GETEILTER HIMMEL – GETRENNTE WEGE

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GETEILTER HIMMEL – GETRENNTE WEGE
GETEILTER HIMMEL – GETRENNTE WEGE
Christa Wolf und ihre Erzählung Der geteilte Himmel
Haluk Özcan
Als Schriftstellerin der ehemaligen DDR kann Christa Wolf ohne Zweifel zugleich auch als
eine grosse gesamtdeutsche Autorin bezeichnet werden. Kaum einem anderen zeitgenössischen
Schriftsteller wurde in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen soviel Aufmerksamkeit zuteil,
wobei ihre Werke in beiden Teilen Deutschlands nicht immer ganz unumstritten waren.
Am 18.03.1929 wurde Christa Wolf als Tochter eines Kaufmannes in Landsberg (Warthe)
geboren. 1945 siedelte sie nach Mecklenburg um. Nach dem Abitur in Bad Frankenhausen studierte sie in den Jahren 1949-1953 in Jena und Leipzig Germanistik. Zu dieser Zeit trat sie der
SED bei, der sie bis 1989 treu blieb. Nach dem Studium arbeitete sie als Erzählerin, Essayistin,
Kritikerin und Herausgeberin. In der Zeit von 1953-1959 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schriftstellerverband in Berlin tätig, wo sie seit 1962 als freischaffende Autorin
lebt. Ihre schriftstellerische Karriere begann sie mit kritischen und essayistischen Arbeiten für
Funk und Presse, sowie der Herausgabe von Anthologien sozialistischer Gegenwartsliteratur. Im
Laufe ihrer bisherigen schriftstellerischen Laufbahn wurden Christa Wolf zahlreiche Auszeichnungen zuteil. So erhielt sie 1961 den Kunstpreis der Stadt Halle, 1963 den HeinrichMann-Preis, 1964 den Nationalpreis der DDR; 1972 wurde ihr der Theodor-Fontane-Preis des
Bezirks Potsdam verliehen. Zu schriftstellerischem Ruhm gelangte Christa Wolf erst mit der
Veröffentlichung ihrer Erzählung “Der geteilte Himmel” (1963). Später folgten u.a. “Nachdenken über Christa T.” (1968), “Kindheitsmuster” (1976) und ”Kein Ort. Nirgends” (1979). Die
gefühlvolle und offene Art der Darstellung in ihren Werken, in die auch viele autobiographische
1
Momente eingeflossen sind, (”sie beschreibt das Leben, indem sie es beschreibt” ), führte häufig
zu Kritik seitens des DDR-Regimes. So brachte ihr oft “die dezidierte Kritik an Parteigenossen
2
und an ihrem autokratischem Stil den Vorwurf einer dekadenten Lebensauffassung ein.” Doch
gerade das Aufzeigen von Stärken und Schwächen einer Republik, die sich zum Beginn ihrer
Karriere noch im Aufbau befand, die nicht idealisierende Schreibweise und ihre innere Verbundenheit mit dem sozialistischen Ideal verhalfen ihr nicht nur im Westen, sondern auch im
Osten zu Ruhm und Anerkennung. Karin Hirdina vertritt hierzu folgende Meinung:
Zurecht gilt sie in der Welt als Repräsentantin der DDR-Literatur. Liest man ihre Texte chronologisch, kann man die Geschichte der Ideologie, der kunstpolitischen Orientierungen, des Selbstver3
ständnisses unseres Landes rekonstruieren.
Unterstützt wird dieser Standpunkt durch die Aussage Therese Hörniks, die behauptet:
Aus einer sich mit den Jahren immer konsequenter formulierenden weiblichen Perspektive schreibend, stellt sich die Autorin Christa Wolf den historischen, politischen, sozialen und ökologischen
Realitäten mit der deutlich bezeichneten Wirkungsabsicht, die Beziehungen zwischen den Individu-
1
Georg Hermann: Christa Wolfs Erzählung “Der geteilte Himmel”. Eine Studienreise in die DDR (III). In: Deutsche Volkszeitung, Nr. 33, 16. Aug. 1963, S. 8.
2
Völker Hammerschmidt / Andreas Oettel: Christa Wolf. In: Heinz L. Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Edition Text und Kritik, Bd. 8, München 1978, S. 3.
3
Karin Hirdina: Christa Wolf zum 60. Geburtstag. In: Weimarer Beiträge 3/1989, S. 472.
Geteilter Himmel – getrennte Wege: Christa Wolf und ihre Erzählung Der geteilte Himmel
en und der Gesellschaft vor allem auf der Ebene gesellschaftlicher Moral zu messen und durchsichtig zu machen.4
Aus diesen Aussagen wird deutlich, wie sehr das schriftstellerische Schaffen und das Leben
der Autorin, ähnlich wie bei Heinrich Böll, mit den geschichtlichen Ereignissen in ihrem Land
verbunden ist. Deshalb ist es notwendig, sich den politischen Hintergrund, vor dem Christa
Wolfs Werk entstanden ist, bewusst zu machen.
Grundzüge der DDR-Kulturpolitik
Die am 7. Oktober 1949 gegründete Deutsche Demokratische Republik war bis zum Anfang
der 60-er Jahre noch ein sich im Aufbau befindlicher Staat. Aussenpolitisch kämpfte die DDR
um internationale Anerkennung, innenpolitisch um die Stabilisierung der sozialistischen Ideologie. Bis zum Mauerbau im August 1961 verlor der junge Staat viele qualifizierte Arbeitskräfte
durch Republikflucht in den kapitalistischen Westen, dessen Wirtschaft prosperierte und dadurch eine starke Anziehungskraft auf viele DDR-Bürger ausübte. Kunst und Literatur wurden
stark vom sozialistischen Staat kontrolliert. Bereits beim ersten Parteitag der SED wurde die
Forderung aufgestellt, dass das gesamte Kulturschaffen auf den Grundlagen des MarxismusLeninismus zu beruhen habe. Dabei wurde die Doktrin des ‘sozialistischen Realismus’ der 30-er
5
Jahre wieder zum literarischen Ideal erhoben. Grundmomente des sozialistischen Realismus
sind die ideologische Massenerziehung und die Bedeutung der Literatur als einen politischen
Anschauungsunterrichts. Nach Werner Neubert handelt es sich
[...] um eine ideologisch festgelegte und begrenzte Literaturtheorie, die auf folgenden primären
Grundsätzen beruht: ideologisch determinierter Ideengehalt, marxistisch-leninistische Parteilichkeit,
Vorbildlichkeit, Optimismus, Volkstümlichkeit und positiver Held. Durch das genaue Beachten dieser
Prinzipien soll gewährleistet werden, daß die Literatur ihrer Funktion und Aufgabe gerecht wird,
nämlich den Aufbau der großen gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne des SozialismusKommunismus nicht nur widerzuspiegeln, sondern durch ihre Wirkung auf den Leser zur Verwirklichung dieser Gesellschaft beizutragen.6
Auf dieser Grundlage forderte Walter Ulbricht auf den sogenannten Bitterfelder Konferenzen bereits 1959 die Arbeiter auf, sich schriftstellerisch zu betätigen, was allerdings kaum verwirklicht wurde. Zugleich hielt er die Schriftsteller dazu an, aktiv am betrieblichen Leben des
Landes teilzunehmen:
Der Schriftsteller kann seine Aufgabe nur erfüllen, wenn er mitten im gesellschaftlichen Leben
steht, daran teilnimmt und zu seinem Teil an der Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Lebens
mit hilft. Anders ausgedrückt: Das literarische Schaffen erfordert, daß der Schriftsteller sein eigenes
Leben neu gestaltet. Das ist das Wichtigste.7
Vor diesem Hintergrund der persönlichen, politischen und betrieblichen Erfahrungen ent8
stand die Erzählung “Der geteilte Himmel” . Im Gegensatz dazu suchten jedoch viele Schriftsteller der damaligen Zeit die Erfahrung in sozialistischen Betrieben, um den kulturpolitischen
Ansprüchen in ihren Werken gerecht werden zu können. So auch Christa Wolf.
Zur Entstehung der Erzählung “Der geteilte Himmel”
Die 1963 veröffentlichte Erzählung “Der geteilte Himmel” zählt mit Sicherheit zu den bekanntesten und erfolgreichsten Werken der DDR-Literatur. Bereits vor der Buchausgabe er4
Therese Hörnigk: Christa Wolf zum 60. Geburtstag. In: Weimarer Beiträge 3/1989, S. 475.
Dieter Sevin: Christa Wolf s ‘Der geteilte Himmel’. Nachdenken über Christa T.’, München 1988, S. 10.
6
Werner Neubert zit. in: Dieter Sevin: a. a. O., S. 10.
7
Walter Ulbricht zit. in: Frank Trommler: Prosaentwicklung und Bitterfelder Weg. In: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. 6. Einführung in die Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur.
Stuttgart 1975, S. 293.
8
Dieter Sevin: Christa Wolf, a. a. O., S. 12.
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schien die Erzählung als Vorabdruck in einer Zeitung. 1964 wurde sie bereits von DDRRegisseur Konrad Wolf kunstvoll verfilmt. Der grosse Erfolg des Werkes beruht sicherlich auf
der Tatsache, dass die Autorin als politische Rahmenhandlung die Teilung Deutschlands wählte,
die sie geschickt und einfühlsam mit einer tragischen Liebesgeschichte verband. Die Verarbeitung ihrer Liebe zum sozialistischen Ideal und ihrer Erfahrungen aus der Tätigkeit in einer
Arbeitsbrigade in einem Waggonwerk machten das Buch Christa Wolfs ehrlich und glaubhaft
und für eine breite Leserschaft trotz gelegentlich enthaltener Systemkritik sowohl in Ost- als
auch in Westdeutschland interessant. Hinzu kam die aussergewöhnliche künstlerische Gestaltung der Erzählung, wobei die Verfasserin es wagte, mit den Traditionen des sozialistischen
Realismus teilweise zu brechen.
Zum epischen Kern der Erzählung
Ein Thema, mit dem sich Christa Wolf gern auseinandergesetzt hat und das auch zentrales
Thema der Erzählung “Der geteilte Himmel” darstellt, bilden “die Möglichkeiten und Beziehungen der Menschen, besonders der Liebenden, in der gegebenen politischen und gesellschaftlichen Situation; und – damit zusammenhängend – die Grenzen der Selbstver9
wirklichung eines Individuums angesichts sozialer und historischer Zwänge.” Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Mauerbaus wird die Geschichte Rita Seidels, eines jungen, fast
naiven Mädchens dörflicher Herkunft, erzählt, das den zehn Jahre älteren Chemiker Manfred
Herrfurth liebt, der in der Stadt lebt und gewissermaßen ”grossbürgerlicher” Abstammung ist.
Ritas Leben wird von zwei zentralen Beweggründen bestimmt: der Liebe zu Manfred und dem
Eintritt in Realität der Produktion. In ihrer Entscheidung für das Lehrerstudium sieht Rita die
Möglichkeit, der dörflichen Monotonie zu entfliehen und ihrem Geliebten in die Stadt zu
folgen. Dort arbeitet sie im Rahmen der Lehrerausbildung in einer Waggonfabrik, wo sie rasch
lernt, sich in einer Männerwelt durchzusetzen und sich aktiv am Aufbau des Sozialismus zu
beteiligen. Manfred steht Ritas fortschreitender emanzipatorischer Entwicklung mit Skepsis
und Eifersucht gegenüber. Als dann schliesslich sein Verbesserungsvorschlag für eine Spinnmaschine zurückgewiesen wird, kehrt er von einem in Westberlin stattfindendem Kongress
nicht mehr in die DDR Zurück: er begeht Republikflucht. In Rita beginnt ab nun ein innerer
Konflikt, der sie vor die Wahl stellt, sich zwischen Manfred, den sie immer noch liebt, und dem
sozialistischen Ideal entscheiden zu müssen. Indem sie sich dazu entscheidet, sich von dem
Geliebten zu trennen und nach einem eintägigen Besuch in Westberlin in die Heimat zurückzukehren, kommt es bald zu einem seelischen Zusammenbruch. Sie begeht während der Arbeit im
Waggonwerk einen Selbstmordversuch. Während ihrer vierwöchigen Genesung im Krankenhaus
lässt sie die vergangenen zwei Jahre mit Manfred Revue passieren und analysiert die Gründe,
die zu ihrer Entscheidung und schliesslich zur Katastrophe geführt haben. An dieser Stelle setzt
auch die Erzählung ein. In der Einleitung des Werkes wird bereits deutlich, wie sehr die Schriftstellerin Christa Wolf, ähnlich wie Heinrich Böll, mit ihrer unmittelbaren Umwelt verbunden ist
und gleich ihr das Provinzielle schätzt. Hier wie auch an vielen anderen Stellen in der Erzählung
beschreibt die Autorin auf eine verklärte, fast mystische Weise die Natur, das Dorf und selbst
die Stadt, in der die Heldin ihre Geschichte erlebt:
Die Stadt, kurz vor Herbst noch in Glut getaucht nach dem kühlen Regensommer dieses Jahres, atmete heftiger als sonst. Ihr Atem fuhr als geballter Rauch aus hundert Fabrikschornsteinen in den
reinen Himmel, aber dann verließ ihn die Kraft, weiterzuziehen.
Aber die Erde trug sie noch und würde sie tragen, solange es sie gab.
9
10
Heinz L. Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Edition Text und Kritik, Bd. 8,
München 1978.
Christa Wolf: Der geteilte Himmel. München: dtv, 1973, S. 7. Unter Angabe der Seitenzahlen wird im laufenden Text
nach dieser Ausgabe zitiert.
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Zum Porträt Ritas als der Hauptgestalt der Erzählung
Rita ist die eigentliche Heldin der Erzählung. Während ihrer Genesung im Krankenhaus
durchlebt sie die Stationen der vergangenen zwei Jahre noch einmal, um sich somit Klarheit
über die Gründe und die Richtigkeit ihrer Entscheidung gegen Manfred zu verschaffen. Zu Beginn der rückblickenden Haupthandlung lernt der Leser Rita durch den Erzähler in ihrer Ausgangsposition, dem Dorf, kennen. In der Ruhe und Harmonie des kleinen Ortes, in dem es keinen Platz für gesellschaftliche oder politische Spannungen gibt, geht Rita ihrer Bürotätigkeit
bei einer Versicherungsgesellschaft nach. Sie ist zu diesem Zeitpunkt noch ein junges, unbekümmertes, ja fast naives Mädchen, das sich bisher kaum mit den politischen Ereignissen um
sie herum auseinandergesetzt hatte:
Sie war zufrieden mit ihrem Dorf: Rotdachige Häuser in kleinen Gruppen, dazu Wald und Wiese und
Feld und Himmel in dem richtigen Gleichgewicht, wie man sich’s kaum ausdenken könnte. (S. 7)
Ihre lebensbejahende, intelligente und begeisterungsfähige Natur lassen sie jedoch bald
spüren, dass sie für eine grössere, anspruchsvollere Tätigkeit geschaffen ist, anstatt
[...] tagtäglich Zahlenreihen in endlose Listen zu schreiben und mit immer den gleichen Worten
immer die gleichen säumigen Zahler an ihre Pflichten zu erinnern. (S. 14)
Die wahre, eigentliche Heimat scheint für Christa Wolf ein mecklenburgisches Dorf ge11
wesen zu sein , das in der ländlichen Idylle der Provinz liegt. Diese These wird von Manfred
Durzak aufgestellt, der behauptet:
Wenn Rita von der neuen Umgebung geängstigt wird, sucht sie ‘in der Ferne’ den heimatlichen Bezug [...], oder sie stellt sich ans Fenster, um über die alten großen Parkräume den Himmel zu sehen,
12
die Wolken [...].
