Arbeitspapier "Suchraum Nachhaltigkeit"

Transcrição

Arbeitspapier "Suchraum Nachhaltigkeit"
Michael Haerdter, Hildegard Kurt, Bernd Wagner
»Suchraum Nachhaltigkeit«
Arbeitspapier für die Akteurskonferenz am 8.9.20031
»Ich ... fand heraus, dass sich große Veränderungen zuerst immer in der Kunst,
das heißt in der Kultur ankündigen. Künstler sind bessere Prognostiker als
Wissenschaftler und Wirtschaftler.« (Robert Jungk2)
»Nachhaltigkeit« bedeutet und fordert »große Veränderungen«. Gelingen kann
der notwendige Wandel nur, wenn wir ihn als ein gesellschaftliches Gesamtprojekt begreifen – als eine umfassend kulturverändernde, kreative Aufgabe.
»Suchraum Nachhaltigkeit« möchte dazu beitragen, die Potenziale von Kultur
und Kunst für die Gestaltung einer wünschenswerten Zukunft auszuloten. Ethik und Ästhetik waren einmal eng verknüpft. Auf welche Weise könnte ihre
Einheit heute neu dekliniert werden?
Die Ziele dieses Diskurses sind vor allem:
ƒ Nachhaltigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung als eine kulturelle Herausforderung erkennbar zu machen,
ƒ Nachhaltigkeitspolitik und – als Gesellschaftspolitik verstandene – Kulturpolitik enger miteinander zu verknüpfen sowie
ƒ neben Ökologie, Ökonomie und Sozialem verstärkt das gesellschaftliche
Entwicklungspotenzial von Kultur und Kunst in die Nachhaltigkeitsstrategien einzubinden.
Nichts als »semantischer Goldstaub«?
»Nachhaltige Entwicklung ist ein Suchprozess« – mit diesem Satz hat der Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung, Volker Hauff, vor einigen
Monaten in einem Vortrag die Situation der Nachhaltigkeitspolitik beschrieben. Da es noch keine abschließenden Antworten auf das »Wie, Wohin und
Wodurch« der Nachhaltigkeit gebe, plädiert er für die Suche nach eigenen Wegen und richtigen Richtungen – wozu auch gehöre, dass man sich verlaufen
kann.3
»Vor Ort«, in den lokalen »Agenda 21«-Aktivitäten, in Bildungsprojekten
1
2
3
Das Papier wurde gemeinsam von einer Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Geschäftsstelle
des Rates für Nachhaltige Entwicklung (Kira Crome, Günther Bachmann) und des Instituts
für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hildegard Kurt, Bernd Wagner) sowie
Michael Haerdter und Gabriele Muschter diskutiert.
»Ein Leben als Praxis einer Kulturtheorie«, Interview von Roland und Janne Günter mit Robert Jungk, in: Kulturpolitische Mitteilungen Heft 42 / III 1988, S. 9-15
Volker Hauff: Die Nachhaltige Entwicklung – ein Modebegriff oder ein Kompass für politische Entscheidungen? Vortrag der DLG, 4.12.2002, Bonn.
1
oder verstärkt, wenn auch noch vereinzelt, bei verantwortungsvollen Unternehmen, hat sich bereits eine vielgestaltige, teilweise auch sehr erfolgreiche
Praxis solcher Suchprozesse entfaltet. Der Bekanntheitsgrad der Begriffe
»nachhaltig« und »Nachhaltigkeit« ist von 13 auf 28 Prozent gestiegen, im gesellschaftlichen und politischen Diskurs sind sie hierzulande inzwischen nahezu allgegenwärtig.
Mit der Popularisierung des Wortes »nachhaltig« geht allerdings seine Trivialisierung einher. Im inflationären Gebrauch verkommt es zu einer Allerweltsfloskel, die oft nichts anderes mehr meint als »nachdrücklich« oder »langlebig«. Um noch einmal Volker Hauff zu zitieren: Der Begriff dient als »semantischer Goldstaub«, mit dem »die stets gleich bleibende strukturkonservative Besitzstandswahrung versteckt« werden soll.
Unterdessen nimmt – trotz gewisser Fortschritte – die Umweltzerstörung
nach wie vor drastisch zu und die Ungleichheit in den Lebensverhältnissen
wächst weiter, vor allem im globalen Maßstab. Im Vorfeld der UNWeltkonferenz in Johannesburg wurde diese ernüchternde Bilanz zehn Jahre
nach Rio in verschiedenen Studien aufgezeigt. Wie immer die Ergebnisse von
Johannesburg eingeschätzt werden, besonders im nationalen Rahmen liegt die
Umsetzung der Nachhaltigkeit im Argen.
Entgegen der Selbsteinschätzung als »Öko-Musterschüler« belegt die
Bundesrepublik im internationalen Umweltranking lediglich den 54. Platz,
noch hinter den USA auf Platz 51.4 Bei aller Problematik solcher Vergleiche
sollte dies zu denken geben. Im April 2002 beschloss die Bundesregierung die
Nationale Nachhaltigkeitsstrategie mit 21 quantifizierenden Zielvorgaben, die
im Mai in einer Regierungserklärung bekräftigt wurden. Aber nach
Johannesburg hat es den Anschein, als seien die »Perspektiven für Deutschland
– Strategie für eine Nachhaltige Entwicklung« schon veraltet, denn in der
praktischen Politik sind sie kaum noch präsent. In der »Agenda 2010«, worin
die rot-grüne Bundesregierung ihre zukünftigen Aktivitäten und Reformvorhaben bündelt, gibt es keinen Bezug auf das »Prinzip Nachhaltigkeit«
im Sinne der internationalen Rio- und Johannesburg-Beschlüsse und der
nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. In ihr fehlt jeglicher Ansatz einer
ökologischen Modernisierung. Regierungshandeln und gesellschaftliche
Diskussionen scheinen nur noch einen zentralen Fixpunkt zu haben: die
Senkung der »Lohnnebenkosten«, damit die »Wirtschaft wieder in Schwung
kommt«.
Dabei wird zum einen übersehen, dass – wie vielfach aufgezeigt und nachgewiesen – ökologische Modernisierung ein starker Wachstumsfaktor sein
kann. Löhne und Lohnnebenkosten machen nur 22 Prozent, Energie- und Materialverbrauch dagegen 41 Prozent der Gesamtkosten von Industriebetrieben
aus.5 Nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch betriebswirtschaftlich ist es
deshalb sinnvoll, das Starren auf die »Lohnnebenkosten« aufzugeben und den
4
5
Vgl. Günther Bachmann: »Nachhaltigkeit: Politik mit gesellschaftlicher Perspektive«, in: Aus
Politik und Zeitgeschichte, B 31/32-2002, S. 8-16, hier: S. 12.
