Untitled

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Bisher erschienen von Kai Stainer:
„Schmetterlinge im Bauch„ ISBN: 978-3-934825-52-9
„Eingelocht” ISBN: 978-3-934825-61-1
Himmelstürmer Verlag, part of production House GmbH,
Kirchenweg 12, 20099 Hamburg
E-mail: [email protected]
www.himmelstuermer.de
Foto: Mark-Andreas Schwieder, www.statua.de
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg.
www.olafwelling.de
Originalausgabe, August 2007
Digitale Ausgabe Juni 2012
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
ISBN print: 978-3-934825-83-3
ISBN e-pub: 978-3-86361-245-0
ISBN pdf: 978-3-86361-246-7
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Kai Steiner
Surfer-Dreams
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In einem freien Staat
müssen Geist und Zunge frei sein.
Tiberius,
Römischer Kaiser,
42 v. Chr.-37 n. Chr.
Für meinen Freund Wolf
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Inhalt
Prolog
Leonardo di Caprio
Überfall auf die Eisenbahn
Erinnerungen
Nishanta
Auf der Suche nach Abenteuer
Zweifel
Helen
Matara
Erste Erfahrungen
Illusionen
Reiserisiken
Kontrolle
Von wegen …
Rückkehr, Sonntagabend
Strandgeflüster
Grundregeln
Wie sollte es weitergehen?
Ein Schlag ins Wasser
Full - Moon - Day
Überraschung
Henkersmahlzeit
Langeweile
Hiobsbotschaften
Begegnungen
Fantasien
Glück gehabt
Die Nacht
Auf zum Surfen
Frei wie ein Vogel
Straferlass
Sehnsucht
Ein Anschlag?
Presseinformationen und mehr
Colombo
Sprachlosigkeit
Entscheidungen am Vorabend
Nachtruhe
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Zu zweit unterwegs
Im Doppelpack
War der Wahnsinn Wirklichkeit
Ich bin schwul!
Neugierde
Scheinheiligkeiten
Ohnmacht
Mario
Annäherungen
Stürme
Durcheinander
Rache
Nicht zu glauben
Ohnmacht
St. Peter Ording
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Prolog
Hurra, Jonathan hatte die Qualifikation als Sportdozent in der
Tasche. Das Examen an der Hochschule für Sport in Köln lag hinter
ihm. Super-Ergebnisse inbegriffen.
Mit stolzer Brust schrieb er sofort Dutzende von Bewerbungen.
Was hatten ihm die Dezernenten der Bildungsministerien und
Schulämter an zahlreichen Stellen zu Anfang seines Studiums
versprochen? „Mit einem Prädikatsexamen und dem Titel eines
Deutschen Meisters im Surfen steht Ihnen alles offen!“
Jonathan war ein Dummkopf und glaubte den leitenden Beamten,
weil er auf ihre Zuverlässigkeit vertraute.
Ihre Versprechungen waren Schall und Rauch.
Jonathan war restlos geknickt.
Lehrer könne nur werden, wer zwei Fächer erfolgreich
abgeschlossen habe und ein pädagogisches Vollstudium mit Examen
vorweise, sagte man ihm jetzt.
„Aber Sie hatten doch ...!”, wollte Jonathan entgegnen, wurde aber
kurzerhand abgewürgt.
„Wir nicht!”, rief man ihm unfreundlich hinterher, als er die Tür
hinter sich schloss, „unsere Vorgänger!”
Der jungen Sportlehrer war also nicht qualifiziert genug.
Und wie sah es mit einem Posten in einem Verein oder in einer
Firma aus? In vielen Unternehmen gibt es Feierabendsport, sein letzter
Strohhalm.
Tatsächlich, Jonathan hätte in zahlreichen Betrieben bereits am
Einstellungstag abends in der Turnhalle stehen können. Nur was haben
sich die Bosse bei der Gehaltshöhe gedacht? Drei bis vier verschiedene
Jobs an einem Tag hätten ihm genügend Einkommen für ein kärgliches
Leben eingebracht. Reine Menschenverachtung!
Von Sportclubs wusste er, dass sie nur über wenig Geld verfügen,
was sich in Gesprächen bestätigte. Vereinstrainer beziehen meistens nur
eine Aufwandsentschädigung. Für ihn ungeeignet. Irgendwie wollte
Jonathan doch leben.
Nein, er hatte die Nase voll. Er fühlte sich im wahrsten Sinne des
Wortes von allen verarscht.
Er beschloss, Deutschland den Rücken zu kehren.
Aber wie und wohin?
Manchmal hat man auch Glück. Selten zwar, aber es passiert.
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Ein Angebot von einem bedeutenden Reiseveranstalter für einen
Einsatz im indischen Ozean: Junger, dynamischer Surflehrer gesucht.
Das war ihm offensichtlich auf den Leib geschnitten. Jung war er
sowieso, dreiundzwanzig Jahre, und Surfen ohne Dynamik ist eine
Nullnummer. Außerdem ein Jahr in Sonne und Wärme wird dem
Körper gut tun und die Seele wieder ins Gleichgewicht schaukeln. Und
von Sri Lanka hatte der junge Mann viel gehört, von seinen
phantastischen Stränden, von den immer lächelnden Menschen und
dem wohltuenden indischen Ozean.
Wenig später saß er im Flugzeug. Sein Ziel: Colombo, von wo er
weiter nach Hambantota im Süden der Insel reisen musste; Surfern
wegen der ständigen Winde, die die Spitze des Landes durchrütteln,
vertraut und auch die Vier-Sterne-Hotels Peacock, direkt am Meer.