Nach Dieter Sevin wird von Wolf geschickt “das Unbefriedigende der dörflichen Existenz
dazu genutzt, Ritas innere Bereitschaft vorzubereiten, diesem harmonischen, aber ereignis13
armen Leben den Rücken zu kehren.” Es heisst:
Sie erwartete Außerordentliches, außerordentliche Freuden und Leiden, außerordentliche Geschehnisse und Erkenntnisse. (S. 14)
So lernt sie bald die zwei Menschen kennen, die ihrem Leben eine entscheidende Wendung
geben sollten und für ihre weitere Entwicklung und Reife die Hauptverantwortung tragen werden: den zehn Jahre älteren Chemiker Manfred und Lehrerwerber Schwarzenbach. Ihre tiefe
Liebe zu Manfred ist es schliesslich, die ihr die Monotonie ihrer dörflichen Existenz bewusst
werden und bald das Angebot Schwarzenbachs, das städtische Lehrerseminar zu besuchen,
annehmen lässt:
Rita übereilte sonst nichts [...]. Es gelang ihr, während sie, ein wenig anwesend, nach ihrem Federhalter suchte, in Blitzschnelle den Zufall dieser Lebenswende für sich in Notwendigkeit zu verwandeln. Hatte sie nicht lange genug darauf gewartet? Mußte es nicht so kommen, früher oder
später? Würde es sie nicht noch fester an Manfred binden, ohne den sie nie – niemals! – den Mut
zu einem solchen Entschluß gefunden hätte? (S. 21)
Dass sie sich jedoch bereits schon in diesem Augenblick auf den Pfad weg von dem geliebten Menschen begibt, kann sie noch nicht ahnen. Die Entscheidung für die Ausbildung in
der Stadt legt den Grundstein für eine gesellschaftliche und intellektuelle Entwicklung Ritas,
die Manfred nie durchlaufen wird. So muss sie bald lernen, sich während ihrer Tätigkeit in einer
11
Vgl. Therese Hörnigk: Die Dimension des Autors. Die Literatur und die “blinden Flecke” unserer Kultur. In: Weimarer
Beiträge 9/1978, S. 1465.
12
Manfred Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart. Entwicklungsvoraussetzungen und Tendenzen. Stuttgart 1979,
S. 198.
13
Dieter Sevin: Christa Wolf., a. a. O., S. 14.
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Brigade eines Waggonwerks im Rahmen ihrer Lehrerausbildung als Person und vor allem als
Frau in einer Männerwelt durchzusetzen und zu behaupten. Die Verwandlung Ritas von einem
ängstlichen, unsicheren Mädchen zu einer selbstbewussten jungen Frau vollzieht sich rasch.
Bald hat sie die Angst und Unsicherheit, die noch am ersten Arbeitstag im Werk von ihr Besitz
ergriffen hatte, überwunden:
Sie war bis jetzt tapfer gewesen, aber dann stand die ganze Brigade, zwölf Mann, im Kreis um sie
herum, und sogar der Brigadier Günter Ermisch, sonst ein Mann schneller Entschlüsse, wußte nichts
mit ihr anzufangen. Da dachte sie zornig: Wozu brauch ich das? Da hat sich Schwarzenbach was
Unsinniges ausgedacht. Das überleg ich mir noch mal. (S. 31)
Doch sie überlegt es sich nicht anders und erkämpft sich weiter mutig ihren Platz im männlichen Kollegenkreis und sie wird durch ihre Arbeit immer vertrauter mit der sozialistischen
Ideologie, die sie bald zu ihrer eigenen Denkart macht. Auch Manfred bleibt natürlich der Wandel, den Rita vom schüchternen Mädchen zur emanzipierten und selbstsicheren Frau durchläuft, nicht verborgen. Auf einem Empfang beim Rat der Stadt hat er bald die Gelegenheit, Rita
zu bewundern, “wie sie, nun schon an viele Blicke gewöhnt, graziös und stolz an seinem Arm
zur Tanzfläche schritt” (S. 83). Später, auf einem anderen Empfang im Hause des Professors
zeigt sie sich schliesslich ihm ebenbürtig, wenn nicht sogar zum ersten Mal ihm überlegen, als
sie als einzige die Partei Rudi Schwabes, “de[s] Vertreter[s] des Staates” (S. 114), ergreift. Doch
14
Ritas “wachsende Identifikation mit der bestehenden sozialistischen Gesellschaftsordnung”
verläuft nicht ohne Zweifel und Krisen, womit die Autorin ihrer Heldin und dem neuen sozialistischen Staat auf geschickte Weise zu mehr Glaubwürdigkeit zu verhelfen vermag. Wie auch
an anderen Stellen im Laufe der Erzählung scheut Christa Wolf auch hier nicht davor zurück,
Mängel und Schattenseiten der frisch gegründeten Republik aufzuzeigen. In der ‘Deutschen
Zeitung’ bemerkt Wolfgang Werth dazu:
Aber Christa Wolf wertet diese Schattenseiten nicht als prinzipielle Mängel des Systems, sondern
15
als dessen historisch bedingte Begleiterscheinungen, die eines Tages überwunden sein werden.
Die Darstellung negativer Aspekte im Leben der Republik trug jedoch nicht nur zum Lob,
sondern auch gelegentlich zu Vorwürfen seitens der ehemaligen DDR-Führung bei:
Christa Wolf spinnt an einigen Stellen und Figuren den Faden dekadenter Lebensauffassung in unsere sozialistische Entwicklung und das hinterläßt beim Leser das Gefühl, daß hier eine noch zwie16
spältige Autorin versucht, unvereinbare Ideologien miteinander zu verbinden.
Als man Rita der Beihilfe zur Republikflucht verdächtigt, (die Eltern ihrer Kommilitonin
waren mit zwei jüngeren Geschwistern aus der DDR ‘weggegangen’), gerät ihr Glaube an das
sozialistische Ideal ins Wanken:
Sie hatte geglaubt wie ein Kind, wie sollte sie sich das verzeihen! Sie war auf dieses ganze Gerede –
Gerede, das war es! hereingefallen: Der Mensch ist gut, man muß ihm nur die Möglichkeit dazu geben. Welch ein Unsinn! Wie dumm die Hoffnung, dieser nackte Eigennutz in den meisten Gesichtern
könnte sich eines Tages in Einsicht und Güte verwandeln.
[...] Ihre seelische Kraft war ganz plötzlich bis auf den Grund erschöpft. (S. 125)
Doch natürlich, wie wäre es in einer von der damaligen SED gebilligten Erzählung anders zu
erwarten, überwindet Rita ihre ideologische Krise. Man sollte jedoch davon absehen, der Autorin an dieser Stelle politischen Konformismus vorzuwerfen. Wie sehr gerade hier autobiogra14
Dieter Sevin: Christa Wolf., a. a. O., S. 38.
Wolfgang Werth: Die neue Stimme von drüben. Bemerkungen zu Christa Wolfs Erzählung “Der geteilte Himmel”. In:
Deutsche Zeitung, Nr. 231, 5./6. Okt. 1963, S. 18.
16
Dietrich Albert / Hubert Wetzelt: Es erhebt sich die Frage nach dem Standpunkt der Autorin. In: Dietrich Steinbach
(Hg.): Christa Wolf “Der geteilte Himmel”. Stuttgart 1981, S. 32.
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fische Elemente verarbeitet wurden, belegt die Tatsache, dass Christa Wolf selbst nach der
Wiedervereinigung Deutschlands ihre ideologische Heimat nicht verraten hat und heute noch
von der sozialistischen Utopie überzeugt ist. So glaubt Wolf ”nach dem Bankrott des staatsbürokratischen und totalitären Sozialismus immer noch an die Möglichkeit, [...] in einer grundlegend veränderten, doch gegenüber der Bundesrepublik eigenständigen DDR die Idee eines
17
freiheitlichen, demokratischen Sozialismus [...] realisieren” zu können. Hilfe zur Überwindung
der Krise bekommt Rita von Schwarzenbach und ihrem Kollegen Meternagel, wobei Christa
Wolf nicht versäumt, deutlich zu machen, welcher Art die Ideale sind, die sie im Hinblick auf
den wahren Sozialismus vor Augen hat.
Unterschiedliche Charaktere in der Erzählung, wie Karl Wendland und Erwin Schwarzenbach, sind für Ritas Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Aber der neue, mit den bewunderten Helden alter Bücher verglichene Mitarbeiter Meternagel, der auf Rita den entscheidenden Einfluss ausübt und dessen Augen in Zeiten des Zweifels für sie “das einzig Wirkliche [waren], daran sie sich halten konnte” (S. 73) , ist der wichtigste Charakter unter allen
Nebengestalten des Werkes:
Dies war wirklich geschehen, und nicht um eines Wahnes willen: Vor ihren Augen hatte ein Mensch
einen schweren Packen auf sich genommen, von niemandem gezwungen, nicht nach Lohn fragend,
hatte einen Kampf begonnen, der fast aussichtslos schien, wie nur je die bewunderten Helden alter
Bücher; hatte Schlaf und Ruhe geopfert, war verlacht worden, gehetzt, ausgestoßen. Rita hatte ihn
am Boden liegen sehen, daß sie dachte: Der steht nicht mehr auf. Er kam wieder hoch , jetzt etwas
Furchterregendes, fast Wildes im Blick; gerade da traten, ihm selbst beinahe unerwartet, andere neben ihn, sagten, was er gesagt hatte, taten, was er vorschlug. Rita hatte ihn aufatmen und schließlich siegen sehen, und das alles blieb ihr unvergeßlich. (S. 73)
Auch die schwere Krise im Waggonwerk, die im Frühjahr 1960 anfängt, wird von Meternagel, zu dem Rita grosses Vertrauen hat, kurz und bündig wie folgt erklärt:
‘Was los ist? Das Normale. Das, was kommen mußte. Wenn keiner sich verantwortlich fühlt und jeder nur in seinem eigenen Eckchen kramt, und das bis hoch hinauf in die Leitung, dann muß aus
vielen kleinen Schweinereien eines Tages die ganz große Schweinerei werden. Dann hat die Materialverwaltung keine Ahnung von der neu anlaufenden Produktion, dann ist also das Material nicht
eingeplant, dann ist auch die Technologie nicht fertig und keiner weiß, was er machen soll. Laß
dann noch ein paar Zulieferbetriebe stockern, wie es jetzt geschieht, und du hast alles, was du
brauchst.’ (S. 53f.)
So ist es auch schliesslich gegen Ende der Erzählung gerade Meternagels körperlicher Zusammenbruch nach jahrelangem uneigennützigem Arbeitseinsatz für die sozialistische Gesellschaft, durch den Christa Wolf die Überwindung ihrer Zweifel zum Ausdruck bringt, wobei sich
ihre damalige politische Einstellung völlig mit derjenigen der DDR-Staatsführung deckte. Manfred Durzak stellt diesbezüglich fest:
Was Meternagel bleibt, ist lediglich die abstrakte Hoffnung, der Gemeinschaft gedient zu haben.
Das Opfer um der Gemeinschaft, um des Staates willen, daß der sozialistische Held noch im Stadium der Auseinandersetzung mit der spätbürgerlichen Klassengesellschaft auf sich nimmt - das programmatische Klischee sozialistischer Literatur kommt hier plötzlich hinter einer Figur wie Meter18
nagel zum Vorschein.
Die Überwindung der Krise ist es schliesslich auch, welche die zunächst innere und später
real vollzogene Trennung Ritas von Manfred immer mehr vorantreibt und sie zur Entscheidung
führt, verantwortungsbewusst beim Aufbau des Sozialismus mitzuwirken. Eine Entscheidung,
17
Thomas Anz (Hg.): Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Frankfurt a. M. 1995,
S. 16.
18
Manfred Durzak: a. a. O., S. 196.
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die von ihr jedoch erst nach ihrem Zusammenbruch und Aufenthalt im Krankenhaus als richtig
und sinnvoll empfunden wird. Am Ende der Erzählung hat sie keine Angst,
[...] daß sie leer ausgehen könnte beim Verteilen der Freundlichkeit. Sie weiß, daß sie manchmal
müde sein wird, manchmal zornig und böse.
Aber sie hat keine Angst.
Das wiegt alles auf: Daß wir uns gewöhnen, ruhig zu schlafen. Daß wir aus dem vollen leben, als
gäbe es übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben.
Als könnte es nie zu Ende gehen. (S. 199)
Zum Porträt Manfreds
Manfred stellt durch seine Persönlichkeit das Pendant zu Rita dar. Die zehn Jahre Altersunterschied, die ihn von Rita trennen, lassen ihn zu einer anderen Generation gehören. Er hat
nicht wie Rita lediglich die Nachkriegszeit, sondern auch die Kriegszeit bewusst miterlebt.
Durch seine städtische und grossbürgerliche Herkunft und sein abgeschlossenes Studium (er ist
promovierter Chemiker) fühlt er sich Rita zunächst überlegen. Durch das Erleben der Nazizeit,
durch die übertriebene Liebe seiner Mutter und die Probleme im Elternhaus hat er sich innerlich
verhärtet und isoliert. Zu seinen Eltern hat er gespanntes, oft bis an Hass grenzendes Verhältnis. Er beschreibt ausführlich die Dressurmaßnahmen seiner Eltern, vorwiegend seines Vaters,
die ihn zum kontaktscheuen Aussenseiter werden liessen. Die kalte, gefühllose Atmosphäre, die
er innerhalb seiner Familie erlebt, wird deutlich, als er Rita die Wohnung seiner Eltern zeigt:
“Mein Lebenssarg. Eingeteilt in Wohnsarg, Eßsarg, Schlafsarg, Kochsarg.” (S. 36) Auf Ritas Frage, warum er die elterliche Wohnung so bezeichnen würde, entgegnet er: “weil hier nie etwas
Lebendiges ist. Solange ich denken kann, nicht.” (Ebd.) Manfreds Verhältnis zu seinen Eltern ist
von einem tiefen inneren Konflikt gekennzeichnet. Es wird durch seine Reaktion auf eine Moralpredigt der Mutter deutlich, den Vater zu achten: ”es ist doch dein Vater, überleg doch, was
das heißt” (S. 40). Daraufhin verlässt er schweigend das Haus. Er hat keine Möglichkeit auszuziehen wegen der damals in der DDR herrschenden, schwierigen Wohnverhältnisse. Seinen Vater verachtet er, da er einen der typischen Mitläufer repräsentiert, die direkt von der nationalsozialistischen zur sozialistischen Partei übergewechselt sind. Nach Sevin ging Christa Wolf mit
der Aussage in ihrer Erzählung, dass Manfreds Vater kein Einzelfall sei und es noch viel schlimmere Beispiele von solchen Opportunisten gäbe, ein politisches Risiko ein:
Eine solche Aussage, selbst wenn die der Wahrheit und Überzeugung der Autorin entspricht, ist
nicht ohne weiteres mit der vom sozialistischen Realismus vorgeschriebenen Parteilichkeit zu ver19
einbaren.
