Die Rostocker Rathausschlange

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Die Rostocker Rathausschlange
Die Rostocker Rathausschlange
Zwischen den Säulen des Rostocker Rathauses befindet sich eine Bronzeplastik, die bei keiner
Stadtführung ausgelassen wird. Es handelt sich um ein Mischwesen aus zwei verschiedenen
Tieren: Der vordere Teil ist der einer Schlange, möglicherweise einer Ringelnatter, und der
hintere Teil der eines Aals. Obwohl die meisten Rostocker die sogenannte Rathausschlange
kennen, bleibt deren Bedeutung bis heute rätselhaft.
Die sich aufrichtende Figur wirkt in ihrer Darstellung lebendig. Der Betrachter bekommt den
Eindruck, dass sie sich die Säule empor schlängelt. Der Schlangenkopf, etwa 10 cm breit und
rund 17 cm lang, ist nach oben gerichtet. Ein Betrachter könnte den Schädel mit seiner Hand
vollständig bedecken. Tatsächlich haben schon viele Menschen den Kopf der Statue berührt:
An dieser Stelle ist die Plastik deutlich abgegriffen. Im hinteren Teil geht der Schlangenkörper
in den eines Aals über. Die typische Rücken- und Schwanzflosse sind dabei zu einem langen
Flossensaum verschmolzen, der vom Rücken über die Schwanzspitze bis zur Bauchseite
verläuft.
Die Rostocker Rathausschlange 1 in ihrer Bronzevariante gibt es erst seit 1998. Davor
existierten mehrere Vorgänger aus verschiedenen Materialien. Die erste schriftliche
Erwähnung einer solchen Plastik stammt aus dem Jahr 1882, ergänzt durch eine Zeichnung
des Rostocker Stadtarchivars Ludwig Krause. Die damalige Figur bestand aus Kalkmasse,
war über zwei Meter lang und ringelte sich um die gesamte Säule. Die Kalkmasse verwitterte
jedoch im Laufe der Jahre. Beim Anstrich der Rathausfassade 1927 wurde deshalb die alte
Figur durch eine neue aus wetterfesterem Beton ersetzt. Diese zweite Schlange hatte eine
trompetenförmige Form, war auf etwa 130cm verkleinert worden und fand ihren Platz
zwischen den Säulen. Die Bombenangriffe auf Rostock überstand sie unbeschadet.
Als auch das Betontier schließlich verwitterte, wurde es 1993 durch eine Bronzestatue ersetzt.
Diese blieb allerdings nicht lange an ihrem Platz: Sie wurde gestohlen. Der Bildhauer Erhard
John schuf daher 1998 eine neue Plastik und übergab sie am 24. Juni feierlich der Stadt
Rostock. Diese vorerst letzte Rathausschlange ist heute zwischen den Säulen des Rathauses zu
finden.
1
Vgl. Julius, Becker, Die Schlange am Rostocker Rathaus, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock,
Herausgeber? Bd. 18, Rostock 1933, S. 107 ff.
Die wechselvolle Geschichte deutet darauf hin, dass die Schlange für die Rostocker
Öffentlichkeit eine besondere Bedeutung besitzt. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die
Leerstelle, die durch den Verfall oder den Verlust der einzelnen Plastiken entstand, immer
wieder neu besetzt. Dabei ging es offenbar nicht in erster Linie darum, die ursprüngliche
Rathausschlange detailgetreu nachzubilden, denn die Entwürfe der einzelnen Schlangen
unterschieden sich merklich voneinander.
Besonders deutlich wird dies bei den verschiedenen Materialien, die bei der Herstellung der
Objekte Verwendung fanden. Kalkstein, Beton und Bronze trotzen der Zeit und dem Wetter
auf sehr unterschiedliche Art. Bronze ist dabei von den drei Materialien am beständigsten und
am teuersten. Es handelt sich um eine Legierung aus Kupfer (Cu) und Zinn (Sn). Kupfer
selbst ist ein wertvolles, aber relativ weiches Metall; erst durch die Zugabe der
Legierungskomponente Zinn entsteht die charakteristische Festigkeit von Bronze. 2 Dass die
aktuelle Rostocker Rathausschlange im Gegensatz zu ihren recht preisgünstigen Vorgängern
aus diesem klassischen, für dauerhafte Kunst bestimmten Material besteht, kann als
Aufwertung des Objektes verstanden werden.
Ein Grund für den Stellenwert, den diese Plastik für die Stadt Rostock zu besitzen scheint,
liegt vermutlich in der Vielzahl der Deutungen, die mit ihr verknüpft sind. So besitzt die
Schlange in vielen Kulturen Symbolwert. In Indien beispielsweise gilt sie als Schutzpatronin
der Wolken, während sie in Griechenland als uralte Heilerin und Trägerin der Unsterblichkeit
verehrt wurde. Die Schlange kann aber auch eine negative Bedeutung tragen, wie zum
Beispiel im Christentum als teuflische Verführerin. 3
Für die Rostocker Rathausschlange ist allerdings eine andere Symbolik wahrscheinlich. Denn
die Schlange ist, vor allem im europäischen Kontext, auch ein altes Sinnbild für Weisheit.