Als Jonathan die Stewardess hörte: „Klappen Sie bitte Ihre Tische
hoch! Stellen Sie das Rauchen ein, wir befinden uns im Landeanflug auf
Colombo”, überfielen ihn doch Ängste, weil er keine näheren
Informationen über Arbeitsplatz und Umfeld hatte und überhaupt
nicht wusste, was auf ihn zukommen würde. Zwar hatte er sich eine
Landkarte von Sri Lanka beschafft und seinen Einsatzort gefunden,
aber was hieß das schon? Während er bereits von oben die hohen,
kräftigen Palmen sah, deren Wedel sich im Luftzug des Fliegers nach
allen Seiten neigten, machte er sich Vorwürfe, nicht im Internet
nachgesehen zu haben.
Jetzt jedenfalls begann sein Abenteuer.
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Leonardo di Caprio
Jonathan wachte früh morgens vom leisen Surren des Ventilators
auf. Sein Zimmer, einfach ausgestattet, ohne Aircondition, im zweiten
Stock des Hotels, lag zur Meerseite, von wo der Südwest-Monsun
wehte. Tagein, tagaus.
Es war stickig im Raum, und die leichte Luftbewegung brachte
keine Erfrischung. Oberhalb von Tür und Fenstern Lotusblumen,
geschnitzt aus schwarzem Ebenholz, ihr Kern als Öffnungen
durchbrochen, die für Durchzug sorgen sollten, blieben wirkungslos.
Er glitt aus dem breiten Bett, nachdem er das Laken zur Seite
geworfen hatte. Er war nackt. Leichtfüßig sprang er unter die Dusche
und ließ sich vom schmalen Wasserstrahl berieseln. Das wenige Nass
bahnte sich seinen Weg nach unten, manchmal durch Härchen auf der
Haut gestoppt. Nicht jeder Körperteil wurde vom Wasser erreicht.
Dennoch hatte er das Gefühl, dass es herrlich prickelte.
Erfrischung pur.
Er wühlte in seinen verstreuten Kleidungsstücken herum und
fischte sich eine pflaumenblaue, schon getragene lange Hose heraus: ein
Gemisch aus Leinen und Rayon. Nur sie mochte er anziehen, weil das
Gewebe trotz der Hitze kühlt.
Sie war fast so eng wie seine Lederhosen, die seine zweite Haut
bildeten. Mitgebracht aus Deutschland, musste Jonathan schon am
zweiten Tag feststellen, dass das ein Fehler war.
Leder ist in den Tropen ungeeignet.
Jonathan schnüffelte am Stoff und fand Gefallen am Geruch. Ihm
kam er vor, als stünde er unten am Meer. Dann erinnerte er sich, dass
er mit ihr vor zwei Tagen spät abends im Ozean gewesen gewesen war.
Jetzt verzichtete der junge Surftrainer auf eine Unterhose.
Eigentlich ließ er sie immer im Schrank, wenn er zum Unterricht ans
Meer ging, weil er meist im Wasser arbeitete. Nur für unterwegs zog der
Deutsche die lästigen Dinger an, denn sie bieten Schutz bei unsauberen
Toiletten, und die gibts im Lande zur Genüge. Und Jonathan war
davon überzeugt, dass er auf der langen Reise, die er gleich antreten
würde, des Öfteren Waschräume aufsuchen müsste. Er hatte nämlich
ein freies, verlängertes Wochenende und dieses wollte er mit einem
Besuch in Kandy krönen. Dazu musste er mit dem gestern noch spät
abends für heute Morgen bestellten Taxi nach Matara, und von dort
gings mit der Eisenbahn in den Norden.
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Hoffentlich wird es zeitig vor dem Hotel stehen, dachte er. Er
hatte schon mehrere Male mit der Unpünktlichkeit der Leute
Bekanntschaft gemacht.
Jonathan drehte sich vorm Spiegel nach allen Seiten und befand,
dass sich der Stoff der Hose ganz der Körperform anpasste. Sein Po
war in der Tat so knackig wie ein frischer deutscher Boskop.
Warum ihm das jetzt wichtig war, konnte er nicht sagen.
Wahrscheinlich, weil er eitel war, und er dachte an Mädchen, die gern
feste, runde Apfelbacken streicheln. Das ist in der ganzen Welt
dasselbe.
Ihm kam Helen in den Sinn, Boss der Surfstation und seine
Vorgesetzte. Mit ihr lag er häufig im Bett, ohne verliebt zu sein. Er
mochte sie, das war alles.
Es könnte ebenso eine andere sein, die Petra hieß oder Caroline,
sich Maria nannte oder Kim. Und es gibt viele, die man eben nur mag.
Warum er sich mit ihr eingelassen hatte, was er eigentlich nicht
hätte tun dürfen - der Arbeitsvertrag enthielt hierzu eindeutige
Regelungen - lag klar auf der Hand: Wenn schon eine Chefin, dann
muss man ihr die Flügel stutzen, war seine Meinung. Je kürzer, desto
besser. Das einzige Mittel hierfür ist geiler Sex, glaubte Jonathan, und
den hatte er mit ihr. Regelmäßiges Bumsen wird sie davon abhalten,
ihm ständig Befehle zu erteilen, ihn zu maßregeln oder sogar zu
beschimpfen.
Weil er sie aber nicht liebte, träumte er oft von anderen Girls. Und
weil er viele hübsche, gertenschlanke, einheimische Mädchen gesehen
hatte, zwar immer im Beisein einer weiblichen Begleitperson, träumte er
von ihnen.
