Stellungnahme Gambia 2009_version 2_FGM_anonymisiert

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Stellungnahme Gambia 2009_version 2_FGM_anonymisiert
Menschenrechte für die Frau/
Human Rights for Women/
Droits humains pour la Femme
T +41 (0)31 311 38 79
Bollwerk 39, 3011 Bern
[email protected]
PC-Konto 30-38394-5
Bern, 19. Mai 2009
Gambia: Weibliche Genitalbeschneidung
Stellungnahme zu xx xx, geb. 20.2.1977 in xx, Gambia und xx xx, geb. 28. März
2009 in xx, Schweizer Bürgerin
Ihrer Anfrage vom 28. April 2009 an TERRE DES FEMMES Schweiz haben wir folgenden
Sachverhalt entnommen:
Frau xx stammt ursprünglich aus Gambia und lebt mit ihrem Sohn und ihrer Tochter, welche
beide in der Schweiz geboren wurden, in xx. Frau xx soll nun die Aufenthaltsbewilligung in
der Schweiz entzogen werden und gemeinsam mit ihren Kindern nach Gambia zurück
geschickt werden. Frau xx hat nun die Angst geäussert, dass ihre zweijährige Tochter, die
über einen Schweizer Pass verfügt, bei einer Rückkehr in Gambia zwangsbeschnitten werden
würde. Frau xx selbst wurde in ihrer Kindheit gegen den ausdrücklichen Willen ihres Vaters
genitalbeschnitten. xx xx ist Wolof, eine ihrer Tanten ist mit einem Mandinka verheiratet.
Eines Tages wurde Frau xx zusammen mit ihren Cousinen von ihrer Tante entführt und
beschnitten. Frau xx fürchtet nun, dass sie ihre Tochter in Gambia ebenfalls nicht vor einer
Beschneidung schützen könnte. Durch die Thematisierung des Themas weibliche
Genitalbeschneidung und die Angst um ihre Tochter zeigt Frau xx Anzeichen einer (Re-)
Traumatisierung: Sie leidet unter Schlaflosigkeit, Halluzinationen und Angstattacken.
Aus der Anfrage an TERRE DES FEMMES Schweiz um eine Stellungnahme stellen sich
folgende Fragen:
1. Wie sieht die aktuelle Situation in Gambia bezüglich weiblicher Genitalbeschneidung
aus?
2. Schützt der gambische Staat Frauen und Mädchen vor Genitalbeschneidung?
3. Ist xx xx von Genitalbeschneidung bedroht? Mit was muss man rechnen?
4. Welche psychischen Folgen kann weibliche Genitalbeschneidung haben?
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TERRE DES FEMMES Schweiz nimmt dazu wie folgt Stellung:
1. Wie sieht die aktuelle Situation in Gambia bezüglich weiblicher
Genitalbeschneidung aus?
Weibliche Genitalbeschneidung wird in Gambia praktiziert. Verschiedene Quellen stellen
eine weite Verbreitung fest: Das US Departement of State geht in seinem Human Rights
Report von 2008 von Schätzungen aus, dass zwischen 60-90% der Frauen und Mädchen
betroffen sind.1 Das Immigration and Refugee Board of Canada berichtet ebenfalls von einer
Rate zwischen 60-90 %.2 The Gambia Committee on Traditional Practices Affecting the
Health of Women and Children (GAMCOTRAP)3, eine zentrale Akteurin in der Bekämpfung
von weiblicher Genitalbeschneidung in Gambia, bezieht sich auf den „The Gambia Multi
Indicator Cluster Survey“ von UNICEF. Dessen aktuellste Ausgabe von 2005/2006 hält eine
Prävalenzrate von 78.3 % fest.4 Es ist schwer, genaue Zahlen zu erheben. Alle
Untersuchungen und Schätzungen deuten aber auf eine hohe Betroffenheitsrate hin.