Zudem deutet die Darstellung des Elternhauses, so Durzak, “auf gewisse Jugenderlebnisse”
in der Hitlerjugend hin, die hier von Christa Wolf herangezogen werden, um den Nihilismus
20
Herrfurths, das Lebensgefühl einer “gebrochenen Generation”, zu illustrieren.
Die Gegenüberstellung Manfreds zu seinen Eltern wird verständlich auch vor dem Hintergrund, dass ”der Prozeß der Identitätssuche und Standortfindung, ein Vorgang, der für jeden
Jugendlichen nicht problemlos abläuft, [...] für ihre Generation [...] mit dem fast nahtlosen
Übergang von einer durch Pseudoideale geprägten Kindheit im Faschismus zum ‘Idealismus’
21
eines aufzubauenden Sozialismus als der lebbaren Alternative” verknüpft war. Nach Sevin
“stellt das Anschneiden dieses Themas in Deutschland ein Durchbrechen von Tabus der DDRLiteratur dar, welches schließlich seinen Höhepunkt in der offenen Diskussion über Republik-
19
Dieter Sevin: a. a. O., S. 32.
Manfred Durzak: a. a. O., S. 193.
21
Therese Hörnigk: Christa Wolf. Die Dimension des Autors. Die Literatur und die “blinden Flecke” unserer Kultur. In: a.
a. O., S. 1465.
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flucht und Selbstmord findet.” Die Auflösung seiner innerlichen Verhärtung und Isolation
scheint für Manfred dann einzutreten, als er Rita kennenlernt und sich in sie verliebt. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich einem anderen Menschen gegenüber verbunden:
Noch nie hatten ihn gemeinsame Nächte an eine Frau gebunden. In jede neue Begegnung nahm er
schon die Kälte der unvermeidlichen Trennung mit hinein und wurde gleichgültiger von Mal zu Mal.
An dieses Mädchen band ihn das erste Wort, das sie zu ihm sagte. Er war getroffen, auf unzulässige,
fast unwürdige Art im Innersten verwundet. (S. 19)
Trotzdem ist er es, der gegen Ende der Erzählung den ersten Schritt zur Trennung von seiner
Geliebten tut. Obwohl er der sozialistischen Idee nicht abgeneigt ist, hat sie für ihn nie den
ideellen Wert erlangen können wie bei Rita. Vor politischen Idealen steht für Manfred an erster
Stelle sein Streben nach persönlichem Erfolg im Beruf. Als dann zu Unrecht ein von ihm entworfenes Projekt abgelehnt wird, fühlt er sich nun ausser an Rita an nichts mehr gebunden:
“Das war blamabel, aber es würde ihm nicht mehr passieren” (S. 111). So sagt er sich innerlich
von seiner Heimat los und nutzt die nächste sich ihm bietende Möglichkeit, um Republikflucht
zu begehen. Seine Hoffnung, dass Rita ihm in den Westen folgen würde, erfüllt sich nicht. Im
Gegensatz zu ihm hat sie ihre ideologische Krise überwunden und ist mittlerweile so dem sozialistischen Denken verhaftet, dass sie dem Sozialismus sogar ihre Liebe opfert.
Über die Personen und ihre Funktionen in der Erzählung kann man zusammenfassend behaupten: Rita ist zwar die Trägerin der zum Primat des Sozialen führenden Reflexion. Für eine
führende Rolle ist sie aber nicht geeignet, weil sie selbst auf Unterstützung angewiesen ist.
Manfred ist dagegen eine negative Figur, die sich für den Westen entschieden hat, um ein
besseres Leben zu haben. Er übernimmt in der Ökonomie der Erzählung eine die staatliche Bürokratisierung der 50-er Jahre kritisierende Funktion. Meternagel ist ein eifriger und vorbildlicher Arbeiter. Vom Charakter her ist er eigentlich ein ehrlicher und uneigennütziger Mensch.
Der plötzliche Wandel der Gesellschaftsordnung stellt für Manfred und seine Generation ein
komplexes Problem dar. Die frustrierte Generation, der er angehört, reagiert anfänglich nur
negativ auf die neuen Verhältnisse: ”Die sollen uns bloß noch mal kommen!” (S. 45). Diese Reaktion ist verständlich, weil man mit eigenen Augen allzu deutlich gesehen und miterlebt hat,
wohin ein zu grosses Vertrauen zu einer Sache führen kann. Obwohl er versucht, sich mit dem
Neuen zu identifizieren, indem er auf einer Konferenz an der Universität auf Mißstände im Studienbetrieb hinweist und über den ”tollen Ballast, der uns belastete. Über Heuchelei, die mit
guten Noten belohnt wurde” (S. 131) spricht, muss er zusehen, wie er von seinem ‘Freund’ in
einem Zeitungskommentar zerfetzt wird. Der Identifizierungsversuch Manfreds mit der neuen
Gesellschaftsordnung ist zum Scheitern verurteilt:
Er schrieb über die ‘vom Leben abgekapselten, in bürgerlichen Irrmeinungen befangenen Intellektuellen, die unsere Universitäten in den ideologischen Sumpf zurückzerren wollen’. (S. 132)
Ähnlich wie bei ihrer Heldin ist auch bei Christa Wolf ein Entwicklungsprozess zu Ende gegangen. Mit ihrem Bekenntnis zu den Idealen des Sozialismus hat sie innerlich “zu-sich23
selber” gefunden, womit auch gleichzeitig ihre Suche nach einer neuen Heimat zu Ende gegangen ist.
22
Dieter Sevin: a. a. O., S. 31.
Vgl. Frank Trommler: Prosaentwicklung und Bitterfelder Weg. In: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Literaturwissenschaft
und Sozialwissenschaften. 6. Einführung in die Theorie. Geschichte und Funktion der DDR-Literatur. Stuttgart 1975, S.
321.
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Haluk Özcan
“Der geteilte Himmel” – oder Ritas und Manfreds Beziehung
Betrachtet man die beiden Hauptcharaktere Rita und Manfred genauer, so darf es den Leser
am Ende der Erzählung nicht mehr verwundern, dass sich der Himmel über den beiden Liebenden teilt.
Am Anfang ihrer Liebe sind beide sehr glücklich. Die Fahrt, die sie in den Harz gemacht haben, ist für Rita ”Lebenshöhepunkt, Gipfel” (S. 62), und für Manfred bewirkt sie eine Lösung
seiner inneren Spannung. Rita und Manfred meiden es, miteinander offen zu reden. Das führt
allmählich zu einem Kommunikationsproblem zwischen den beiden Liebenden. Andererseits
gehören sie zwei verschiedenen Generationen an: der Kriegs- bzw. der Nachkriegsgeneration.
Manfreds Probleme kann sie nicht gänzlich auffassen. Rita bemerkt sie zum Teil, aber sie behält
”ihre Ratlosigkeit für sich”(S. 47). Manfred fühlt sich sehr glücklich im ersten Jahr ihres gemeinsames Lebens. Als “ein Jahr unerbittlichster Prüfung” dargestelltes zweites Jahr ist das
Jahr des Mauerbaus (1961). Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Vorgänge haben einen unmittelbaren negativen Einfluss auf das Verhältnis der beiden Liebenden zueinander. Es
scheint unmöglich, über die Veränderung in Ritas Wesen zu diskutieren. Sie erzählt Manfred
nicht von ihrer Schlaflosigkeit, denn sie meint, dass er nicht wirklich wissen möchte, was sie
bedrücken würde:
‘Was hast du?’ fragte er und streichelte ihr Haar. Sie schüttelte den Kopf und tat, als habe sie geschlafen. Sie wollte nicht reden. Sie wußte nicht, wie sie sich ausdrücken sollte und hatte das Gefühl, er wollte nicht wirklich wissen, was sie bedrückte. (S. 92)
Unter dem Einfluss seiner Erlebnisse in der veränderten Gesellschaft verliert er seinen Glauben an wichtige Werte im Leben, wie Liebe und Freundschaft, sowie auch seine Hoffnung auf
ein besseres Leben im Osten. Seine Skepsis drückt er wie folgt aus:
Heutzutage ist Liebe nicht möglich. Keine Freundschaft, keine Hoffnung auf Erfüllung. Lächerlich,
gegen die Kräfte anzugehen, die zwischen uns und unseren Wünschen stehen. (S. 88)
Ritas Spontaneität gefällt Manfred sehr. Er mag sie so, wie sie ist. Nach seiner Flucht in den
Westen lädt Manfred Rita zu ihm ein. Daraufhin folgt sie ihm spontan nach Westberlin. Ebenfalls spontan trifft sie die Entscheidung, nicht bei ihm zu bleiben. Nach dem eintägigen Besuch
kehrt sie wieder zurück, weil sie Bedenkzeit gewinnen möchte, um ihrer Gefühle einfach sicher
zu sein. Inzwischen wird aber die Mauer gebaut, die das Wiedersehen der Geliebten verhindern
wird. Erst drei Wochen nach ihrer Rückkehr nimmt sie auch wahr, dass das Leben im Alltag
ohne den Geliebten keinen Sinn hat. Hiermit gibt die Autorin auch zu verstehen, dass solch eine
einmalige Liebe für nichts aufzuopfern sich lohnt. Zunächst werden die trennenden Augenblicke verdrängt: ”Die beiden Hälften der Erde paßten ganz genau ineinander, und auf der
Nahtstelle der Erde spazierten sie, als wäre es nichts”. (S. 16) Aber dann wird zu Beginn der
Erzählung deutlich, dass es zu einer Trennung zwischen Rita und Manfred kommen musste,
ohne dass die beiden Charaktere sich jedoch darüber zunächst selbst bewusst gewesen wären.
Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen gibt die Autorin Hinweise darauf, welche unterschiedliche Wertvorstellungen und Ideale die beiden jungen Leute in sich bergen und welches
Schicksal ihnen bevorsteht:
Die gleiche Sehnsucht trieb sie in ihr Dorf und ihn an diese Chaussee, die zur Autobahn und, wenn
man will, zu allen der Straßen der Welt führte. (S. 11)
Bereits hier gibt Christa Wolf einen ersten Hinweis auf den tragischen Ausgang der Liebesbeziehung und, metaphorisch ausgedrückt, der politischen Ereignisse. Rita bleibt ihrem Dorf,
später der Stadt und dem sozialistischen Staat verhaftet. Sie ist neugierig auf die Ereignisse in
ihrer engsten und vertrautesten Umwelt. Sicherheit, Geborgenheit und Erfüllung sucht sie bei
ihren Bekannten. Anders dagegen Manfred, dessen Wunsch nach freier Entfaltung, der Verwirklichung eigener Ideale und Ziele, egal, wo und um welchen Preis, viel ausgeprägter ist. Er
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Geteilter Himmel – getrennte Wege: Christa Wolf und ihre Erzählung Der geteilte Himmel
ist neugierig auf das Neue und das Fremde, ohne geographischen Beschränkungen Beachtung
zu schenken. Und gerade dies soll Rita und Manfred später –nach dem Mauerbau- zum
tragischen Ende ihrer Liebesbeziehung führen. Noch deutlicher wird dies durch von Manfreds
Traum:
‘Ich hab geträumt’, sagte Manfred, ‘wir beide sitzen in einem kleinen nassen Boot und schwimmen
durch die Straßen einer Stadt. Es regnet und regnet. Die Straßen sind von Menschen leer, das Wasser steigt unaufhaltsam. Die Kirchen, die Bäume, die Häuser versinken in der Flut. Nur wir beide
schaukeln noch auf den Wellen, ganz allein in einem sehr zerbrechlichem Kahn.’ (S. 80)
Dann wird alles von der Flut erfasst und weggespült wie die Liebenden selber: “Neun Monate später war das Boot untergegangen. Sie standen an verschiedenen Ufern” (S. 81). Die
Trennung der Liebenden und die Teilung Deutschlands - beide sind vollzogen, einer Katastrophe
gleich. Obwohl es sich bei diesem Werk um Literatur im Geiste der sozialistischen Kulturpolitik
handelt, und prinzipiell an der positiven Einstellung der Autorin zum Sozialismus kein Zweifel
besteht, kritisiert Christa Wolf hier klar den Bau der Berliner Mauer. Kommt es nicht fast einer
Anklage gleich, als Rita im Krankenhaus diese Situation noch einmal durchlebt? “Hatte niemand ihre Zeichen erwidert und ihre Not bemerkt?”(Ebd.) Voller Bitterkeit und Verzweiflung
fügt sie an späterer Stelle in einer rhetorischen Frage hinzu: “Wer auf dieser Welt hatte das
Recht, einen Menschen – und sei es einen einzigen! - vor solch eine Wahl zu stellen [...]?” (S.
179). Die Antwort auf diese Frage wäre natürlich ein klares: niemand! Und dennoch wird sich
Rita bei ihrer letzten Begegnung mit Manfred dessen bewusst:
Den Himmel? Dieses Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? [...] Der Himmel
teilt sich zuallererst. (S. 187)
Und mit ihm trennen sich auch die Wege der Menschen, die einst so nah beieinander gingen. Oberflächlich werden die im Grunde in starkem Gegensatz zueinander stehenden Persönlichkeiten und die Entwicklung, die beide durchlaufen, dafür verantwortlich gemacht, dass eine
gemeinsame Zukunft vereitelt wird. (Manfred und Ritas Abstammung, Ritas Emanzipation, ihr
Glaube an den Sozialismus, Manfreds Erfolgsstreben und spätere Enttäuschung und nicht zuletzt die wachsende Kommunikationsunfähigkeit der beiden miteinander). Dahinter verbirgt
sich jedoch offensichtlich der Grundtenor der Erzählung: Christa Wolf betrachtet den Mauerbau aus einer kritischen Perspektive; sie bekennt sich zwar zum Sozialismus, kritisiert jedoch
die Methoden, die in der ehemaligen DDR zu dessen Aufrechterhaltung angewendet werden,
und zeigt gleichzeitig Toleranz und Verständnis für diejenigen, die sich dagegen entschieden
haben:
So läßt sie, zum ersten Mal in der DDR-Literatur, auch einen ‘anderen’, den, der geht, recht haben;
Christa Wolfs Manfred ist nicht ‘gekauftes Subjekt’ und ‘Agent des Imperialismus’, nicht einmal bloß
einer, der ‘noch nicht’ das Licht des Heils sieht, das zu sehen, den Klügeren, Gläubigeren schon vergönnt ist. In dem Buch gibt es zwei Möglichkeiten, sich zu entschieden. Jede verlangt einen anderen
24
Menschen, eine andere Moral und Stärke.