Vgl. Fritz Vorholz: »Die ewig Zukünftigen«, in: Die Zeit, 12.5.2003.
2
Energie- und Materialverbrauch einzubeziehen, wenn Wachstum angeschoben
werden soll. Vor allem aber widerspricht die gegenwärtige Konzentration der
Politik auf das einseitige Ankurbeln des Wachstumsmotors der UN-Resolution
von 1989 zur Vorbereitung der Konferenz von Rio de Janeiro, die unmissverständlich die Abkehr von einem »allein auf der Förderung wirtschaftlichen
Wachstums ausgerichteten Wirtschaftsmodell« fordert.
Auch die Politikfelder, in denen es nicht in erster Linie um wirtschaftliches
Wachstum geht, schenken der Nachhaltigkeit als einem Motor der Verbindung
von internationaler und innergesellschaftlicher Gerechtigkeit, von ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Perspektiven unseres Lebens
kaum Beachtung. Bei den großen gesellschaftlichen Reformmaßnahmen in der
Arbeitsmarktpolitik und beim Umbau der Sozialsysteme dient sie allenfalls als
»semantischer Goldstaub«. Im Bildungsbereich gibt es zwar inzwischen immer
öfter gute Initiativen und Modellprojekte, aber insgesamt ist in der Bildungsreformdiskussion »nach PISA« wenig von einer Einbindung des Leitbildes
Nachhaltigkeit zu bemerken. In der Kulturpolitik dreht sich, von einigen Ausnahmen abgesehen, das Denken weitgehend um die finanzielle Misere und die
dadurch bedingten Leistungskürzungen, Angebotsreduzierungen und eventuellen Schließungen. Und im Umweltsektor selbst dominieren Überlegungen und
Ansätze der »Effizienzstrategie« im Sinne der Reduzierung des Ressourcenverbrauchs und des vermehrten Einsatzes regenerierbarer Energien, wohingegen die »Suffizienzstrategie« bei der es um Bedürfnisse, Lebensstile und
Wohlstandsmodelle geht, also um die »Ökologie der Ziele« (Wolfgang Sachs),
immer mehr in den Hintergrund tritt.
Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Die geringe Bedeutung, die »Nachhaltige Entwicklung« in der politischen und
gesellschaftlichen Praxis gegenwärtig hat, liegt nicht allein am fehlenden politischen Willen oder an falschen Prioritäten – sie ist auch in der Brisanz und
Komplexität des Gegenstandes selbst begründet. Die Forderung von Nachhaltigkeit meint nichts weniger als das Programm einer tiefgreifenden Revision
unserer gesellschaftlichen Werte und Handlungsmotive zugunsten einer naturund sozialverträglichen Entwicklung. Diese Maxime schließt das »Prinzip
Verantwortung« (Hans Jonas) in einem umfassenden Sinn ein: Globale Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Dasein für alle heute Lebenden und für
die nach uns kommenden Generationen dürfen keine leeren Phrasen bleiben.
Nachhaltigkeit verwirklichen heißt auch, Abschied zu nehmen von überlieferten Denkweisen, Verhaltensmustern und Lebensstilen, die uns zur Gewohnheit
geworden sind. Sie bedeutet, unsere Vorstellungen von »Fortschritt«, »Wachstum« und »Wohlstand« zu überprüfen und unseren Begriff von einem »guten
Leben« neu zu bestimmen. »Nachhaltigkeit« fordert die Neuorientierung auf
ein umfassendes gesellschaftliches Konzept, das ökologische, ökonomische,
soziale und kulturelle Aspekte aktiviert und vernetzt.
Auf dem Wege staatlicher Ordnungspolitik lässt sich dies nicht erreichen.
Denn ein solches »Gesamtkonzept« besteht nicht aus einem großen »Plan«,
3
sondern ist ein »Leitbild« nach Art einer »durch Bojen begrenzten Fahrrinne,
in der das Schiff der kulturellen und sozialen Entwicklung eine die natürlichen
Lebensgrundlagen nicht schädigende Fahrt aufnehmen kann«6 – eben im Sinne
des anfangs beschriebenen Suchprozesses.
Das große Reformprojekt einer zu modernisierenden Bundesrepublik in den
siebziger Jahren unter der Devise »Mehr Demokratie wagen« kann hier Anregungen geben. Auch heute ist die Verständigung auf neue Leitbilder und auf
Projekte ihrer Umsetzung im politischen Handeln vor allem eine Aufgabe der
Bürgergesellschaft, individueller und kollektiver Akteure aus Wissenschaft,
Kunst, Kultur und im Alltagsleben. Staatliche Initiativen können und sollen
diesen Transformationsprozess mit initiieren und unterstützen – zumindest aber
sollte die aktuelle Politik es tunlichst vermeiden, ihn durch ihr eigenes, nichtnachhaltiges Handeln zu konterkarieren.
Wie stehen noch am Anfang des mühsamen Weges zu einer wirksamen Politik der Nachhaltigkeit, zu der es keine vernünftige Alternative gibt. Vor diesem Hintergrund halten wir eine erneute Intensivierung des gesellschaftlichen
Diskurses unter dem Motto »Suchraum Nachhaltigkeit« für dringend erforderlich. Dabei kommt es uns vor allem darauf an, die kulturelle und die ästhetische Dimension von »Nachhaltigkeit« stärker als bislang in diesen Diskurs
einzubeziehen.
Kultur und Nachhaltigkeit - eine Zwischenbilanz
Wer nach den Gründen für die geringe Attraktivität des Leitbildes Nachhaltigkeit fragt, wird unweigerlich auch auf dessen »kulturelles Defizit« stoßen.7
Tatsächlich sucht man in der »Rio-Deklaration« und der »Agenda 21« Künstler
als Akteure einer zukunftsfähigen Entwicklung weitgehend vergebens. Auch
Kultur als gesellschaftlicher Teilbereich, der über die Kunst hinaus die ästhetisch-kreative Praxis von Individuen und Gesellschaften umfasst, findet dort
kaum Erwähnung. In der »Rio-Deklaration« taucht das Wort »Kultur« ein einziges Mal auf und zwar in Artikel 22 im Zusammenhang mit eingeborenen Bevölkerungsgruppen. Gemäß dem vorwiegend (natur-)wissenschaftlichen Ansatz in der Konzeption von Nachhaltigkeit sind auch die Umsetzungsstrategien
stark von Technokratie und Expertentum geprägt.
