Medium und Maske

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Medium und Maske
Hartmut Böhme/Nikolaus Tiling (Hrsg.)
Medium und Maske
Die Literatur Hubert Fichtes
zwischen den Kulturen
M~P
VERLAG FÜR WISSENSCHAFT
UND FORSCHUNG
Inhalt
HARTMUT BÖHME / NIKOLAUS TILING
Medium und Masken Die Literatur Hubert Fichtes zwischen den Kulturen
·················
Vorwort.
Zur Zitierweise des Werkes von Hubert Fichte
9
.
.
19
..
23
..
54
..
87
..
104
.
121
DIRCKLINCK
"Nun ist alles anders."
Über Hubert Fichtes Reise-Begehren
PETERBRAUN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Medium und Maske : die Literatur Hubert Fichtes zwischen
den Kulturen / Hartmut Böhme/Nikolaus Tiling (Rrsg.),
- Stuttgart : Mund P, VerI. für Wiss. und Forschung, 1995
ISBN 3-476-45142-9
NE: Böhme, Hartrnut [Hrsg.]
ISBN 3-476-45142-9
Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung
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Irmas Kunst
Zu den gemeinsamen Arbeiten von Leonore Mau
und Hubert Fichte
RAINER GULDIN
Das Double der Schrift
Photographie und Schreibprozeß
KIRSTIN PLEGER
Versuch über ein Gesamtkunstwerk
M & P Verlag für Wissenschaft und Forschung
ein Verlag der J.B. Metzlerschen Verlagsbuchhandlung und
Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart
© 1995 J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart
Druck und Bindung: Pocket Edition Printing GmbH Darmstadt
Printed in Gennany
ANDREA ALLERKAMP
"Buchstaben. Stäbe aus Buchen... aus Buchenholz" Kubische Klangräume und mimetische Prozesse in
Ich würde ein
und Ich bin ein Löwe
REINOLD WERNER
SYBILLE BENNINGHOFF-LÜHL
"Ich zog los, um die menschlichen Überreste aufzusuchen" -
.,Schon irgendeinmal nämlich war ich Knabe und Mädchen
Fichte und Frankreich......
und Baum und Raubvogel und auch aus der See ein stummer Fisch"
Zur Verwendung des Zitats in Hubert Fichtes
Forschungsbericht. Roman............................................... .....
143
269
NIKOLAUS TILING
Die blutigen Hände von Maubec.
Ein Motiv zwischen literarischer Erinnerung und ihren
HOLGERHOF
biographischen Schauplätzen:
"Ich reise meinen Sätzen nach. Ich reise mir selbst nach."
Schrobenhausen, Lacoste und Ganagobie...................................
Explosion. Roman der Ethnologie.
Schicht der Geschichte der Empfindlichkeit. .. . .. . .. .. . . .. . .. . . .. . . ...... . ..
286
160
ROBERT GILLETT
Huberts Imitationen. Intertextualität in und um Grünspan.....
MANFRED WEINBERG
303
"Die stupende und bisher noch wenig reflektierte Idee von
HARTMUTBÖHME
Bikontinentalität und Bisexualität der afroamerikanischen Kultur"
Zu Struktur und Funktion des "Zwischen" bei Hubert Fichte... ... .......
171
Die ,,Blume zu Saaron" und das Maskenspiel des Erzählers.
Eine Figur Hubert Fichtes und ihr Hintergrund.....................
334
Die Autoren................................................................. .....
361
DAVIDSIMO
Hubert Fichte und Michel Leiris:
Selbstanalyse und Ethnographie...............................................
199
KLAUS NEUMANN
Hubert Fichte und experimentelle Ethnographie, oder:
Auch in Amerika sind die Möglichkeiten universitärer
Anthropologie nicht unbegrenzt.
..
213
REGINA MUNDEL
Diener und Grafen.
Fußnotenschächte zu den Freibeutern Hubert Fichte und
Pier Paolo PasoUni 0.11'0'.0..,.."'· ••• ···.,.·"
0
•••
"
••••
.
244
DmCK
"Nun ist alles anders."
Über Hubert Fichtes Reise-Begehren
Die Welle von miesen Strichern könnte
Marokko erspart bleiben, wenn man Tourismus als etwas Erotisches auffassen würde.
(Alte Welt, 291)
Kategorisierung zeugt vom Mangel an Unterscheidungsvermögen. Alles ist
überall anders. An sich gibt es nichts. Hubert Fichte weiß das. Er hat ästhetisch darauf reagiert und ein Werk vorgelegt, das eine Hymne auf qualitative
Differenzen ist. Das konnte er tun, weil er zu gesellschaftlichen Ein-Bindungen und kulturellen Absprachen derart vollständig auf Distanz gegangen war,
daß er seinen Außenseiterstatus als Chance begreifen konnte, die Ordnung
von der Peripherie aus zu kritisieren. Sein Status machte eine andere Zukunft
möglich: eine unbestimmbare, offene Zukunft, die nichts gemein hat mit den
gesellschaftlichen Utopien, die Literatur immer wieder als prophetische Verlängerung der Gegenwart ausgefabelt hat. Fichte entdeckt jenseits der ideologischen Teleologie, die Zeit nur als Gerade des Fortschritts, Gegenwart nur
auf Zukunft hin zu denken vermag, das Phantastische. Im Alltag. Er gehört
deshalb zu den "großen Apologeten der Erscheinung", von denen Valery gelegentlich Goethes gesagt hat, sie richteten die Meisterschaft ihrer "umfassenden Einbildungskraft auf die Untersuchung und Darstellung der sinnlich
wahrnehmbaren WeH". 1
In Fichtes Werk werden der ,Ich-Zerfall' und die Unterbrechung des historischen Kontinuums nicht beklagt, sondern als Bedingungen der Wahrneh1 Paul Valery: Man sagt Goethe, so wie man Orpheus sagt. In: Paul VaIery: Zur Literatur
[Frankfurter Ausgabe, Bd. 7, hrsg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt]. Frankfurt am Main 1989,
S. 150-160, hier S. 154.
23
mung von Intensitäten des Momentes produktiv gemacht; nicht das kohärente
Wahrheit sagen, die ihre Wahrheit ist: "Sie wurden so veranlagt. Und jetzt sit-
Ich und seine unerschöpflichen Erkenntnisleistungen werden gepriesen, son-
zen sie da mit ihrer Veranlagung, ihren Verhaltensweisen. "2 Denn in den
dern das Glück des emphatisch gelebten, körperlich empfundenen Augen-
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen erfahren Schwule auf die
blicks. Gegen das eine große Allgemeine setzt Fichte die vielen intensiven
krasseste Weise, daß der Erkenntnisakt auch ein Akt der Wertung ist: Er
Singularitäten, die unter ihm verlorengehen, und gegen die Ideologie der
regelt das An-Sehen.
Tiefe rehabilitiert er die Phänomenalität von Wirklichkeit und Kunst. Die
Fichte ist nicht sitzengeblieben mit seiner Veranlagung, er hat sich mit ihr
schönen Oberflächen, mit denen die Sinne Berührung haben, das ästhetisch
aufgemacht und wiederholt den erkenntnisrelevanten Augenblick inszeniert,
nachhaltig diskreditierte Naturschöne und die Gegenstände, die plötzlich und
in dem Untergang und Übergang, Lust und Schrecken zusammenfallen. Die
anarchisch erscheinen und unsere Sicherheiten in Frage stellen: Alles das
Kontinuität des bekannten Lebens und Wissens ist plötzlich aufgeplatzt, das
rückt ins Zentrum einer Literatur, deren zentrales Thema die Erzählbarkeit und
Bewußtsein findet keinen Halt, und etwas namenlos Neues beginnt. Oder
Lesbarkeit der Welt ist. Fichte entwirft eine andere, sinnlichere Moderne.
man nimmt die Namen an. Fichte hat nicht den Schrecken verschwiegen, der
Die Gegenwart zu opfern, ist dem Menschen nur so lange zumutbar, wie
mit derart existentiellen Erschütterungen verbunden sein kann, ein Schrecken,
das Versprechen einer besseren Zukunft, in deren Namen man Verzichtslei-
den er in endlosen rituellen Dramatisierungen darstellte und zu bannen ver-
stungen zu erbringen habe, glaubhaft bleibt. Die Erwartung des Himmelreichs
suchte. Der Schwule wurde zum Schwulen, weil andere ihn be-schrieben.
vertröstet. Wer wie Fichte das Versprechen angemessen skeptisch hört und
Am eigenen Leibe erfuhr er, daß ihre Namen sich ihm einbrennen, aber aus
die Suche nach Glücksmöglichkeiten doch nicht aufgeben will, tut sich beizei-
dieser seelisch-körperlichen Erfahrung ziehen "Beschriebene, Gebrand-
ten - also gleich - auf Erden um. Er wird zum Reisenden, der die in der Nähe
markte" (Petersilie, 364) wie Fichte nicht den gesellschaftlich gewünschten
nicht mehr auffindbaren Legenden (s)eines abwesenden Anderen in der Ferne
Schluß. Sie zeigen sich nicht einverständig, verweigern die Lektion und ent-
aufzustöbern versucht.
wickeln statt dessen ein eigensinniges Mißtrauen gegen das Erkennen, einen
Was ist hinter der Ecke! Was ist jenseits der Bergkette! Nicht: Wissen ist Macht!
sondern: Reisen ist Wissen. (Schwarze Stadt, 329)
~
Wissen nämlich um das Unwahrscheinliche, Unbekannte, Unerhörte. Ein
Wissen aus (natur-)ästhetischer Erfahrung.
unversöhnlichen Argwohn gegen den Anspruch, die Wahrheit sagen zu können. Innerhalb der Ordnung, die sie verwirft, empfinden sie sich als abwesend. Ohne Ort, auf den sie sich beziehen könnten, wird das Anderswo ihr
Ort, das Anderswo-Sein ihre Sehnsucht.
