Heine als Philosoph

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Heine als Philosoph
Marc Rölli: Heine als Philosoph
02.03.06
Sic et Non. Politische Philosophie. [www.sicetnon.org]
[Marc Rölli]
Heine als Philosoph
„Reine Geister können nicht handeln.“1
Als Philosoph kommt Heinrich Heine (1797-1856) nur selten in Betracht. Er gilt
zunächst als (romantischer) Dichter, politischer Schriftsteller des Vormärz, bissiger
Satiriker und sprachgewandter Essayist. Und doch hat er sich, vor allem in den 30er
Jahren, ausführlich mit Vergangenheit und Gegenwart der Philosophie, insbesondere
mit der neueren deutschsprachigen Philosophie beschäftigt. In dem Prosatext Zur
Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) nimmt diese
Beschäftigung selbst philosophische Züge an. Vielleicht kann man sagen, dass Heine
ein philosophischer Flegel ist – er selbst spielt mit diesem Klischee. Aber, wie sich
vielleicht herausstellen wird, ist eben dieses Flegeltum oder dieser schamlose,
unerschrockene und literarisch unverkrampfte Übergriff zutiefst philosophisch. Mit
seinen Worten:
„Große deutsche Philosophen, die etwa zufällig einen Blick in diese Blätter werfen,
werden vornehm die Achseln zucken über den dürftigen Zuschnitt alles dessen, was
ich hier vorbringe. Aber sie mögen gefälligst bedenken, daß das wenige, was ich sage,
ganz klar und deutlich ausgedrückt ist, während ihre eignen Werke, zwar sehr
gründlich, unermeßbar gründlich, sehr tiefsinnig, stupend tiefsinnig, aber eben so
unverständlich sind. Was helfen dem Volke die verschlossenen Kornkammern, wozu
es keinen Schlüssel hat? Das Volk hungert nach Wissen und dankt mir für das
Stückchen Geistesbrot, das ich ehrlich mit ihm teile. Ich glaube, es ist nicht
Talentlosigkeit, was die meisten deutschen Gelehrten davon abhält, über Religion
und Philosophie sich populär auszusprechen. Ich glaube, es ist Scheu vor den
1
Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834), in: Werke in 4 Bänden,
Bd. 4, Frankfurt a. M. 1968, 44-165, 72. Im Folgenden zitiert als: Heine 1834
sicetnon. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz
1
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Resultaten ihres eigenen Denkens, die sie nicht wagen, dem Volke mitzuteilen. Ich,
ich habe nicht diese Scheu, denn ich bin kein Gelehrter, ich selber bin Volk.“2
Warum sind die Gelehrten zurückhaltend? Nur deshalb, weil sie implizit die Freiheit
meinen? Aber es ist keineswegs eindeutig, dass die Resultate der Aufklärung dem
Volk die Freiheit bringen oder bringen könnten. Es wäre auch möglich, dass die
Gelehrten sich nicht mitzuteilen trauen, weil ihre Erkenntnisse allzu dürftig
ausfallen. Reine Geister können nicht handeln, können das Handeln nicht gebührend
bedenken, und doch ist die Revolution das Geschäft der Philosophie. Dieser Gedanke
lässt Heine nicht los. Er wendet sich gegen die Vorstellung, dass die wahren
philosophischen Ideen im abstrakten Geisteshimmel liegen, und von dort aus
langsam ins gesellschaftliche Leben einsickern, indem sie verwässern. Im Gegenteil:
emphatisch stellt sich Heine in die Tradition der Popularphilosophie. Er wertet sie
auf, indem er den Schulgebrauch vom Weltgebrauch abhängig macht.3 Ideen, die
wirklich zählen, sind soziale Ideen, d. h. Ideen, die nicht aus dem Selbstgespräch der
Vernunft
resultieren
und
dann
populär
–
gegen
den
Widerstand
der
Begriffsstutzigkeit des gemeinen Verstandes – zu vermitteln sind, sondern Ideen, die
in sich populär gefasst oder Weltkenntnis sind. „Ich werde daher nur von den großen
Fragen handeln, die in der deutschen Gottesgelahrtheit und Weltweisheit zur Sprache
gekommen, ich werde nur ihre soziale Wichtigkeit beleuchten [...].“4 Diese
Redewendung ist bei Heine Legion. Der Begriff des Sozialen fungiert als Chiffre für
die notwendige Philosophie, die an der Zeit ist: Popularphilosophie, die die
politischen und die intellektuellen Tätigkeiten aufs engste miteinander verbindet. Es
gibt Anzeichen dafür, dass für Heine ihre Form die literarische ist.