Berichten zufolge wird weibliche Genitalbeschneidung von sieben der neun Volksgruppen
praktiziert.5 Besonders betroffen sind die Mandinka, Fula und Serahule. Auch ein kleiner Teil
der Wolof kennt diese Praktik.
Es gibt verschiedene Formen von weiblicher Genitalverstümmelung. Die Terminologie ist
nicht ganz einheitlich. Die WHO hat die Unterscheidung in vier Typen etabliert: I Inzision, II
Exzision, III Infibulation und IV Andere Formen.6 Die Variationen reichen von der Einritzung
der Klitoris bis zur kompletten Entfernung der äusseren Genitalien und dem Zunähen der
Scheide. In Gambia werden alle vier Typen praktiziert.7 Auch in Gambia sind Todesfälle als
Folge von Genitalbeschneidungen bekannt.
2. Schützt der gambische Staat Frauen und Mädchen vor
Genitalbeschneidung?
Bis per dato gibt es kein Verbot von weiblicher Genitalverstümmelung. Omar Dibba von
GAMCOTRAP führt in einem Schreiben an TERRE DES FEMMES Schweiz aus, dass es keine
Möglichkeit gibt, weibliche Genitalverstümmelung rechtlich zu verfolgen und vor Gericht
1
http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2008/af/119003.htm.
Immigration and Refugee Board of Canada, Gambia: The practice of female genital mutilation (FGM), including the
ethnic groups among which the practice is prevalent; the existence of any law banning the practice; attitudes of
government authorities toward the practice; state protection available to victims and to people who oppose the practice
(April 2005) , 19 April 2005,GMB43496.E ,, available at: http://www.unhcr.org/refworld/docid/42df60f128.html
3
www.gamcotrap.gm; Nationales Komitee des IAC (Inter-African Committee on Traditional Practices Affecting
the Health of Women and Children).
4
http://www.childinfo.org/files/MICS3_Gambia_FinalReport_2005-06_Eng.pdf.
5
http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2008/af/119003.htm.
6
http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs241/en/.
7
http://fgmnetwork.org/intro/world.php.
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„Gerechtigkeit“ zu finden.8 Auch wenn es eine entsprechende Gesetzgebung gäbe, wäre zu
prüfen, ob diese auch angewandt und durchgesetzt würde.
3. Ist xx xx von Genitalbeschneidung bedroht? Mit was muss man rechnen?
xx xx ist Wolof und wurde gegen den Willen ihrer Eltern von ihren Tanten, welche den
Mandinkas angehören, der Beschneidung unterzogen. Ihre Eltern konnten sie nicht davor
schützen, dass ihre Tanten sie während eines Besuches entführten. Kann dasselbe mit ihrer
eigenen Tochter xx xx geschehen? Laut Omar Dibba von GAMCOTRAP in Gambia ist die
Chance für das zwei Jahre alte Mädchen fast gleich 0%, dass sie von der Beschneidung
verschont bleibt.9 Auch wenn die Frau aus einer Wolof-Familie stammt, ist die Verbindung
mit der Bevölkerungsgruppe der Mandinkas eine hohe Gefährdung. Omar Dibba
konstantiert: „She is definately at risk. The family will try to get the daughter in anyway they
could.“10 Die Familie wird also alles versuchen, dass sie auch dieses kleine Mädchen
beschneiden können.
TERRE DES FEMMES Schweiz stellt fest: Das Mädchen xx xx ist hochgradig gefährdet, in
Gambia beschnitten zu werden. Mit einer Ausweisung droht ihr eine gewaltsame Behandlung
mit akuten und langfristigen physischen und psychischen Folgen. Weibliche
Genitalbeschneidung ist eine gravierende Verletzung fundamentaler Rechte, dem Recht auf
Gesundheit und auf körperliche und psychische Unversehrtheit.