Die schwule Identität kommt dem Homosexuellen von außen zu; der
Der bezeichnete Körper ist die Empfindung zugeteilter Namen, ein Produkt
Identitätsbegriff ist die ins Positive gewendete Beschreibung der tatsächlichen
der anderen, kein Schutz vor ihnen. Er wird eng, eine "Körperzelle",3 in der
gesellschaftlichen Erfahrung, die Schwule - in der Regel - machen: Sie
man von Weitung, von Freiheit träumt. Der Körper, der auf Reisen in Bewe-
verlieren die bislang sichernde Identität. Weder Natur noch Geschichte, so
gung gerät, bewahrt aber noch das Gedächtnis an die Glücks-Zustände des
ihre historische Lektion, haben den Schwulen vorgesehen. Homosexuelle
erzeugen einen Aufklärungsbedarf. Jeder Schwule hat einmal diesen
panischen Moment erlebt, als er zum Objekt der anderen wurde, die ihm seine
24
2 Hubert Fichte: Tagebuch. Materialien für Afrika. Aids. Sahel. Der erste Mensch - 1985.
In: Der Rabe 34. Zürich 1992, S. 74.
3 Josef Winkler: Menschenkind. Frankfurt am Main 1979, S. 93.
25
kindlichen Leibes, der keine Abgrenzung von der Außenwelt kannte, der
das ist die Lüge der bürgerlichen Lebenslaufs. Entwicklungsroman. Das
seine Welt im Gegenteil erfuhr, indem er sich ihr öffnete. Aus diesem Gedächtnis bezieht er die Bewegungsenergie. Rausch, Reise, Sex, emphatische
Krumme wird nicht gerade.
Nichts läßt man wirklich hinter sich, nichts wird wirklich überwunden.
Wahrnehmungspraxis, Trance sind für Fichte experimentelle Annäherungen
Fortschreitend kommt man von Zeit zu Zeit zu früheren Stationen zurück.
an die Zustände des frühen Leibes.
Regressionen, Zyklen - und ihr Ausbleiben. Vor allem, immer wieder: Der
Seit der Balkonszene, die Das Waisenhaus eröffnet, hat er eine Folge ent-
Zufall, der Vergangenes blitzartig als gegenwärtig enthüllt. Die Tauben-
zeitlichter Momente inszeniert, von denen der Lauf der historischen Zeit un-
scheiße. Der Madeleine-Geschmack. Proust - das ist bekannt - ist einer der
terbrochen wird. Im Versuch über die Pubertät wird die plötzliche, von Pozzi
Ahnherren der Geschichte der Empfindlichkeit. Den Zufall konnte und kann
ausgehende Erkenntnis, "fifty-fifty" zu sein und nun zu den gesellschaftlich
die planvoll vorwärtsschreitende Aufklärung nicht ertragen. Er verträgt sich
Verachteten zu gehören, für Detlev zum Augenblick des Verlustes sozialer
nicht mit ihrem Projektcharakter, denn er macht Vorhersagen unmöglich.
Zugehörigkeit. (Pubertät, 35f) Alle Namen, die seine Kultur an den Schwulen
Fichte hält wenig von einem Fortschrittskonzept, das immer nur nach
zu vergeben hatte, stürzen auf ihn ein. "Bumms! Schwul! Gong!": Detlev
vorne weist, auch wenn schon lange nichts mehr vorangeht. Europäisches
weiß nicht, wer er ist. Welt und Ich rücken auseinander. Es ereignet sich eine
Denken, "die weiße Zeit, die so schnell ausverkauft ist" (Pubertät, 37), das
Explosion des Erfahrungsraums, deren Schrecken dem Reise-Begehren nach
interessiert ihn nicht. Ihn interessiert gerade der Zeitpunkt, der im Vorüberge-
Tötung des "hassenswerte(n) Ich" (Pubertät, 93) die Antriebsgeschwindigkeit
hen das Kontinuum sprengt, Vergangenes und Gegenwärtiges zusammenfal-
verschafft. Und Fichte hat seine Absage an das "Ich: aufgeklärt, unmagisch,
len läßt: "die schwarze Zeit der Gegenwärtigkeit selbst". (Pubertät, 37) Das
verlogen" (Pubertät, 37) hart hinter die Darstellung dieser Weltexplosion ge-
uns Abgetrennte, von uns Zurückgelassene wird Präsenz, kehrt flüchtig und
schnitten, die dauerhaft in ihm präsent blieb.
gebieterisch wieder. Dieser Augenblick ermöglicht einen alternativen Entwurf
Im Ich sitzt man im Lehnstuhl und sieht auf eine überwundene Zeit. (Pubertät, 36)
von Zukunft, einen offenen, unbegrifflichen Entwurf nämlich, der mehr ist
Der Reisende mißtraut der Geraden, er weiß, daß die Wege Kurven und
als nur eine Fortschreibung der Machtverhältnisse, die sich historisch durch-
Kreise beschreiben. Die Gerade ist europäisch, mathematisch, cartesianisch,
gesetzt haben. Der das Zeitkontinuum sprengende Augenblick ist immer uto-
sie ist eine Waffe im Prozeß der Naturbeherrschung, Instrument technisch-
pisch, er öffnet den Horizont auf Künftiges hin, auf erinnerungswürdige
mathematischer Welt- und Zeitkolonisierung, die sich bis in die Gegenwart
Möglichkeiten. Er ging der einzigartigen Reisebegabung Hubert Fichtes vor-
als das probate Mittel gesellschaftlichen Fortschritts versteht. 4 Die Gerade,
aus. Ihn wieder zu erleben, war eine der Erwartungen, die seine unroutinierten Reisen bis zum Ende lenkten.
"Nicht stillsitzen können" (Schwarze Stadt, 329), weil im Moment der Er-
4 Karl Mannheim konnte noch ohne weiteres mit dem Einverständnis der sich als progressiv
begreifenden Intellektuellen rechnen, als er "die Ablehnung der linearen Zeitkonstruktion"
(S. 104) zum Kennzeichen konservativen Denkens erklärte. Ihm galt Sensibilität, selbst
"das Erleben des Qualitativen, das konkrete Erleben im Gegensatz zum abstrakten Erleben,
das Erleben vom Sein her im Gegensatz zum Erleben vom Sollen her" (S. 103), als fortschrittsfeindlich. Fichte wäre hier der exemplarische Konservative. Karl Mannheim: Das
Konservative Denken I. Soziologische Beiträge des politisch-historischen Denkens in
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kenntnis, nicht zu sein, was man zu sein glaubte, die bekannte Welt klein
wird und den Blick freigibt auf etwas Unbekanntes. Die Neugier ist hier stärDeutschland. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Tübingen 1927, Bd. 57,
S.68-142.
27
_ _ _ _ _ _....J.
ker als die Furcht vor Bindungsverlust. "Dies gibt es alles und ich hatte keine
die sich einschreibt, ohne zu brandmarken. Der Impuls: "Ich wollte weg. Wie
Ahnung davon", geht es bereits Detlev durch den Kopf, als ihm die Mutter er-
ich immer nur wegwollte. Da gehörte ich nicht hin." (Garni, 9)6
klärt, was eine "Mannshure" ist. (Grünspan, 136) Homosexualität, soweit sie
Die Arbeitsgänge produzieren aber noch eine andere Erkenntnis: Man ge-
noch immer Exilierung ins Anderswo der sprachlichen und gesellschaftlichen
hört da nicht hin, aber man kommt da auch nicht weg. Man gelangt - verän-
Ordnung bedeutet, wird bei Fichte zu jener alles verändernden Erfahrung, die
dert, umgeschrieben - an den Ausgangspunkt des Aufbruchs zurück: "Nichts
Nietzsehe in den kulturkritischen Texten von Menschliches, Allzumenschli-
wird aufgearbeitet. Es rinnt nur tiefer, Es sintert weiter nach allen Seiten."
ches als die "große Loslösung" des bislang hoffnungslos Eingebundenen fei-
(Nana, 115) Dies macht die Aufbrüche zu einem Ritual zu wiederholender
ert. Sie ist die Voraussetzung für seinen lustvollen Aufbruch aus der entzau-
Absprünge, verleiht ihnen ihre Dynamik, erklärt aber auch den paradoxen
berten und erstarrten bürgerlichen Welt, einer Welt, die für das Unwahr-
Stillstand in dieser Reise-Bewegung: Sie ist der notwendige Umweg zur eige-
scheinliche und Phantastische keinen Ort hat:
nen Vorgeschichte, die erst aus der Distanz erzählbar wird. Erzählbar als die
Die große Loslösung kommt für solchermaßen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoß:
die junge Seele wird mit einern Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie
selbst versteht nicht, was sich begibt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie
Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgendwohin, um jeden
Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und
flackert in allen ihren Sinnen, [...] ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch
stoßendes Verlangen nach Wanderschaft. 5
Reflexion des Schreibenden über die von Reise-Augenblicken ausgelöste Re-
Nietzsches hochaffektive Terminologie gibt zu verstehen, daß ein derarti-
Beginn seiner Reisen in der Neuen Welt zu sehen bereit ist, sie kann nicht ge-
ges Verlangen nach Wanderschaft und das nomadisierende erotische Verlan-
funden werden, jedenfalls nicht im Sinne einer inhaltlichen gesellschaftlichen
gen sich aus der selben energetischen Quelle speisen: Loslösung, Antrieb,
Utopie, wie sie zum Beispiel im Konzept der Negritude formuliert ist. Die ge-
Drang, Bindungslosigkeit, Unverantwortlichkeit, Neugier. Und die gestei-
sellschaftliche Maschine hat sich in die Neue Welt vorgearbeitet, und sie ver-
gerte Erwartung des Zufalls. Fichte spricht von der "Geilheit des Aufbruchs"
braucht auch dort die Menschen, indem sie alle in Funktionen verwandelt.
