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cult
film
Verlieren lernen
m
NETTO – Robert Thalheims Spielfilmdebut
Marcel Werner redet gern von seiner Karriere
als Personenschützer. „Sicherheit ist das Thema
der Zukunft“, sagt er und erzählt, was er dazu
in Büchern und Zeitschriften gelesen hat. Seit
sein Alarmanlagen-Geschäft vor zwei Jahren
pleite gegangen ist, träumt er von dem neuen
Job. Er wäre ein guter Personenschützer, da ist
er sich ganz sicher. Fuhrwerkt mit den Händen
und erklärt, dass die Gefahr bereits im Anfangsstadium erkannt und dann bekämpft werden
müsse. Wenn die Situation eskaliert, hat der Personenschutz versagt.
Dabei bräuchte Marcel Werner selbst einen
Personenschützer, jemand, der sich um ihn
kümmert. Sein Leben ist seit langem eskaliert,
aber er weigert sich, die Gefahr zu erkennen.
Stattdessen redet er lieber von seiner Karriere
als Personenschützer. Wenn er im Asia-Imbiss
nebenan schnell noch ein Pils zischt und sich
mit dem Mann hinter dem Tresen unterhält,
dann hält die Kamera stur auf Marcels Gesicht,
sein Gegenüber bekommt man nicht zu hören
und nicht zu sehen. Marcel braucht keinen
Gesprächspartner.
Rober Thalheims Filmdebut NETTO ist
eine Sozial-Studie. Über einen, der es nach der
Wende nicht geschafft hat, der sich nicht
eingestehen will, dass er sich verändern müsste,
um weiter machen zu können. Schauspieler
Milan Peschel spielt alle Facetten dieser kauzigen
Figur: Marcel ist unsympatisch, bemitleidenswert, egoistisch, verletzlich, unverschämt und
liebenswert. Aschblonde Haare bilden einen
wohltuenden Kontrast zu der froschgrünen
Trainigsjacke, seine flinken Augen sind immer
auf der Suche, und sollten Marcel tatsächlich
mal die Worte ausgehen, gestikulieren, fuchteln
und wurschteln seine Hände weiter. Ruhig ist er
eigentlich nie.
Marcel ist Anfang 40, arbeitslos, seine Frau
lebt mit „so einem Wessi“ zusammen, um seinen
15-jährigen Sohn Sebastian hat sich er das letze
Mal vor zwei Jahren gekümmert. Seine
Wohnung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg
ist schmutzig und der Kühlschrank leer. Im
Wohnzimmer hängt einsam ein Poster des
ostdeutschen Coutry-Sängers Peter Tschernig,
eine moosgrüne Sofakombination lädt zum
Verweilen und Vergessen ein. Marcel Werner
lebt auf Probe. Nachts arbeitet er sogar auf Probe, da schnallt er sich den ledernen Pistolenhalter
um, zieht ein dunkles Sakko über und fährt mit
dem Fahrrad Reichstag, Schloss Bellevue und
Kanzleramt ab. Niemand zu sehen, Berlin
schläft, aber Marcel radelt durch die Straßen und
bewacht seine Stadt. Ein Personenschützer aus
Überzeugung und ohne Job. Wenn er früh am
Morgen heimkommt, verschläft er den Tag im
Unterhemd, steht auf dem Arbeitsamt Schlange
oder redet im Asia-Imbiss nebenan von seiner
Karriere. Die Gedanken sind frei und Träume
kosten nichts. Manchmal dreht Marcel den Plattenspieler auf und lässt Peter Tschernig von den
besseren Zeiten singen: „Mein Vater ist mein
bester Kumpel...“. Marcel grölt mit, das ist seine
Welt. Eine vergangene Welt. Dabei hat er sich
wie verrückt gefreut, als die Mauer fiel. Es war
ein gutes Jahr, er schäumte über vor Vaterstolz
und Zukunftsplänen.
Fünfzehn Jahre später klopft die
Gegenwart an seine Tür: Sebastian (Sebastian
Butz) will bei ihm wohnen. Mama ist
schwanger, die neue Familie plant ins Grüne
zu ziehen, Sebastian will in Berlin bleiben.
„Erst meldest du dich zwei Jahre nicht und
dann willst du bei mir einziehen.“ Der Sohn
soll nicht sehen, wie weit unten sein Vater
gelandet ist. Aber Sebastian lässt nicht locker
und darf schließlich auf dem moosgrünen
Sofa campieren. „Warum räumst du nicht
mal auf? Hier ist es irgendwie keimig.“ Der
Jugendliche übernimmt die Rolle des Erziehungsberechtigten, damit der Vater noch eine
Weile den Retro-Rebellen spielen kann.