In Philosophiegeschichtsbüchern wird Heine gerne, wenn überhaupt, als wichtige
Figur des Jungen
Deutschland angesehen, und damit der
Fraktion des
Linkshegelianismus zugeordnet, und damit zwischen Hegel und Marx verortet, und
2
Heine 1834, 50
Vgl. Heine 1834, 94, 125. „Ich berühre hier überhaupt die komische Seite unserer Philosophen. Sie klagen
beständig über Nichtverstandenwerden. Als Hegel auf dem Todbette lag, sagte er: ‚nur Einer hat mich
verstanden’, aber gleich darauf fügte er verdrießlich hinzu: ‚und der hat mich auch nicht verstanden.’“ (Ebd.,
135) Vgl. zum Schul- und Weltbegriff: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. R. Schmidt, Hamburg
1993, A 838/ B866 und Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v.
der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1917, 117-333, 120
4
Heine 1834, 50. „Beständig aber halten wir im Auge diejenigen von den Fragen der Philosophie, denen wir
eine soziale Bedeutung beimessen [...].“ (Ebd., 85) Vgl. ebd., 88, 127, 153. „Was wir nicht erkennen können hat
für uns [...] keinen Wert auf dem sozialen Standpunkt, wo es gilt, das im Geiste Erkannte zur leiblichen
Erscheinung zu bringen.“ (Ebd., 96)
3
sicetnon. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz
2
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damit unschädlich gemacht. Denn alles, was Heine über Hegel hinaus versucht,
findet so gesehen seine Einlösung bei Marx, und was aus Marx geworden ist, das ist
bekannt.5 – (Langer Gedankenstrich) – Hegel ist für Heine in der Tat die zentrale
Figur der modernen Philosophie. In Hegel kulminiert das Denken der Freiheit, die
Verwirklichung der religiösen, künstlerischen und philosophischen Ideale in
zwangsfreien gesellschaftlichen Verhältnissen, im Namen des menschlichen Subjekts
der Geschichte.6 In Hegel werden die Gegensätze vermittelt, die zwischen dem
Geistigen und Sinnlichen, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Sein
bestehen. Ist das Wirkliche vernünftig, oder das Vernünftige wirklich? Hegels Wort
versteht Heine so: „Schon hier auf Erden möchte ich, durch die Segnungen freier
politischer und industrieller Institutionen, jene Seligkeit etablieren, die, nach der
Meinung der Frommen, erst am jüngsten Tage, im Himmel, stattfinden soll.“7
Die Kernaussage der politischen Philosophie Hegels war zweideutig und spaltete die
Schülerschaft in einen rechten und linken Flügel.8 Musste die Freiheit noch
verwirklicht werden, oder war sie bereits verwirklicht? Heine ist vollkommen klar,
dass die Geschichte mit Hegel nicht zu ihrem Abschluss gekommen ist. In diesem
Sinne steht er links. Gleichzeitig schert er aber aus der junghegelianischen
Traditionslinie aus, und steht zwischen allen Stühlen, weil er dem Idealismus in der
Philosophie abschwört. Das heißt, dass die große Idee einer abstrakt voraus
gedachten Freiheit, die sich mit Notwendigkeit im Geschichtsverlauf realisieren
muss, zugunsten kleiner und sozial wichtiger Ideen aufgegeben wird. Es ist dieser
Schritt, der Heine auf ungeahnte Weise Aktualität verleiht. Was sich in seinem
Denken vorbereitet ist nichts weniger als ein politisches Denken, das die Ideologie
hinter sich gelassen hat, und sei es die marxistische.