(Platz, 210) und folgt diesem nicht kopierbaren sexuellen Impuls, der stets
Der Erzähler der Geschichte der Empfindlichkeit registriert das resignierend:
bemerkbar aggressiv gegen das alte Ich und sein Milieu gerichtet ist, schließ-
Wo der Ethnologe noch andere, lebendige, lehrreiche Lebens- und Verhal-
lich mit methodischer Konzentration: "Jäckis Exzesse hatten etwas Asketi-
tensweisen zu notieren meint, schreibt er tatsächlich schon Nekrologe. Die
sches. Seine Ausschweifungen waren Arbeitsgänge. Zeile um Zeile."
Verluste sind, so sehr ist die fortschreitende Wahrnehmungsverödung bereits
(Liebe, 51) Eine neue Welt wird bereist, um gelesen zu werden. Um sich ihr
absehbar, bald nicht einmal mehr erzählend zu vermitteln:
einzuschreiben, Spuren zu hinterlassen. Um diese Welt schreiben zu können,
flexion früherer Augenblicke. Geschichte der Empjzndlichkeit.
Fichte hat lange nach einem realen Raum gesucht, an dem die Sehnsucht
nach dem "Ungeteilten" sich erfüllt. "Das schien ihm die Utopie von einer
neuen Welt. Afroamerika." (Explosion, 12) Die bessere Welt, die Fichte am
Schreiben für eine Welt, in der es keine Schrift mehr geben wird, keine Leser, wahrscheinlich keine Augen mehr. (Explosion, 655)
Das ist das eine.
5 Friedrich Nietzsehe: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta. München 1966,
Bd. 1, S. 439.
28
6 Vgl. Torsten Teichert: "Herzschlag aussen", Die poetische Konstruktion des Fremden und
des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt am Main 1987, S. 105-133.
29
Das andere ist, daß sein Bedürfnis, "das Ganz-Andere, das Fremde, das
Uralte, Ungeteilte, das Rasende" (Forschungsbericht, 26) zu finden, auch
keiten - ganzen Kontinenten ausreden will. Auch zum Argument gegen die
"Sprache unserer Siegeranalysen und Siegersynthesen," (Xango, 119)
unter besseren Bedingungen weiterdrängte, weil es an eine nachhallende ganz
Die Reise in die Welt mußte man schon einmal machen: "Ob die Ge-
frühe Erfahrung erinnert. Sein Bedürfnis wäre an keinem realen Ort jemals zu
schichte vom Sündenfall nicht den Vorgang der Geburt einkleidet?" (Alte
erfüllen:
Welt, 297) Fichte läßt Jäcki nach seiner erotischen tour de force durch die
Die Vorliebe für Reisen, für Vergangenes: Ödipus. [... ] Die Reise, die Erfahrung des
Körpers der Mutter dadurch, daß man ihn als Wohnung verliert. (Alte Welt, 193)
Alte und Neue Welt erkennen, daß die Mutter wie der Igel immer schon da
war: "Das wußte ich schon in Schweden. Ich liebe nur meine Mutter." (Alte
Der heimatliche Raum, in dem man zum Fremden wurde, ist nur ein
"sekundäres Paradies", (Explosion, 636) eine jener zu passierenden traumerfüllten Raum-Idyllen, die die Erinnerung an ein verlorenes primäres Paradies
für Jäcki wachhalten, der sich eigentlich noch immer in dem Zaubergarten des
Großvaters bewegte, draußen Bombenteppiche und Affenherden. (Explosion, 636)
Idylle und Polemik sind zusammengehörende Pole des Fichte'schen
Werks; jene macht diese erst möglich und forciert ihre Schärfe. Fichtes wütende Kritik an den rücksichtslosen Modemisierungsstrategien, die etwa Afrika und Afroarnerika umbringen, weil sie diese Kontinente auf europäische
Entwicklungskategorien - technischer Fortschritt, analytische Naturwissenschaft und Kapitallogik - verpflichten und eben dadurch eine afrikanische und
afroamerikanische Modeme verhindern, diese Kritik hat ihren Bezugspunkt in
der Erinnerung an das "Ungeteilte" früher Leiberfahrung, als Ich und NichtIch eine libidinöse Einheit - keine Synthese - bildeten. Gerade weil es bei
Fichte die wiedergefundene Heimat nicht gibt, weil fremde Länder ihm nicht
unter der Hand zu Idyllen erstarren, kann das erinnernd vergegenwärtigte
Glück der kindheitlichen Wohnungen und Zaubergärten, dem er treu bleibt,
zum Argument gegen ein aufklärerisches Entwicklungskonzept werden, das
immer wieder (Arbeits-)Teilung, Periodisierung, Kategorisierung, Systernatisierung anempfiehlt und die Bewahrung des Überholten ebenso wie die
Trauer um Vergangenes - um alternative Konzepte, verschwiegene Möglich-
Welt, 300) Keine lineare Zeit, weder für den Einzelnen noch für Gesellschaften: Die Vergangenheit bleibt präsent, man hat sie als Zukunft vor sich. Als
Trennungsschmerz und Vereinigungssehnsucht.
Erst beides zusammen - die Erkenntnis, nicht mehr dazuzugehören, und
der utopische Moment des "Das gibt es alles" - konstituiert das Reise-Begehren. Der aus dem Kontinuum der Zeit ausgeschnittene Augenblick der Loslösung, in den sich die Reflexion des Schriftstellers versenkt, schafft die zur
Erkenntnis notwendige Distanz, die einen Rückblick auf Vergangenes und
einen imaginären Ausblick auf Zukünftiges gestattet.
Wenn es auch die bessere Welt nicht gibt, ist gleichwohl reisend und
schreibend das Andere zu entdecken. Die Fremde mag sogar, wie die Anthropologin Wilma sagt, eine "noch engere, noch kodifiziertere Welt.. sein, aber:
"Aufregender. Reicher. Genußvoller," (Explosion, 821) Tatsächlich scheint
mir diese Wahrnehmung des Fremden kein räumliches, sondern ein temporales Ereignis anzuzeigen, das überall erlebt werden kann und dessen Wahrnehmung vom fremden Raum nur begünstigt wird. Die Utopie der Neuen
Welt liegt im Ereignis des schrecklich-lustvollen Augenblicks, der alle geltenden Zusammenhänge aufhebt - also die Ordnung, das Stabile vernichtet - und
das von der Gesellschaft mit Gründen unter Verdacht gestellte Verlangen nach
einem anderen Leben immer wieder neu artikuliert.
Fichte stellt seit den emphatischen drei Sekunden Detlevs im Waisenhaus
solche Augenblicke in den Mittelpunkt seines Erzählens und seiner Poetik.
Dabei kommt der katastrophischen Erfahrung des Krieges, von der sein Werk
30
31
i
d
nachhaltig geprägt ist, Bedeutung zu. Auf dem Höhepunkt der Vernichtung
bebt, das der Moment verspricht. Und im Augenblick ist die Wahrnehmung
wird hier für den Einzelnen und für das Kollektiv ein solcher Moment erfahr-
sogar Glück, und erscheint nicht bloß als solches. Im anschließenden 53. take
bar, der den Fluß der Zeit unterbricht und einen zeitgeschichtlichen Augen-
des Grünspan erfährt Detlev das Glück, das der Katastrophe folgt:
Trauer über das Leid, das sie bereitet, so groß, daß etwas Neues beginnen
Detlev sieht den ersten feindlichen Soldaten. Dessen Arsch ist so rund, daß der Stoff der
Hose kaum rüberreicht. Am liebsten möchte Detlev zwischen die beiden Hälften des englischen Arsches hineinkriechen. (Grünspan, 99)
muß. Einen "magischen Nullpunkt" hat Ernst Jünger das genannt. 7 Was bis
Untergang und Übergang. Der jede Katastrophe begrüßende Leon Bloy
zum Grunde zerstört ist, muß von Grund auf anders werden. In Detlevs Imi-
hat in dem Schlag, den die "blitzartige, fast unbegreifliche Plötzlichkeit" des
tationen, Grünspan' erzählt der 52. take diesen entzeitlichten Augenblick:
schrecklichen Ereignisses dem Wahrnehmenden versetzt, den "Abdruck der
blick lang den Horizont öffnet. Die Zerstörung ist in diesem Fall so total, die
Nun ist alles anders. (...) Nie wieder wird es Fliegeralarm geben! Nie wieder wird sich
jemand zur HJ anmelden müssen! Keiner legt nie wieder einen Bombenteppich! Alle dürfen sagen... was sie meinen, ohne abgehört zu werden! Die Mischlinge und die Verfolgten
erhalten Amter und Orden von den Befreiern, mit vollen Händen Honig und schwarze
Schokolade und Bohnenkaffee! Ob das lange dauern wird? (Grünspan, 99)
Das wird nicht lange dauern, und Fichte ist auch ein satirischer Chronist
fünf Finger der göttlichen Hand" gefühlt. 8 Der Schlag ist eine Ankündigung
erfüllter Zeit. Einer Neuen Welt. Das ist die Utopie der Zäsur:
Und so war es ja auch wirklich. Erst kamen die Terrorangriffe (...] und dann erst die
schwellenden Ärsche [...]. Mit einer kargen Klage über das Vergehen, denn nur sie gab
der Begier ihre verzweifelte Macht. (Explosion, 366)
der dann wieder in Fluß geratenden Zeit. Aber dieser erfahrene Augenblick
Die Literatur Fichtes ist als endlose Wiederholung solcher Augenblicke
war ausreichend, das Phantastische freizusetzen. Was kollektiv gelingt, den
zugleich Klage über deren Vergehen und der Versuch, sie und das ihnen inhä-
Zusammenbruch der Welt unerschütterlich wieder ins Kontinuum einzufügen,
rente Glück in einem Kult der VergegenWärtigung noch einmal, imaginär, zu
als sei nichts gewesen, ist dem Außenseiter nicht möglich. Die Welt bleibt für
erleben und im Medium der Literatur auch für den Leser, den die präsentische
ihn, bleibt für Fichte kontingent. Er behält diese Erfahrung im Kopf: Für
Form an diesem Glück teilhaben läßt, zu bewahren. Die Augenblicke Detlevs,
einen Augenblick war die Perspektive ganz weit. Für einen Augenblick waren
die Jäcki vergegenwärtigt, dessen Vergegenwärtigung der vom Autor einge-
subjektive Bedürfnisse realistisch formulierbar.
setzte Erzähler vergegenwärtigt, indem er Detlev und Jäcki imitiert: Wieder-
Nimmt man das Ausbleiben der Erfüllung zum Maßstab, dann ist dieser
geholtes Glück. Deshalb preist Fichte das Glück des Schreibens, das bei ihm
historische Augenblick angesichts der bundesrepublikanischen Restauration
zu einer komplizierten Verschachtelung von Vergegenwältigungen wird, die
ebenso "Betrug" wie der Stillstand der Zeit in der sexuellen Ekstase, ein Be-
vergangene Momente / Möglichkeiten aktualisieren und in ein Verhältnis zum
trug, den Jäcki mit der gleichen Regelmäßigkeit beklagt, mit der er den Ver-
schreibenden Subjekt setzen. Erscheinungen der "schwarzen Zeit". Nicht al-
lust des Bewußtseins im Sex sucht. Aber das einmal erwachte Bedürfnis ist
nicht wieder aus der Welt zu schaffen. Es mag eingeschläfert werden, wird
les ist wichtig. Die Präsenz zieht Bedeutung auf sich.