Zur Aktualität des Werkes
Heute haben die aktuellen politischen Ereignisse die Thematik des Buches überholt. Die
Mauer wurde niedergerissen und der geteilte Himmel ist wieder eins über Ost und West. Nur
die Wege der Menschen, die damals so unbarmherzig auseinandergerissen wurden, werden bei
einigen von ihnen noch lang sein, bis sie endlich wieder zusammenführen. Denn in vielen
Menschen, die sich seit ihrer Jugend für die sozialistische Idee eingesetzt haben, ist die Hoffnung auf Änderung und Besserung der gesellschaftlichen Gegebenheiten noch nicht erloschen.
So auch bei der Autorin Christa Wolf. Noch nach dem Fall der Mauer trat sie entschieden gegen
den Zusammenschluss von Ost und West ein:
24
Franz J. Raddatz: Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR. Frankfurt am Main 1976, S. 380.
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Ihr Plädoyer gegen die Wiedervereinigung und für eine eigenständige, sich auf ihre eigenen Werte
besinnende DDR war getragen von der Hoffnung, daß solche Werte noch vorhanden und regenerier25
bar seien.
Die Erzählung “Der geteilte Himmel” übernimmt die Funktion, Gedanken und Reaktionen
der Menschen, die im östlichen Teil Deutschlands aufgewachsen sind, nachvollziehbarer und
verständlicher zu machen. Zwar hat Christa Wolf sich im Laufe der Zeit immer mehr vom ehemaligen DDR-Regime distanziert, nicht aber von ihrer Erzählung. Das Werk legt heute Zeugnis ab über
eine Entwicklung, die sie selbst, ähnlich wie Rita, mit der sie offensichtlich sympathisierte, durchlaufen hat
und die ihr zu ihrer heutigen Identität verhalf. Man sollte der Aussage der Verfasserin, die sie im Jahre
1993 Günter Gaus gegenüber in einem Gespräch gemacht hat, zustimmen:
[...] es hat damit zu tun, daß man eine Identität ja nur weiterentwickeln und eine neue erwerben
26
kann, wenn man die alte nicht einfach wegwirft.
So kann die Erzählung “Der geteilte Himmel” auch heute noch als eines der besten Werke
der gesamtdeutschen Literatur empfohlen werden.
***
Literatur:
A. Primärliteratur
1.
WOLF, CHRISTA (1973) : Der geteilte Himmel. München
B. Sekundärliteratur
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
ALBERT, DIETRICH / WETZELT, HUBERT (1981): Es erhebt sich die Frage nach dem Standpunkt der Autorin. In:
Dietrich Steinbach (Hg.): Christa Wolf “Der geteilte Himmel”. Stuttgart.
ANZ, THOMAS (Hg.) (1995): Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Frankfurt am Main.
ARNOLD, HEINZ L. (Hg.) (1978): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Edition Text und
Kritik, Bd. 8, München.
GAUS, GÜNTER (1993): Christa Wolf im Gespräch mit Günter Gaus. In: Neue Deutsche Literatur (ndl). Mai, Heft 485.
GERLACH, INGEBORG (1993): Christa Wolf “Der geteilte Himmel”. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis
erzählender Literatur. Frankfurt am Main.
HAMMERSCHMIDT, VOLKER / OETTEL, ANDREAS (1978): Christa Wolf. In: HEINZ L. ARNOLD: Kritisches Lexikon zur
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Edition Text und Kritik, Bd. 8, München.
HERMANN, GEORG (1963): Christa Wolfs Erzählung “Der geteilte Himmel ”. Eine Studienreise in die DDR( III ). In:
Deutsche Volkszeitung. Nr.33, 16. August.
HIRDINA, KARIN (1989): Christa Wolf zum 60. Geburtstag. In: Weimarer Beiträge, Heft 3, Berlin u. Weimar.
HÖRNIGK, THERESE (1989): Christa Wolf zum 60. Geburtstag. In: Weimarer Beiträge. Heft 3, Berlin und Weimar.
Dies.: (1987): Die Dimension des Autors. Die Literatur und die “blinden Flecke” unserer Kultur. In: Weimarer Beiträge, Heft 9, Berlin u. Weimar.
RADDATZ, FRANZ J. (1976): Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR. Frankfurt am Main.
SCHMITT, HANS-JÜRGEN (Hg.) (1975): Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. 6. Einführung in die
Theorie. Geschichte und Funktion der DDR-Literatur. Stuttgart.
SEVIN, DIETER (1988): Christa Wolf . Der geteilte Himmel. Nachdenken über Christa T., München.
TROMMLER, FRANK (1975): Prosaentwicklung und Bitterfelder Weg. In: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Literaturwissenschaft und
Sozialwissenschaften. 6. Einführung in die Theorie. Geschichte und Funktion der DDR-Literatur. Stuttgart.
WERTH, WOLFGANG (1963): Die neue Stimme von drüben. Bemerkungen zu Christa Wolfs Erzählung “Der geteilte
Himmel”. In: Deutsche Zeitung, Nr. 231.
25
Ingeborg Gerlach: Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur, Frankfurt a. M., 1993, S. 61.
Günter Gaus: Christa Wolf im Gespräch mit Günter Gaus. In: Neue deutsche Literatur (ndl), Heft 485, Mai 1993, S.
38.
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ERINNERUNG, VISION UND VERINNERLICHUNG
Zu den Romanen To the Lighthouse und Nachdenken über Christa T.
Ioan-Laurian Soare
Christa T. und Mrs. Ramsay sind zwei Hauptfiguren, die Christa Wolf, bzw. Virginia Woolf
durch ihre Romane, Nachdenken über Christa T. und To The Lighhouse, berühmt gemacht haben.
Bei den Figuren lassen sich schon auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten feststellen: man, besser gesagt frau schreibt über sie. Sie leben nicht mehr, so dass die Handlung der Romane erst
nach ihrem Tod anfängt. Die Ich-Erzählerin erinnert sich schreibend und durch das Schreiben,
versucht sie der Erinnerung einen Sinn zu geben.
Erinnern und Sich-erinnern kann man in den Romanen der beiden Autorinnen als Leitmotiv
definieren. Das folgende Essay versucht, einen Aspekt des komplexen Prozesses der Erinnerung
zu untersuchen, nämlich, Erinnern als Voraussetzung für eine Verinnerlichung des Erinnerten.
Durch Verinnerlichung wird der, der sich erinnert, befreit. Eine Befreiung nicht von der Erinnerung selber, sondern von dem Rahmen, in dem die Erinnerung stattfindet: Vergangenheit,
Gegenwart, Zukunft. Erinnerung gehört laut diesem Rahmen der Vergangenheit. Sie kann daher
nicht modifiziert werden, da Vergangenheit selber eine erstarrte Zeit ist. Der Prozess Erinnerung
– Verinnerlichung erlaubt dem, der sich erinnert, sich der Vergangenheit zu entziehen. Zeit wird
durch diesen Vorgang aufgehoben eben deswegen, weil der Erzähler, die Erzählerin, nicht mit
erstarrten Begebenheiten arbeiten kann, sondern mit Fakten und Figuren, die immer wieder
neu, immer wieder anders interpretiert werden können.
Erinnerung impliziert sehen, wahrnehmen. Prozesse, die wieder als Voraussetzungen fungieren. Sehen ist nur der Ausgangspunkt. Was gesehen, wahrgenommen wird, wird später als
Erinnerung identifiziert. Die nächste Etappe ist eine fehlende Kette, die den Übergang zur Verinnerlichung machen kann: die Vision. Sowohl die Ich-Erzählerin im Roman Nachdenken über
Christa T., Christa T. selber, als auch die Protagonistinnen in To the Lighthouse erleben Visionen.
(...) es gab kleine tägliche Wunder, Erleuchtungen, unerwartet im Dunkeln entzündete Hölzchen;
hier war eines davon, hier, da und dort; sie, [Lily Briscoe] (...) und Mrs. Ramsay, die aus dem Augenblick etwas1 Dauerndes machte, das hatte etwas vom Wesen einer Vision (...) etwas Festes inmitten
des Chaos.
Ähnlich lesen wir in Christa Wolfs Roman:
Sie, Christa T., hat in jenem Sommer eine große Entdeckung gemacht, (...) sie hat auf einem etwas
wie eine Spur gesehen zwischen sich – diesem Leben (...)2– und diesen freien, großmütigen Augenblicken. (...) sie, Christa T. hat eine Vision von sich gehabt.
Schematisch kann man über die folgenden Koordinaten sprechen: jemanden sehen, wahrnehmen – sich über jemanden erinnern, dann, eine Vision haben und dann, das Erinnerte ver1
2
Virginia Woolf, Die Fahrt zum Leuchtturm, Insel Verlag, Leipzig 1979, S. 200.
Christa Wolf, Nachdenken über Christa T., Mitteldeutscher Verlag, Halle (Salle), 1972, S. 117.
Ioan-Laurian Soare
innerlichen. Die letzte Etappe, die Verinnerlichung, erlaubt dem Erinnernden, die Frage zu beantworten: „Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?“, „What is the
meaning of life?“ Die Antwort auf die beiden Fragen, die in den Romanen gestellt werden,
bleibt trotzdem irgendwie aus. Typisch für die Texte von Woolf und Wolf ist nicht einfache
Antworten zu geben, sondern eher die Fähigkeit, Fragen zu stellen und auf die Komplexität
dieser Fragen zu reflektieren.
Es ist interessant zu bemerken, dass der Begriff Vision sowohl bei Virginia Woolf als auch in
den Texten Christa Wolfs einen gemeinsamen Punkt haben: Vision als visuelle Möglichkeit, die
Komplexität des Augenblickes durch das Schreiben zu überwinden. In einem Essay, Die zumut3
bare Wahrheit , gibt Christa Wolf der Vision die folgende Definition:
Was ist das Vision? – man sieht plötzlich, was nicht zu sehen ist, was aber dasein muß, weil es Wirkungen zeitigt. Die Vergangenheit in der Gegenwart zum Beispiel. Oder die immer unterdrückten
maßlose Wünsche, die jeden Augenblick, keiner weiß, woher, in jedermann aufschießen können. Vor
allem aber Zusammenhang und Bedeutung hinter scheinbar zusammenhanglosen und unbedeutenden Vorfällen. Die Entdeckung, wovon sie alle eben und woran sie, was immer sie vorzu4
spiegeln suchen, in Wirklichkeit zugrunde gehen.
Die Vision nimmt die Fähigkeit zu sehen und den Augenblick als Ausgangspunkt. Was man
in einem bestimmten Moment sieht, wird normalerweise von einem nächsten Moment überspiegelt, so dass man zu einer unbewußten kinetischen Bandreihe von Augenblicken sprechen
kann. Was die Vision unternimmt, ist eine Trennung von dem alltäglichen Sehen und Bemerken
und ein aktiver Übergang zu der Reflexion des Gesehens. Das führt uns zu Virginia Woolfs
Überlegungen von Moment of being, die sie in ihren Texten vorgeschlagen hat. Die Bezeichnung
Moments of being wurde ausdrücklich in Woolfs autobiographischen Essay A Sketch of the Past
behandelt; die Autorin erinnert sich an einen Abend im Kindergarten. Der Wind weht den Vorhang am Fenster und das Licht und das Geräusch des Meeres, die von draußen hineinkommen,
haben eine spezielle Wirkung auf die Ich-Erzählerin, sie hat den Eindruck, sie liege „in a grape,
seeing through a film of semi-transparent yellow“. Dieser Moment geht über die Grenzen der
Erinnerung hinweg und wirkt lebhaft, sogar reeller als der gegenwartige Augenblick. So ein
moment of being lässt sich dadurch charakterisieren, dass der Erinnernde die Vergangenheit
verarbeiten kann. Er kann dem, was passiert ist, eine neue Dimenision geben – mit anderen
Worten, Personen und Begebenheiten können anders, etwa intensiver betrachtet werden.
Sowohl Christa Wolf als auch Virigina Woolf schreiben über Erinnerungen; sie setzen sich
dabei mit der Komplexität der Zeit auseinander. Deswegen ist das Schreiben und dessen Produkte – die Romane – komplex und manchmal missverstanden. Der Roman Nachdenken über
Christa T erhielt von Literaturkritikern unterschiedliche Reaktionen. Viele Rezensionen orientierten sich meist nach dem politischen Aspekt der Erzählung und weniger nach dem Anliegen
der Autorin, die in Selbstinterview meinte: Christa T. sei „ein Mensch, der mir nahe war, starb,
zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel, mich wirksam wehren
5
zu können. Ich schreibe suchend.“ Marcel Reich-Ranicki nannte den Roman „ein(en) höchst
6
erfreuliche(n) Fall“ . Anders war die Stimmung in der DDR, wobei schon Wolfs erster Durchbruchsroman mit Zurückhaltung empfangen wurde.
3
in: Christa Wolf, Fortgesetzter Versuch, Reclam, Leipzig, 1980.
ibid. S. 250.
5
Christa Wolf: Selbstversuch, in: Fortgesetzter Versuch, Reclam, Leipzig, 1980 S. 51.
6
zitiert aus Vera Klasson: Bewußtheit, Emanzipation und Frauenproblematik, Göteborger Gemanistische Forschungen,
32, Göteborg, 1991, S. 99.
4
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Erinnerung und Verinnerlichung. Zu den Romanen To the Lighthouse und Nachdenken über Christa T.
Dem Roman wird ein Zitat von Johannes Becher vorangestellt: Was ist das: Dieses Zu-sichselber-Kommen des Menschen? Ein Motto, das schon die Thematik andeutet: eine Reflexion
über den Versuch einer jungen Frau selbst zu sein. Die Ich-Erzählerin denkt über eine ehemalige
mit 35 gestorbene Freundin nach. Deren Tagebücher, Briefe und Skizzen nimmt die Erzählerin
als Material für eine Rekonstruktion ihres Lebens, gleichzeitig aber auch, für eine Neubetrachtung ihrer Freundschaft. Der Roman zeichnet sich durch einen komplexen Erzählvorgang ab. Die Raffung und Dehnung der Zeitdarstellung, die Frage um die Historizität der
Christa T., das Identitätsproblem Autorin – Ich-Erzählerin, das schon auf der ersten Seite gekündigte Tod der Protagonistin, all diese geben dem Roman eine innovative Dimension, in dem
Sinne, dass sie eine Form vorschlägt, die von den traditionellen Erzählstruktur abweicht.
Eine Innovation, die schon in den 20er Jahren angewendet wurde. Es handelt sich um Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse. Ähnlich wie bei Christa Wolf zeigt Woolfs Roman biographische und autobiographische Bezüge. Mit einer eindrucksvollen Darstellung der Hauptdarstellerin, Mrs. Ramsay, und ihrem Mann, Mr. Ramsay, gelingt Virginia Woolf, ein Ehepaar auf
die literarische Bühne zu bringen, das, vor allem nachdem A Sketch of the Past veröffentlicht
wurde, mit ihren Eltern identifiziert wurde. Der Roman ist andererseits „mehr als das oberfläch7
lich fiktionalisierte Porträt der eigenen Familie“ .