Der französischen Revolution stellt Heine die philosophische Revolution zur Seite,
die hierzulande mit Kant zum Ausbruch kam. „Als hier in Paris, in dem großen
Menschen-Ozean, die Revolution losflutete, als es hier brandete und stürmte, da
rauschten und brausten jenseits des Rheins die deutschen Herzen. [...] Dieses
5
Vgl. u. a. Karl Löwith (Hg.), Die Hegelsche Linke, Stuttgart 1962
Vgl. Heine 1834, 157ff.
7
Heine 1834, 54
8
„Und wenn er [Hegel; Vf.] auch, gleich Herrn Schelling, dem Bestehenden in Staat und Kirche einige
allzubedenkliche Rechtfertigungen verlieh, so geschah dies doch für einen Staat, der dem Prinzip des
Fortschrittes wenigstens in der Theorie huldigt, und für eine Kirche, die das Prinzip der freien Forschung als ihr
6
sicetnon. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz
3
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Phänomen mahnt mich an die großen Seemuscheln [...].“9 Kurz gesagt, soll die
deutsche Gründlichkeit helfen, die Mängel der französischen Ereignisse zu
begleichen. Herrschte in Frankreich die materialistische und mechanistische
Denkungsart, so erneuert dagegen die deutsche Philosophie nach Kant den
Pantheismus (als Identitätsphilosophie und Dialektik) – im Sinne einer radikalen
Vergöttlichung der Welt, die nicht den kleinsten göttlichen Rest dem Jenseits
opfert.10 Das aber heißt, dass ihr eine gründlichere Versöhnung von Geist und
Materie bzw. Sinnlichkeit gelingt – gegen die allzu asketischen „tugendhaften
Republikaner“.11 „Die politische Revolution, die sich auf die Prinzipien des
französischen Materialismus stützt, wird in den Pantheisten keine Gegner finden,
sondern Gehülfen, aber Gehülfen, die ihre Überzeugungen aus einer tieferen Quelle
[...] geschöpft haben.“12 Das ist auch nötig, so Heine, weil die Revolution der
politischen Verhältnisse nicht mit der Ermächtigung des Bürgertums zum Erliegen
kommen kann und soll. Immer wieder beruft er sich auf die „Industriellen“ der St.
Simonschen Sozialutopie, d. h. auf die große Zahl der unterprivilegierten arbeitenden
Bevölkerung.13 Wie geht es aber zusammen, dass gerade die bürgerliche Philosophie
in Deutschland sich mit einer weiter greifenden revolutionären Konsequenz, mit der
Entlastung des Pöbels „von seiner Schmach“, befreundet?
Die schematische, formale und ebenso kurze wie knappe Antwort lautet, dass gerade
die
Wiederkehr
des
Pantheismus
bei
Schelling
und
Hegel
auf
einem
identitätsphilosophischen Denkansatz basiert, der sich, wird sein immanenter
Idealismus gebrochen, auf die Kategorie des Sozialen ausrichtet. Das klingt schwer
verständlich – und daraus ersieht man, dass hier vielleicht die Literaten einen
besseren Stand haben als Philosophen. Ich möchte kurz und zum Abschluss
versuchen, die wesentlichen Punkte dieses Gedankens einzusammeln:
Lebenselement betrachtet; und er machte daraus kein Hehl, er war aller seiner Absichten eingeständig.“ (Heine
1834, 158)
9
Vgl. Heine 1834, 151
10
Vgl. Heine 1834, 88-89, 100-101
11
Aufschlussreich ist eine von Heine zitierte Briefstelle (eines Schreibens von Fichte an Reinhold), die die
Richtung anzeigt, wo Heine die revolutionäre Kraft der deutschen Philosophie vermutet: „’Ich habe nie geglaubt,
daß sie meinen vorgeblichen Atheismus verfolgen; sie verfolgen in mir einen Freidenker, der anfängt, sich
verständlich zu machen, (Kants Glück war seine Obskurität) und einen verschrieenen Demokraten; es erschreckt
sie, wie ein Gespenst, die Selbständigkeit, die, wie sie dunkel ahnen, meine Philosophie weckt.’“ (Heine 1834,
150) Vgl. auch die Erläuterungen zum Spinozismus: Heine 1834, 97ff.