Demnach mussten die Ratsherren bei ihrem Gang in das Rathaus immer das Symbol der
Weisheit passieren. Zudem gibt es in der mecklenburgischen Sagenwelt einen Hausgeist in
Gestalt einer Schlange, der viel Gutes für die Menschen bringt.
2
Vgl. URL: <
http://www.kupferinstitut.de/front_frame/frameset.php3?idcat=347&client=1&idside=793&idcatside=1006&la
ng=1&parent=1 > (Aufruf: 3.1.2013)
3
Vgl. URL:< http://www.planetwissen.de/natur_technik/reptilien_und_amphibien/schlangen/schlangenmystik.jsp > (Aufruf: 3.1.2013)
Eine andere Deutung, die stärker mit der Stadtgeschichte verwoben ist, hängt mit dem Namen
der Rathausschlange zusammen. Dass viele Rostocker die Bronzeplastik unter dem Namen
Johannes kennen, ist möglicherweise kein Zufall. Denn der namensgebende Johannestag 4
(auch Johanni oder Johannitag genannt), also der 24. Juni, hat für Rostock eine ganz
besondere Bedeutung: Am 24. Juni 1218 erhielt der Ort von Heinrich Borwin I., Fürst von
Mecklenburg, das Stadtrecht. Die Rathausschlange Johannes ist nach dieser Deutung eine in
Bronze gegossene Erinnerung an jenes Ereignis.
Darüber hinaus bietet auch der Aal verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Dabei spielt
die große Bedeutung des Meeres und der Fischerei für die Stadt Rostock eine Rolle. Schon
seit dem Mittelalter wurden Fische auf dem Neuen Markt vor dem Rathaus verkauft. Die
Spickaalverkäuferinnen hatten in der Nähe der Rathaussäulen ihre Stände. Eine Deutung
besagt daher, dass dieser Aal das Normalmaß für die dort verkauften Aale gewesen sei.
Eine andere Erklärung ist deutlich abenteuerlicher: Es habe eine Sturmflut in Rostock
gegeben, die so verheerend gewesen sei, dass selbst der relativ hoch gelegene Neue Markt
überflutet wurde. Dabei wurde auch ein Aal zwischen die Säulen des Rathauses gespült, wo er
nach dem Rückgang des Wassers hängenblieb. An dieses Ereignis, das freilich nicht historisch
nachweisbar ist, erinnere die Rostocker Rathausschlange. Möglicherweise gibt es für diese
Episode sogar ein reales Vorbild. Denn als im Jahre 1841 ein neuer gusseiserner
Springbrunnen auf dem Neuen Markt montiert wurde, ist es vielleicht tatsächlich zu kleineren
Überschwemmungen
gekommen,
die
Mitleidenschaft gezogen haben könnten.
auch
die
Stände
der Aalverkäuferinnen
in
5
Darüber hinaus erfüllte die Rathausschlange eventuell auch eine ganz praktische Funktion,
und zwar im Kontext der wandernden Handwerksburschen. Das Wissen über seltene
Wahrzeichen diente den Gesellen nämlich oft als Nachweis für den Besuch fremder Städte.
Diese Wahrzeichen sind zum Beispiel die “Maus” in der Lübecker Marienkirche, die “Keule”
am Neubrandenburger Tor in Woldegk oder die “Riesenrippe” in Jüterborg 6 – und eben die
Rathausschlange in Rostock.
4
Vgl. URL: < http://www.kleiner-kalender.de/event/johannistag/5719-welt.html > (Aufruf: 3.1.2013)
Vgl. Julius, Becker, Die Schlange am Rostocker Rathaus, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock,
Herausgeber? Bd. 18, Rostock 1933, S. 107 ff.
6
Vgl. Die Hansestadt Rostock und ihr Ostseebad Warnemünde: [kulturhistorischer Führer]/ mit Beitr. Von I.
Ehlers mit Fotos im Innenteil von R. Fauk. Historische Aufnahmen Archiv der Hansestadt Rostock, Rostock:
Neuer Hochsch.-Schr.-Verl., 1999.
5
Keine dieser Erklärungen lässt sich eindeutig bestätigen. Möglicherweise ist aber genau diese
Deutungsvielfalt der Grund dafür, dass die Rostocker Rathausschlange seit beinahe 150
Jahren so viel Aufmerksamkeit erhält. Es steht allerdings nicht zu befürchten, dass die
aktuelle Plastik bald wieder ersetzt werden muss: Zum Schutz gegen Diebstahl wurde sie
diesmal fest in der Bausubstanz verankert.
Stephanie Timm
Literatur
Julius, Becker, Die Schlange am Rostocker Rathaus, in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock,
Herausgeber? Bd. 18, Rostock 1933.
Die Hansestadt Rostock und ihr Ostseebad Warnemünde: [kulturhistorischer Führer]/ mit Beitr. Von I. Ehlers mit
Fotos im Innenteil von R. Fauk. Historische Aufnahmen Archiv der Hansestadt Rostock, Rostock: Neuer
Hochsch.-Schr.-Verl., 1999.
URL:
http://www.kupferinstitut.de/front_frame/frameset.php3?idcat=347&client=1&idside=793&idcatside=1006&lan
g=1&parent=1
URL: http://www.planet-wissen.de/natur_technik/reptilien_und_amphibien/schlangen/schlangenmystik.jsp
URL: http://www.kleiner-kalender.de/event/johannistag/5719-welt.html

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