Wie im Falle von Christa Wolfs Roman findet in To the Lighthouse eine Art Experiment statt.8
Virginia Woolf experimentiert mit dem Schreiben, indem sie das Rohmaterial, „rough material“
wie sie es nennt, als autobiographisches Element betrachtet und ihm eine fiktionalen Form
gibt. Mit anderen Worten, Mrs. Ramsay, die Hauptdarstellerin im Roman, ist nicht nur die Darstellung einer Frau, die sich mit der Rolle der Ehefrau, der Mutter und der Gastgeberin auseinandersetzt, sondern auch die Erinnerung einer Mutter, Virginia Woolfs Mutter. Eine Erinnerung, die der Autorin die Gelegenheit gibt, ihre Gefühle mit dem Akt des Schreibens zu
konfrontieren – später schreibt sie: „I suppose that I did what psycho-analysts do for their
parents. I expressed some very long felt
and deeply felt emotion. And in expressing it I
9
explained it and then laid it to rest.“ , – dadurch läßt sich ein kreativer Prozess vervollständigen, ein Prozess, der den Roman zu einem Kunstwerk macht.
Schreiben, verstanden hier als therapeutischer Vorgang, erlaubt dem, der schreibt, Be10
gebenheiten und Gefühle zu objektivieren und darüber nachzudenken. Das impliziert auch die
Vergangenheit, die reflektierend bewältigt werden kann. Eine Art von Bewältigung, die, so
Christa Wolf, „die Auseinandersetzung des einzelnen mit seiner
ganz persönlichen Vergangen11
heit, mit dem, was es persönlich getan und gedacht hat“ betrifft. Vergangenheit impliziert
Erinnern und sich Erinnern: eine Thematik, die sowohl das Schreiben von Virginia Woolf, als
auch das Schreiben von Christa Wolf anvisiert. Die beiden Romane, Nachdenken über Christa T.
und To the Lighthouse, folgen einem Paradigma der erinnerten Zeit.
Ein Überblick über die Darstellung der Zeit in der Erzähltheorie besagt, dass, im Vergleich
12
zum Drama oder Epik, allein im Roman die Zeit inhaltliche und qualitative Wirksamkeit erhält .
Man kann fast behaupten, „dass die ganze innere Handlung des Romans nichts als ein Kampf
7
So Irmgard Maassen, in: Kunst, Tradition und Modernität in To the Lighthouse, in: A. Lavizzari, Virginia Woolf,
Suhrkamp, 1991, S. 117.
8
In: The Diary of Virignia Woolf, Vol. 3, zitiert aus: Suzanne Nalbantian: Aesthetic Autobiography, Macmillan, London,
1990, S. 135.
9
in: A Sketch of the Past, (Suzanne Nalbantian, a.a.O., S. 340)
10
Irmgard Maassen, ibid.
11
Christa Wolf, Erfahrungsmuster, Diskussion zu „Kindheitsmuster“, in: Die Dimension des Autors, Bd. II, Aufbau Verlag,
Berlin, 1989, S. 355.
12
Jürgen Schramke: Zur Theorie des modernen Romans, Verlag C.H. Beck, München, 1974, S. 99.
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gegen die Macht der Zeit ist.“ Ein solcher Kampf spitzt sich vor allem in der Struktur des
modernen Romans zu, wobei die Reihenfolge von Ergebnissen an kein zeitliches Nacheinander
14
gebunden ist, sondern eher fragmentiert und diskontinuierlich erscheint. Die Kluft zwischen
einem objektiven, äußeren Zeitablauf und, andererseits, einer subjektiven, inneren Zeiterfahrung wird immer mehr entscheidend. Virginia Woolf stellt in ihrem Roman Orlando fest:
Aber leider hat die Zeit, obwohl sie Tiere und Pflanzen mit erstaunlicher Pünktlichkeit blühen und
vergehen läßt, keine derart einfache Wirkung auf den menschlichen Geist. Überdies wirkt der
menschliche Geist mit gleicher Seltsamkeit auf den Körper der Zeit ein. Eine Stunde kann, sobald sie
sich im wunderlichen Element des menschlichen Geistes eingenistert hat, auf das Fünfzig- oder
Hundertfache ihrer Uhrenlänge gedehnt werden; andererseits kann eine15Stunde auf dem Zeitmesser
des Geistes akurat durch eine einzige Sekunde wiedergegeben werden.”
Die Autorin bestätigt nochmals die Doppelfunktion der Zeit, wobei die innere, subjektive,
erlebte Zeit, als Form des Bewußtseins, unabhängig von der äußeren, objektiven, mechanischen
Zeit wirkt. Eine solche Auffassung erlaubt der Schriftstellerin viel. Ein Beispiel ist der Roman To
the Lighthouse. Von den drei Kapiteln des Romans sind das erste und das letzte Kapitel so verfaßt, das sie jeweils einen Tag beschreiben, während das kurze mittlere Kapitel, hingegen, einen
Zeitraum von zehn Jahren umfaßt.
In Christa Wolfs Roman umfassen die insgesamt zwanzig Kapitel, wie im Woolfs Roman,
unterschiedliche Zeitperioden. Die ersten drei Kapitel beschreiben, zum Beispiel, eine Zeitspanne von etwa 24 Jahren. Im großen und ganzen sind die Kapiteleinteilung und die Zeitdarstellung der beiden Romane von einem komplexen Aufbau von Vor- und Rückgriffe durchwoben. Die Ich-Erzählerin blickt auf Ereignisse zurück, operiert mit Zeitabschnitten, läßt
Assoziationsketten entstehen, aber vor allem erinnert sich. Erinnerung spielt innerhalb der
inneren Zeitdimension eine wichtige Rolle. Sie stößt gegen die strukturierte objektive Zeitform,
eben deswegen, weil sie erlebte, unstrukturierte Begebenheiten der Vergangenheit darstellt, so
dass der lineare Ablauf der Zeit aufgehoben wird. Erinnerung alleine reicht aber nicht, die abgespielten Erlebnisse zu bewerten und die Form des Erzählens zu gestalten, da „die Farbe der
16
Erinnerung trügt“ . Was man benötigt, ist eine Überwindung der Erinnerung als Objekt, als
reine Übertragungsmöglichkeit von Begebenheiten der objektiven Zeit in die innere, subjektive Zeit.
Eine solche Überwindung entsteht durch eine Verinnerlichung der Begebenheiten und Erlebnissen der
objektiven Zeit. Mit anderen Worten, die Spaltung zwischen der äußeren, mechanischen, leeren, toten
17
Weltzeit und der inneren, erlebten, erfüllten, lebendigen Bewußtseinszeit wird durch eine dauernd
reflektierende Verinnerlichung des Erinnerten aufgehoben.
In diesem Sinne schafft Mrs. Ramsay im Woolfs Roman Visionen, die aus dem Augenblicken
18
„etwas Dauerndes macht“, „etwas Festes inmitten desChaos“
Den Prolog des Christa Wolfs Romans kann man nun folgendermaßen interpretieren: die
Ich-Erzählerin fühlt, wie Christa T., die Verstorbene, schwindet. Sie fragt „Was hat sie da zu
suchen?“ (Seite 7), nämlich da, „tot neben Toten“ (7). Die Ich-Erzählerin versucht dieses Verschwinden zu bekämpfen. Sie greift das auf, was ihr geblieben ist: Tagebücher, Blätter, Briefe.
Die Gefahr, Christa T. aus ihren Erinnerungen zu verlieren bleibt trotzdem dabei. Sie schreibt
13
zitiert aus Lukács Theorie des Romans, in: Jürgen Schramke, S. 101.
Vgl. Jürgen Schramke, S. 105.
15
Virginia Woolf, Orlando, Fischer Taschenbuch Verlag, 1998, S. 69.
16
Christa Wolf, Nachdenken über Christa T., S. 7.
17
Jürgen Schramke, a.a.O., S. 108.
18
Die Fahrt zum Leuchtturm, S. 200.
14
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Erinnerung und Verinnerlichung. Zu den Romanen To the Lighthouse und Nachdenken über Christa T.
„die Farbe der Erinnerung trügt“ (7). Die Möglichkeit, dass die Ich-Erzählerin Christa T. durch
ihre Tagebücher, Briefe, durch den Besuch auf dem Dorffriedhof wieder findet, scheitert. Was
übrig bleibt ist einfach das Vergessen. Trotzdem, die Erzählerin meint: „ich sehe sie noch (...) sie
bewegt sich, wenn ich will. Mühelos läuft sie vor mir her (...) was ich höre, ist keine Geisterstimme: kein Zweifel, sie ist es, Christa T.“ (7)
Christa T. tritt auf, erscheint lebendig in Erinnerung. Sie bewegt sich, läuft, schreit. Die
Protagonistin ist diesmal keine leere, tote Erinnerung, kein Objekt, widerspiegelt durch Briefe,
Blätter, Grabstein, sondern sie wird lebendig. Weswegen? Die Erzählerin will das. Sie fängt
allmählich an –nicht ohne Schwierigkeiten, nicht ohne Angst– den Prozess der Verinnerlichung
in Gang zu setzen und dabei Christa T. von einem Objekt zu einem Subjekt umzugestalten.
Ähnlich entfaltet sich dieser Vorgang der Verinnerlichung in Woolfs Roman: im dritten Teil
des Romans tritt Lily Briscoe, Künstlerin und Gast in dem Ferienhaus der Ramsays, in den Vordergrund auf. Das Ziel Lily Briscoes ist die Vollendung des Gemäldes, das sie vor zehn Jahren im
Ferienhaus angefangen hatte, ein Bild, das eigentlich Mrs Ramsay darstellen muss. Das Malen
erhält symbolische Konnotationen. Lily Briscoe ist bestrebt, die Ausstrahlung, die Wirkung, die
einst Mrs. Ramsay hatte, wiederzugeben. Zugleich versucht sie aber auch ihre eigene Einstellung zum Leben und zur Kunst zu finden. Die Künstlerin, nun in der Rolle einer IchBeobachterin, setzt sich mit ihren Erinnerungen auseinander.
Lily Briscoe versucht durch das Malen, Mrs. Ramsay nicht nur in ihrem Gemälde zu verewigen,
sondern auch sie, wie im Falle der Ich-Erzählerin in Nachdenken ..., wieder lebendig zu machen.
Sie [Lily Briscoe] sah von der Leinwand zu den Stufen zum Wohnzimmer hinüber und wieder auf die
Leinwand (...) 'Mrs. Ramsay! Mrs. Ramsay!' wiederholte sie. (...) ringsum herrschte Stille (...) die (...)
Erinnerung an Mrs. Ramsay, die durch ihre Gedanken zog, schien mit dem stillen Haus in Einklang
19
zu stehen. Ihr verdankte sie diese Vision.
In den beiden Romanen kann man den Versuch feststellen, sowohl Christa T. als auch Mrs.
Ramsay weiter leben zu lassen. Der Versuch nimmt Erinnerung als Ausgangspunkt. Erinnerung
impliziert als erster Schritt eine Form der Wahrnehmung. Verben, wie erinnern – to remember,
aber auch Verben, wie sehen,blicken, schauen – see, watch, look, look up, look upon sind fest in
dem Erzählprozess der beiden Autorinnen eingebettet: Lily Briscoe sieht neben ihrem Gemälde
Mrs. Ramsay stehend, als wäre sie reell. Im Nachdenken ... schreibt die Erzählerin: „Wie ich sie
sehe, egal, was sie gerade macht. Vielleicht bäckt sie einen Schweinerücken (...) oder sie nimmt
die Kinder an die Hand.“ (160) Sowohl in Woolfs Roman als auch in Nachdenken ... werden Mrs.
Ramsay und Christa T. beobachtet.
Man müßte fünfzig Augenpaare zum Sehen haben, überlegte sie [Lily Briscoe]. Fünfzig Augenpaare
20
wären nicht genug gewesen, um mit dieser Frau fertigzuwerden, dachte sie.
Die Ich-Beobachterin braucht eine visuelle Verstärkung. Fünfzig Paare von Augen sind nicht
genug, die Komplexität Mrs. Ramsays zu durchschauen. Weil das Sehen nur eine Voraussetzung, etwa, eine erste Etappe für das Erinnern und Verinnerlichung ist. In Christa Wolfs
Roman fängt der Prolog mit dem Wort „nachdenken, ihr nach-denken. Dem Versuch, man selbst
zu sein“ (7) an. Um den Nachdenkenprozess nachzuvollziehen benötigt man aber zuerst die
Fähigkeit zu sehen. Dann eine Vision. Die Ich-Erzählerin sieht Christa T. Sie bewegt sich, läuft,
wird lebendig.
Ich aber sehe sie noch. Schlimmer. Ich verfüge über sie. Ganz leicht kann ich herbeizitieren wie
kaum einen Lebenden. Sie bewegt sich, wenn ich will. Mühelos läuft sie vor mir her, ja, das sind ihre
19
20
Ebd., S. 201.
Ebd., S. 245.
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Ioan-Laurian Soare
langen Schritte, ja das ist ihr schlenkriger Gang, und da ist, Beweis genug, auch der große rote Ball,
dem sie am Strand nachläuft. Was ich höre ist keine Geisterstimme: kein Zweifel, sie ist es, Christa
T.“ (S.7 )
Die Ich-Erzählerin, besser gesagt, die Ich-Beobachterin, sieht Christa T. Es ist schlimm am
Anfang. Die Erzählerin verfügt nicht nur über ihre Briefe, Tagebücher, sondern auch über eine
sozusagen Abbildung der Christa T. selber. Der Prozess läuft aber weiter. Die Protagonistin
bewegt sich, wobei alles: Strand und Ball farbig, also reell werden. Die Beobachterin fängt an,
sie zu hören. Dann ist es kein Zweifel: Es ist Christa T. Die Protagonistin erscheint, man könnte
sagen, in der Form einer Vision.
Ein ähnlicher Vorgang geschieht im To the Lighthouse. Am Ende des dritten Teils, eigentlich,
am Ende des Romans, erlebt Lily Briscoe eine Vision:
Sie [Lily Briscoe] sah auf die Stufen, sie waren leer; sie sah auf die Leinwand; sie war verschmiert.
Mit jäher Anspannung, als sähe sie es für eine Sekunde klar, zog sie eine Linie – da, mitten im Bild.
Er war vollbracht; es war vollendet. Ja, dachte
sie und legte in unsagbarer Müdigkeit den Pinsel aus
21
der Hand, ich habe meine Vision gehabt.“ (242)
Die Linie, die Lily Briscoe als letztes auf ihr Bild einzeichnet, ist ein Ergebnis. Die Beobachterin hat ihr Ziel erreicht: die Vollendung ihres Bildes. Es ist ein Ergebnis, in dem Sinne,
dass sich Lily in Einklang mit ihren Erinnerungen an Mrs. Ramsay und zugleich mit ihren
22
eigenen Gefühlen gebracht hat . Andererseits – sowohl Lily Briscoe als auch die Erzählerin in
Nachdenken... erleben eine Vision, eine Offenbarung, die sie in Einklang mit der objektiven Zeit,
d.h. ihren Erinnerungen, Gefühlen, Fragestellungen bringt und ihnen eine Verinnerlichung
bietet.