Vater und Sohn - Milan Peschel und Sebastian Butz
Auf den ersten Blick haben Vater und
Sohn nicht viel gemeinsam. Sebastian ist groß,
kräftig, von ruhiger Natur, Marcel ist klein,
schmächtig und steht immer unter Strom. Doch
als Sebastian sich in Nora verliebt, werden
Gemeinsamkeiten sichtbar: Sebastian beginnt,
ganz wie der Vater, viele und große Worte zu
machen.
Was Vater und Sohn verbindet, ist Angst.
Zwei Halbwüchsige auf der Suche nach einem
Platz im Leben. Man freundet sich an und
beginnt sich zu helfen: Sebastian übt mit seinem
Vater Bewerbungsgespräche ein, Marcel spielt
seinem Sohn längst vergangene Countrysongs
vor.
Höhe- und Wendepunkt des Films
betrifft Vater und Sohn gleichermaßen.
Marcel bekommt den ersehnten Job als
Personenschützer nicht und Sebastian
verleugnet seinen Vater. „Für mich ist er so
eine Art Clint Eastwood“, erzählt er Nora
noch im Hausflur. Aber als der Vater mit vollgekotztem Hemd und stierem Blick vor ihnen
steht, behauptet er, das sei der Nachbar.
Es scheint, als habe Robert Thalheim
Marcel Werner zufällig beim Asiaten nebenan entdeckt und sei ihm mit der Kamera gefolgt. NETTO ist ein Spielfilm, der strekkenweise sehr erfolgreich so tut, als sei er ein
Dokumentarfilm. Musik gibt es nur, wenn
der Plattenspieler läuft, und die Schwitzflekken unter den Armen sind echt. Berlin ist ein
Mikrokosmos traurig-komischer Absurditäten, die realistischer nicht sein könnten.
Barbara Teichelmann
NETTO, Deutschland 2004
Regie und Drehbuch: Robert Thalheim
Darsteller: Milan Peschel, Sebastian Butz,
Stephanie Charlotta Koetz, Christina Grosse,
Bernd Lamprecht, Peter Tschernig
Start: 10. März
Foto: Stardust Filmverleih
Verfluchte
Schirme
d
Die Regenschir me sind der
Teufel. Sie machen die Welt kleiner.
Kaum kommt es zu den ersten
Tropfen, schießen sie aus dem
Asphalt, hängen die Wege voll,
machen sie fast unpassierbar und
lassen metallspitzig fürchten um
das zu dieser Tageszeit so schon
rare Augenlicht. Dabei scheint ihr
eigentlicher, dumm-diabolischer
Daseinszweck zu sein, vergessen zu
werden, die Vergessenden
panikattackiert zurückzutreiben in
eben
verlassene
Busse,
Arztwar tezimmer
oder
Hallenbäder. Oder har mlos
Nebenherg ehende
in
die
Verlegenheit der Großzügigkeit zu
bringen, mit drunter zu dürfen,
anbieten zu müssen, den Stock zu
halten und dadurch der kleinen
Schirmpartnerin entweder einen
Teil ihrer Trockenheit zu entziehen,
weil der Wind den Regen nun unter
die zu hoch getragene Haube weht,
oder sich selbst Haltung und
Rücken zu ruinieren. Scheiße.
Ist es nicht in Wirklichkeit
Blasphemie, um die Frisur zu
fürchten, die neu einzurichten
gerade in dieser Zeit wertvolle
Arbeitsplätze bedeuten würde? Sich
dem Wasser von oben entziehen zu
wollen, das – und das soll nie
vergessen werden – das Leben auf
dem wasserblauen Planeten
überhaupt erst möglich macht?
Dazu noch blutig zynisch, in Tagen
nach der Flut trocken bleiben zu
wollen, nicht Solidarität im
Gegenwer t einer Schachtel
Zigaretten zeigen zu wollen?
Diesen Regen, wie er früher
einst war, gibt’s heutzutage gar
nicht mehr. Das sind doch nur noch
Tropfen, die vom Himmel fallen,
heutzutage. Erinnert sich noch
jemand an den ständigen stundenwochenlangen Riesel, der auf dem
Haar, mit dem Boden unter den
Füßen und Sauerstoff in der Nase,
einen die Elemente unmittelbar wie
selten erfahren ließ? Dann der
Platsch damals zum Beispiel, der
jedes Textil in egal wie viel Lagen
sekundenschnell durchdrang und
einen danach beim Verdunsten der
Sonne ein Stück weit entgegenriss.
Doch das gibt’s heute nicht
mehr. Dafür die Regenschirme.
Und die sind der Teufel.
Willibald Spatz
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