12
Heine 1834, 100-101
13
„Die Menschheit ist aller Hostien überdrüssig, und lechzt nach nahrhafterer Speise, nach echtem Brot und
schönem Fleisch. [...] Dem Fürstendienst wird die privilegierte Ehre entrissen und die Industrie wird der alten
Schmach entlastet.“ (Heine 1834, 99) Vgl. ebd., 54, 74, 101. Vgl. Heine, Die romantische Schule, in: Werke a. a.
O., Bd. 4, 198
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Heine lässt die philosophischen Revolutionsjahre mit Kant beginnen und enden mit
Hegel. Mit Kant beginnt es, weil dieser in die Philosophie den Atheismus einführt,
nämlich die Erklärung des Göttlichen zu einem Noumenon, das nicht in die
Erfahrung fällt – und deshalb im Wesentlichen irrelevant ist. Das Wesentliche ist hier
die
kopernikanische
Inthronisierung
des
Subjekts
und
der
Verlust
der
selbstverschuldeten Unmündigkeit. Allerdings bleibt dieses Beginnen noch reichlich
unverständlich – und vor allem verfehlt es das Denken einer, wie Heine gerne sagt
„pantheistischen“ Identität, die der Trennung von Theorie und Praxis (bzw. von
Sensualismus und Spiritualismus) zugrunde liegt und die niederen, sinnlichen, nur
scheinbar rohen Dinge des vergänglichen Lebens nicht nur gelten lässt, sondern zum
Wesentlichen erklärt.14 Mit Hegel endet es, weil er die Versöhnung der Gegensätze
auf die Spitze treibt, alles Wirkliche restlos der Bestimmung des Subjekts als
absoluter Geist überlässt. Allerdings fällt die Wiederkehr des Pantheismus bei Hegel
allzu idealistisch aus, als ob das Wirkliche schon vernünftig wäre oder auch nur
werden könnte. Genau an diesem erneuert sich für Heine das Problem des Sozialen,
weil die Idee, die noch die großen philosophischen Systeme beherrscht,
„unausführbar“ ist, wie er an mehreren Stellen sagt. Unausführbar ist die Idee des
Christentums,
weil
sie
die
Wirklichkeit
des
endlichen
und
körperlichen
Menschenlebens verleugnet.15 Nicht umsonst wurde mit den Ablassgeldern der Sünde
der Petersdom erbaut.16 Im Tartuffe wendet sich Molière gegen die Idee des
Christentums, so Heine, d. h. gegen „die allgemeine Lüge, die aus der
Unausführbarkeit der christlichen Idee notwendig entsteht.“17 Ungelöst ist ebenso die
„Schlichtung des Kampfes zwischen Idealismus und Materialismus“, jedenfalls in den
14
„Und dann müssen der Materie noch große Sühnopfer geschlachtet werden, damit sie die alten Beleidigungen
verzeihe. Es wäre sogar ratsam, wenn wir Festspiele anordneten [...]. Denn das Christentum, unfähig die Materie
zu vernichten, hat sie überall fletriert, es hat die edelsten Genüsse herabgewürdigt, und die Sinne mußten
heucheln und es entstand Lüge und Sünde. [...] Wißt Ihr nun, was in der Welt das Übel ist? Die Spiritualisten
haben uns immer vorgeworfen, daß bei der pantheistischen Ansicht der Unterschied zwischen dem Guten und
dem Bösen aufhöre. Das Böse ist aber einesteils nur ein Wahnbegriff ihrer eignen Weltanschauung, anderenteils
ist es ein reelles Ergebnis ihrer eigenen Welteinrichtung.“ (Heine 1834, 99-100)
15
„Aber diese Religion war eben allzuerhaben, allzurein, allzugut für diese Erde, wo ihre Ideen nur in der
Theorie proklamiert, aber niemals in der Praxis ausgeführt werden konnte. [...] Der Versuch, die Idee des
Christentums zur Ausführung zu bringen, ist jedoch, wie wir endlich sehen, aufs kläglichste verunglückt, und