Seine Träume werden kaum in Erfüllung gehen.
Junge Mädchen auf dem Lande, wie er hörte, sind nie allein
unterwegs, bis zur Verlobung behütet von der Familie und
insbesondere von den Großmüttern und weiblichen Geschwistern der
Eltern. Wenn Familien nur ahnten, dass wachsame Strenge Lust auf
andere Körper nie besiegt …
Jonathan fragte sich, wie viele ihrer Töchter heimlich einen Freund
treffen, ohne dass irgendeiner davon erfährt?
Jedenfalls hatte er, seit er hier war, und seine Ankunft lag
immerhin schon fünf Monate zurück, kein Glück, obwohl der liebe
Gott ihm ein rassiges Aussehen und einen Körper mit Idealformen
verliehen hatte. Alles stimmte nach seiner eigenen Meinung. Vorn und
hinten. Er blickte an sich hinunter und schmunzelte über die Beule, die
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sich deutlich am Schritt abhob.
Er zog ein gelbes neues T-Shirt mit einem singhalesischen Löwen
über, dem Wappen Sri Lankas. Für ihn wars eine Hommage an die
Insel.
Die tropische Temperatur machte ihm täglich zu schaffen, auch
wenn er sich unten am Meer aufhielt. Sie drückte auf die Lungen und
lähmte an Land die Glieder. Nur im Wasser fühlte er sich wohl.
Die Hauptsache für Jonathan war, dass die Windverhältnisse
stimmten, damit er surfen konnte.
Wenn der Südwest-Monsum sein Unwesen treibt, wie jetzt in den
deutschen Sommermonaten, pustet einem meist ein kräftiger Wind um
die Ohren, wo immer man sich an der West– und Südküste aufhielt, ob
in Bentota, Galle oder Hambantota. Er führt oft Wolken mit sich und
hohe Luftfeuchtigkeit. Als er damals im Januar ankam, sprachen die
Leute vom Nordost-Monsum, und da hatte es manche Tage Windstille
gegeben, und wenn er die Treppe vom Hotel zum Meer
hinuntersprintete, flimmerte die Atmosphäre vor Hitze, und die Stufen
waren kochend heiß.
Barfuß zum Strand liefen Neuankömmlinge nur einmal.
Abends dagegen kühlten Sand und Treppen durch frischen
Seewind ab, und deshalb hielt sich Jonathan zu dieser Tageszeit oft
unten am Wasser auf.
Auch letzten Donnerstag - einer Eingebung folgend - war er,
obwohl es regnerisch war, an den leeren Strand gepilgert. Er hoffte,
eine Meeresschildkröte zu sehen, Einheimische hatten darüber
berichtet.
Als er unten ankam, riss die Wolkendecke auf, wie Jonathan sich
erinnerte. Es war Vollmond, Fullmoon genannt, der jeden Monat bei
seiner Wiederkehr der ganzen Nation einen Feiertag beschert. Dieser
tauchte die Küste in ein fahles Licht, das den rhythmisch auslaufenden
Wellen ein Glitzern verlieh, ein nur Sekunden dauerndes Aufblitzen, bis
die nächste Welle das zurücklaufende Wasser ablöste.
Jonathan liebte diese Stimmung. Mit der Natur eins sein, das war
es, was er fühlte. Kann man das besser als in der Einsamkeit? Er warf
sich auf seine Matte, drehte seinen Kopf zum Hotel hin und
beobachtete die Fledermäuse, die von Balkon zu Balkon flitzten, um die
Insekten unter der Betondecke zu schnappen. Sie sind den fliegenden
Hunden, die man im botanischen Garten von Colombo hundertfach hängend auf den Bäumen - beobachten kann, ähnlich, kleiner natürlich,
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und verfügen über eine Art Radar, das ihnen den Weg zur Beute weist.
Als er lange genug da gelegen hatte, drehte er sich auf den Rücken
und betrachtete den Sternenhimmel, der ihm variantenreicher als in der
Heimat vorkam.
Im Mond wähnte er die Umrisse eines Kaninchens. Das ist viel
hübscher als der Mann im Mond bei uns.
Er dachte darüber nach.
Hat sich das scheue Tier in die Seelen der Einwohner geschlichen,
die ihm immer wieder zurückhaltend schienen? Wer weiß, welchen
Einfluss Gestirne auf Erde und auf Schicksale der Lebewesen haben?
Er lag einen Augenblick still und reglos da. Dann drückte er seine
Füße in den Sand, schnellte hoch, und hopste, als sei er von einer
Tarantel gestochen, mit seinen leichten Hosen ins Meer, zu träge sie
auszuziehen. Es wäre eine Leichtigkeit gewesen! Mag sein, dass es ihm
ohne Badehose peinlich war. Nacktbaden war grundsätzlich verboten.
Aber wer hätte schon nachts danach gefragt?
Hinterher brannten die nassen Hosen auf seiner Haut wie die
Sonne, wenn sie zur Mittagsstunde die von seiner Brust und dem
Rücken abperlenden Wassertropfen ins Nichts entführte.
Plötzlich stand Helen vor ihm.
Sie legte ihre Arme um seinen Kopf und fuhr mit ihren Händen
den feuchten Rücken entlang. Jonathan spürte, dass sie den
augenblicklichen Zauber der kühlen Nachtstunden und des
melancholischen Lichts des Mondes, der sich gerade zur Hälfte hinter
Wolken versteckte, störte.
Er schloss die Augen.