4. Welche psychischen Folgen kann weibliche Genitalbeschneidung haben?
Weibliche Genitalbeschneidung kann zu akuten und langfristigen gesundheitlichen Problemen
führen. Sie kann bis zum Tod führen. Auf psychischer Ebene kann eine Genitalbeschneidung
eine Traumatisierung aufgrund der angewandten Gewalt mit sich bringen. Eine Beschneidung
kann ähnliche psychische Auswirkungen wie eine Vergewaltigung oder Folter haben. Es
können Angstreaktionen, Konzentrationsschwächen, gestörtes Essverhalten oder
Depressionen auftreten. Psychische Folgen von Genitalbeschneidungen werden oft anderen
Ursachen zugeschrieben. Dies und eine Tabuisierung des Themas erschweren die
Verarbeitung erlittener Verletzungen. Die Gewalterfahrung, die Entfernung der Klitoris und
die Schädigung der Genitalien können grosse Auswirkungen auf die Sexualität und damit auf
eine Paarbeziehung der Betroffenen haben.
TERRE DES FEMMES Schweiz hält fest, dass eine weibliche Genitalbeschneidung psychische
Folgen mit sich bringen kann. Diese können auch erst Jahre später auftreten oder erkannt
8
« … there is no opportunity for anyone who wishes to seek justice in a court of Law. » E-mail vom 13. Mai
2009 von Omar Dibba, GAMCOTRAP an TERRE DES FEMMES Schweiz.
9
« Although the woman comes from a wollof family, that does not practice FGM, but is almost 0 % chance for
the 2 year old daugther to escape from the practice.” E-mail vom 13. Mai 2009 von Omar Dibba,
GAMCOTRAP an TERRE DES FEMMES Schweiz.
10
E-mail vom 13. Mai 2009 von Omar Dibba, GAMCOTRAP an TERRE DES FEMMES Schweiz.
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werden. Die Angst von Frau xx um ihre Tochter und die Notwendigkeit, sich aus diesem
Anlass heraus mit der eigenen Beschneidung auseinanderzusetzen, kann eine
Retraumatisierung auslösen. Es ist gut möglich, dass die erwähnte Schlaflosigkeit, die
Angstattacken und Halluzinationen auch mit ihrer eigenen Gewalterfahrung in Form einer
Genitalbeschneidung zusammenhängen.
TERRE DES FEMMES Schweiz hält aufgrund dieser Situation fest:
• Weibliche Beschneidung ist in Gambia weit verbreitet.
• Der gambische Staat bietet keinen Schutz vor Genitalbeschneidung: Der gambische Staat
hat weder einen Schutzwillen noch eine Schutzfähigkeit.
• Für die Mutter ist es nicht möglich, ihre Tochter gegen eine Zwangsbeschneidung von
Seiten von Mitgliedern ihrer Familie zu schützen. Sie dürfte ihre Tochter keine Sekunde
alleine lassen und würde in dauernder Angst leben. Frauen haben kaum eine Chance, sich
aus den weitläufigen Familienstrukturen zu lösen, welche eng geknüpft sind. Auch wenn
sie es schaffen würde, ihre Tochter bis zur Volljährigkeit zu beschützen, wäre die Tochter
auch als Erwachsene weiterhin gefährdet. xx xx ist also hochgradig gefährdet.
• xx xx ist selbst beschnitten worden, und es ist wahrscheinlich, dass sie aufgrund ihrer
Gewalterfahrung psychische Folgen erleidet.
Aufgrund der angeführten Punkte ist TERRE DES FEMMES Schweiz in grosser Sorge, wenn
xx xx mit ihren Kindern ausgewiesen und die zweijährige xx xx nach Gambia geschickt wird.
Ihre Gesundheit und Unversehrtheit wäre durch eine Gewaltanwendung mit gravierenden
Folgen akut bedroht.
Freundliche Grüsse
Simone Eggler
Fachmitarbeiterin
TERRE DES FEMMES Schweiz
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