dieser unglückliche Versuch hat der Menschheit Opfer gekostet, die unberechenbar sind, und trübselige Folge
derselben ist unser jetziges soziales Unwohlsein in ganz Europa.“ (Heine 1834, 98)
16
Vgl. Heine 1834, 66-67. „Denn Luther hatte nicht begriffen, daß die Idee des Christentums, die Vernichtung
der Sinnlichkeit, gar zu sehr in Widerspruch war mit der menschlichen Natur, als daß sie jemals im Leben ganz
ausführbar gewesen sei; er hatte nicht begriffen, daß der Katholizismus gleichsam ein Konkordat war zwischen
Gott und dem Teufel, d. h. zwischen dem Geist und der Materie, wodurch die Alleinherrschaft des Geistes in der
Theorie ausgesprochen wird, aber die Materie in den Stand gesetzt wird alle ihre annullierten Rechte in der
Praxis auszuüben.“ (Heine 1834, 66)
sicetnon. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz
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vorliegenden Lösungsvorschlägen einschließlich Hegel.18 Da aber, wie Heine
unentwegt sagt, die philosophische Revolution in Deutschland die letzte Konsequenz
des Protestantismus ist, so ergibt sich, dass auch die Idee, die das System Hegels
zusammenhält, unausführbar ist.19 Später wird Heine – mit Blick auf Hegel und seine
Nachfolger – von den „gottlosen Selbstgöttern“ sprechen: der Glaube an die
Vorsehung
der
Vernunft,
sich
selbst
zu
realisieren
–
im
fortgesetzten
Entwicklungsgang der Gattung Mensch –, dieser Glaube verliert ohne seine
theologische Garantie seine Glaubwürdigkeit. Das ist unvermeidlich so, und das ist
gut so, denn der Mensch verfügt nicht über eine reine, göttliche Vernunft.
Der vergessene vierte Stand wird also nicht einfach zum Subjekt der Geschichte
erklärt werden können, selbst wenn die Philosophie ihren Anspruch auf alle noch so
tief gesunkenen sozialen Schichten ausweitet. Denn eben die sinkende Perspektive
verunmöglicht den Blick aufs Ganze. An die Stelle des großen Subjekts der
Menschheit treten die vielen kleinen Akteure und Gruppierungen. Mit der Absetzung
des obersten Gottes verbindet sich die profane Stellung der Vernunft. In einem
Artikel zur Februarrevolution schreibt Heine: „Aber nicht bloß die Welt ist aus ihren
Angeln gerissen, auch der Verstand der einzelnen Individuen. Die Hirnkasten
bersten, weil auf einmal soviel Neuigkeiten, vielleicht auch neue Gedanken
hineindrängen.“20 Wie die alte Eidechse in „Die Stadt Lucca“ sagt, denkt kein Mensch
und kein Philosoph – Gedanken fallen ihnen vielmehr zu.21 So wird die idealistische
Annahme von der notwendigen Herbeiführung einer klassenlosen Gesellschaft durch
die Macht des Proletariats selbst zu einem Problem. Das Volk, so wie es ist, ist dumm,
hässlich und stinkt –, mit Heines Worten: „Das Volk, dessen Güte so sehr [in
einschmeichelnden Worten] gepriesen wird, ist gar nicht gut; es ist manchmal so
böse wie einige andere Potentaten. Aber seine Bosheit kommt vom Hunger; wir
müssen sorgen, daß das souveräne Volk immer zu essen habe; sobald allerhöchst
dasselbe gehörig gefüttert und gesättigt sein mag, wird es Euch auch huldvoll und
gnädig anlächeln, ganz wie die andern.“22
17
Vgl. Heine 1834, 68-69
Vgl. Heine 1834, 91
19
Vgl. Heine, Die romantische Schule, a. a. O., 238. In diesen Zusammenhang gehört die berühmte Passage, die
vom Sterben Gottes handelt: „Hört Ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente einem