Er roch das Meer und gleichzeitig atmete er den Duft ein, der von
ihr ausging.
Helen bevorzugte ein herbes Parfum. Wiesenkräuter vielleicht. Die
Mischung aus Meeresduft und Schafsgabe, Klatschmohn und
Kornblumen, die stärker als seine Sehnsucht nach Einsamkeit und
Natur war, machte ihn schwindelig.
Jetzt kreiste sie mit ihren Fingerkuppen über seine Brustwarzen.
Unvermittelt riss er sich aber los und sprang zurück ins Wasser.
Sie fragte nicht, warum er so spröde reagierte.
Er tollte in den Fluten, tauchte, verschwand für Sekunden unter
der Oberfläche, schnellte mit einer leichten Welle aus der Tiefe und
wiederholte die Prozedur wie ein Mantra. Mehrere Minuten.
Helen wurde ungeduldig und ließ ihn allein. Sie hatte gemerkt, dass
mit ihm gar nichts anzufangen war.
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Eine schlagende Autotür holte den Surflehrer in die Gegenwart, in
sein Zimmer, zurück.
Er nahm seine Umhängetasche, schaute noch einmal aus dem
Fenster, wiegte sich im Takt der sich vom Wind biegenden Äste der
Gummibäume draußen und horchte auf den Lärm der Koka-Vögel.
Fast so war es am Montagnachmittag gewesen, als die Zikaden
zum Gesang ansetzten, und dieser unverschämte Bengel aus
Deutschland vor ihm stand, gerade, als er sein Zimmer verlassen
wollte..
„Hi, Mann, bist du der Surflehrer?”, quetschte dieser gelangweilt in
Englisch hervor, obwohl Jonathan ahnte, dass er aus Deutschland kam.
Sie hatten gestern die neuen Gästelisten des Reiseveranstalters
erhalten und darunter waren vier Mädchen und ein Junge. Das musste
er sein. Ihm kam in diesem Augenblick dessen Name zu Bewusstsein:
Stasik.
„Und?”, antwortete Jonathan in Englisch. Er ließ sich nicht
anmerken, dass er Deutscher war.
„Ich habe was gefragt, bist du schwerhörig?”, setzte der hoch
gewachsene Junge unhöflich, ja geradezu aggressiv, nach.
„Sag mal, spinnst du?”
Jonathan taxierte den Ankömmling ein.
„Mann, ich hab für euren Scheißkurs ne Menge Scheine
hingeblättert.”
„Du kleine Landratte”, zischte Jonathan ihn auf Deutsch an,
„glotzt beschissen aus der Wäsche und maßt dir an, King zu sein. Bist
du nicht!”
„Und du Wichser glaubst, mir zu imponieren. Tust du nicht!”
Dann verzog er sein Gesicht zu einem herablassenden Grinsen,
das seine Abneigung offenbarte. Obwohl Jonathan ihn nicht weiter
beachten wollte, schielte er vom Boden aus nach oben. Irgendetwas
reizte ihn.
Die Kleidung des Jungen war durchgeknallt. Sie hing wie ein Boxer
in den Seilen, wenn er K. O. geschlagen worden war.
Durchlöcherte, ausgefranste Jeans. Allerdings tragen sie
Jugendliche in der ganzen Welt. Nur um sich von den Alten abzuheben.
Manchmal auch abzuschotten. Auf dem Hintern waren Fetzen
aufgenäht, der Schlitz rot angemalt. Zentrum, oder?
Jonathan überragte den Jungen um einige Zentimeter. Außerdem
war er muskulöser als der Neue. Er machte einen Schritt auf ihn zu und
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beide Gesichter hatten nur noch einen Abstand von einem halben
Meter. Jonathan starrte den Jungen an, und dieser hielt der Prüfung
stand. Er blickte dem Surflehrer in die Augen, wich keinen Fußbreit
zurück.
Das Gesicht war beeindruckend.Es war schwer zu beschreiben.
Länglich, feine Gesichtszüge, grünlich graue Augen, getrennt
voneinander durch einen ausladenden Nasenrücken. Nicht gerade ideal.
Jonathan prägte sich die Lippen ein. Sie waren es, die ihm zu
Anfang den Atem raubten. Die leicht nach unten im Halbrund endende
Unterlippe war etwas wulstig, nicht so, wie bei negroiden Menschen,
und die feinen Rillen standen jeweils rechts und links bis zur Mitte wie
Zinnsoldaten bei geschlossenem Mund bis zur Oberlippe. Im Zentrum
eine tiefere Kerbe, die sich irgendwie am Kinn fortsetzte. Der Mund
war leicht nach oben gekrümmt, seine Ecken warfen winzige Schatten.
Plötzlich wusste er, wem dieses Gesicht ähnelte: Leonardo di
Caprio, der ihn in der Liebesgeschichte von Rimbaud und Verlaine in
den Bann schlug, der unberechenbare, leidenschaftliche und
ungeduldige Junge, der zu allem fähig war.
Jonathan hatte ein ungutes Gefühl. Dieser Junge …
Das Läuten des Telefons unterbrach seine Gedankengänge.
Jonathan schreckte auf, warf seinen Kopf nach links und rechts, als
ob er den Deutschen aus seinem Bewusstsein drängen wollte, und war
wieder bei klarem Verstand.
Dann ging er zurück in sein Zimmer und nahm den Hörer ab.
Der Portier sagte, dass das Taxi gekommen sei.