6
7
Charlotte Wehrspaun, Michael Wehrspaun: »Eine neue Zukunft für den Fortschritt?«, in: Aus
Politik und Zeitgeschichte, B 27/2003, S. 3-5, hier: S. 5.
Vgl. Bettina Laville, Jacques Leenhardt, Villette-Amazone. Manifeste pour l’environnement
au XXIe siècle, Arles: Actes Sud, 1996; Hildegard Kurt, Michael Wehrspaun: »Kultur: Der
verdrängte Schwerpunkt des Nachhaltigkeits-Leitbildes«, in: GAIA, Heft 1/2001, S. 16-25,
sowie Hildegard Kurt, Bernd Wagner (Hrsg.): Kultur-Kunst-Nachhaltigkeit. Die Bedeutung
von Kultur für das Leitbild Nachhaltige Entwicklung, Bonn/Essen: Kulturpolitische Gesellschaft/Klartext Verlag (Reihe Dokumentation, Bd. 57) 2002.
4
Erst seit Beginn des neuen Jahrhunderts setzt in Deutschland eine eingehendere Debatte über das »kulturelle Defizit« des Leitbildes Nachhaltigkeit ein.
Eine nicht unerhebliche Rolle dabei spielte das »Tutzinger Manifest« (2001),
mit dem namhafte Persönlichkeiten aus Ökologie und Nachhaltigkeit gemeinsam mit VertreterInnen des gesamten Spektrums kreativer Gestaltung und der
Kulturpolitik zu einer »Stärkung der kulturell-ästhetischen Dimension von
Nachhaltigkeit« aufrufen.
»Das Leitbild Nachhaltigkeit«, heißt es in dem Aufruf, »beinhaltet eine kulturelle Herausforderung, da es grundlegende Revisionen überkommener Normen, Werte und Praktiken in allen Bereichen – von der Politik über die Wirtschaft bis zur Lebenswelt – erfordert. Nachhaltigkeit braucht und produziert
Kultur: als formschaffenden Kommunikations- und Handlungsmodus, durch
den Wertorientierungen entwickelt, reflektiert, verändert und ökonomische,
ökologische und soziale Interessen austariert werden.« Und weiter: »In dem
Maße, wie die Nachhaltigkeitsdebatte offensiv in Auseinandersetzungen mit
dem Feld kultureller Praxis tritt, wird sie verstärkt öffentlich wahrgenommen,
wächst ihre Attraktivität und ihr gesellschaftliches Prestige.«
Nachdem der Rat für Nachhaltige Entwicklung, auch angeregt durch das
»Tutzinger Manifest«, Ende 2001 einen ersten Workshop zum Thema veranstaltet hatte, nahm die Bundesregierung in das Papier der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ein Kapitel »Kultur der Nachhaltigkeit entwickeln« auf. Darin
wird die große Bedeutung kultureller und ästhetischer Fragen für die Verwirklichung von Zukunftsfähigkeit klar herausgestellt. Doch räumt das Papier ein,
dass hier noch erhebliche Defizite bestehen: »Die Politik der nachhaltigen
Entwicklung ist noch zu wenig mit Kunst und Kultur verbunden. Andererseits
haben Kunst und Kulturpolitik die Herausforderungen und Chancen der Nachhaltigkeit bislang nicht als eigene Themen aufgegriffen.« 8
Versucht man heute, gut ein Jahr nach der Veröffentlichung der nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie, eine erste Bilanz in Sachen Kultur und Nachhaltigkeit
zu ziehen, fällt das Ergebnis zwiespältig aus: Auf der einen Seite zeigt die Kulturpolitik – trotz des eingangs erwähnten Vorherrschens finanzpolitischer Sorgen – eine wachsende Offenheit für die Potenziale von Nachhaltigkeit.9 In immer mehr Kommunen findet eine Einbindung von Kulturverwaltungen und institutionen in die »Agenda 21«-Prozesse statt, das heißt eine Verknüpfung
des Leitbildes Nachhaltigkeit mit kulturellen Leitbildern und Aktivitäten.10
Immer mehr KünstlerInnen setzen sich unmittelbar mit dem Leitbild auseinander. Die Debatte um eine »Ästhetik der Nachhaltigkeit« gewinnt an Kontur und
8
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Perspektiven für Deutschland.
Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung, April 2002, S. 22.
9 Vgl. exemplarisch Olaf Schwencke: »Die Kunst, in die Zukunft zu handeln«, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Heft 100 (I/2003), S. 41-44.
10 Vgl. Agenda Transfer, Bundesweite Servicestelle Lokale Agenda 21 (Hrsg.): Die Kunst
der Zukunftsfähigkeit. Ansätze, Beispiele, Hintergründe, Erfahrungen, Bonn: Eigenverlag
2003.
5
wird von innovativen Praktiken wie »Der Nachhaltige Filmblick«11 vorangetrieben. Auch in überwiegend sozialwissenschaftlichen Arbeitsfeldern wie Lebensstil, Neuer Wohlstand und Konsum befasst man sich mit der »kulturellen
Anschlussfähigkeit« von Nachhaltigkeit in der Lebenswelt.12 Weitere Praxisbeispiele und Handlungsfelder ließen sich nennen.
Dennoch: Die – freilich sehr hoch gesteckte – Erwartung, das Einbeziehen
der Dimension »Kultur« könne der Nachhaltigkeit zur stärkeren gesellschaftlichen Verankerung verhelfen, hat sich bislang nicht erfüllt. Der gesunkene Stellenwert des Nachhaltigkeitskonzeptes in der gegenwärtigen Realpolitik ist gewiss ein wichtiger Grund hierfür. Darüber hinaus aber gibt es eine Reihe weiterer Faktoren, die den begonnenen Prozess in seiner Entfaltung behindern.