sterbenden Gotte“ (Vgl. Heine 1834, 120)
20
Heine, „Februarrevolution. Artikel für die Augsburger ‚Allgemeine Zeitung’“, Paris 3. März 1848, in:
Gedichte und Prosa, hg. v. H. Poschmann, Berlin 1989, 754-758, 756-757
21
Vgl. Heine, Die Stadt Lucca, in: Werke a. a. O., Bd. 2, 379-428, 382
22
Heine, Geständnisse, in: Werke a. a. O., Bd. 4, 476-527, 497
18
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Der letzte Dreh der Heineschen Gedankenführung besteht also darin, das Soziale
gegen das Absolute zu setzen. Es hilft nichts: die reine Vernunft, die sich versteigt, die
Aufhebung von Herrschaft und Macht zu bestimmen, sie wird selbst zu einem
Werkzeug der Macht, sie kaschiert ihre Löcher, ihre untilgbare Unvollkommenheit
und Unfähigkeit. Gilt das schon für den europäischen Kommunismus, umso viel
mehr wächst das Misstrauen angesichts der liberalen Freiheitsbewegungen im
Vormärz. Zutiefst zuwider sind Heine die nationalistischen Reaktionen der deutschen
Burschenschaften (auf die französische Übermacht) mit ihrem latenten bis
manifesten Antisemitismus. Auf dem Wartburgfest (1817) wird nicht nur die
Geschichte des deutschen Reichs von Kotzebue verbrannt, sondern auch der Code
Civil und Saul Aschers Germanomanie.
Ich komme zum Schluss in zwei Zitaten auf das Thema der verständlichen und
populären Philosophie zurück – mit der Frage: Wer denkt abstrakt? Eher das Volk
oder eher die Philosophen?
Hegel hat in einem kleinen Text ein bekanntes, anschauliches Beispiel gegeben: „Alte,
ihre Eier sind faul, sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau [zur Marktfrau; Vf.]. Was,
entgegnet diese, meine Eier faul? Sie mag mir faul sein! Sie soll mir das von meinen
Eiern sagen? Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen,
ist nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen und ihre Großmutter im Spital
gestorben, – schaff sie sich für ihr Flitterhalstuch ein ganzes Hemd an; man weiß
wohl, wo sie dies Halstuch und ihre Mützen her hat; wenn die Offiziere nicht wären,
wär jetzt manche nicht so geputzt, und wenn die gnädigen Frauen mehr auf ihre
Haushaltung sähen, säße manche im Stockhause, – flick sie sich nur die Löcher in
den Strümpfen! – Kurz, sie läßt keinen guten Faden an ihr. Sie denkt abstrakt. [...]
Der gemeine Mensch denkt wieder abstrakter.“23
Heine antwortet darauf mit der Doktrin:
„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,/ Und küsse die Marketenderin!/ Das
ist die ganze Wissenschaft,/ Das ist der Bücher tiefster Sinn.// Trommle die Leute
aus dem Schlaf,/ Trommle Reveille mit Jugendkraft,/ Marschiere trommelnd immer
23
G. W. F. Hegel, „Wer denkt abstrakt? (1807)“, in: Werke Bd. 2, Jenaer Schriften, hg. v. E. Moldenhauer und
K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1986, 575-581, 579
sicetnon. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz
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Marc Rölli: Heine als Philosoph
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voran,/ Das ist die ganze Wissenschaft./ Das ist die Hegelsche Philosophie,/ Das ist
der Bücher tiefster Sinn!/ Ich hab sie begriffen, weil ich gescheit,/ Und weil ich ein
guter Tambour bin.“24
24
Heine, „Doktrin“, in: Neue Gedichte, Werke a. a. O., Bd. 1, 112
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