Der Trainer hatte den Deutschen bereits vergessen, verließ sein
Zimmer, lief den Gang zum Lift entlang, entschloss sich am Fahrstuhl,
die Treppen zu benutzen und sprang, jeweils drei Stufen auf einmal
nehmend, nach unten zur Rezeption. Die Nachtwache, ein mickriges
Männchen mit spärlichen Haaren und fehlenden Zähnen, deutete mit
einem Kopfnicken an, dass er nach draußen gehen solle. Er werde vom
Chauffeur erwartet.
Überfall auf die Eisenbahn
Jonathan hatte kurz nach sechs Uhr den Zug von Matara nach
Colombo erreicht.
Zerbeulte Türen, fehlende Fenster, demolierte Sitzbänke, alles, was
eine Reise erleichtert, dachte Jonathan, doch was machts?
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Ein Gewimmel auf dem Bahnsteig. Als ob ganz Sri Lanka auf
Achse wäre. Leute mit Fahrrädern, Körben, Töpfen, Taschen, Hunden
und sogar Ziegen. Jemand schleppte einen Vogelkäfig. Sie nahmen
keine Rücksicht, drückten andere zur Seite, schubsten nach vorn, traten
rückwärts und drängten auf die Treppen und in die Waggons. Sie
nahmen mit, was ihnen lieb war oder was sie überleben ließ.
Jonathan gelangte in einen der letzten Wagen und bekam gleich in
der ersten Bankreihe einen schmalen Platz.
Die Luft stank unerträglich. Ein Gemisch aus Kokosöl und Bethel,
Zitronen und Bananen, Zimt, Kot, Urin, Hundefell, Reinigungsmittel
und vor allen Dingen Schweiß.
Jonathans Magen revoltierte.
Er schluckte und schluckte. Bloß jetzt nicht kotzen! Der Junge von
gegenüber bot ihm eine sauberes Taschentuch an. Es roch nach Eau de
Cologne. Er hatte eine Universitätsuniform an, saubere schwarze
Hosen, ein weißes Hemd, Krawatte und einen Blazer. Overstiled.
Zwischen der Armut grotesk. Auf dem Schoß hielt er fest umschlossen
einen Rucksack. Gottseidank hatte sich Jonathan heute Morgen für die
Leinenhose entschieden und ein T-Shirt.
Fuhr der Junge etwa zu einem Kongress in die Hauptstadt oder
war es nur Angabe?
Die meisten Fahrgäste waren mit einem Sarong bekleidet, kurz
hoch geschnürt, gehalten mit zwei Knoten oder bis auf die Erde
hängend. Ein Knoten.
Die Frauen trugen einen Sari, und viele waren barfuß.
Der Junge merkte, dass Jonathan ihn von oben bis unten musterte
und wurde verlegen. Er kannte das. Viele Leute betrachteten ihn, und
er glaubte, dass es der Höcker auf der Nase wäre. Das war ein Irrtum.
Der störte nämlich überhaupt nicht sein hübsches Konterfei, im
Gegenteil, er gab ihm einen individuellen Anstrich.
„I am going home, my uncle died”, ließ er Jonathan wissen, als sich
der Zug mit Getöse in Bewegung setzte.
„Ich komme von der Surfschule und möchte nach Kandy!”
„Mm.”
Unter ihnen ein ziehendes Ächzen. Die Achsen!
Das dumpfe Geräusch der Räder verriet ihr Alter. Wahrscheinlich
waren sie nicht einmal geölt.
Wenn das nur gut geht!
Gehört hatte Jonathan, dass die Bahn keinen Termin einhielt.
Verspätung ist ihr einziges zuverlässiges Merkmal.
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Das Tempo steigerte sich. Sie stampften jetzt mit zwanzig
Kilometern die Stunde über die Gleise. Das Rattern nahm zu.
Gespräche? Kaum möglich. Jonathan ärgerte das, hätte er doch
einen Partner gehabt, und der schien intelligent zu sein und hätte ihm
vielleicht ein bisschen Länderkunde beibringen können. Englisch hatte
er in jedem Fall drauf.
Ihr Waggon schaukelte wie eine Hängematte zwischen zwei
Palmen.
Der überfüllte Zug quälte sich von Station zu Station, schluckte
weitere Fahrgäste, die mit sperrigem Gepäck in die Gänge drängten,
Insassen abwechselnd in den Rücken stießen oder ihnen auf die Füße
traten oder sonst wohin. Gekreische, Heulen von Kindern, Schimpfen
strapazierter Leute.
In Galle gab es einen längeren Aufenthalt.
Jonathan musste dringend auf die Toilette. Der Junge und er
stiegen aus. Vor der Toilette fünfzig Männer. Sie hampelten von einem
Bein aufs andere. Es stank wie auf einem gerade gejauchten Feld.
Eigentlich noch penetranter.
Jonathan schreckte zurück, als er in den Raum sah, wo zehn
Personen gleichzeitig vor einer Blechrinne standen. Es schepperte
entnervend. Der Deutsche flüchtete unverrichteter Dinge. Er kniff die
Beine zusammen, was ihm beim Rückzug schwerfiel.
Nur nicht daran denken.
Der singhalesische Student grinste.
Er wusste, was den Deutschen erwartet hatte.
Sie sprangen auf, als sich der Zug in Bewegung setzte, schoben
sich durch die meuternde Menge auf die andere Seite des Wagens,
eingeklemmt zwischen Blech und Haut. Weiter gings nicht. Das
Geräusch der langsamen Räder war eisern und vermischte sich mit dem
Fahrtwind, der durch die rahmenlosen Fensteröffnungen heulte.
