"Guter Sex ist selten politisch korrekt" (06/46/074)
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"Guter Sex ist selten politisch korrekt" (06/46/074)
74 LEBENSART 75 PSYCHOLOGIE Guter Sex ist selten politisch korrekt Wo der Feminismus mit ins Bett steigt, ist Sex zum Gähnen. Bestsellerautorin Esther Perel über die Wichtigkeit, in einer Beziehung einander fremd zu sein. FACTS: Frau Perel, ist Sex in der Ehe wirklich sexy genug, um darüber ein Buch zu schreiben? Esther Perel: Nun ja, häufig ist Sex in fester Partnerschaft alles andere als sexy. Aber genau das macht ihn interessant: Er wird, wenn er überhaupt vorkommt, als unbefriedigend empfunden. Wenn das kein heisses Thema ist, dann, weil es niemand zugeben will. Ich zerre ein Tabu ans Licht. FACTS: Die Verlage stritten sich um Ihr Manuskript «Wild Life». Sie brachten es mit dem Ratgeber bis in die berühmteste US-TV-Show, zu Oprah Winfrey. Sind sie die neue Dr. Ruth Westheimer? Perel: Der «New Yorker» hat mich in Anlehnung an Dr. Ruth, die berühmte amerikanische Fernseh-Sexberaterin, bereits als «Dr. Esther» betitelt. Offenbar haben wir Gemeinsamkeiten. FACTS: Sie sind beide Jüdinnen. Prädestiniert dieser Glaube zum Sexexpertentum? Perel: Der Judaismus zelebriert die Erotik. Anders als das Christentum kennt er eine Abwertung der Sexualität als Sünde nicht. Das ist sicher kein Nachteil, wenn man sich mit Sex beschäftigt. FACTS: Ist schlechter Sex ein Indiz für eine schlechte Beziehung? Perel: Viele Therapeuten glauben dies tatsächlich. Ich habe in meiner Praxis das Gegenteil erfahren: Langweiliger Sex kommt in den besten Ehen vor. Alles, was eine gute Beziehung ausmacht – Nähe, Vertrautheit, Sicherheit – gefährdet den Sex. Erotik lebt vom Fremden, von der Gefahr. FACTS: Und wie, bitte schön, wird einem der Partner, mit dem man jahrzehntelang Bett und Klo teilte, wieder fremd? Perel: Verlangen braucht Distanz – und die schafft man, wenn man neben der Nähe auch das Getrenntsein kultiviert. Heute soll uns der Partner, die Partnerin all das ersetzen, was uns früher ein ganzes Dorf war: Vertrauter, Liebhaber und Freund. FACTS: Sie behaupten in Ihrem Buch, die Intimität sei verweiblicht worden. Perel: Ich meine, dass heute Paare reden und reden und reden. Reden ist zum Inbegriff von Intimität geworden. Und diese Hegemonie des gesprochenen Wortes hat eine eindeutig weibliche Ausrichtung. FACTS: Reden ist nicht das beste Vorspiel, wie Paartherapeuten immer behaupten? Perel: Ich halte es eher für schwierig, sich lustvoll die Kleider vom Leib zu reissen, nachdem man ausführlich über Kinderbrei diskutiert hat. FACTS: Sie widmen sich in Ihrem Buch ausführlich den Problemen von Müttern und Vätern. Sind Kinder der Sexkiller Nummer eins? Perel: Genau da liegt die Ironie: Sex macht Babys. Und Babys verhindern Sex. Plötzlich hat das Paar weniger Zeit, weniger Geld, weniger Schlaf. Dass die erotische Energie nach der Geburt in das neue Wesen geleitet wird, ist ganz normal. Nicht normal ist es, wenn sie beim Kind bleibt. FACTS: Wie meinen Sie das? «Die eine Hälfte der Paare lässt sich scheiden, die andere geht fremd.» Perel: In unserer Gesellschaft sind Kinder Kultobjekte: Das Töchterchen wird modisch herausgeputzt, Mama begnügt sich mit dem praktischen Sweatshirt. Der Sohn wird mit Zärtlichkeiten überhäuft, den Partner setzen wir auf eine Diät von Gutenachtküsschen. Und wundern uns dann, dass wir uns nicht mehr begehren. FACTS: Sie zerren nach dem Feminismus und den Kindern auch die Monogamie vom Sockel. Ist Ihnen nichts heilig? Perel: Tatsache ist: In Amerika lässt sich die eine Hälfte der Paare scheiden, die andere Hälfte geht fremd. Frauen übrigens fast genau so oft wie Männer. Ist es wirklich klüger, sich zu betrügen oder scheiden zu lassen, statt die Grenzen der sexuellen Ausschliesslichkeit zu überdenken? Ich halte diese Frage für berechtigt. FACTS: Empfehlen Sie Seitensprünge als Rezept gegen die hohen Scheidungsraten? Perel: Nein, so einfach ist es nicht. Eine Be- ziehung muss an einer Affäre nicht zerbrechen, aber genauso wenig kann eine Affäre eine Beziehung kitten. Ich rate meinen Klienten lediglich, Monogamie nicht vorauszusetzen, sondern zu verhandeln. FACTS: Muss man als Sexexpertin selber guten Sex haben? Perel: Ha, nein! Überhaupt nicht. Ich habe heute guten Sex, falls sie das wissen wollten. Aber ich habe ihn nicht mein Leben lang gehabt. Ich wünschte mir, ich hätte gewusst, was ich heute weiss, als ich noch das Gesicht meiner Jugend hatte. Interview: Nicole Althaus ☛ Esther Perel, «Wild Life – Die Rückkehr der Erotik in die Liebe», Pendo, 315 Seiten, 36 Franken. Originaltitel: «Erotic Intelligence». Esther Perel, 48 Die Psychotherapeutin, Tochter von Holocaust-Überlebenden, wuchs in Belgien auf und lebt heute in New York. Sie gehört zu den gefragtesten Dozentinnen an Paartherapie-Kongressen und ist als Sexberaterin oft Gast in TV-Sendungen. Perel ist verheiratet und Mutter zweier Söhne. Unseren Grossmüttern wäre nie in den Sinn gekommen, in ihren Ehemännern den engsten Vertrauten zu sehen. Harmonie und Gleichberechtigung im Bett können schrecklich langweilig sein. FACTS: Hat uns der Feminismus die Lust geraubt? Perel: Der Feminismus hat die Frauen befreit. Ich will seine Errungenschaften keineswegs in Frage stellen. Aber ich glaube, dass er ein paar unerwartete Nebenwirkungen hatte: Seine Fokussierung auf respektvollen Sex , also Sex, der geläutert ist von jeglicher Macht und Aggression, verfehlt das Wesen der Erotik. Guter Sex, Lust, ist selten politisch korrekt. Foto: Jimmy Kets FACTS 46/06 Sâmira Santos Reinigungsfachfrau