Hemmnisse und Missverständnisse
Ein wesentlicher Punkt ist die schwierige, vielfach unreflektierte Verwendung
des Begriffes Kultur. Während es eine »richtige« oder auch nur allgemein gültige Bedeutung nicht gibt – ebenso wenig wie etwa von »Natur« –, lassen sich
in der Vielzahl der geläufigen Bedeutungen zwei grundverschiedene Ebenen
identifizieren: Einmal das sehr weite, anthropologische Verständnis von Kultur, auf der die Debatte um eine alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche umfassende »Kultur der Nachhaltigkeit« basiert. Wenn man hingegen nach den spezifischen Potenzialen künstlerischer Gestaltungskraft fragt, liegt meist ein eher
eingegrenzter Kulturbegriff zugrunde, wie er in der Kulturpolitik verhandelt
wird. Anstatt beide Dimensionen, die »anthropologische« und die »kulturpolitische«, in dynamische, fruchtbare Wechselverhältnisse zu führen, werden sie
derzeit immer wieder unbesehen in eins gesetzt und miteinander vermischt –
oder gar gegeneinander ausgespielt, meist indem das eigene Verständnis als
allgemeingültig gesetzt wird. Um der noch im Entstehen begriffenen Debatte
»Kultur und Nachhaltigkeit« etwas von ihrer Diffusität zu nehmen, ihr zu der
erforderlichen Schärfe und Kohärenz zu verhelfen, käme es wesentlich darauf
an, aus der einander ergänzenden Bearbeitung beider Dimensionen Kapital für
zukunftsfähige Entwicklungen zu schlagen.
Wo sich im Nachhaltigkeitsdiskurs eine neue Sensibilität dafür zeigt, dass
es eine wirksame Gestaltungskraft gibt, welche über die technischinstrumentelle Vernunft hinausgeht, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis
von Nachhaltigkeit und Kunst. Gerade an diesem Punkt jedoch häufen sich gegenwärtig die Verständigungsschwierigkeiten.
So etwa erwarten nicht wenige Nachhaltigkeitsakteure von der Kunst
schlicht, sie solle ökologische Missstände visualisieren und moralische Appelle
illustrieren. Oder sie solle zu ansonsten abgeschlossenen Gestaltungsmaßnahmen die Dekoration, das »Sahnehäubchen« liefern. Auch wird nach wie vor
11
Vgl. www.nachhaltiger-Filmblick.de
Vgl. z. B. Gerhard Scherhorn, Christoph Weber (Hrsg.): Nachhaltiger Konsum. Auf dem
Weg zur gesellschaftlichen Verankerung, München: ökom, 2002, oder die Initiative »Aufbruch. Anders besser leben« der Stiftung Ökumene, www.anders-besser-leben.de.
12
6
»Ästhetik« sehr häufig mit dem Schönen oder mit »Verschönern« gleichgesetzt, was ebenfalls die Dinge nicht erleichtert. Und fordert man im Kontext
Nachhaltigkeit von der Kunst, endlich wieder gesellschaftliche Verantwortung
zu übernehmen, ist damit häufig gemeint, die Künstler könnten, ja sollten die
von den Fachexperten hervorgebrachten Inhalte besser »verkaufen«.
In der Kunstwelt wiederum wird ein lebendiger Dialog immer wieder durch
den Irrtum behindert, bei Nachhaltigkeit handele es sich um ein »Umweltthema« – anstatt darin eine genuin kulturelle Herausforderung zu sehen. Auch gehen KünstlerInnen zu Recht in Abwehr, wo sie argwöhnen müssen, bei Kooperationsangeboten von Akteuren aus dem Nachhaltigkeitsumfeld handele es sich
letztendlich doch nur um den Versuch, Kunst, wie oben angedeutet, als bloße
Kommunikationsstrategie für außerkünstlerische Zwecke zu instrumentalisieren und ihre Selbstzwecksetzung und Autonomie in Frage zu stellen. Hinzu
kommt: Für KünstlerInnen, die teilweise seit Jahrzehnten hervorragende Kunst
mit hoher Relevanz für zukunftsfähige Entwicklung machen13, ist es schlechterdings nicht hinnehmbar, wenn man in Unkenntnis dieser Leistungen nun auf
einmal an die Kunst appelliert, sich »endlich« mit besagter Thematik zu befassen. Zudem zeigt der Kunstbetrieb, anders als viele KünstlerInnen, wenig Interesse daran, die Trennung von Kunst und Lebenswelt in Frage zu stellen, da
hiermit ökonomische Interessen verbunden sind.
Quer denken, handeln und fördern
Künstler und »ästhetische Arbeiter« (Gernot Böhme) sollten von Anfang an in
die Konzipierung gestalterischer Maßnahmen und Strategien nachhaltiger Entwicklung einbezogen werden. Es müssen Strukturen geschaffen werden, die
einen nicht mehr nur punktuellen, sondern einen kontinuierlichen Dialog zwischen künstlerisch-ästhetischen Gestaltungsmodi einerseits und der Nachhaltigkeitstheorie und -praxis andererseits ermöglichen. Derlei »Versuchsanordnungen für Zukunft« (Dorothea Kolland) brauchen keineswegs neu erfunden
zu werden. Hier und da, etwa in den Terra Nova-Projekten von Herman Prigann14, gibt es sie bereits. Damit jedoch Ansätze dieser Art ihr Potenzial wirklich entfalten können, bedarf es verbesserter Rahmenbedingungen.
Dazu gehören nicht zuletzt Förderstrukturen, die neue Wege zu gehen versuchen, etwa weg von der herkömmlichen Beschränkung auf Werkförderung,
hin zu einer verstärkten Prozessförderung. Und es versteht sich im Grunde von
selbst, dass solche neuen Formen transdisziplinärer Gestaltung nicht allein aus
den Kulturetats, sondern auch und insbesondere durch die Struktur- und Entwicklungsfonds des Staates und der Wirtschaft unterstützt werden müssen.
Im transdisziplinären Dialog mit den Wissenschaften, der Wirtschaft und
der Politik verlangt die Einbeziehung der »ästhetischen Arbeiter« eine Bereit-
13
Vgl. die Good Practice-Beispiele in Hildegard Kurt, Bernd Wager (Hrsg.): Kultur-KunstNachhaltigkeit, s. FN 6.
14 Vgl. www.terranova.ws.
7
schaft zu ressortübergreifender Offenheit, die noch weithin fehlt oder gar
durch finanz- und verwaltungstechnische Hürden massiv behindert wird – obwohl sie ein unverzichtbares Element von Nachhaltigkeit ist. Auch Transdisziplinarität, wiewohl in aller Munde, kommt bislang in der Praxis noch kaum
über entsprechende Absichtsbekundungen hinaus. Wirkliche Transdisziplinarität erfordert, sich auf Prozesse einzulassen, die ergebnisorientiert sind und
zugleich ergebnisoffen; die möglicherweise quer zu institutionellen Hierarchien verlaufen oder auch Inhalte quer zu bestehenden Ordnungssystemen erzeugen.