Es geht Fichte auf seinen Reisen nicht nur um die VergegenWärtigung un-
dann aber in einern anderen Augenblick, dem immer eine große und vage Er-
einholbar vergangenen individuellen Glücks, sondern auch um den "lächeln-
wartung korrespondiert, wieder erwachen. Es bleibt dem bestehenden
den Augenblick der Entwicklungsgeschichte". (Explosion, 631) Der ist, so
schlechten Allgemeinen gefährlich, weil es den Anspruch auf jenes Glück er7 Ernst Jünger: Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Stuttgart 1987 [1929], S. 97.
8 Leon Bloy: Der beständige Zeuge Gottes. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. Hrsg. v.
RaYssa und Jacques Maritain. Salzburg 1953, S. 221.
33
32
wenigstens lese ich das, als die ihm zufallende Ergänzung, Erweiterung sei-
brauchten und liegengelassenen Möglichkeiten, und zugleich Suche nach den
ner schriftstellerischen und ethnologischen Praxis zu verstehen. Der Anthro-
erdbebenartigen Augenblicken, die Schichtungen erlebbar machen.
pologe Fichte interessiert sich für Menschen und Möglichkeiten; am Ende ei-
Eine Einbindung in seine Gesellschaft und ihre Sicherheiten hat er nicht für
ner fehlgelaufenen weißen Geschichte - und sie von diesem Ende her beden-
ein hohes Ziel gehalten. Die Mitwelt machte es dem Homosexuellen Hubert
kend - sieht er sich um nach verpaßten Chancen, ungenutzten Fähigkeiten,
Fichte leicht, als sie ihm das Leben schwer machte. Sie bot ihm keinen Ort
schlafenden Reserven. Nach Alternativen. Wie leben andere Menschen? Er
an, er wollte dort keinen haben. So jedenfalls inszenierte er sich. Die Ge-
nimmt die lebendigen subjektiven Vermögen, Möglichkeiten und Bedürfnisse
schichte der Empfindlichkeit soUte ein "Tourismusroman als eine Liebeskunst
ernst, die individuell und kollektiv ausgegrenzt und weggeschlossen wurden,·
der Homosexualität" (Alte Welt, 265) sein, in der die Bewegungen des Rei-
um das Zwangsgebilde des europäischen Ich zusammenzuhalten. Nicht alles
senden und die Bewegungen des schwulen Begehrens unsentimental aufein-
ist wichtig. Fichte wählt aus, aus dem von ihm auf Reisen zusammengetrage-
ander verweisen und mit ästhetischen Mitteln als eine Politik der Verteidigung
nen Angebot der Möglichkeiten gehen jene in die Existenz seiner Texte ein,
von Freiheit vorgestellt werden:
die der heimatlichen Ordnung gefährlich werden können. Ihnen verhilft er zur
Erscheinung, weil mit ihnen das in dieser Ordnung Abwesende und so viel-
Denn die Schwulen, das war Jäckis Überzeugung, sind die älteste Revolution, die permanente, die nie überwunden wird. (Explosion, 288)
leicht auch der Schwule fiktional existent wird: Das Ich in Bewegung, das
Seine Reisen, er hat es im späten Interview in der Frankfurter Rundschau
Weibliche, das Magische, das Semiotische. Das Anderswo. Weil er bereit ist,
noch einmal wiederholt, waren primär "erotisch" motiviert als Suche nach den
von den historischen Verlierern zu lernen, unternimmt Fichte, für den Regres-
schwarzen Männern. 9 Die Reise als weltweites Cruising.
sion nie etwas Verächtliches war, Reisen "ins Vergessen, ins Vergessene, ins
Ungelernte. Eine Art Geburt';. (Pubertät, 216) Und was er sieht, erregt ihn,
weil es ihn unvorbereitet trifft. Die Erschütterung durch den "Augenblick der
Entwicklungsgeschichte" gibt den Blick frei auf die Schichtungen aus unterschiedlich Gegenwärtigem, aus denen das konstruierte monolithische Ich
tatsächlich ebenso besteht wie die GegenwaI1, in der alle Zeit aufgehoben ist.
Unüberwundene Zeit:
Schichten. Immer Schichten aus Lehm, Kaolin, Erz. Immer Schichten aus Zeit. Jäcki
meinte daß er nie anders gedacht habe, als doppelt - auf Zeit bezüglich und auf Erde.
(Explosion, 437)
So ist die "im Rausch der Namen, der Riten, der Schichten, Geschichten,
Die beiden Halbkugeln der schwarzen Welt - in Gabardine - sendeten lechzendere
Signale als das wütende Weiß der Augen. (Kleiner Hauptbahnhof, 66)
Fichte antwortete diesen Signalen, folgte über enorme Strecken den streunenden Bewegungen des schwulen Begehrens, das in stabile Beziehungen
einzubinden - auch zum Kummer vieler Homosexueller - bislang nicht gelungen ist. Selbst in Fichtes Polemik gegen engagierte Literatur spricht es sich
noch aus: "Das Kriterium der Literatur ist, daß sie sich nicht bindet."
(Explosion, 277) Und etwas später im Roman Explosion verschärft Jäcki
seine These:
Engagement. Wenigstens in der Landwirtschaft wurde ordentlich geleckt und gestoßen.
[...] Und Jäcki schwor sich: Nie wieder. Nie wieder lieben. Sex pur. (Explosion, 336)
Ströme" (Explosion, 535) emphatisch erlebte Reise Fichtes - die in Lokstedt
nicht weniger als die in der Neuen Welt - immer Erforschung und Aktualisierung dieser Schichten, dem anthropologischen Material aus genutzten, miß-
34
9 Interview mit Gisela Lerch und Claus-Ulrich Bielefeld: Freiheit kann ja nur Ritenlosigkeit
heißen. In: Frankfurter Rundschau, 23. 3. 85.
35
Hier erscheint Engagement gleichermaßen bezogen auf die private wie die
der großen Idee am konkreten Beispiel: Wie hält Allende es mit Borges? Will
politische Sphäre: Als die von Fichte zugunsten von Polymorphie und libidi-
die Regierung auch den "hungernden Schwulen ihr Achtelchen Sahne" zubil-
nösem Erleben abgewehrte Verpflichtung zur Entscheidung. Bewegung ist
ligen? (Explosion, 288) Die Achtung der Autonomie des Ästhetischen und die
immer "Gegenbewegung", (Explosion, 276) die zunächst nicht über positive
Achtung der Anderen, hier macht Fichte sie zu Kriterien für die Glaubwür-
Inhalte zu bestimmen ist, sondern als permanente Störung von Gewißheiten
digkeit eines Regimes. Hier bleibt er europäischer Aufklärer.
und Wahrheiten. Von Sicherheit.
Die gelegentlich etwas zu nachdrücklich vorgetragene These Fichtes, Freiheit könne immer nur Ritenlosigkeit bedeuten, funktioniert als Schutz eines
Autors, der "wie kaum ein anderer von Formen, Etiquette, Riten, Zeremonien
fasziniert gewesen war". (Explosion, 426) Gegenzauber, weil neue Bindungen drohen.
Ähnlich verhält es sich mit Fichtes "unwiderstehlichem Hang zur Profanation" (Explosion, 344). Fichte weiß, daß er "so ganz einer Religion nicht entkommen sein kann", (Explosion, 344) wenn ihre Schändung ihm solche Lust
Der "anarchische Habitus Fichtes"10 wird im frühen Briefwechsel mit Peter Hinrik Ball noch konventionell entworfen:
Du wirst mich in meiner Freiheit gegenüber dem Bürgertum nie einholen können - denn
ich bin nicht einmal mehr, unbürgerlich' .11
Daraus wird der Stil eines anderen Erkennens, das nur die Evidenz plötzlicher Wahrnehmung anerkennt und - hierin Teil der asozialen ästhetischen
Modeme bleibend - jede gesellschaftliche Übereinkunft ignoriert:
Es ist etwas äußerst Unevangelisches, Ungoetheanisches, Unmarxistisch-Leninistisches,
zu dem ich mich entschließe. (Pubertät, 52)
bereitet. Die Gegenbewegung bedeutet hier für den schwulen Reisenden eine
Fichte entschließt sich, versuchsweise den mechanistischen Begriff der
Verknüpfung der Aggression gegen die kulturelle Norm mit der libidinös be-
Ursache, der Zusammenhänge klärt, zugunsten eines sinnlichen Erkenntnis-
setzten Annäherung an das ausgegrenzte Andere. Der Schwule eignet sich et-
vermögens aufzugeben. Er entdeckt die synthetisierende Kraft des Leibes. Im
was von der Angst, die dieses Andere auslöst, als Vermögen an. Er verwan-
Roman Explosion hat Jäcki sich auf seiner Brasilienreise gegen den Leiter ei-
delt sich in das, was der auf Reinheit bedachten Kultur als "Schmutz" gilt,
nes Goetheinstituts zu verteidigen, der den Vorwurf erhebt, als Uneingeweih-
und verleiht ihm durch seine Rhetorik des Bösen einen "Heiligen Schimmer"
ter könne er, Jäcki, die Religionen der Schwarzen überhaupt nicht beurteilen.