Die Ich-Erzählerin in Nachdenken ... meint:
Jetzt, wenn ich mir Zeit nehme aufzublicken, sehe ich sie vor mir hergehen, nie dreht sie sich um,
aber folgen muß ich ihr wohl, hinunter, zurück“ (58)
Abgesehen davon, dass die Erzählerin gelungen ist, Christa T. in ihrer Erinnerung lebendig zu behalten, gewinnt hier die Vision eine mystische Konnotation. Christa T. indem sie beobachtet wird,
übernimmt die Rolle einer Eurydike. Die Ich-Erzählerin nimmt sich, wie es im Zitat steht, Zeit, die
Protagonistin zu beobachten, gleichzeitig wird der Fähigkeit: jemanden zu sehen, zu beobachten,
eine Dimension gewährt, die nicht mit der täglichen Wirklichkeit, anders gesagt, mit der objektiven
Zeit übereinstimmt. Zeit wird hier dauerhaft, mythologisch und eröffnet der Beobachterin eine tiefe,
unveränderliche Ebene der Realität.
Der Prozess der Verinnerlichung gibt dem, der schreibt eine eine neue Form des Sehens und
des Augenblicks. Christa Wolf schreibt in Lesen und Schreiben, „So daß ich nun, an demselben
Platz, vor derselben Landschaft (...) alles anders sehe“. Verlinnerlichung ist eingentlich „auf dem
Grund des Satzes“ zu sein. Wolf gibt uns sogar ein Rezept: „Ein Satz den wir oft gebrauchen,
ohne ihm auf dem Grund zu gehen. Dahin zu gelangen, müßte man den Mut haben, die Augen
zu schließen, sich loszulassen: (...)“ auf diese Weise „weiß“ die Autorin
wie es gewesen sein wird: vieles vergessen, nur diesen Augenblick gewiß nicht, an dem ich mich
zurück- und vor-ausfühlend, meiner späteren Erinnerungen versichere (...) so gelange ich zu ähnlichen Augenblicken, entdecke ein Erlebnismuster, finde vielleicht seinen Ursprung, vergleiche es mit
anderen mir bekannten Muster und kann womöglich etwas über mich erfahren, was ich noch ncht
weiß.
21
22
Ebd., S. 258.
Vgl. Bettina Gessner-Utsch, Subjektiver Roman, Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main, 1994, S. 232.
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Erinnerung und Verinnerlichung. Zu den Romanen To the Lighthouse und Nachdenken über Christa T.
Bin auf dem Grund des Satzes.
23
Die Vision gibt dem, der schreibt, den Zugangspunkt zu einer tiefen Ebene der Realität. Die
etzte Etappe der Koordinaten – die Verinnerlichung, bedeutet nämlich eine Befestigung des
Erinnerten. Der Prozess hilft dem, der sich erinnert, ein Modell von Realität, besser gesagt, von
seinem Realität zu konstruieren. Die Komplexität dieses Modells besteht darin, dass diejenigen
Fragmente der Erinnerung, die verinnerlicht werden, individuell bleiben. Die Visionen gehören
nur denen, die Visionen erleben. Sowohl die Vision der Ich-Erzählerin Christa Wolfs als auch die
Visionen Lily Briscoes und Mrs. Ramsay sind tastende Versuche, das Essentielle von anderen
Protagonisten, aber auch von sich selber herauszufinden. Die Protagonistin Christa T., die Erzählerin, Mrs. Ramsay, Lily Briscoe, erleben einen langen, mühsamen Prozess des Sehens, Beobachtens aber auch des Entdeckens und Selbstentdeckens, weil man „nur schreibend über die
Dinge kommen“ kann.
To the Lighthouse und Nachdenken über Christa T. sind Romane für und von Individuen, die
24
eine „äußere Abneigung gegen das Ungeformte“ haben. Schreibend versuchen die beiden
Autorinnen ein Modell, eine Form der Selbstverwirklichung vorzuschlagen, so dass man zu der
Fähigkeit kommen kann, Fragen zu stellen und der Komplexität dieser Fragen nachzugehen.
Vision wird hier als ästhetisches Erlebnis eingeführt, in dem Sinne, dass sie keine pathologische, sondern eine künstlerische Form gewinnt. Die Hauptdarstellerinnen sind in den beiden
Romanen tot, durch Visionen werden sie wieder lebendig. Die Romanen handeln daher nicht
um Trauern und Resignation, sondern um den Versuch, die Angst des Vergessens, die Angst des
Todes zu überwinden. Schreiben ist für Virgina Woolf und Christa Wolf eine Möglichkeit, Protagonisten zu schaffen, die dem Leben eine Ordnung geben, das Leben und die Lebendigen
hinterfragen und die Kunst nicht nur schöpferisch, sondern auch reflektierend darstellen.
Literatur:
A. Primärliteratur:
1.
Wolf, Christa: Die Dimension des Autors, Bd. II, Aufbau Verlag, Berlin, 1989
2.
Wolf, Christa: Fortgesetzter Versuch, Reclam, Leipzig, 1980
3.
Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T., Mitteldeutscher Verlag, Halle (Salle), 1972
4.
Woolf, Virginia: Die Fahrt zum Leuchtturm, Insel Verlag, Leipzig, 1979
5.
Woolf, Virginia, Orlando, Fischer Taschenbuch Verlag, 1998
B. Sekundärliteratur:
6.
Gessner-Utsch, Bettina: Subjektiver Roman, Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main, 1994
7.
Klasson, Vera: Bewußtheit, Emanzipation und Frauenproblematik, Göteborger Germanistische Forschungen, 32,
Göteborg, 1991
8.
Lavizzari, A: Virginia Woolf, Suhrkamp, Leipzig, 1991
9.
Nalbantian, Suzanne: Aesthetic Autobiography, Macmillan, London, 1990
10. Schramke, Jürgen: Zur Theorie des modernen Romans, Verlag C.H. Beck, München, 1974
23
24
In Vorgesetzter Versuch, a.a.O., S. 9.
Nachdenken..., S. 22.
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ERINNERUNG UND IDENTITÄT
in Malina von Ingeborg Bachmann
Delia E[ian
Gehört das Gedächtnis etwa nicht zum Geiste? Wer könnte dies sagen?
Daher ist allerdings das Gedächtnis gewissermaßen der Magen des Geistes,
die Freude aber und Traurigkeit sozusagen die süße und saure Speise desselben [...]
Augustinus (Bekenntnisse, 10, 14)
Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die Beobachtung, dass bei der Darstellung von Bewusstseinsprozessen im modernen Roman die Konfrontation der Figuren mit Erinnerungsbildern
eine wesentliche Rolle spielt. In den Erinnerungsprozessen kommen Destruktion und Rekonstruktion eines fiktiven Ich gleichermaßen zur Darstellung. Anhand Ingeborg Bachmanns Roman Malina soll hier untersucht werden, inwieweit die Erinnerung eine Identität konstruiert
bzw. destruiert. Die Bachmann-Forschung hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit der
Bedeutung des Erinnerungsmotivs in Malina befasst. So interpretiert Irmela von der Lühe die
1
Erinnerung als Vorgang der Destruktion , eine These, die innerhalb der vorliegenden Studie zu
beachten sein wird. Identität, verstanden als Lebensgeschichte, ist immer ein Produkt des Erzählens – und damit abhängig von der gewählten Erzählstrategie. Das Erzählen kann umgekehrt Identitäten – so z.B. die weiblichen Entwürfe in Bachmanns Malina – behaupten, erproben und widerlegen, wobei das Letztere eintritt, wenn alle Erzählungen und damit Erzählstrategien, die Identität erzeugen können, als unzulängliche Entwürfe scheitern. Auf die Frage:
2
Wer erzählt d(ies)en Roman? kann man antworten: Ich. Schon von Anfang an erfährt der Leser
genaue Angaben zur Person:
Österreichischer Paß, ausgestellt vom Innenministerium. Beglaubigter Staatsbürgerschaftsnachweis.
Augen br., Haare bl., geboren in Klagenfurt, ... (III, 12)
Durch das Erwähnen der Personenbeschreibung, des Geburtsortes Klagenfurt, des Berufs
Schriftsteller und der Wohnung Ingeborg Bachmanns in der Beatrixgasse 26, in der die IchFigur vor der Ungarngassen-Zeit gewohnt hat, taucht die Frage nach der Identität der IchErzählerin mit der Autorin Ingeborg Bachmann auf. Daher scheint es wenig verwunderlich,
wenn der Roman Malina bei dessen Erscheinen als Autobiographie gelesen wurde. Ist also
3
Malina als Auto(r)biographie zu bezeichnen? . Bachmann hat Malina als eine Autobiographie
charakterisiert, eine geistige, imaginäre:
1
von der Lühe, Irmela: „Erinnerung und Identität in Ingeborg Bachmanns Malina“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.):
Ingeborg Bachmann. Text und Kritik. Sonderband. Hamburg 1984. S. 132-149.
2
Vgl. hierzu Kayser, Wolfgang: „Wer erzählt den Roman?“ In: Volker Klotz: Zur Poetik des Romans. Darmstadt 1965. S.
197-216.
3
Siehe auch: George Gu]u: Ingeborg Bachmann, in: “Ramuri” (Craiova), 11/1969, S. 18; Ders.: “Malina” sau Moartea la
Viena (“Malina” oder Der Tod in Wien), in: “Ramuri”, 10/1972, S. 19 Ders.; Ingeborg Bachmann: Das epische Schaffen,
in: “Analele Universit`]ii din Bucure[ti”, Seria Limbi [i Literaturi Str`ine, anul XXX, 1981, S. 125-133; Ders.: Ingeborg
Bachmann, in: “Caiete Critice” ale “Vie]ii Române[ti”, 3-4/1983, S. 165.
Erinnerung und Identität in Malina von Ingeborg Bachmann
Ausdrücklich eine Autobiographie, aber nicht im herkömmlichen Sinn. Eine geistige, imaginäre Autobiographie. Diese monologische oder Nachtexistenz hat nichts mit der gewöhnlichen Autobio4
graphie zu tun, in der ein Lebenslauf und Geschichten von irgendwelchen Leuten erzählt werden.
Man muss darauf hinweisen, dass jede Wirklichkeitsverarbeitung ein Element der bewussten oder unbewussten Selbstauseinandersetzung enthält: „Indem sich der Autor für Stoff, Thema, Behandlungsweise und Sprachmittel entscheidet, reagiert er auf Konflikthaftes im Bereich
5
seines eigenen Identitätsbildungsprozesses“ . Komplexer dürften die Verhältnisse tatsächlich
sein, wenn wir von der Prämisse ausgehen, dass ein literarisches Werk existentielle Traumata
seines Autors bearbeitet und zu bewältigen versucht – aber nicht durch Wiederholung und
6
Widerspiegelung des faktisch Erlebten, sondern durch dessen künstlerische Umgestaltung .
Die autobiographischen und fiktiven Daten, die im ganzen Roman durchscheinen, haben in
7
der Komposition von Malina eine spezifische Funktion . Der Prolog des Romans stellt dem Leser
nicht nur die Hauptpersonen Ich, Malina und Ivan vor, sondern weist ihn auch in das poetologische Verfahren des Textes als Erinnerungsroman ein. Proust unterscheidet die bewusste,
willentliche Erinnerung, von der spontanen, der „mémoire involontaire“. Sie taucht, durch einen
äußeren Anlass, einen Duft, einen Klang, eine Geschmacksempfindung hervorgerufen, plötzlich
8
aus längst vergessenen Bereichen auf . In Malina kommt der Erinnerungsprozess selbst zur
Darstellung. Die erste Demütigung und Verletzung, an die sich die Ich-Figur erinnert, ist die
Glanbrücke-Episode: hier wird von der Ohrfeige berichtet, die zwei Buben dem sechsjährigen
Mädchen gaben, nachdem sie sie freundlich, mit der Aussicht auf ein Geschenk herbeigelockt
hatten (III, 24-25). Im unveröffentlichten Nachlass Ingeborg Bachmanns findet sich ein Entwurf, betitelt mit der Überschrift Versuch einer Autobiographie. Die Autorin berichtet hier über
ihr Erlebnis auf der Glanbrücke:
An der Glan, auf der Brücke traf ich in dem Jahr zwei Bubebm die etwas grösser waren, einer rief
mir zu, du, komm er da, ich geb dir was“, ich erinnere mich, wie glücklich ich war, ich ging so
strahlend auf diesen Buben zu, weil er mir etwas geben wollte, und als ich bei ihm angekommen
9
war, ohrfeigt
Dieses autobiographische Erlebnis lässt Bachmann die Ich-Figur im Prolog des Romans erwähnen und interpretiert es als
Die erste Erkenntnis des Schmerzes. Mit den Händen an den Riemen der Schultasche und ohne zu
weinen und mit gleichmäßigen Schritten ist jemand, der einmal ich war, den Hausweg nach Hause
getrottet, dieses eine Mal ohne die Staketen des Zauns am Wegrand abzuzählen, zum erstenmal
unter die Menschen gefallen, und manchmal weiß man also doch, wann es angefangen hat, wie und
wo, und welche Tränen zu weinen gewesen wären. (III, 25)
Wie aus dem oben angeführten Zitat erkennbar, setzt Bachmann mit dem „ersten Schlag“
(III, 25) den Beginn der Zerstörung des Ichs an. Nach Kurt Bartsch impliziert das Glanbrücken-
4
Vgl. hierzu Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel
und Inge von Weidenbaum. München 1983. S. 73. Im folgenden zitiert als GuI.
5
Vgl. Mauser, Wolfram: Hugo von Hofmannsthal. Konfliktbewältigung und Werkstruktur. Eine psychosoziologische
Interpretation. München 1977. S. 21 f.
6
Vgl. hierzu Hofmann, Michael: Uwe Johnson. Stuttgart 2001. S. 20.
7
Vgl. hierzu Albrecht, Monika: Die andere Seite. Würzburg 1989. S. 55-56.
8
Vgl. Düsing, Wolfgang: Erinnerung und Identität. Untersuchungen zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und
Doderer. München 1982. S. 11.
9
Nachlass Nr. 849.
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Delia E[ian
10
Erlebnis „den Einsturz des Weltvertrauens“ und „die irreversible Zerstörung der Identität“ .
Dieser ersten Erkenntnis des Schmerzes folgen andere, denen das weibliche Ich in der Gesellschaft fortdauernd ausgesetzt wird.
Die Auseinandersetzung der Ich-Figur mit ihrer Vergangenheit kann als Ringen um die Festigung einer gefährdeten Ich-Identität verstanden werden, weil der Identitätsbegriff die Möglichkeit bietet, die Bedeutung der Vergangenheit für die Konstituierung des Selbst zu erfassen.
Es ist darauf zu verweisen, dass der Identitätsbegriff neben seiner psychologischen bzw. psychoanalytischen Komponente auch eine soziologische enthält, so dass die persönliche „Ich11
Synthese“ aus einem Wechselspiel individueller und gesellschaftlicher Faktoren hervorgeht .
Gemäß dem von Erikson geprägten psychosozialen Identitätsbegriff beruht das Bewusstsein
einer persönlichen Identität auf zwei Beobachtungen: „der unmittelbaren Wahrnehmung der
eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß
auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“. Der Begriff drückt also „insofern eine
wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie
12
ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt“ .