Nachhaltigkeit ist eine kulturelle Herausforderung. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass alle beteiligten Akteure sich selbst und ihren eigenen Arbeitsbereich
als Teil des notwendigen Wandels verstehen.
Schwerpunktthemen
Suchraum Nachhaltigkeit kann sich etwa entlang folgender Themen entfalten:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Kunst und Nachhaltigkeit
Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert
Wege zur Bürgergesellschaft
Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit
Das gute Leben – Lebenskunst
Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
Diese Schwerpunktthemen werden im Folgenden konkretisiert und erläutert.
Anliegen der AutorInnen und des Rates für Nachhaltige Entwicklung ist es, deren Sinnhaftigkeit und Umsetzungschancen im Dialog mit Akteuren des Nachhaltigkeits-Diskurses und aus Kultur und Kunst auszuloten. Für jedes einzelne
Thema ist eine eigenständig Realisierung in Form eines Projektes oder einer
Projektreihe und in unterschiedlichster Umsetzung denkbar.15
1. Kunst und Nachhaltigkeit
Wassily Kandinsky sah in der Kunst die »Mutter der Zukunft«. Bei aller Skepsis gegenüber den kunstphilosophischen Überhöhungen der klassischen Moderne: In ihrer vehement unternommenen »Anstrengung zur Mündigkeit«
(Theodor W. Adorno) hat die Kunst im Verlauf des 20. Jahrhunderts tatsächlich eine ganze Reihe von Fragen gestellt, Experimente unternommen, Strategien entwickelt, Erfahrungen gesammelt und auch Irrtümer begangen, die heute für die Suche nach zukunftsfähigen Lebens- und Wirtschaftsweisen überaus
konstruktiv sein können.
Insbesondere seit den siebziger Jahren sieht sich eine aufgeklärte, gesellschaftskritische Minderheit in der internationalen Kunstwelt durch die drängenden soziopolitischen Herausforderungen unserer Zeit mit der Aufgabe kon15
Auf der Akteurskonferenz »Kultur, Kunst und Nachhaltigkeit« am 8. September 2003 werden die praktischen Ausgestaltungsmöglichkeiten der Themenbereiche 1 und 2 vor und zur
Diskussion gestellt.
8
frontiert, die alte Gleichung von Kunst und Leben in der künstlerischen Praxis
wiederherzustellen, also die Möglichkeiten einer lebenspraktischen Ästhetik
auszuloten. Unter den KünstlerInnen, die zur schwierigen Gratwanderung zwischen hoher künstlerischer Qualität und dem »Prinzip Verantwortung« (Hans
Jonas) fähig sind, seien beispielhaft genannt: Jochen Gerz, Hans Haacke, Helen
Mayer Harrison und Newton Harrison, Carsten Höller, Nikolaus Lang, Herman
Prigann, George Steinmann.
Die Schaffung von Partnerschaften zwischen Kunst und Nachhaltigkeit verlangt jedoch Unterscheidungsvermögen im Blick auf die überaus vielgestaltige
zeitgenössische Kunstszene. Das praktische Miteinander von Kunst und Nachhaltigkeit darf nicht zu einer Kunst führen, die lediglich politisch »gut gemeint« ist. Kunst ist nicht mit Marketing zu verwechseln. Auch für jene KünstlerInnen, die sich selbst als ästhetische Dienstleister verstehen, stellt Kunst einen Wert an sich dar. Auf eben dieser Qualität und den jeweils individuellen
Prinzipien und Verfahren beruht ihre Wirkung. Um jede Instrumentalisierung
zu meiden, sollten KünstlerInnen jeweils so einbezogen werden, wie sie selber
arbeiten. Eine lebendige Verbindung von Kunst und Nachhaltigkeit setzt die
Bereitschaft voraus, auf der Grundlage gemeinsamer Fragestellungen gemeinsam
zu experimentieren.
Insgesamt wird eine lebendige Verknüpfung von Kunst und Nachhaltigkeit,
ein wirklich konstruktiver, für beide Seiten gewinnbringender Dialog nur dort
stattfinden können, wo man erkennt, dass die Kunst seit Beginn der Moderne
immer mehr zu einer Wissensform wird: zu einem Medium des Erkennens, Erkundens und des Veränderns von Welt; zu einer Denkweise, die über die Ratio
hinaus auch den intuitiven, den emotionalen und den imaginativen Fähigkeiten
des Menschen Erkenntniskraft und Wahrheitsgehalt zubilligt – was die Wissensform Kunst von der Wissenschaft unterscheidet und ihr zugleich ebenbürtig macht.
Falls es gelingt, der Versuchung kurzsichtiger Funktionalisierung standzuhalten, kann in der Kooperation von Kunst und Nachhaltigkeit ein wechselseitiges Inspirieren stattfinden, das eingefahrene Wahrnehmungen aufbricht und
allen Beteiligten den Blick auf neue Horizonte öffnet.
2. Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert
Der Nachhaltigkeitsdiskurs hat im Rahmen der öffentlichen Kulturpolitik noch
keine nennenswerte Resonanz gefunden. Dafür gibt es Gründe:
Seit dem Beginn der Industriemoderne haben sich die gesellschaftlichen
Teilsysteme immer weiter ausdifferenziert. Das gilt auch für den Bereich »Kultur«. Das Bildungsbürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts hat in seinem Kulturbegriff Leben und Kunst getrennt und dieser ein abgesondertes »Reich der
Seele« (Herbert Marcuse) zugewiesen: darin dominiert die Klassikerpflege unserer Staats- und Stadttheater neben den Einrichtungen für die Schönen Künste
und das kulturelle Erbe – ein Verständnis von Kultur, das trotz des Bruchs und
der soziokulturellen Wende in den siebziger Jahren in der Öffentlichkeit noch
immer fortwirkt. Diese so genannte affirmative Kultur mit ihrem den hässli-
9
chen Alltag überstrahlenden Idealismus und ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat sich im Selbstverständnis der Kulturpolitik bis heute prägend niedergeschlagen, wie ein Blick auf die Verteilung der Finanzmittel deutlich
macht. Deshalb leistet die Kulturpolitik bislang auch noch keinen angemessenen Beitrag zu Förderung nachhaltiger Entwicklung.