(Explosion, 344). Bann und Gegenbann -- die schwarzen Riten der Sexualität
Damit halten Insider sich gern fachfremde Konkurrenten vom Hals. Jäcki ar-
kontern die Riten der Kirche.
gumentiert anders:
Aber Fiehtes Repertoire der Gegenbewegungen ist größer. Die Reise ins
Chile Salvador Allendes gehört dazu:
Beurteilen kann ich es nicht, sagt Jäcki. /- Aber ich kann es sehen, hören, riechen. /- Ich
kann es anfassen. /- Und ich kann ihre Kraft sehen, die Schönheit, die Fröhlichkeit, die
Pop Art der Armen, das kam mal von Popular Art, ihre Revolution kann ich wohl sehen. Die Oberfläche genügt mir. (Explosion, 133)
Die Gegenbewegung gegen Jäckis Faszination vor den Riten. Die Gegenbewegung auch
gegen Jäckis Zwang Riten zu verletzen. Sozialismus. (Explosion, 276)
Der Repräsentant deutscher Kultur greift zur erkenntnistheoretischen All-
Wer ständig zum Absprung bereit ist, stellt in einer Kultur, die sich auf
zweckwaffe: "Sie werden gar nichts erkennen. Wenn sie nicht drinnen in ih-
,unveräußerliche Rechte' und, feste Überzeugungen' allerhand einbildet, eine
Provokation dar: Er rechnet immer mit der Möglichkeit, daß der Gegner recht
haben könnte. Und startet eine neuerliche Gegenbewegung, die Überprüfung
36
10 Gert Mattenklott: Hubert Fichte: Erotologie als Form. In: Hartmut Böhme / Nikolaus
Tiling (Hg.): Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Studien zum Werk Hubert
Fichtes. Frankfurt am Main 1991, S. 70-82, S. 71.
11 N. Tiling, a.a.O., S. 48.
37
-~-----_._--~._--'~-----------------------------~II'\!I'I!!!I!'!!"""'---------
rem System sind". Und Jäcki überbietet: "Ich kann mit ihnen ficken".
(Explosion, 133) Das ist frech, und Fichte wird gewußt haben, daß er den
Einwand auf diese Weise nicht erledigen kann. Er löst das Problem nicht, das
nicht mehr sein Problem ist. Er verzichtet auf die Erkenntnisform, die sein
Gesprächspartner meint.
Der Wissenschaftler Fichte ist angegriffen worden. Und angreifbar. Weil
er die neuzeitliche Trennung von Wissenschaftler und Dichter, von intellektuell versachlichender und sinnlich-ästhetischer Erfahrung nicht mitvollziehen
mochte. Die Subjektivität des Forschers wird bei ihm zum Thema. Das ist im
Betrieb verpönt:
Warum beichten in den Wissenschaften vom Menschen immer nur die anderen, wie beim
Pfaffen? [...] Ist es eine Schande, einzugestehen, dass man über die Woloff forscht, weil
man schwul ist? (Petersilie, 362)
aber Vergangenes gegenwärtig ist und daß es anderswo, jetzt anders ist, fördert gefährliches Möglichkeitsdenken. "Reisen", so der dank seiner Sicherheitsobsessionen stets die Gefahr erkennende Otto Weininger, "ist unsittlich,
weil es Aufhebung des Raumes im Raume sein soll." 13 So sieht Fichte es
auch: "Reisen ist das Auslöschen der Welt, dachte Jäcki: Überallsein. Nirgends." (Forschungsbericht, 12) Deshalb haben die Fundamentalisten des
Bestehenden das Reisen entweder verboten oder, mit mehr Gespür fürs
Machbare, dafür gesorgt, daß die Reisenden nichts zu sehen vermögen als
das Bekannte: TUI-Touristen; Reisende im Banne des Spartacus.
Als "Entscheidungsunfähigkeit" hat sich die am Konzept permanenten
Fortschritts festhaltende Wissenschaft die Begierde des Immer-nur-wegWollens erklärt und damit ebenso der politischen wie der erotischen Bindungslosigkeit einen kulturpädagogischen Rüffel erteilt. Dem Ortlosen, der
Fichte verknüpft ein weiteres Mal homosexuelles Begehren und for-
sich nur für jene Zeitspanne bindet, in der Bindung nicht empfunden wird,
schende Reisebewegung. Schon im Versuch über die Pubertät bedeutete diese
wurde das Reifezeugnis verweigert. Fichte dreht es um: Er ergreift das Unge-
Verknüpfung ein Bekenntnis zur Kehrseite der sauberen heimatlichen Kultur:
bundensein als Chance zur Distanz gegenüber der normativen Sphäre. Die Di-
Ich lobe den Arsch, den ich fühlen kann, sehen, riechen, schmecken, hören, den sinnlichsten von allen! [... ] Ich lobe den Arsch, der ist wie ein Auge, das wie die Welt ist,
die wie ein Arsch ist! (Pubertät, 84)
stanz zu ihr schafft die Freiheit, sich auf die Außenwelt einzulassen. In seiner
Die ethnologische Forschung Fichtes und sein Erzählen sind von seiner
fremdung. Ein lebenslanger Versuch über die Pubertät: Er will sich nicht ent-
Homosexualität nicht zu trennen. 12 Die Reisen in den Arsch (der Welt und
der Männer) werden schließlich allemal auch als Entäußerung von Ausgren-
ästhetischen Produktion stellt Fichte diese Distanz kalkuliert her - als Verscheiden:
Jäcki: / Bisexuell. / Mischling ersten Grades. / Monsieur Quine ~ Herr Jein.
(Grünspan, 98)
zungserfahrungen unternommen, um die Heimat zu frondieren:
Es war, als spritzte Jäcki seine ganze Urzeit, alle Kinderhygiene, die wunderbare Reise
Nils Holgersons, den ganzen Bücherschrank der Mutter [...] in Fred hinein und alle unerlöste Konfirmandensehnsucht. (Kleiner Hauptbahnhof, 88)
Der fulminante 51. take des Grünspan ist Fichtes erste aggressive Auseinandersetzung mit den sehr reifen Leuten, die "wissen, was richtig ist".
(Grünspan, 84) "Die poetisch komponierte Aussage" (Petersilie, 363) des
Die Leute, die sich absetzen, sind unzuverlässige Kantonisten. Daß es frü-
Ethnologen und Schriftstellers ist gerade deshalb erkenntnisrelevant, weil sie
her anders war, bedeutet keine große Gefahr für das Bestehende, denn für
nicht primär als Bestätigung des Autors und seiner Normen funktioniert, son-
das ,Ich im Lehnstuhl ' ist das Vergangene unwiederbringlich vergangen. Daß
dern das Überraschende, Unvorhergesehene, Nichtbedachte des Zusammen-
12 Ein Beispiel für den Versuch solcher Trennung ist: Hans-Jörg element: Schichten der
Empfindlichkeit. Ethnologie im Werk Hubert Fichtes. Diss. Bonn 1989 (masch.).
13 ütto Weininger: Taschenbuch und Briefe an einen Freund. Leipzig, Wien 1920, S. 39.
38
39
f
treffens von Subjektivität und Außenwelt im phänomenologischen Stil be-
Welt, 421): Den Verzicht auf die Verpanzerung des Ich, das aus der sich als
wahrt, der das Wahrgenommene erklärungslos vorzeigt, so daß es auch vom
"Verantwortlichkeit" tarnenden Abwehr seine Legitimation bezieht
Leser wahrgenommen werden kann: Der Evidenz des Wahrgenommenen ste-
Solche Aufbrüche haben ästhetische Konsequenzen. Die Kategorien Zu-
hen die "Zweifel, Niederlagen" (Petersilie, 364) des um Verstehen bemühten
sammenhang, Kausalität, Zukunft, Verantwortlichkeit prägten auch die Re-
Reisenden gegenüber, die im Rezeptionsvorgang zu den Niederlagen des Le-
geln und Maßstäbe der europäischen Ideen- und Entwicklungsliterawr, die
sers werden, dem keine narrative Vermittlung den Weg weist. Die Darstel-
vor allem den Zufall und das Wunderbare als irrational denunzierte" Noch die
lungsweise korrespondiert mit der Weise, wie die Welt wahrgenommen wird:
skurrilen Zusammenkünfte der "Gruppe 47" nehmen sich wie Gerichtstage
disparat, diskontinuierlich, sinnlich. Fichte erzählt Ereignisse und wie auf sie
gegen das Böse der Moderne aus. Nietzsche hat - nachlesbar im Nachlaß der
reagiert wird. Fragmentarisch. Keine großen Geschichten in dieser Ge-
achtziger Jahre -- die Wirklichkeitsfiktionen solcher Ästhetik als Ideologie kri-
schichte der Empfindlichkeit, in der die Aversion gegen abstrakte Normen
tisiert, die sich gegen eine realistische ästhetische Erfahrung spelTe:
und voreiliges Verstehen ein Thema bleibt, das zunehmend gereizter abgehandelt wird. Fichte ist irritiert über das so wenig zu irritierende "unneugieri-
Kultur, das heißt eben berechnen lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an
Notwendigkeit glauben lernen,14
ge Europa, für das Wissen selten etwas anderes war als Macht" (Schwarze
Dieses Konzept von Kultur sei durch den inkommensurablen Augenblick
Stadt, 342), und er karikiert beißend diesen universalen Typus des progressi-
bedroht, der den Satz vom Grunde aufhebe und einen kategorischen Zweifel
ven Spiegel-Journalisten, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Be-
bedeute:
schläge zu erteilen, nach denen die Welt geordnet zu werden hat". (Explo-
Ja, es ist ein Zustand yon Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenheit
möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt - wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt. 15
sion, 400) Die Welt, die nach solchen Ratschlägen denn ja auch geordnet ist,
Nicht die Welt wird unübersichtlicher, sondern wir glauben nicht mehr an
hat Fichte sich mit der Neugier desjenigen, dem jedes getroffene Agreement
die Begriffe, die sie übersichtlich machten. Sie lassen zu wünschen übrig.
fraglich ist, angesehen, genauer vielleicht als irgend ein anderer zeit-
Das steckt hinter Fichtes Ketzerische{n} Anmerkungenfür eine neue Wissen-
genössischer Schriftsteller. Und deshalb wird er hier grundsätzlich:
schaft vom Menschen: "Warum müssen wissenschaftliche Erzeugnisse voll-
griff festgelegt hat und es sich zur Aufgabe macht, am Schreibtisch "Rat-
Ich sollte mich entscheiden. / Ich wußte, es war falsch, sich zu entscheiden. / [...] / Ich
entschied mich immer gegen den, der mich zur Entscheidung zwang. (Garni, 21)
ständiger sein als ihr Vorwurf'?" (Petersilie, 364)
Die Realität läßt sich nicht sagen und schon gar nicht eindeutig machen.