Vor Ambalangoda verlangsamte sich die Fahrt nochmals. Der Junge
stellte sich auf die Zehenspitzen und starrte nach draußen. Er war
wachsam und ergriff Jonathans Hand. Durch dessen Adern zirkulierte
das Blut wie ein quirlender Bach.
Kein Dorf, keine Häuser, nur Bäume, Sträucher und
Telegrafenmasten.
Ein Schrankenübergang folgte. Davor standen zig in Militärlook
uniformierte Männer. Ohne darauf zu achten, sagte Jonathan betroffen:
„I am sorry”, weil er sich an das Gespräch von vorhin erinnerte. Er
mochte den einheimischen Jungen, der die übrigen Singhalesen
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rundherum überragte. Er war so groß wie Jonathan und nicht ganz so
dunkelhäutig wie sie.
„ Your uncle, old man?”
„More than that!”, ließ er ihn wissen und lächelte. Es war ein
Lächeln, das Jonathan verwirrte, als es im gleichen Augenblick erstarb.
Es ruckelte, als ob der Lokführer rangierte. Dann stand der Zug
Sekunden still. Ein Gewirr von Stimmen, dann laute Rufe von draußen.
Befehle oder Ähnliches. Der Junge riss Jonathan an sich, drückte den
Türgriff nach unten, sprang auf das Nachbargleis, was gefährlich genug
war, und zog ihn aus dem Waggon heraus. Dann drückte er ihn auf den
Boden hinter einen Bananenstrauch. Von der Lok ein schriller Pfiff,
und die Räder begannen ihr Werk von neuem, sie mahlten sehr
langsam.
Jonathans Herz pochte. Was war los, warum?
Der Junge wies mit dem Kopf auf die Gleise und sie sahen, wie die
in Uniformen gekleideten Männer hinten aufsprangen. Diese zwängten
sich durch die Masse Mensch und blockierten die Wagentüren.
Geschrei, Schüsse und dann bis auf das Geräusch der rotierenden
Räder Stille.
„Horaa, kaarayaa!” (Gangster), flüsterte er, als ob sie uns hören
könnten. Aber der Zug verschwand schon in einer Kurve.
Jonathan verstand.
Dann ließ der Junge ihn wissen, dass man die Fahrgäste um alles
bringen werde, was man zu Geld machen könne, Goldketten,
Armbänder, Ringe, Armbanduhren, Radios, und was immer sie bei sich
führen. Bargeld inklusive. Sollten die Banditen der Meinung sein, dass
der Gegenwert für ihre Belange nicht ausreiche, nehmen sie Geiseln.
Meist Weiße.
„Es verschwinden immer Leute”, sagte der Junge. „Ich heiße
Anura!”
„Jonathan!”
„Jonathan?”
Anura lachte und seine weißen Zähne füllten sein Gesicht aus.
Dann drückte er sich vom Boden ab und stand vor dem hockenden
Surflehrer, ergriff dessen Arme, indem er seine schlanken Hände um
die Handfesseln des Deutschen schloss und zog ihn zu sich in die
Höhe. Beide Nasen berührten sich. Wie aus der Pistole geschossen gab
er Jonathan einen Kuss auf die Wange. Der Zauber des Augenblicks
ließ Jonathans Atem erstarren.
Anura meinte hinterher, er habe das getan, weil er so glücklich
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wäre, ihn vor der Gefahr bewahrt zu haben.
Sie entfernten sich von den Gleisen, schlichen durch Gestrüpp und
Büsche hindurch und befanden sich plötzlich unter ausladenden
Gummibäumen, und Jonathan horchte auf die Musik der Insekten.
Poröses Licht tauchte die beiden in einen undurchsichtigen Schleier.
Wenig später standen sie unter einem von Säulen getragenen
Eingang eines morbiden Steinhauses, wo ihnen ein alter Mann auf
einem schäbigen Stuhl entgegensah.
Die beiden baten um Trinkwasser, worauf ihnen die Frau des
Hauses zwei Gläser brachte. Dann setzten sie ihren Marsch in Richtung
Landstraße fort. Anura sagte, dass man dort sicher einen Bus nach
Colombo und von dort nach Kandy bekommen würde. Das stellte sich
dann jedoch als ein Irrtum heraus, denn inzwischen waren alle Straßen
nach Norden abgesperrt. Überall Militär. Man suchte die Gangster vom
Überfall.
Die jungen Männer beschlossen, sich trotzdem nach Kandy
durchzuschlagen. Irgendwie.
Erinnerungen
Am Abreisetag von Jonathan rekelte sich Stasik abends am Strand.
Vom Überfall auf die Bahn hatte er noch nichts gehört.
Er war allein und das war er gewohnt. Um sich die Zeit zu
vertreiben, startete er das täglich vor dem Surfen zu absolvierende
Dehnungsprogramm: Beine strecken... knapp über den Boden heben ...
Halten ... Knie beugen ... Halten ... Beine in die Ausgangslage ... Halten
... Wiederholen! Zehn Mal. Dann den Reissack benutzen! Gefunden im
Geräteschuppen. Keiner kümmerte sich darum.
Mit rechts in die Luft schmeißen ... Links auffangen ... Mit
derselben Hand werfen. Rechte zum Auffangen freimachen ...
Festhalten ... Wiederholung, zwanzig Mal. Langsam wurde Stasik
atemlos.
Er dachte an Hamburg.
Zuhause war niemand um ihn besorgt. Nur wenn seine alte Tante
auftauchte, hörte er sie des Öfteren seinen Namen rufen. Und hier?