Mehr als 90 Prozent der Kulturetats der Länder und Kommunen gehen derzeit in Bereiche, die auf dem traditionellen Kulturverständnis basieren, also in
die etablierten Kultureinrichtungen und in die Pflege historischen Kulturgutes.
Um den Rest von nicht einmal 10 Prozent müssen die zeitgenössischen Künste,
die Off-, die Sozio- und die MigrantInnenkultur konkurrieren. Wir haben also
an einer Weiterentwicklung der Kulturpolitik zu arbeiten. Sie muss auf der Basis eines erneuerten, vor allem um die ökologische Dimension erweiterten Kulturbegriffs tätig werden, der seine herkömmliche Exklusivität, seinen beschränkten Gesichtskreis überwindet und sie befähigt, das weite Feld der gewandelten und weiterhin wandelbaren Kultur wahr- und ernstzunehmen. Dazu
gehört auch, dass im Zuge zunehmender globaler Interaktion Kulturpolitik die
Kulturen der Welt nicht nur als exotisch-kulinarische Bereicherung unserer
Kulturfeste und Kunstfestivals begreift, sondern als gleichwertige Teile einer
entstehenden »Weltkultur«.
Nachhaltigkeit ist eine genuin kulturelle Forderung und Herausforderung. In
dem Maße, wie es gelingt, diese Einsicht im politischen Umfeld begreiflich zu
machen und auch mittels einer aufgeschlossenen Bildungspolitik in die Gesellschaft hineinzutragen, wird nicht nur die bürgerlich-industriemoderne Verengung des Kulturbegriffs unterlaufen. Zugleich werden damit im Kultur- und
Kunstbetrieb selbst jene Kräfte gestärkt, die bei aller Individualisierung bereits
seit geraumer Zeit ein in vielfältigen Formen integratives Denken und Handeln
praktizieren (vgl. Themenfeld 1. Kunst und Nachhaltigkeit). »Kulturpolitik ist
Gesellschaftspolitik«: Diese von der Kulturpolitischen Gesellschaft schon vor
Jahrzehnten geprägte und seither mit Leben erfüllte Formel sollte dazu beitragen, die Separierung von Kunst und Kultur als eine der Lebenswelt übergeordneten Sphäre dauerhaft zu relativieren. Wie wäre Kulturpolitik beschaffen, die
es sich auch zur Aufgabe machte, dem Konsumismus und der Ökonomisierung
aller Lebensbereiche die Vorzüge eines anderen, maßvollen Lebensstils entgegenzusetzen?
3. Wege zur Bürgergesellschaft
»Sag’ es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde mich
daran erinnern. Beteilige mich, und ich werde es verstehen.« Auf diese alte
Weisheit des chinesischen Philosophen Laotse könnten sich die Befürworter
der partizipativen Demokratie, also der Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie hin zur Bürgergesellschaft noch immer berufen. Denn noch
liegt deren Verwirklichung offenbar in weiter Ferne. Zwar ist seit dem demokratischen Aufbruch der siebziger Jahre – fokussiert in Willy Brandts Forderung »Mehr Demokratie wagen!« – vieles in Bewegung gekommen. Gleichwohl scheint sich die Balance der Weltgeschichte derzeit eher zur Seite der re-
10
präsentativen demokratischen Ordnung und ihres Ausschusswesens fern aller
Bürgerbeteiligung zu neigen. Überdies wird da und dort gar obrigkeitsstaatlichen Neigungen Vorschub geleistet. Allein der Einfluss der globalen Demokratiebewegungen und die Wirksamkeit weltweit tätiger ziviler Initiativen für die
Armen und Rechtlosen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung schaffen hier
das notwendige Gegengewicht. Doch eben darin artikuliert sich Hoffnung. Es
ist der globale »Menschenrechtspatriotismus« (Hauke Brunkhorst), der das
Vorgefühl einer künftigen Weltgesellschaft vermittelt. Der globale Kapitalismus fordert den mündigen Bürger als Garanten einer globalen demokratischen
Solidarität heraus.
Die Gesellschaftstheorie einer zukunftsfähigen, »besseren Moderne der
Selbstbegrenzung« (Ulrich Beck) spricht von der möglichen Heraufkunft eines
selbständigen und zugleich verantwortlichen, eines reflektierenden und
zugleich selbstbestimmt engagierten Individuums. Unter welchen Voraussetzungen lässt sich heute in allen Lebensaltern und in allen Arbeitsfeldern die
Persönlichkeitsentwicklung des Menschen fördern? Auf welche Weisen kann
eine »Gesellschaft der Individuen« (Norbert Elias) Wege vom Konsumismus
und Hedonismus zu verantwortlich gestalteter Freiheit beschreiten? Der Eigensinn und die Kreativität, die hier gefordert sind, bauen auf die jedem Menschen
angeborenen Potenziale. Wie könnte ein Bildungsverständnis und Menschenbild begründet und beschaffen sein, das nicht mehr einseitig auf ökonomische
Verwertbarkeit ausgerichtet ist?
Das zukunftsfähige Individuum sollte in der Lage sein, Eigenverantwortung
und Mitverantwortung in Übereinstimmung zu bringen. Aus Überzeugung ein
Networker, wird es partnerschaftlich und nicht-hierarchisch, lernfähig und
kompromissbereit denken und handeln, also offen sein für das Andere und für
Veränderung. Selbstbestimmung wird ihm kein Hindernis sein, sich als ein aktives Glied der Gesellschaft zu begreifen, die es als sein Los akzeptiert, und in
dieser sein kreatives Potenzial ins Spiel zu bringen. Es liegt nahe, eine solche
creative society mit der Wiedergewinnung der polis in eins zu setzen, die Erich
Fromm nicht müde wurde zu fordern. Dass allein sie die tragfähige Basis für
eine weltweit nachhaltige Entwicklung darstellt: Dafür sprechen viele gute
Gründe.
4. Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit
Gleiche Chancen für alle und einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen fordernd, birgt »Nachhaltigkeit« ein immenses Potenzial für eine global gerechtere Entwicklung. Die UNESCO hat das erkannt und hat inzwischen
Nachhaltigkeit in allen ihren Programmbereichen – Bildung, Wissenschaft,
Kultur und Kommunikation – zum prioritären Ziel erklärt. Das erste Prinzip
des auf der Weltkonferenz für Kultur und Entwicklung 1998 in Stockholm verabschiedeten Aktionsplans »The Power of Culture« lautet: »Nachhaltige Entwicklung und kulturelle Entfaltung sind wechselseitig voneinander abhängig.«
In den bundesdeutschen Kommunen sind während der letzten Jahre eine
11
ganze Reihe von Initiativen, behördlichen Einrichtungen, Institutionen und
Bündnissen entstanden, die sich im Rahmen der lokalen »Agenda 21«-Prozesse
für kulturelle Vielfalt, für die weltweite Stärkung sozialer Teilhabe sowie die
Stärkung partizipativer Demokratie einsetzen und dabei vor Ort konkrete Beiträge für eine global gerechtere Entwicklung leisten: in Städtepartnerschaften
und Projektkooperationen, im Klimabündnis oder durch die Unterstützung fairer Handelsstrukturen. Sie alle schaffen die Voraussetzung für ein neues WirGefühl. In diesem Kontext steht auch die Einbeziehung von Kultur in eine
nachhaltige entwicklungspolitische Zusammenarbeit auf Bundesebene – wovon namentlich die unlängst vom BMZ gegründete »Servicestelle Kommunen
in der Einen Welt« zeugt, die die vorhandenen Initiativen bundesweit koordinieren soll. So hat auch Deutschland inzwischen auf die Erkenntnis reagiert, in
dieser Hinsicht ein Entwicklungsland zu sein.
Zugleich gibt es, wie die jüngste documenta in Kassel zeigte, eine wachsende Zahl internationaler KünstlerInnen, die – meist ohne Kontakt zu den »Agenda 21«-Akteuren – mit ihren Mitteln, sinnlich und praxisorientiert, im Umfeld der nämlichen Herausforderungen agieren; die sich mit dem Verhältnis
von Globalisierung und regionaler Identität sowie mit Fragen der sozialen
Teilhabe oder mit Demokratie als unvollendetem Prozess befassen. Hier sollten
auf Bundesebene neue Allianzen und Kooperationen zwischen Initiativen der
auf Nachhaltigkeit orientierten Eine-Welt-Arbeit und der internationalen gesellschaftsorientierten Gegenwartskunst geschaffen werden – was unseres Erachtens ausgesprochen zukunftshaltige Ressourcen freilegen könnte.
Solidarität kommt gegenwärtig eine besondere Bedeutung zu – eine kritische Solidarität freilich, die weder paternalistisch herablassend oder bevormundend, noch blind sein darf. Der »reiche Westen« muss sich als eine Lernkultur begreifen: lernen, den Dialog mit der Welt auf gleicher Augenhöhe zu
führen. Doch zugleich, den Vorsprung an Erfahrung zu nutzen, um globale
Partner an der Nachahmung oder Wiederholung der eigenen Fehler zu hindern.
»Was wir suchen und finden müssen ... ist eine neue Art der Politik. ... Die Politik, weltweit zusammenzuarbeiten und die sichere Zerstörung zu verhindern«,
so die beredte und aufgeklärte Stimme der Inderin Arundhati Roy16. Sie weiß
aus schmerzlicher Einsicht in ihrem Land, wovon sie spricht.
Eine Politik der Nachhaltigkeit meint die Suche nach Regeln und Werten
sowie die Durchführung von Maßnahmen, die weltweit wechselseitigen Respekt sowie Rücksicht auf die gemeinsamen Lebensgrundlagen fördern und
auch die Lebenschancen künftiger Generationen nicht einschränken. Nachhaltigkeit kann nur wirksam werden, wenn sie dauerhaft dazu beiträgt, die Ungleichheit unter den Völkern der Erde abzubauen und das wechselseitige Vertrauen zu stärken. Nachhaltigkeit meint nicht weniger als Verantwortung für
die Zukunft der Erde und der Menschheit.
16
Arundhati Roy: Die Politik der Macht, München: Goldmann 2002, S. 235.
12
5. Das gute Leben – Lebenskunst
Vom guten Leben zu sprechen heißt, es einem als schlecht erkannten entgegen
zu setzen. »Gut leben statt viel haben« wurde schon in der richtungsweisenden
Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« als ein zentrales Leitbild identifiziert.
Entgegen den derzeit vorherrschenden technokratischen Tendenzen in der
Nachhaltigkeitsdebatte wird im Suchraum Nachhaltigkeit diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit gelten.
Bei allem Fortschritt, der sich seit fünfzig Jahren in Mentalität und Lebensqualität vor allem der Gesellschaften des europäischen Westens niedergeschlagen hat, haben sich die Menschen noch keineswegs von jenem »endogenen
Mechanismus der Selbstbeschleunigung« zu befreien verstanden, zu dessen
Merkmalen die »Wut des Habens« ebenso gehört wie die »maßlose Angst, Existenz zu verfehlen« (Bernd Rosner). Von der »Pathologie der Normalität«
insbesondere der westlichen Gesellschaften spricht wiederum Erich Fromm.
Seine sozialpsychologische Analyse der kranken Gesellschaft gründet auf der
Annahme, dass es richtige und falsche, befriedigende und unbefriedigende Lösungen für das Problem der menschlichen Existenz gibt. Mit der an den einzelnen Bürger wie ans soziale Kollektiv gerichteten Forderung einer umsichtiggenügsamen Lebens- und einer evolutionär angemessenen Wirtschaftsweise
wurden im Nachhaltigkeitsdiskurs einige solcher richtigen oder befriedigenden
Lösungen in den Prozess gesellschaftlichen Lernens eingebracht.
Eine rasche Heilung der kollektiven »Krankheit« in großem Stil steht nicht
in Aussicht. Eine Therapie, die auf evolutionärem Wege allmähliche Besserung
bewirken könnte, bietet sich vielmehr in der Lebenskunst an, also in einer Reform individueller Daseinsentwürfe. Im Umfeld einer zukunftsfähigen Lebenskunst reift, was Wilhelm Schmid das »ökologische Selbst« nennt: Menschen,
die sich aus eigener Einsicht einen »Lebensstil der Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit« zu eigen machen, das heißt besonnen zu handeln, vorausdenkend
den Verbrauch durch Gebrauch der Ressourcen und Techniken zu ersetzen und
sich in Gelassenheit zu üben. Wie kann das Kunststück gelingen, dass nachhaltige Lebenskunst Schule macht?