Die Sicherheiten und das Bedürfnis nach ihnen fallen weg. Alles scheint
nur (so) zu sein. Dem Scheinen widmet Fichte seine ganze Aufmerksamkeit.
Die Suche nach dem Unbekannten hinter der Bergkeue ist eine Gefahr für das
Ästhetische Wahrnehmung geschieht plötzlich und ist vieldeutig. Das sollte
ästhetische Produktion bearbeiten. Fichtes Poetik gründet auf einer surrealistischen Überzeugung, nach der das Schöne das Unerwartete ist. 16 Beispiel-
Bekannte vor dieser Bergkette: "Staunen - das bedeutet auch zweifeln."
(Schwarze Stadt, 329) Es geht um ästhetische, politische, ethische Konzepte.
Und es geht um eine andere Wahrnehmungspraxis, die Utopie der Empfind-
lichkeit -- eine geträumte "totale Verschwulung der Gesellschaft" (Alte
40
14 F. Nictzsche, a.n.O., Bd. 3, S. 626.
15 F. Nietzsche, a.a.O., Bd. 3, S. 626.
16 Vgl. Louis Aragon: Vorwort. In: ders.: Libertinage, die Ausschweifung. Stuttgart 1973,
S. 11.
41
haft dafür ist, wie Fichte in Alte Welt das Erscheinen der Bidonvilles insze-
durchbricht, gar nicht gäbe. 18 In seinem Herodot-Essay macht Fichte diese
niert:
Zwiespältigkeit zum Kennzeichen des modernen Schriftstellers. Auf der einen
Das Bidonville der rue de la Republique. Niemand wendet den Kopf, keiner bleibt stehen.
Und es ist doch in Wirklichkeit etwas ganz Unfaßbares. Etwas, was da gar nicht hineinpaßt. Etwas, das mit dem Begriff der Zivilisation nicht zusammenzubringen ist, das auch
gar nicht ins Straßenbild gehört. So völlig außerordentlich, daß es schon faßt pittoresk
anmutet. Living Pop. Ungeheuerlicher auf jeden Fall als die Bilder des alten Mannes, der
im Augenblick ein Dutzend Pariser Galerien okkupiert. (Alte Welt, 96)
Seite "Haß auf die Mächtigen, Toleranz, Mitleid", auf der anderen Seite, jen-
Ein Hieb gegen Picasso. Das Ungeheuerliche ist im Alltag zu entdecken,
Schon im Grünspan reagiert Jäcki auf eine Schlägerei, deren Zeuge er
nicht in der alt gewordenen Avantgarde. "Unfaßbar", "außerordentlich", "ungeheuerlich": Fichte versucht gar nicht erst, einen Schock zu erzählen, vor
dem alle Wörter konventionell bleiben müssen. Er vermittelt die Stimmung
eines Augenblicks, der sich der Sprache entzieht, den Ernst Jünger charakterisiert hat als "Angriff des Wunderbaren auf die Welt der Tatsachen", erlebt als
"Stocken des Atems und des Herzschlages, als blitzartiges Erlöschen der
Wahrnehmung und als ihr Wiedererwachen".17 Plötzlichkeit der Irritation.
Fichte selbst hat 1985 im schon erwähnten Interview mit Gisela Lerch und
Claus-Ulrich Bielefeld am Beispiel von Haiti vom "surrealistischen Erlebnis"
gesprochen und nach dessen Bedingungen gefragt: "Wie läßt sich das jetzt realisieren ohne die blutigen Foltern von Duvalier und den Hunger? Ist das eine
ohne das andere möglich [...], ist das im Ästhetischen frei möglich?" Er beantwortete die Frage skeptisch.
Fichte ist Moralist, er war es immer, aber immer war er auch ein reflektierender Schriftsteller, der die ästhetische Grenze zur Ethik respektiert: Der Augenblick wird nicht wertend erlebt, sondern autonom. Der Augenblick ist libidinöse Zeit. Er steht für sich und berücksichtigt keine sozialen und politi-
seits von gut und böse, die ästhetische Wahrnehmung, das starre Auge des
\Vissenschaftlers, Pasolinis Auge, wenn er vom Häuten redet. (Schwarze
Sradt, 352)19
lNird, mit dieser Ambivalenz:
Ist es nicht w!chtiger zu beobachten, was jetzt geschieht, als ohne die vollständige Beobachtung welterzuleben? (Grünspan, 194)
Das ist nicht nur die Frage nach den Geschehnissen des beobachteten Ablaufs, sondern: Was geschieht jetzt mit dem Beobachter, wie ist "die EntwickI.ung des Darstellenden"? (Petersilie, 362) Nicht die moralische Beurteilung,
sondern die Eindringlichkeit des Erlebnisses, das leiblich-seelisch als Erschütterung des Gewußten, Bekannten, Erwarteten registriert wird, steht hier
im Vordergrund. Josef Winkler spricht vom Motivhunger des "fotografierenden Auges",20 das immer neue Bilder sehen will, unter deren Intensität das
alte Ich endlich stirbt. Jäcki ist Beobachter: "Ich greife nicht ein" (Palette,
106). Das Notieren punktuell wahrgenommener Sensationen wird zur alltäglichen Praxis des Schriftstellers, und Fichtes Texte sind immer auch auf Wirkung bedacht, auf eine möglichst genaue Evozierung des Wahrnehmungsschocks im Leser.
Der Sc~ock, .den der Anb.lic~ eines Bidonvilles auf den Betrachter ausübt, müßte mit
großer IIteranscher Kunst m emen Text übersetzt werden. Diese Anstrengung bringt man
vor dem akuten Elend nur unter Skrupeln auf. (Alte Welt, 119)
schen Gehalte, sondern vollzieht sich als sinnlicher Akt, der erst später durch
die Reflexion in Zusammenhänge gebracht wird, die es aber ohne die Initialzündung der Wahrnehmungssituation des Augenblicks, der Zusammenhänge
17 E. Jünger, a.a.O., S. 42.
42
! 8 Vgl. Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt am Main 1987, S. 207.
19. "Selbst bei Autoren, de~en progressi~e, z~kunf~sorientierte ,Ideologie' als politische
ZeItgenossen und PamphletIsten unbestreItbar Ist, WIrd auf der rein literarisch-ästhetischen
Ebene ~ie~e Zei.tperspekt.ive eingezogen." Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die
SemantIk asthetIscher ZeIt. Frankfurt am Main 1994, S. 151.
20 J. Winkler, a.a.O., S. 121.
43
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Die Übersetzung in gemütserregende Literatur gelingt im phänomenologi-
Ein anderes Reisen. Eine andere Poetik. Das Schwarze soll nicht aufge-
schen Stil, der das Erlebnis nicht beschreibend nachdrücklich macht, sondern
klärt, hell, weiß werden. Auf der Flucht vor dem bis zur Unerträglichkeit
die Wahrnehmung der singulären Dinge vorzeigt und auf diese Weise den Le-
Vertrauten wollen die Reisenden sich überraschen lassen von Momenten, in
ser in eine ähnliche Wahrnehmungssituation bringt wie den ersten Betrachter.
"Romantisch ist die Oberfläche der Erde", notiert Schlegel. 21 Und diese
denen das Erleben intensiver und lustvoller wird. Fichtes Forschermaske
Oberfläche mußte - muß - erst einmal als Fremdes, Überraschendes wieder-
gen das Normative komplementär ist: "Jäcki konnte nur begeistert existieren."
entdeckt werden. Die Reise ist ein Versuch, sich mit der Welt unvertraut zu
(Kleiner Hauptbahnhof, 64) Der böse Blick des Außenseiters: Aus der Di-
machen. Nur wer sie nicht erklären will, kann sie wahrnehmen. Darauf be-
stanz, in die man ihn verbannt, betrachtet er die Welt als Schaubild, das Bil-
standen die Romantiker, Novalis vor allem:
der zu seiner Erregung bringt:
Durch Erklärung hört ein Gegenstand auf, fremd zu sein. Der Geist strebt den Reiz zu
absorbieren. [...] Zueignung ist also das unaufhörliche Geschäft des Geistes. Einst soll
kein Reiz und nichts Fremdes mehr sein. 22
kann von diesem primären Reisemotiv nicht ablenken, das der Abneigung ge-
Warum reist man solcher hard core nach? Aus eigenen Zwängen, Zerstörungen?
(Schwarze Stadt, 345)
Der Verzicht auf traditionelle erkenntnistheoretische Kategorien -- auf das
Daß Wissen Leere und Ent-Fremdung produziert, darüber wollen die Romantiker nicht mehr diskutieren, und das romantische Poetisieren ist, was
immer dann daraus geworden sein mag, zunächst kein "Zupoetisieren", kein
künstliches Verrätsein, sondern das "poetische Freilegen" (Petersilie, 362)
der Oberfläche. Poetisierung des Fremden, das reizt:
Die Gegenstände müssen wie die Töne einer Äolsharfe da sein, auf einmal, ohne Veranlassung. 23
Das fingiert auch Fichtes "Poetik des Erscheinens",24 die auf den ausdifferenzierenden Kontext des psychologisch-realistischen Erzählens verzichtet,
und wie die Romantiker macht Fichte sich auf die Suche nach dem Abwesenden.
