetrachterInnenseite fördern. Die erfolgreichen Momente der Irritation,
die den eigenen Blick und den der anderen ins Wanken bringen,
führen zu einem Weg aus den Dichotomien Gut/Böse, etc. Ungelöst
bleibt das Problem der Vereinnahmung der Bilder durch Weiße
(z.B. AkademikerInnen, die mittels Dekonstruktionsansatz ihre priviligierte Position negieren) und das Problem der unter Umständen
eingeschränkten Dekodierbarkeit der Bilder, da im Einzelfall der historische Kontext nicht rekonstruierbar ist.
Durch die Untersuchung der verschiedenen Epochen habe ich aufgezeigt: die Fotografie
ist kein ahistorisches Produkt. Die Art und Weise der Wahrnehmung
von Bildern ist sowohl bedingt durch den jeweiligen gesellschaftlichen
und politischen Standpunkt der RezipientInnen als auch generell kontextgebunden. Ob jemand auf Fotografien als MigrantIn oder NichtmigrantIn identifiziert und wahrgenommen wird, entspricht also einem hegemonialen Wissen. Dieses Wissen basiert auf der kulturellen Hegemonie
in einer spezifischen Gesellschaft. Hegemonie bezeichnet die vorherr106 | Schlussbetrachtungen
schenden kollektiven Symbole und Interpretationsfolien einer bestimmten Gesellschaftsformation. Diese Hegemonie ist nicht statisch,
sondern gesellschaftlich umkämpft. Daraus ergibt sich immer wieder die
Frage: Welche Bilder brechen und bekämpfen diese gesellschaftliche
Hegemonie?
Insgesamt hat sich gezeigt, dass die verschiedenen Bild- und Repräsentationstrategien
ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen haben. Bei der Repräsentation
von Widerstand geht es in dieser Arbeit um Bilder, die Widerstand im
Bild dokumentieren (Dokumentarfotografie), Bilder, die in ihrem Entstehungsprozess widerständig sind (Aufklärung oder Aneignung) sowie
Bilder, die im Bezug auf die hegemoniale Repräsentation widerständig
sind (beispielsweise Porträtfotografie). Insofern würde ich Barthes’
These widersprechen, denn aufklärerische Fotografie, die erschreckt, ist
durchaus in der Lage, die Veränderung von Verhältnissen zu bewirken.
Letztlich handelte es sich hier aber auch nicht nur um die auf einen Umsturz der
bestehenden Ordnung zielenden Tätigkeiten im Verborgenen (Subversion), sondern auch um eben offensive, sichtbare widerständige Praxen.
Dennoch würde ich sagen, dass im Sinne einer emanzipatorischen
antirassistischen Bildproduktion, die Bilder, die nachdenklich machen,
die Leute zum Zweifeln anregen – Bilder also, die einem das Denken
nicht abnehmen, die mit dem Üblichen brechen, ohne ein Neues festzuschreiben, ein wichtiges ausbaubares Spielfeld ergeben. Denn es geht
nicht darum, die verschiedenen Strategien gegeneinander auszuspielen,
sondern zu versuchen das Spielfeld zu erweitern bzw. zu gucken, welche
Formen unterrepräsentiert sind. Die Analyse der Leerstellen hängt
natürlich sehr vom jeweiligen Kontext, vor allem den anvisierten RezipientInnen ab.
Bei der Suche nach Bildern, die mit hegemonialen Repräsentationen brechen,
beschreibt der Bruch mit diesen einen bestimmten kontextualisierten
Moment, der vergänglich ist, auch weil er – im besten Fall – etwas
verändert. Also hat es Sinn, eine bestimmte strategische Position einzunehmen, aber von ihr ebenso wieder lassen zu können, ohne sie
als starre Wahrheit zu denken.
Mit meinem Rückblick auf die antirassistische Bildproduktion will ich einen Sensibilisierungsprozess für die Konstruktionsprozesse von rassistischen
107 | Schlussbetrachtungen
Bildern sowie die Dekonstruktionsprozesse bzw. Strategien dagegen
anregen – sprich eine Bewusstwerdung über die unsichtbaren Komponenten der Gestaltung – für die widerständige Bildproduktion wie
auch die Gestaltung im Allgemeinen. Ich möchte dazu aufrufen, die
eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, sich ins Wanken zu bringen bzw.
bringen zu lassen. Als zentrale Strategien möchte ich die Notwendigkeit der Thematisierung sowohl der BildproduzentInnen als auch der
RezipientInnen und das Infragestellen gewohnter Orientierungsmuster
vorschlagen.