Auch kommt es darauf an, die Frage »Was ist ein gutes Leben?« als eine
Frage erkennbar zu machen, die weit über die private Sphäre hinaus letztendlich die ökonomischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft bestimmt. Gibt
es, jenseits des Individualismus, eine Ebene, auf der wir selbstbestimmt als Individuen und zugleich getragen vom Bewusstsein einer umfassenden Zusammengehörigkeit gut und verantwortlich leben? Wie kann diese Debatte so in
Gang gebracht werden, dass sie jenseits von elitärer Privatheit, von trendigem
Lifestyle und von belehrendem Moralismus als eine alle Politikfelder erfassende, öffentliche Wertedebatte geführt wird? Wie lässt sich die politische Herausforderung eines guten Lebens mit ästhetischer Gestaltungskraft verbinden?
Im Blick auf die im Entstehen begriffene Weltgemeinschaft erscheint es gegenwärtig insbesondere geboten, wider den dominanten Trend zum Verhübschen von Oberflächen das allen Menschen zustehende Recht auf ein gutes Leben, ein als sinnvoll, als schön, als gelingend erfahrbares Leben auf den inter-
13
nationalen politischen Agenden zu etablieren.
6. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
Bei der Umsetzung des Projektes »Nachhaltige Entwicklung« kommt der schulischen und außerschulischen Bildung eine Schlüsselrolle zu. In dem »Bericht
der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« vom Dezember 2001 wird diese kaum zu überschätzende Bedeutung von Bildung für
die Realisierung des gesellschaftlichen Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung und der Einbeziehung der Menschen zur aktiven Gestaltung einer ökologisch verträglichen und sozial gerechten Umwelt unter Berücksichtigung globaler Zusammenhänge betont: »Mit geeigneten Inhalten, Methoden und einer
entsprechenden Lernorganisation hat Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
in allen Bildungsbereichen die Aufgabe, Lernprozesse zu initiieren, die zum
Erwerb von für eine nachhaltigen Entwicklung erforderlichen Analyse-, Bewertungs-, und Handlungskompetenzen beizutragen.«
Mit der UNO-Dekade »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« 20052014 wird dieser wichtigen Zukunftsaufgabe auch ein ihr entsprechender Rahmen gegeben und öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt.
Im Rahmen von UNESCO-Projektschulen des BLK-Orientierungsrahmen
»Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« und einem daran anknüpfenden
Modellprojekt mit 160 Schulen sowie zahlreichen anderen Projektinitiativen
sind inzwischen viele gute Erfahrungen mit dem Ansatz Bildung für eine nachhaltige Entwicklung gemacht worden. Dabei wurden auch Schwächen der früheren »Umweltbildung« wie die Konzentration auf die zerstörte, geschädigte
und gefährdete Umwelt vielfach überwunden und die Forderung nach Gerechtigkeit zwischen armen und reichen Ländern sowie zwischen den Generationen
im Sinne der Nachhaltigkeit zur Grundlage gemacht. Der »Paradigmenwechsel
von der schulischen Umwelterziehung zur Bildung für Nachhaltigkeit« (Gerhard de Haan) scheint zumindest in diesen Projekten stattgefunden zu haben.
Allerdings gibt es in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion nach den Ergebnissen der PISA-Studie wieder eine stärkere Orientierung der Schulen hin
auf abfragbares Leistungswissen und weniger auf die Entwicklung kultureller
Kompetenz, wozu vor allem die musisch-kulturellen Fächer gehören. Zudem
ist die bisherige Diskussion über Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
weitgehend auf den schulischen Bereich konzentriert. Bei der Bildung für
Nachhaltigkeit fehlt aber insbesondere die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen wie vorausschauend zu denken und interdisziplinär zu arbeiten, weltoffene Wahrnehmung und transkulturelle Verständigung, Partizipation und Kooperation.
Entscheidend für den Erfolg der Bildung für Nachhaltigkeit ist die Verknüpfung von Schule mit außerschulischer kulturell-künstlerischer Kinder- und Jugendbildung. Die gegenwärtigen Diskussionen um die inhaltliche Ausgestaltung der im Aufbau befindlichen Ganztagsschulen und der Initiativen unter
14
dem Motto »Schulen ans kulturelle Netz« bilden einen guten Anknüpfungspunkt für eine entsprechende Einbindung des Nachhaltigkeitsdiskurses in die
gegenwärtige Bildungsdebatte im schulischen und außerschulischen Bereich.
Über Suchräume und die Herausforderung »Nachhaltigkeit«“
Nachhaltigkeit ist ein Suchprozess. Abschließende Antworten auf das »Wie,
Wohin und Wodurch« der Nachhaltigkeit gibt es nicht. Wer vorgibt, sie zu haben, macht sich verdächtig. Wer aber ernsthaft sucht und sich der Herausforderung »Nachhaltigkeit« stellt, dem tut sich ein weiter Raum auf, der durch viele
Determinanten bestimmt wird. Ein Suchraum ist üblicherweise ein nach allen
Dimensionen abgrenzbarer Bereich, in dem man etwas zu finden vermutet und
dessen konkreten Ort oder dessen Existenz man »lediglich« zu beweisen hat.
Wir haben uns für den Begriff des »Suchraumes« entschieden, obwohl wir wissen, dass weder »Kultur« noch »Nachhaltigkeit« eindeutig abgrenzbare Gegenstände sind. Unser Suchraum ist nur abgegrenzt durch die Erfahrungen der
Vergangenheit, die bis heute nachwirken, und die der Gegenwart, die uns zur
Suche veranlassen.
Das Arbeitspapier sucht unseren Ausgangspunkt zu bestimmen und zugleich
einige verlässliche Eckpunkte in der Zukunft aufzeigen, die als Wegmarken für
die Suche geeignet sind. Gesucht werden keine abschließenden Antworten.
Vielmehr werfen wir Fragen auf. Etwa die, weshalb sich eigentlich nur dem
Nachhaltigkeitsdiskurs Verhaftete auf die Suche machen, während beispielsweise die öffentliche Kulturpolitik dies nicht (oder im verschwindend geringem Maße) tut? Wo liegen eigentlich die Spannungsgräben und wie wären sie
zu überwinden? Suchprozesse fordern auch immer einen gewissen Wagemut,
beherzt eine Richtung einzuschlagen. Mit unseren Vorschlägen zur praktischen
Umsetzung unserer Überlegungen geben wir einen Anstoß zur Diskussion, ob
die angepeilte Richtung auf den richtigen Weg führt.
15

Documentos relacionados