Wo ist die unbekannte Geste, die unbeobachtete Empfindlichkeit, der schädliche Prozentsatz? (Petersilie, 365)
Geschäft des Geistes - ist identisch mit der Leugnung einer Möglichkeit adäquater - also das wahre Sein enthüllender - Wahrnehmung; statt dessen gibt
es, so Nietzsehe in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, den
Dingen der Objektwelt gegenüber "höchstens ein ästhetisches Verhalten". 25
Eben dies thematisiert Fichte im Abschnitt Verschiedene Existenzen Agadirs
des Bandes Alte Welt:
Wenn ich aus Hamburg komme, lerne ich ein anderes Agadir kennen, als wenn ich aus
Rom komme, ein anderes Agadir, wenn ich vorher in Bagdad war, ein anderes, wenn ich
vorher in Tapio1a war. (Alte Welt, 341)
Kein wirklicher Ausdruck des Objekts im Subjekt ist möglich; das Andere
und die anderen sind nicht zu verstehen. Insofern das Wort Agadir ein Name,
ein Zeichen sein soll, bezeichnet es tatsächlich nichts. Agadir gibt es nicht. Es
existiert nur als Abwesenheit. Seine verschiedenen Existenzen sind Empfin->
dungen, die Fichte nicht mehr im Namen zusammenhalten kann. Er wird ein
"verrückter Liebhaber von Singularitäten", ein Typ, von dem Lyotard sagt, er
21 Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797-1801/ Literary Notebooks. Frankfurt am
Main, Berlin, Wien 1980, S. 137.
22 Novalis: Werke und Briefe in einem Band. Hrsg. v. Alfred Kelletat. München 1968,
S.423.
23 Nova1is, a.a.O., S. 502.
24 Hartrnut Böhme: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart
1992, S. 388.
44
sei entschlossen,
25 F. Nietzsche, a.a.O, Bd. 3, S. 317.
45
für jede Intensität einen eigenen Namen, einen göttlichen Namen zu fordern, also mit jeder von ihnen zu sterben, vielleicht sogar sein Gedächtnis [...] und ganz sicher seine eigene Identität zu verlieren.2 6
"Das Ich ist unrettbar. "31 Mach hat seinen berühmtesten Satz ganz ohne
Sentimentalität formuliert. Er hielt das Prinzip der Enge, der "scharfen Begrenzung" des Subjekts, das Naturbeherrschung, analytische Wissenschaft
Als "eternal momentary"27 - "ewig Momentane" - hat Djuna Barnes eine
HeIdin ihres Romans Nightwood erzählt. Daß damit die Kondition des modernen Schriftstellers beschrieben ist, darin sind sich Oswald Wiener und
Fichte in ihrem Gespräch einig:
Er denkt noch a-historischer als ich. Ihm erscheinen nur noch einzelne Punkte von Erlebnissen. Was ein anderer empfindet, ist völlig unverständlich. (Alte Welt, 425)
"Ernst Mach lesen": Mit diesem Vorsatz wird am Ende des Grünspan der
Plan, sich "mit einer Theorie der Empfindsamkeit [zu] befassen" (Grünspan,
234), in Angriff genommen. Mach hat schon früh den modernen Zweifel am
Wirklichkeits- und Substanzdenken formuliert, als er allein den Empfindungen Wirklichkeit zusprach:
Was wir Materie nennen, ist ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang der Elemente
(Empfindungen). [... ] Nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern Elementarkomplexe (Empfindungskomplexe) bilden den Körper. 28
Und sie bilden das Ich. Erst die "Beständigkeit" wiederkehrender Empfin-
und Erkenntnistheorie ermöglicht hatte, angesichts seiner apokalyptischen
Folgen für "ungenügend, hinderlich, unhaltbar"; er wollte die "Schranken des
Individuums" aufheben. 32 Das war ein politisches Projekt: Öffnung für das
Nicht-Ich, leibliche Weitung, Verwandlung, Nachgiebigkeit. Ein osmotisches
Verhältnis zu den Dingen. Wenn unsere Erfahrungsökonomie mit dem raschen Wechsel von Empfindungen nicht mehr klarkommt, ist es an der Zeit,
Substanz-Fiktionen und die daranhängenden Ideologeme von Entwicklung,
Planung und Universalität aufzugeben, sie aufzulösen "in unfaßbare Plötzlichkeiten, helle Augenblicke, zeitlose Zufälle".33
Fichtes Werk illustriert keine theoretischen Erörterungen, es erzählt, was
von den Begriffen der Theorie gar nicht erreicht werden kann. Der Physiker
Mach lehrt, daß
die Sinne weder falsch noch richtig zeigen. Das einzig Richtige, was man von den Sin~esorganen sagen kann, ist, daß sie unter verschiedenen Umständen verschiedene Empfmdungen und Wahrnehmungen auslösen.34
dungen, ihre "langsame Änderung"29 habe die Fiktion von Materie, Substanz, die Fiktion eines Ich ermöglicht, das gleichwohl immer nur eine
"ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit" gewesen sei:
Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). [... ] Die Elemente
bilden das Ich.30
Sie, die Empfindungen und Wahrnehmungen, kann man nicht erklären,
nur erzählen. Auf eine komplexe Weise, an die Fichte sein Leben gab.
Verschiedene Existenzen Agadirs. "Die Reinheit gibt es nicht. Die Dinge
selbst existieren nicht." (Explosion, 336) Wenn es die Dinge selbst nicht gibt,
Weil nun in der modernen Lebenswelt immer mehr Empfindungen immer
ist es auch sinnlos, von Schein zu sprechen. Der Platonismus wird absurd.
schneller eintreffen, bleibt keine Zeit, sie zur Einheit zu ordnen. Das Ich zer-
Also geht es darum, die Wahrnehmungen zu vermitteln und dabei nicht "die
fällt nicht, es kann als Fiktion nur nicht entstehen.
Intensität zugunsten der Vollständigkeit" (Alte Welt, 262) aufzugeben. Intensität aber ist grundsätzlich nicht ableitbar, ist auch allen vernünftigen Unter-
26 Jean-Fran<;ois Lyotard: Ökonomie des Wunsches. Bremen 1984, S. 47.
27 Djuna Barnes: Nightwood. With an introduction by T. S. Bliot. London, Boston (Fabel'
and Fabel') 1979, S. 181.
28 Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum
Psychischen. Jena 61911 (11886), S. 270.
29 E. Mach, a.a.O., S. 13.
30 E. Mach, a.a.O., S. 19.
46
31 E. Mach, a.a.O., S. 20.
32 E. Mach, a.a.O., S. 18f.
33 Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt am Main 1987, S. 10.
34 E. Mach, a.a.O., S. 8.
47
scheidungen von wahr und unwahr, Ich und Nicht-Ich, Lust und Leid, Leben
Zwecken verpflichtet und deshalb wirklich jenseits der Gesetze. Bloch meinte
und Tod, falsch und richtig voraus. Es gibt für den Moment nur eine
dieses Freisein von Ideen, Inhalten und Normen, von Zeit, als er vom "Dun-
"intensive libidinöse Zone. [...] Der Begriff, die Zeit, die Negation, die Am-
kel des Augenblicks"39 sprach, der wie Fichtes "schwarze Zeit" als Irritation
bivalenz gehen mit der Abschwächung der Intensitäten einher."35
ganz für sich besteht, unerhellt, außerhalb der historischen Zeit. Kein häufi-
"Empfindungen muß man nicht erklären wollen"36. Sie selber sind aus
geres Motiv in der Geschichte der Empfindlichkeit. Die Erwartung solcher
nichts ableitbar, aber alles, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, geht auf
Momente ist der Impuls für die Weiterführung der Reisen. Empfindlichkeit
die Empfindungen zurück. Mit der Emphatisierung des intensiven Augen-
für die "geringfügige, allgemeine Verschiebung des Alltäglichen", auf der
blicks stellt sich Fichte - der mit Vorsatz wichtige Ahnen nicht zitiert - in die
Reise gesteigert und dann auf die Heimat angewendet:
Tradition der romantischen Poetik, die propagierte, daß alles, was dem
Schriftsteller zufällt, "erstes Glied einer unendlichen Reihe, Anfang eines unendlichen Romans"37 werden kann.
Jedes Willkürliche, Zufällige, Individuelle kann unser Weltorgan werden. Ein Gesicht,
ein Stern, eine Gegend, ein alter Baum usw. kann Epoche in unserem Innern machen.38
Nicht das Abseitige, sondern das Vernachlässigte, Ignorierte, Mißachtete
hat Fichte der Literatur zu bearbeiten aufgegeben.