Er warf sich auf die ungleichmäßig geflochtene Bastmatte, aua, ihre
Knoten drückten die Haut. Das tat weh. Er blickte zum Himmel.
Wolken flogen vorbei. Vorboten eines Unwetters?
Stimmung wie im deutschen November. Nur wärmer. Sie
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begleitete und zermürbte ihn.
Weg mit den Fesseln im Urlaub.
Noch engten sie ihn ein. Konnte er sie überhaupt ablegen?
Er hasste sich, weil er, fast noch ein Kind, im Badezimmer seiner
Mutter Dummheiten mit unangenehmsten Folgen gemacht hatte, die
bis in die Gegenwart reichten. Er hat noch ihren Schrei im Ohr, als sie
ihn beim Wichsen ertappte! Ihr Zorn fegte über ihn weg! So hatte er die
Alte noch nie erlebt.
Immer wieder kam ihm dieses Bild vor Augen. Und mit sechzehn
Jahren musste er sich zugestehen, dass er ähnlich wie sie war. Nur
unberechenbarer und unkontrollierter.
Manchmal schämte er sich darüber.
Wenn er an die damalige Szene dachte, lief in seinem Hirn
automatisch ein Endlosband ab. Daher konnte er diesen Tag bis jetzt
nicht aus seinem Leben streichen. Er ließ sie stehen, als ihr Geschrei
abebbte. Das ging sehr schnell, weil sie diszipliniert war. Sie behauptete,
dass sie Disziplin haben musste, um die Kinder ohne Vater
großzuziehen.
Tatsächlich, sie konnte sich zusammennehmen.
Er? Warum sollte er? Für Penner in der Schule? Für Spießer
nebenan? Nein, er nicht! Solln sie ihn doch!
Stasik war immer unter Volldampf.
Volldampf?
Nicht das richtige Wort. Giftgas! Die ihn kannten, stoben
auseinander, wenn er in Sicht war. Zynismus schafft Feinde und trennt.
Das hatte Stasik längst erkannt. Aber es war ihm scheißegal.
Was sollte er mit Leuten anfangen, die nicht so wie er waren?
Und wer war schon so?
Stasik kannte niemand.
Auch nicht unter den Jungen in seiner Klasse oder Schule. Ganz
zu schweigen von Mädchen.
Angepasst bis ins Rückenmark.
Stasik träumte von James Dean in Denn sie wissen nicht, was sie
tun oder Patrick Swazy in Dirty Dancing. Das waren Typen. Ließen
sich nichts gefallen! Arschlecker um sie herum.
Diese Jungen hatten es ihnen gezeigt.
Ja, so wollte er sein.
Jedenfalls hatte ihn seine Mutter seit dem Zusammenprall links
liegen lassen. Sie wollte ihm mit ihrer Ignoranz weismachen, dass Sex
unanständig ist, verwerflich, böse, auch wenn die Jungen in seiner
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Klasse ständig hierüber quatschten und sich durch Sexgeschichten
aufgeilten und mit ihnen prahlten.
Stasik wird aus seinen Gedanken gerissen, als der Mond seine Nase
hinter den Wolken hervorsteckt und sein bleiches Licht den Sand
erhellt. Sofort war er sich wieder bewusst, dass er in Sri Lanka und
nicht in Hamburg war.
Er hatte sich ans Wasser begeben, als die Sonne im Meer versank.
Erst heute fiel ihm auf, dass es in den Tropen keine Dämmerung gab:
Helligkeit, Sonnenuntergang, Dunkelheit.
Wieder kehrte der damalige Vorfall im Badezimmer seines
Zuhauses in sein Gedächtnis zurück, als er die Augen schloss.
Stasik hatte ihn auch mit siebzehn Jahren noch nicht verarbeitet.
Sri Lanka war schließlich das Ergebnis seiner totalen Vereinsamung,
deren Auslöser seine Mutter war.
Oft genug saß er auf den Bänken der Landungsbrücken an der
Elbe: Das Rauschen des Flusses, das Tuten der Schiffssirenen bei
Nebel, das Tuckern der vielen Barkassen, das Gleiten der Lastschiffe,
die Schreie der Möwen fand er irre. Niemand ranzte ihn an, niemand
machte abfällige Bemerkungen oder starrte ihn angewidert und
abwertend an.
Musste er sich früher noch mit vierzehn Jahren aus dem Haus
stehlen, bemerkte ein Jahr später niemand seine Abwesenheit. Sein
Leben hatte das ewige Wintergrau übergestreift. Bis jetzt, und es waren
inzwischen drei Jahre vergangen.
Er war noch unnahbarer geworden.
Plötzlich rutschten Schule, seine Klasse, Lehrer und Mitschüler in
sein Bewusstsein. Ihn kotzten alle an. Besonders der Unterricht. Die
Vorturner wollten ihn ständig zwingen, dass er sich meldete und
Stellung zu tausend Dingen bezog, weil er nämlich als intelligent galt.
Er hat ihnen den Gefallen nicht getan. Auch wenn es ihm manchmal
unter den Nägeln brannte.
Meistens wurde sowieso nur Mist verzapft. Und im Schriftlichen
konnte ihm niemand etwas anhaben. Niemand.
Stasik versuchte, sich von diesen Gedanken zu lösen: Weg mit
seinem Zuhause, diese verfluchte Klapsmühle
Doch wie konnte er es schaffen, sich zu lösen?