So stellen auch Kaltenborn und Ansasunis in ihrer Analyse von antirassistischen
Plakaten die Überlegung an, dass »wenn die (weißen) GestalterInnen
ihre eigene ›Betroffenheit‹ bzw. Perspektive in diesen Verhältnissen
formulieren, sich ins Verhältnis setzen würden« (Ansanuis/Kaltenborn
1999, 213) die Bildsprache über das Solidarisieren und blosse
Aufzeigen von rassistischen Verhältnissen hinausgehen könnte. Das
könnte beispielsweise eine thematische Fokussierung auf Zusammenhänge von Machtverhältnissen, strukturelle Ungleichheiten, prekäre
Arbeitsverhältnisse, ökonomischen Ausschluss u.a. bedeuten.
Eine wirksame Methode, gewohnte Orientierunsmuster in Frage zu stellen ist, die privilegierte Weiße Position ins Visier zu nehmen, d.h. Whiteness sichtbar
zu machen und als Problem zu thematisieren. Bei der Fokussierung von
Whiteness muss allerdings berücksichtigt werden, dass jeglicher
Bezug auf die dominante Position die Gefahr einer Bestätigung der
bestehenden Ordnung enthält. Denn Weiße standen immer im
Mittelpunkt der westlichen Forschung und Repräsentation. Das Herauslösen aus der Norm und Unsichtbarkeit muss also mit strukturellen
Veränderungen einhergehen.
Mit der Verwendung, Konnotation und Wertigkeit von Farbe sollte mensch sich in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen beschäftigen, auch in gestalterischen. Die Reflektion von GestalterInnen über die Verwendung der
Farben Schwarz und Weiß und etwaige rassistische Konnotationen ist
unabdingbar. Als Anregung möchte ich abschließend ein Gedicht von
May Ayim31 von 1985 anführen:
31 May Ayim war Diplom-Pädagogin, Logopädin und Lyrikerin. Sie lebte seit 1984 in Berlin. Sie war in
der Schwarzen Community und in der Frauenbewegung aktiv und gehörte 1985 zu den GründerInnen
der Initiative Schwarze Deutsche. May Ayim faßte 1996 den Entschluss, aus dem Leben zu gehen.
108 | Schlussbetrachtungen
Exotik
nachdem sie mich erst anschwärzten
zogen sie mich durch den kakao
um mir schliesslich weiß machen zu wollen
es sei vollkommen unangebracht
schwarz zu sehen
(May Ayim 1993)
VI
VI Quellen
Literatur
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Bildquellen
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2 Informationszentrum 3. Welt (Hg.): Nicht vergeben, nicht vergessen – Deutscher Kolonialismus (1),
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3 Pultz, John: Der fotografierte Körper, Art in Context, Köln 1995
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6 www.deutsche-schutzgebiete.de/schlacht_am_waterberg.htm
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12 Pultz, John: Der fotografierte Körper, Art in Context, Köln 1995
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Hanau, Umbruch Bildarchiv Berlin), Berlin 2005
16 Philharmonie Köln - 40 Jahre Einwanderung: Kanak TV, ca. 9 Min., Köln 2001
17, 18 Weißes Ghetto: Kanak TV, ca. 8 Min, Köln-Lindenthal 2001
19, 20 Paris is burning: Jennie Livingston, USA 1991
21,22 Hürlimann, Annemarie/Roth, Martin/Vogel, Klaus (Hg.): Fremdkörper –
FremdeKörper. Von unvermeidlichen Kontakten und widerstreitenden Gefühlen,
Hatje Cantz 1999
23 HKS 13 (Hg.): Hoch die, Kampf dem. 20 Jahre Plakate autonomer Bewegungen, S. 212,
Hamburg/Berlin/Göttingen 1999
119 | Quellen
Eidesstattliche Erklärung
Ich versichere, die vorliegende Arbeit selbständig und nur unter
Verwendung der genannten Hilfsmittel erstellt zu haben.
Laura Maikowski,
Fachhochschule Potsdam 2005

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