Komisch, was einen beeinflußt, sagte Jäcki zu Irrna. /- Keine Epoche, kein Gesamtwerk /- ein Satz von Hans Bender, ein geschwärzter Glasscherben, ein Bauer aus
Dalarrna drückt eine Klinke herunter. (Kleiner Hauptbahnhof, 197 f)
Es ist nur ein allergeringstes, unweigerlich Andres, das genügt, um das Gefühl der Fremde nicht mehr loszuwerden. (Pubertät, 216)
Weltläufig dürfen solche Reisenden nicht werden. Kein Wunder, daß
Fichte weg will, sobald er sich vertraut fühlt. 40 Dem ausgestellten Desinteresse an akademischer Reputation zum Trotz bleibt die schon früh an sich erkannte Unruhe - "Die Wissengebiete langweilen mich immer so schnell"41 dem Ethnologen Fichte eine Quelle des Unbehagens, das von Irma noch be:fördert wird:
Ich habe eine andere Art zu lernen als du, sagte Irma: Ich lerne wenig, übersichtlich... / Danke. (Forschungsbericht, 35)
Höchste Evidenz gewinnt solche Wahrnehmung im Augen-Blick der erotischen Begegnung, der Epoche macht in unserm Innern. Er ist das Modell solcher Wahrnehmungspraxis: Emphase auf den ersten Blick. Nach ihm sucht
Fichte. Er ist die Quelle seines Gestaltens und geht in die Form der Gestaltung ein.
heiten"42 nämlich, hat selbst der Soziologe Kar! Mannheim das gegen alle
Erklärungen und Entscheidungen mißtrauisch gewordene Wahrnehmungsvermögen der Romantiker anerkennen müssen. Fichte will nicht rein ins Gehäuse, sondern raus, nicht auch eng sein, sondern weit werden dürfen. Der
Es gibt Männer, die verbreiten so eine absolute fleischliche Atmosphäre, daß nur noch
dies zählt und alle anderen Gesetze ungültig werden. (Garni, 76)
Panzer der definierten Identität soll durch ein-dringliche Wahrnehmungen ge-
"Timelessness" (Palette, 328): Reine Selbstreflexivität des Moments,
knackt werden. Wenn Fichte weich wird, gibt er nach. Jäcki leistet der äuße-
Geilheit des Aufbruchs. Unverantwortlich, asozial nur den selbstgesetzten
35 J.-F. Lyotard, a.a.O., S. 45f.
36 Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig
51926, S. 44.
37 Novalis, a.a.O., S. 352.
38 Novalis, a.a.O., S. 457.
48
Als "Empfindlichkeit", die Fähigkeit zum "Herausspüren qualitativer Fein-
ren Welt keinen Widerstand:
39 ,.Als unmittelbar daseiend, liegt es im Dunkel des Augenblicks. [... ] Dementsprechend
also wird der jeweilige Inhalt des gerade Gelebten nicht wahrgenommen." Ernst Bloch: Das
Prinzip Hoffnung. Berlin 1959, S. 3341'.
40 Hubert Fichte: Interview. NDR, 28. 10. 1980.
41 N. Tiling, a.a.O., S. 46.
42 Karl Mannheim, a.a.O., S. 117f.
49
Die Djemma el Fna geht durch mich hindurch, Wie die Tinte das Bibelpapier des Koran
durchdringt. (Platz, 85)
Wie sich in Erwartung und Sehnsucht und Neugier alles auf Liebe bezieht, so in Furcht
auf den Tod. [...] Das Einswerden ist wohl bloß Ideal der Umarmung. 44
Keine Spur von Angst. Jäcki liefert sich den Empfindungen aus, Er wird
Jäcki, das erste Mal in Brasilien: "Die neue Welt preßt sich an ihn heran.
zum Leib, den die intensiv wahrgenommenen Dinge passieren. Zu Papier, in
Es hat etwas von Umarmung." (Explosion, 20)45 Auch die Welt läßt sich im
das die Dinge sich sanft einschreiben. Reisen und Schreiben: Das gehört zu-
biblischen Sinne erkennen. Oskar Negt und Alexander Kluge haben die auf
sammen. Hinterlassene SpUreil. Durchdringen. Die Welt lesen und von ihr
Ich-Sicherung angelegte Wahrnehmungspraxis des ,Homo Clausus' "in
gelesen werden. Markierungen, daß hier Erinnerungswürdiges ist. Wenn die
Analogie zum Bau der Arche Noah" gesetzt: "Der Gegensatz dazu wäre, bei
Reise, wenn alles vorbei ist, bleiben die Zeichen und erinnern an die Anwe-
Sintflut ins Meer zurückzukehren, schwimmen zu lernen."46 Der Fortschritt
senheit des Abwesenden.
läge also darin, regredieren zu können, zurückkehren gelernt zu haben, wo es
Die Wahrnehmungspraxis Fichtes ist eigensinnig bezogen auf das Männer-
unrealistisch ist, immer nur vorwärts zu wollen. Das amorphe Meer wurde
Bild vom porösen hysterischen Leib in den die Wahrnehmungen einfluten,
vom männlichen Subjekt angstvoll dem Weiblichen zugeordnet. Um dorthin-
dem kulturellen Bild von der Frau, die nicht dicht ist, deren vermeintlich de-
als Mann - zurückzukehren, ist Fichte reisend aufgebrochen. Übergangsriten:
fizitäres Ich im Chaos den Überblick verliert. Mit dem männlichen Ich-Begriff
Die magischen Momente des Schreibens und Reisens, die Himmelfahrt des
arbeitet Fichte nicht. Er eignet sich statt dessen etwas von dieser geschmähten
Schamanen, die Ekstasen der Sexualität sind in diesem Sinne Momente der
,Weiblichkeit' an. Eintauchen in die Polymorphie. "Ich will die Welt von un-
Rettung bei Gefahr. Fichte ist einer, der schwimmen lernen mußte und
ten beschreiben." (Kleiner Hauptbahnhof, 212) Keine Herablassung. Keine
wollte. Daraus wurde das lebenslange Projekt, auch herauszubekommen, wie
Suche nach dem panoramatischen (also theoretischen) Überblick des gnosti-
die anderen schwimmen lernen, was ihnen gegen die Wirklichkeit eingefallen
schen Auges. Von unten: tastend, berührend, hindurchgehend beschreiben
ist. Auch wenn es keine Befreiung gibt, gibt es doch Freiheitspraktiken und
wie die Djemma el Fna. Wer sagt denn, daß man sein Ich sichern muß?
sekundäre Paradiese, in die man zurückkehren kann, wenn das Paradies ver-
Der Begriff des Erkennens fällt bei Fichte, der immer wieder die romantische Metapher der, Umarmung' lanciert, nahezu mit dem der Sinnlichkeit zusammen:
schlossen bleibt. Es gibt Zaubergärten und Zauberwäldchen, allein den in ihre
Riten Eingeweihten bekannt.
So wird die tiefe Resignation, wie sie in Explosion als Jäckis Angst erzählt
,Und Adam erkannte sein Weib Eva" ' / Erkennen, das ist es. (Pubertät, 36)
ist, das Lebenswerk des Schriftstellers und Ethnologen könnte angesichts der
Daß das Ich eine "historische Idee"43 ist, die Erfahrung verhindert und in
immer brutaleren Einbindung der Menschen in politische und ökonomische
permanenten, schmerzhaft erlebten gesellschaftlichen Trennungsprozessen
Zwecke vergeblich gewesen sein, gleichwohl relativiert durch das Wissen,
schließlich zum "hassenwerte(n) Ich" (Pubertät, 92) verhärtet, liegt als Vorstellung auch romantischen Entgrenzungsstrategien zugrunde, die nicht den
Tod, sondern die Erotik beschwören:
43 F. Schlegel, a,a,O" S, 107.
50
44 F. Schlegel, a.a.O., S. 140, 165.
45 W. C. Williams spricht 1925 von "the New World's offer of a great embrace". William
Carlos Williams: In the American Grain. New York 1956, S. 156. In der Übersetzung Walter Hasenclevers: "Das Angebot der großen Umarmung seitens der Neuen Welt". W. C.
Williams: Die Neuentdeckung Amerikas. München 1969, S. 154.
460skar Negt, Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt am Main 1981,
S.714.
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daß die Riten nicht nur einengen, sondern auch Axiome sein können, die ihn
Kein Versprechen des Scheins auf ein richtiges Leben mehr. Nicht mehr
in der "fürchterlichen Freiheit in der er sich befand", (Explosion, 427) zu
"die unerhörte Banalität der Erfüllung." (Pubertät, 226) Kein Idealismus.
halten vermögen. Also - um der Freiheit willen - doch ein bißchen Zustim-
Keine Geschichtsphilosophie. "Reisen um Traum zu erleben. "47 Der Traum
mung zur Ein-Bindung: "Vielleicht versuchte er von verrotteten Riten, zu
ist ein Augenblick richtigen Lebens.
weniger verrotteten zu gelangen." (Explosion, 427) Irma. Gaouty. Ein paar
Geilheit des Autbruchs damals / Traurigkeit heute. / Aidsgefahr. / Krebsgefahr. 48
andere.
Reisen! dachte er: alle umarmen! (Forschungsbericht, 12)
Donjuanismus mit der Welt. (Alte Welt, 22)
Und doch stellt sich in den langen Zeitspannen, die zwischen den begeisternden Augenblicken liegen, Enttäuschung ein. Er erwirbt Kenntnisse. Faktenwissen macht sich breit. Er versteht einiges. Was er verstanden hat, ist für
ihn ärmer geworden.
Forschung. Aufdecken. Es ist ein zerstörerischer Reflex. Ohne ihn höre ich auf zu existieren. (Schwarze Stadt, 329)
Zeitlebens hat Fichte das aushalten müssen, forschend zu zerstören und
doch nicht anders zu können, wenn er schreibend und sprechend überleben
wollte.
Im letzten Teil des Romans Explosion, nach einer Reise in die Vergangenheit Jäckis und in die Gegenwart des ausgeplünderten Südamerika, gibt es
Hinweise auf eine Revision der Wißbegierde:
Ich wiJ1 nicht forschen. [... ] / Jäckis Ernüchterung hatte seine Neugier getötet. [... ] /Unser Problem ist, wie wir mit unseren Informationen leben sollen. /- Ich bin fürs Vergessen, sagte Jäcki. (Explosion, 560, 431, 646)
Und dann? Bleiben nur noch die utopischen Augenblicke und ihre Versprechungen. Fichte nennt sie Träume. Am Ende, bitter geworden angesichts
der globalen Zerstörungen und des Einbruchs von AIDS in das neben dem
Schreiben letzte verbliebene Paradies, die glücklichen Momente des Sex,
wertet Fichte das Scheinen noch einmal auf:
Nicht die Erfüllung. Des Traums. Der Traum ist die Erfüllung. [... ] Wenn das Unerreichbare da ist, brechen die Träume entzwei. Und man erkennt sie als leer.
(Explosion, 337)
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47 Hubert Fichte: Tagebuch, a.a.O., S. 66.
48 Ebd..
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