Der Prolog thematisiert, dass in den folgenden Kapiteln die „verschwiegene Erinnerung“ (III,
23) im Mittelpunkt stehen wird. Erzählen ist für das weibliche Ich identisch mit Erinnern. Der
Prozess des Erzählens bzw. des Erinnerns verspricht aber langwierig und widersprüchlich zu
13
werden :
Ich muß erzählen. Ich werde erzählen. Es gibt nichts mehr, was mich in meiner Erinnerung stört.(23)
Vier Seiten weiter heißt es:
Ich will nicht erzählen. Es stört mich alles in meiner Erinnerung. (27)
Theodor W. Adorno charakterisiert den Standort des modernen Erzählers durch eine Paradoxie:
Es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt.
14
Der Realismus setze die Einheit der Erfahrung voraus, die im identischen Ich gründe; dieses
sei aber zerfallen. Die Standardisierung, Signatur der verwalteten Welt, verhindere, dass der
Einzelne noch etwas Besonderes zu erzählen habe. Adorno verknüpft hier zwei unterschiedliche
Theorien zu einer geistesgeschichtlichen Deutung der Techniken des modernen Romans. Zum
einen greift er auf Benjamins Theorie des Erfahrungsschwunds zurück. Während Benjamin den
15
modernen Roman als Dokument der Erfahrungsarmut eher kritisch in den Blick nimmt , sieht
Adorno in ihm den Zerfall der Einheit der Erfahrung thematisiert. Zum anderen macht er sich
Brechts im Dreigroschenprozeß formulierten Gedanken zunutze, die Struktur der kapitalisti-
10
Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart; Weimar 21997. S. 149-150.
Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Ges. Werke. Hrsg. v. A. Freud. Frankfurt a. M. 1960 ff. Bd. 17. S. 52.
12
Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1973. S. 18, 124.
13
Vgl. hierzu Grimkowski, Sabine: Das zerstörte Ich. Würzburg 1992.
14
Adorno, Theodor W.: „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“. In: ders., Noten zur Literatur. Frankfurt a.
M. 1958. S. 61-72; hier S. 61.
15
„Zweifellos besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Verfall des Erzählens und der neuen Schreibweise in Romanen, die auf epischem Gebiet ein Gegenstück zu dem darstellt, was die Photomontage auf graphischem ist. Die Hauptsache ist, daß zunächst einmal dem überkommenen >Aufbau< das Rückgrat gebrochen“, lautet eine nachgelassene
Notiz Benjamins zu dem Aufsatz Der Erzähler (GS II/3. S. 1226).
11
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Erinnerung und Identität in Malina von Ingeborg Bachmann
schen Gesellschaft sei derart komplex, dass sie durch ein äußeres Abbild nicht mehr erfasst
16
werden könne .
Aus der paradoxen Situation des modernen Romans lässt Adorno zwei Lösungswege erkennen: den Prousts, den Weg der Erinnerung, wo alles in „ein Stück Innen, ein Moment des
Bewußtseinsstroms“ verwandelt wird,
behütet von der Widerlegung durch die objektive raumzeitliche Ordnung, zu deren Suspension das
17
Proustsche Werk aufgeboten ist ,
und den Weg Kafkas, die „negative Epopöe“, wo das ästhetische Subjekt seine eigene Ohnmacht einbekennt in eins mit der Übermacht der Dingwelt. Um mit Adorno zu sprechen, schlägt
das weibliche Ich in Malina den Weg der Erinnerung ein, für das Erzählen und Erinnern gleich
ist. Das Erzählen wird für die Ich-Figur zur Notwendigkeit, sie muss und sie wird ihre „dunkle
Geschichte“ (III, 22) erzählen. Das Schreiben wird selbst zum Gegenstand des Erzählens. Schreiben wird als Heilung der von der Gesellschaft geschlagenen Wunden verstanden. Es ist ein
Machtmittel, ein „Verfügen“ über die Welt. Es ersetzt die unerfüllte Liebe, indem es eine reine
18
Welt in der Gestalt der „Prinzessin von Kagran“ erschafft .
Die vorangestellte Bemerkung des Märchens, „verstecken könnte ich mich in der Legende
einer Frau, die es nie gegeben hat“ (III, 62), hat zu Vergleichen zwischen dem fiktiven Abbild
und der Realität im Roman eingeladen. Die Nähe des Fremden im Märchen zu Ivan ist ganz
deutlich. Ellen Summerfield vertritt die Meinung, die Ich-Erzählerin reproduziere schreibend ihr
eigenes Leiden, die Geschichte der Prinzessin und des Fremden spiegele genau die traurige
19
Realität zwischen Ich und Ivan. Die Liebe wird im Märchen ohne Erfüllung bleiben. Nach
Bärbel Lücke entwirft die Ich-Figur in der Gestalt der Prinzessin von Kagran eine Spiegelfigur zu
20
ihrem Ich . Die Kagran-Legende ist die Erinnerung der Ich-Figur an ihre unglückliche Liebe zu
Ivan, denn das Märchen nimmt deutlich das Romanende vorweg.
21
Das Motiv des Doppelgängers spielt in vorliegender Untersuchung eine wichtige Rolle. Im
Roman Malina deutet zunächst nichts auf einen Doppelgänger hin. Dem Leser werden am
Anfang die drei Hauptpersonen, Ivan, Malina und Ich, vorgestellt, und es gibt keinen Grund, an
deren eigenständiger Protagonistenexistenz zu zweifeln. Bachmann selbst sagt dazu in einem
Interview:
Der Leser muß im Anfang gar nicht erkennen, daß das (Ich und Malina) eine Person ist.
22
Es fällt schwer, das zu erkennen, denn Malina taucht als Figur auf, die mit dem Ich zusammen wohnt, zur Arbeit geht und erzähltechnisch vom Ich genauso behandelt wird wie z. B.
Ivan. Malina hält sich im ersten Kapitel im Hintergrund und gewinnt erst an Bedeutung, als die
Ich-Figur bereit ist, sich ihrer Erinnerung zu überlassen:
Jedenfalls stellt sich dann mehr und mehr heraus, daß er der objektive, also der denkende Teil ist,
23
der männliche, und sie der weibliche Teil dieses Doppelgängers.
16
Vgl. hierzu den Beitrag von Bürger, Peter: „Zwischenbetrachtung: Erzählen in der Moderne“. In: ders., Prosa der
Moderne. Frankfurt a. M 1988. S. 383-402; hier S. 384.
Adorno, Th. W.: a. a. O., S. 63.
18
Vgl. Witte, Bernd: „Ingeborg Bachmann“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur. S. 11.
19
Vgl. hierzu Summerfield, Ellen: Ingeborg Bachmann. Die Auflösung der Figur in ihrem Roman »Malina«. S. 14-15.
20
Lücke, Bärbel: Ingeborg Bachmann. Malina. S. 95-99.
21
Vgl. hierzu Grimkowski, Sabine: Das zerstörte Ich. Erzählstruktur und Identität in Ingeborg Bachmanns „Der Fall
Franza“ und „Malina“. Würzburg 1992. S. 142.
22
GuI, S. 87.
17
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Im ersten Kapitel versucht die Ich-Figur, die sich in ihr befindliche Geschichte zu verdrängen, weil sie nur im Vergessen leben und lieben kann:
[...] mit Ivan müßte es mir gelingen, diese Gedanken auszumerzen, er wird diese Krankheit von mir
nehmen, er soll mich erlösen. (III, 77-78)
Es stimmt jedoch nicht, dass das Ich in der Liebesbeziehung mit Ivan seine volle Erfüllung
findet, weil sein Wesen, das in der Spaltung besteht, von Ivan ausgeklammert wird: "...für ihn
wird nie sichtbar, daß ich doppelt bin." (III, 104) Das Ich erkennt auch, dass die Liebesbeziehung auf die Dauer nicht lebbar sein kann, solange der andere Ich-Teil verdrängt wird: "Es
ist unmöglich Ivan, etwas von mir zu erzählen. Aber weitermachen, ohne mich auch ins Spiel zu
bringen?" (III, 49) Das zweite Kapitel von Malina besteht ausschließlich aus den Träumen der
Ich-Figur, unterbrochen lediglich durch die Dialoge mit Malina. Der Traum ist eine Äußerungsform des Unbewussten. Für Bachmann gibt er dem Menschen die Möglichkeit, zur Erkenntnis
und zur Wahrheit zu finden: „wenn wir wahr sind, dann sind wir es in der Nacht, sobald wir
24
ganz alleine sind“ . „Die Aufzeichnung der Träume“, erklärt Bachmann, sei ein „Kunstgriff:
25
Traumlogik als Mittel der Darstellung“.
Henri Bergson hat die Unterscheidung zweier Arten des Gedächtnisses theoretisch begründet. Die eine Art, das bewusste Gedächtnis steht unter der Herrschaft des Willens und des
Bewusstseins, es hängt mit dem Körper, nicht mit der Seele zusammen und dient den Anforderungen der Lebenspraxis. Die zweite Art, das „reine Gedächtnis“ ist dem Traum verwandt.
Die erste Form des Gedächtnisses wählt aus den abgelaufenen Ereignissen, sie bewertet, immer
unter der Optik des praktischen Lebens. Im „reinen Gedächtnis“ dagegen werden die Bilder des
vergangenen Lebens in allen Einzelheiten aufbewahrt. Ohne auf Bergsons Begründung näher
einzugehen, soll an dieser Stelle angemerkt werden, dass er in seinen prinzipiellen Untersuchungen über Matière et Mémoire zwei charakteristische Eigenschaften moderner
Erinnerungstechnik behandelt. Er stellt fest, dass die Erinnerungen des „reinen Gedächtnisses“
diskontinuierlich aufleuchten und dass die Vergangenheit nur erfasst werden kann, wenn man
den Prozess verfolgt, in dem sie aus dem Dunkel auftaucht und allmählich zum Erinnerungsbild
26
wirdAlle
. Träume – als der andere Schauplatz der Erinnerung – kreisen in Malina um das Thema
des tödlichen Kampfes zwischen Tochter und Vater. Durch das Medium der Träume und mit
Hilfe ihres Dialogspartners wird sich die Ich-Figur ihrer im Dunkeln liegenden Geschichte bemächtigen, jedoch nicht zu einer ganzheitlichen Identität finden, sondern den Ich-Teil der
27
Person aufgeben müssen . In dem Moment wo die Liebesfähigkeit der Ich-Figur verschwindet,
tritt Malina in den Vordergrund, der sich während der Liebesgeschichte zurückgehalten hatte.
28
Malina, der Andere in der Ich-Figur, wird ihr den Weg zu sich selbst weisen, der im Verschwinden endet.
23
GuI, S. 101.
GuI, S. 73.
25
Vgl. Schottelius, Saskia: Das imaginäre Ich. Subjekt und Identität in Ingeborg Bachmanns >Malina < und Jacques
Lacans Sprachtheorie. Frankfurt a. M; Bern; New York; Paris 1990. S. 91.
26
Vgl. Düsing, Wolfgang: Erinnerung und Identität. S. 18.
27
Vgl. hierzu Grimkowski, Sabine: Das zerstörte Ich. S. 108.
28
„... und es ist ein Anderer in mir, der nie einverstanden war und der sich nie Antworten abzwingen ließ auf aufgezwungene Fragen.
Soll es nicht heißen, die Andere in dir?
Nein, der Andere, ich bringe das nicht durcheinander.
Ein Anderer. Wenn ich sage, der Andere, dann mußt du mir schon glauben.“ (III, 140)
24
344
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Erinnerung und Identität in Malina von Ingeborg Bachmann
Sie kommen immer wieder auseinander, sie geraten aneinander, und dieser männliche und ihr überlegener Doppelgänger, also dieses denkende Ich, hilft ihr am Ende den Tod zu finden, weil sie nicht
29
mehr weiter kann.
Mit dem Vorgang der Erinnerung setzt der Prozess der Destruktivität des Ich ein. Erinnerung
das heißt, das Subjekt setzt sich selbst aus ...; mit all dem ist der Prozeß der Erinnerung ein Prozeß
der Grenzauflösung, ein Vorgang der Destruktion, der Aufhebung auch von Grenzen der eigenen
30
Identität.
Das erzählende Ich gibt es am Ende des Romans als Ich nicht mehr, auf der inhaltlichen
31
Ebene verschwindet es in der Wand. Der letzte Satz lautet: „Es war Mord“ . (III, 337). Dieser
mysteriöse Satz stellt den Leser vor die Frage nach dem Mörder: der Vater, Malina oder Ivan?
Das Ich löscht sich aber selbst aus, denn „Selbstmord“, meint Bachmann, „ist ein Mord an ei32
33
nem anderen vollzogen, den man nicht ermorden kann“ , um Malina „die überlegene Figur“
gewinnen zu lassen:
Malina:
Ich:
Malina:
Ich:
Ich hätte beinahe gedacht, Du magst vor allem kein Ich mehr.
(soavemente) Ist das ein Widerspruch?
Doch
(andante con grazia) Es ist kein Widerspruch, Solange ich dich will: Nicht mich
möchte ich, sondern Dich, wie findest du das? (III, 292)
Am Ende verwandelt sich das Ich auf der erzähltechnischen Ebene in ein unpersönliches
„es“. Was der Leser wahrnimmt, ist eine Erzählweise ohne Subjekt, ohne erzählendes Ich, weil
dieses tot ist. Somit vollzieht sich die Grenzauflösung von Identitäten nicht nur auf der inhaltlichen sondern auch auf der erzählstrukturellen Ebene. Das Ich auf der Suche nach seiner wahren Identität wird zum Nicht-Ich. Malina, das Alter Ego, der Doppelgänger überlebt aber und
bekommt von Ich den Auftrag:
Übernimm Du die Geschichten, aus denen die große Geschichte gemacht ist. Nimm sie alle von mir.
(III, 332)
Wenn man von autobiographischen Elementen in Malina spricht, dann mag es in der Tat
nicht gewagt sein, zu behaupten, dass das Ich im Leben stirbt, um in der Kunst, im Schreiben
als Autorin zu überleben.
In Malina wird der Erinnerungsprozess zu einem Versuch der Ich-Figur, zu sich selbst zu
kommen. Zu diesem Zwecke existiert der rationale Doppelgänger Malina, der ihr verhilft, sich
ihrer im Dunkeln liegenden Geschichte zu bemächtigen. Schon die Träume im zweiten Kapitel
erfordern Malinas Anwesenheit, denn das Ich seiner dunklen Geschichte steht seiner eigenen
Erkenntnisse noch im Wege. Das Ringen um Identität vollzieht sich als Dialog mit der Erinnerungsbilder des Ich. In dem Moment aber, wo das Ich in höchstem Grade mit sich identisch
ist, muss es feststellen, dass diese Identität paradoxerweise in der Zerstörung besteht. Es verschwindet willentlich als Teil eines Ganzen, um Malina - den rationalen Teil - siegen zu lassen.
29
GuI, S. 102.
von der Lühe, Irmela: „Erinnerung und Identität in Ingeborg Bachmanns Malina“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.):
Ingeborg Bachmann. Text und Kritik. Sonderband. Hamburg 1984. S. 132-149; hier S. 135.