Er öffnete kurz seine Augen, nahm die Wolken am Himmel wahr,
weil der Mond ab und zu hindurchblinzelte und klappte seine Lider
wieder nach unten. Gab es auch hier so unterschiedliche Geräusche wie
an der Elbe? Ganz deutlich nahm er den Anschlag des Meeres wahr, die
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sich überschlagenden Wellen und das Ablaufen des Wassers, die
krächzenden Schreie der Krähen in den Palmen neben dem Hotel, das
Bellen herumstreunender Hunde - sie mussten ganz in der Nähe sein.
Wie ein disharmonisches Konzert, dachte er. Jetzt das Klatschen eines
Gegenstandes auf die Oberfläche des Meeres, das er nicht deuten
konnte. Er blickte auf.
Ein Fischer hatte sein rundes Netz vom Strand direkt vor ihm
ausgeworfen und zog es wieder heraus: Wohl nichts gefangen, denn
wenig später, entfernt und leiser, raschelte erneut das Netz, das im
hohen Bogen auf die Meeresoberfläche flog und langsam untertauchte.
Stasik legte sich auf der Matte zurück.
Wieder zogen Bilder der Vergangenheit an seinen Augen vorbei, es
war sein Abflug aus Hamburg, der in den Vordergrund rückte.
Die Geschehnisse waren chaotisch und alles war überstürzt. Als
seine Tante mit ihm zur Bank pilgerte, war ihm die Trostlosigkeit seiner
Jugend bewusst. Wenn man über wenig Geld verfügt, wenn man keine
Freunde hat und wenn die eigene Mutter eine erbärmliche Kuh, eine
Zicke ist,!
„Leg endlich dein vorwurfsvolles Grinsen ab!”, motzte sie. „Werde
endlich ein Kerl, der sich holt, was er will, aber lachend!” Das hatte
seine Tante ihm eingebläut. Sie hatte kurzfristig ein Ticket nach Sri
Lanka für ihn gebucht. Sie wusste warum.
Heute Abend war der Abflug.
Sie ging ohne den Jungen ins Bankgebäude an den Schalter,
nachdem sie ihn aufgefordert hatte, draußen zu bleiben, hielt einen
Stapel Scheine in der rechten Hand, als sie herauskam, hakte den
Jungen mit links etwas entfernt vom Eingang unter und schob ihm das
Geld in die Brusttasche.
„Nimm dus, bezahle die Flugkarte, und gib mir den Rest zurück,
wenn wir uns dahinten im Café treffen”, und sie zeigte in die Richtung,
wo der Treffpunkt sein sollte.
Gesagt, getan, Stasik rannte zum Reisebüro gleich um die Ecke,
blätterte achthundert Euro hin, ließ den Rest des Geldes in der
Innentasche seines Blousons verschwinden und schob die Flugkarten
hinterher. Er wollte keine Zeit verlieren, denn schließlich war die Tante
seines Vaters über achtzig Jahre, war weder geduldig, noch könnte sie
sicher über die Straßen gehen. Eigentlich war sie im Verkehr zu
ängstlich.
Stasik musste sie warten lassen.
Die Ampel stand auf rot, als er die gegenüberliegende Seite der
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Gasse anpeilte. Und genau neben ihm stand ein Polizist. Wäre dieser
nicht gewesen, hätte er sich über das Ampelgebot hinweggesetzt.
Nun schob sich auch noch, während die Ampel auf gelb
übersprang, ein langer Bus vorbei.
Endlich war die Sicht unbehindert und Stasik hatte freie Bahn:
Grün.
Er sah seine Tante in einiger Entfernung am Kantstein stehen,
wippend, als ob sie gleich loseilen wollte.
Stasik schrie.
Das erste Mal, dass er wieder Gefühle offenbarte. Er hatte sie
nämlich gern, wollte es nur nicht zugeben.
Im flutenden Verkehr konnte sie ihn nicht hören.
Sie war längst auf der Fahrbahn und schlurfte auf dem Asphalt
über die Straße. Ein Laster bog unvermutet hinter ihr aus einer
Querstraße ein, und nahm Fahrt auf. Seine Tante lief blindlings gegen
das Fahrerhaus. Fiel rücklings um.
Der Fahrer hatte nichts bemerkt. Wie konnte ers auch bei ihrer
Größe und dem Federgewicht?
Im Nu war der Polizist an Ort und Stelle, beugte sich über sie, riss
die Bluse auf und horchte, ob sie noch lebte. Dann telefonierte er.
Stasik bewegte sich vorsichtig an die Unfallstelle heran.
Der Laster war längst über alle Berge.
Eine Traube von Menschen um sie herum. Was sollte Stasik jetzt
tun? Sich zu erkennen geben?
Er stand wie versteinert im Hintergrund, fünf Meter von ihr
entfernt, aber verdeckt durch Neugierige, direkt am Kantstein. Seine
Tante, das sah er über die meisten Köpfe hinweg, lag friedlich da. Kein
Blut, eine kleine Schramme am Kopf.
Peterwagen heulten, dann quietschte die Bremse eines
Notarztwagens. Ein Mann im weißen Kittel sprang heraus. Mit einem
Satz war er in der Menge verschwunden, jetzt sah Stasik einen weißen
Kittel über seine Tante gebeugt.
Angst überzog ihn. Sie kroch in alle Winkel seines Körpers. War er
Schuld am Unfall, weil er sie solange hatte warten lassen? Würde er
befragt, vielleicht sogar verhaftet, wenn er sich zu erkennen geben
würde?
Quatsch, warum denn?
Er hörte, wie der Polizist sagte: Exitus.
Er schloss für Sekunden die Augen. Wollte nachdenken.
Noch mehr Menschen hatten sich angesammelt.
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