31
Dieser mysteriöse letzte Satz stellt den Leser vor die Frage nach dem Mörder: der Vater, Malina oder Ivan?
32
Vgl. hierzu Ingeborg Bachmann. »Todesarten« - Projekt. Kritische Ausgabe. Unter Leitung von Robert Pichl. Hrsg. v.
Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. München. 1995. Bd. 1. S. 248.
33
GuI, S. 95.
30
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DAS BILD DES ORIENTS
im Spielmannsepos Herzog Ernst
Ioana Cr`ciun
Unter den Stoffen des Mittelalters erfreute sich die Sage um Herzog Ernst einer hohen
Popularität, vergleichbar mit derjenigen der Nibelungensage, des Parzival-Stoffes oder der Sage
um Tristan und Isolde. Anonyme Verfasser, vermutlich Geistliche, die mit der Geschichte des
weströmischen Kaiserreiches, mit antiken Mythen, orientalischem Erzählgut und der ethnographisch-teratologischen Tradition (Plinius, Isidor von Sevilla, dem Alexanderroman) bestens
vertraut waren, haben die Sage um Herzog Ernst bis in die frühe Neuzeit in Vers und Prosa, auf
Deutsch und Lateinisch, immer wieder gestaltet. Dem Interesse der Spätromantiker für das
Mittelalter verdankt die Sage um Herzog Ernst ihre Rezeption durch Ludwig Uhland, dessen
Drama Ernst, Herzog von Schwaben 1817 verfaßt wurde. 140 Jahre später begegnet der Kern
der Sage in Peter Hacks’ Komödie Das Volksbuch von Herzog Ernst oder: Der Held und sein Gefolge als Kritik des Heroischen aus marxistischer Perspektive.
Im Mittelpunkt der zeitlich wie räumlich weit verbreiteten Herzog-Ernst-Sage, die nicht nur
die Aufmerksamkeit eines höfisch gebildeten, aristokratischen Publikums auf sich gezogen
hatte, sondern auch das Interesse des Volksbuchskonsumenten sowie des bürgerlichen Theaterpublikums im frühen 19. Jahrhundert und der Anhänger des epischen Theaters zu wecken vermochte, steht das Schicksal Ernsts, des Stiefsohnes des Kaisers Otto. Durch böswillige Verleumdungen verliert der als Verkörperung aller ritterlichen Tugenden geltende Herzog die Huld
seines Stiefvaters. Den Gnadeverlust rächt Ernst, indem er seinen Verleumder, einen rheinischen
Pfalzgrafen namens Heinrich, eigenhändig tötet. Nach der Ermordung des Verleumders, einem
Selbstjustizakt, den ein gescheitertes Attentat auf das Leben des Kaisers verschlimmert, wird
über Herzog Ernst die Reichsacht verhängt. Dem tapferen, jedoch aussichtslosen Widerstand,
den der Herzog gegen das mit der Reichsexekution betraute kaiserliche Heer leistet, folgt das
selbstgewählte, die Ehre des Geächteten rettende Exil. Herzog Ernst fährt in Begleitung treuer
Gefährten als Kreuzzugsritter nach Jerusalem. Auf der Meeresfahrt ins Heilige Land wird der
Herzog durch einen Seesturm zunächst in einen fabulösen Orient verschlagen, wo er zahlreiche
Abenteuer besteht, bevor er in Jerusalem die Gelegenheit hat, sich im Kampf gegen die Heiden
als miles christianus zu bewähren. Herzog Ernst kehrt schließlich in seine deutsche Heimat
zurück, wo er während des Weihnachtsgottesdienstes durch einen reuigen Kniefall die Huld des
Kaisers und sein Herzogtum wieder gewinnt.
Das Schicksal des Herzogs Ernst spiegelt Personen und Ereignisse aus verschiedenen
Epochen wider, deren Verschmelzung charakteristisch für die historische Sage ist. Im Kampf des
Sagenhelden gegen die kaiserliche Macht begegnen einerseits Reminiszenzen des Aufstandes,
den Liudolf, der älteste Sohn Ottos des Großen aus seiner ersten Ehe mit der englischen
Prinzessin Edith, gegen den Vater 953 unternahm und nach längeren Kämpfen durch einen
reumutigen Fußfall beendete. Andererseits finden sich in der Sage Reminiszenzen des historisch
belegten Kampfes, den Ernst II. gegen seinen Stiefvater, Kaiser Konrad II., 1026/27 führte. Der
Geschichte des 10. Jahrhunderts entnahm man den illustren Namen des kaiserlichen Stief-
Das Bild des Orients im Spielmannsepos Herzog Ernst
vaters, derjenigen des 11. Jahrhunderts die populärere Gestalt Ernsts. Dabei behielt man das
Motiv des unschuldig in Not Geratenen, dem Gott beisteht und ihn nach bestandenen göttlichen Prüfungen in seine Rechte wiedereinsetzt, sowie das Vater-Sohn-Konfliktschema. Die
blutigen Auseinandersetzungen zwischen königlicher und herzoglicher Gewalt, die im 11. Jahrhundert keine Ausnahme waren, haben in der Sage ihre Spuren hinterlassen, genauso wie die
militärischen und kulturellen Erfahrungen, die das abendländische Rittertum im Kreuzzugsorient sammeln durfte.
Es ist hier nicht der Ort, auf die ungeklärte Entstehungsgeschichte der Herzog-Ernst-Sage
und ihre komplexe Beziehung zur historischen Wirklichkeit des ottonischen und des staufischen
Zeitalters näher einzugehen, Fragen der Textüberlieferung zu diskutieren und Konjekturen zu
kommentieren, die von den verschiedenen Herausgebern der deutschen Versfassungen vorgeschlagen wurden, oder über das Verhältnis der überlieferten Texte zueinander zu reflektieren
und sich für die Hypothese eines deutschen oder eines lateinischen Urtextes zu entscheiden.
Diese Aspekte sind in der Forschung ausführlich diskutiert worden. Stattdessen soll hier das Bild
des Orients im vorhöfischen Spielsmannsepos Herzog Ernst untersucht werden, dessen Entstehung traditionell auf das Jahr 1170/80 datiert wird und das von Karl Bartsch mit etlichen,
oft als sehr gewagt apostrophierten Konjekturen als rekonstruierte mittelhochdeutsche Fassung
B herausgegeben wurde.1
Die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Bild des Orients erscheint mir um so
wichtiger, als es das orientalische “Ingrediens” ist, das den Schlüssel zur Popularität der Herzog-Ernst-Sage liefert. Die Analyse des Orientbildes im Spielmannsepos Herzog Ernst darf nicht
auf die Klärung seiner literarischen und wissenschaftlichen Quellen reduziert werden, sondern
muß darüber hinaus die wesentliche Frage nach dem Status und der Funktion dieses Bildes in
der Ökonomie des Epos zu beantworten versuchen. Der Gattung des Spielmannsepos wird
primär eine unterhaltende Funktion eingeräumt, vergleichbar derjenigen, die in der Neuzeit die
Konsumliteratur erfüllt. Über das triviale Moment hinaus, das die moderne Konsumliteratur und
das mittelalterliche Spielmannsepos gleichermaßen kennzeichnet und das ewig menschliche
Bedürfnis nach “Wundern” sakraler oder profaner Art befriedigt, ist dem Spielmannsepos auch
ein didaktisches Moment eigen, das sich in der Sphäre des Religiösen bewegt und sich nicht
selten allegorisch gestaltet. Das Orientbild kommt im Spielmannsepos Herzog Ernst nicht nur dem
Konsumbedürfnis eines adligen Publikums nach “Wundern” entgegen, sondern fungiert zugleich auch
als Vehikel der religiösen Unterweisung. Daher gilt es, die religiös-ethische Dimension, die das Orientbild im Spielmannsepos Herzog Ernst kennzeichnet, als eine typische und zugleich fundamentale
Dimension eines literarischen Produkts des Mittelalters zu analysieren.
Ohne das Bewußtsein des metaphysischen Charakters des Orientbildes vermag die Analyse
des Spielmannsepos Herzog Ernst lediglich an der Oberfläche zu bleiben und wird der Eigenart
des literarischen Diskurses im Mittelalter nicht gerecht, der trotz Verweltlichungstendenzen
und emanzipatorischer Impulse stets von kirchlichen Einflüssen geprägt war. Hätte das Bild des
Orients im Spielmannsepos Herzog Ernst lediglich die profane Funktion zu erfüllen gehabt, ein
sensationslustiges Publikum mit “Wundern” aus der mittelalterlichen Ethnologie und der
tradierten Teratologie zu beliefern, dann wäre der Orient als eine Welt gestaltet gewesen, die in
sich ruht und sich selber genügt. Der Orient fungiert jedoch in Herzog Ernst als eine
1
Aus dem Spielmannsepos wird zitiert mit Angabe der Verszahlen nach: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A
herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski, Stuttgart 1979.
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permanente Kontrastfolie zur Welt des deutschen Kaiserreiches, einer Welt, die ihrerseits
allegorisch zu “lesen” ist. Trotz seiner Pracht, trotz seines Reichtums, trotz seiner betörenden
Schönheit, die “Wunder” genug bieten, ist der Orient im Spielmannsepos Herzog Ernst keine
Welt für sich, sondern stets die Gegenwelt der vertrauten Heimat, stets das kulturelle,
zivilisatorische und religiöse “Gegen-Zeichen”. Morgenland und Abendland, im Spielmannsepos
Herzog Ernst untrennbar miteinander verbunden, relativieren sich gegenseitig, idealisieren sich
gegenseitig. Der “heidnische” Orient des Spielmannsepos Herzog Ernst verabsolutiert einerseits
die Normen und die Werte des christlichen Okzidents, zeigt aber andererseits die Fragwürdigkeit dieser Normen und Werte und läßt das Bedürfnis nach kultureller und religiöser Selbstvergewisserung einer Gemeinschaft sichtbar werden, deren Identitätsbewußtsein die Kreuzzüge
dramatisch erschüttert haben. Diesem “posttraumatischen” Bedürfnis nach Selbstvergewisserung kommt in Herzog Ernst ein ambivalentes Orientbild entgegen, das Fremdes und
Vertrautes vereinigt, Pandämonium und zugleich Locus amoenus bedeutet, faszinierend und
zugleich abstoßend wirkt. Seine Künstlichkeit ist diejenige des allegorischen Bildes, das auf die
Sakralität des Seins hinter dem Schein verweist, seine Realitätssubstanz diejenige der
historischen Sage, in der Epochen, Gestalten, Ereignisse zu einem metaphysischen illud tempus
verschmelzen.
Das Schicksal des Herzogs, sei er Liudolf, sei er Ernst II., beschäftigte den geistlichen Verfasser des Spielmannsepos Herzog Ernst nur insofern, als es sich zur Allegorie des christlichen
Lebenswandels gestalten ließ. Im profanen Register wiederholt die Lebensgeschichte des
Herzogs den Lebensweg Adams, von seiner Erschaffung im Paradies bis zu seiner Erlösung.
Dieselben Etappen – Leben im Paradies, Vertreibung durch teuflisches Wirken, mühevolles
Durchwandern des Jammertales, Tod, Auferstehung und Erlösung -, lassen sich auch im Leben
des Sagenhelden Ernst nachweisen, wobei der Orient als Allegorie des Jammertales und des
Todes fungiert. Der humanistisch gebildete Herzog Ernst, ein Tristan mit Latein- und
Italienischkenntnissen, der vor der Schwertleite diverse Wissenschaften im Oströmischen Reich
kennengelernt hatte, Ernst, die idealisierte Verkörperung aller mittelalterlichen Rittertugenden
– er ist freigebig, fromm, fürsorglich und treu -, herrscht zunächst in vollendeter Harmonie in
seinem Herzogtum Bayern. Zwischen Kaiser Otto, dem Stiefvater, und ihm gibt es weder
Machtkämpfe noch sonstige Rivalitäten. Kaiser und Herzog sind komplementäre Erscheinungen,
durch das Band der Liebe und Treue zusammengehalten, das Adelheid, Mutter des Herzogs und
Ehefrau des Kaisers, verkörpert. Daß Adelheid, die keusche Magd Gottes und ergebene Dienerin
des Kaisers, mariologische Züge trägt, die sie verklären, ist offensichtlich. Kaiser und Herzog
stehen zwar auf unterschiedlichen Stufen der gottgegebenen sozialen Hierarchie, doch verkörpern beide dasselbe Prinzip des idealen, heilspendenden christlichen Herrschers. Der Kaiser,
ein unermüdlicher Diener Gottes, der als Beschützer der Waisen und Witwen wie als Urheber
der allerbesten Friedensordnung geschildert wird, bekämpft durch kirchliche Stiftungen die
Macht des Teufels in der Welt und verwandelt sein Reich in ein Paradies:
er schuof den aller besten fride
beide vür unde wider
der ê oder sider
oder immer mê werde
ûf der Sahsen erde. (V. 192-96)
Trotz seines stark utopischen Momentes trägt das ottonische Paradies die geographischen
Merkmale des Rhein-Main-Gebietes und weist die historischen Attribute einer feudalen Welt
mit höfischen Machtstrukturen, einer höfischen Kultur, höfischen Sitten und Bräuchen auf.
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Das Bild des Orients im Spielmannsepos Herzog Ernst
Die Idealisierung der Zustände im Römischen Reich, ihre Projizierung ins Utopisch-Märchenhafte läßt die Verbannung Ernsts um so beklagenswerter erscheinen. Urheber der Verbannung ist der machtgierige Heinrich, “der phalzgrâve von dem Rîne” (V. 670). Seine Attribute
– er ist “der ungetriuwe / mit valsch âne riuwe” (V. 673f.) – machen aus Heinrich, in der
Geschichte des ottonischen Reiches der Oheim Liudolfs, eine Allegorie des Teufels. Daß die
Gestalt Heinrichs als Allegorie Satans intendiert ist, beweist auch das Verhalten des Kaisers, der
unter seinem heillosen Einfluß “in zorne unsiteclîche” (V. 1159) gerät, d.h. die Sphäre des
Höfischen verläßt, und ex-zentrisch, d.h. außerhalb des mittelalterlichen, gottgewollten ordo,
handelt. Heinrichs diabolische Intrigen legitimieren die Selbstjustiz, die Ernst an ihm übt, als
gottgefälligen Exorzismus. Im Akt der Selbstjustiz verletzt jedoch Ernst das höfische Maß, indem er die Teufelsaustreibung auf die physische Person des Kaisers überträgt. Indem er einen
Anschlag auf die physische Person des Herrschers ausübt, übt Ernst zugleich einen Anschlag auf
die juristische Person des Herrschers aus. Als juristische Person verkörpert jedoch der Kaiser den
mittelalterlichen ordo und implizit den Willen Gottes. Herzog Ernst wird durch das Attentat auf
den Herrscher zum Sünder gegen Gott und wird zur Strafe für seine Sünde gleich Adam aus
dem Paradies vertrieben.
Zum Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit gelangt Ernst erst nach Jahren des Kampfes gegen
das übermächtige kaiserliche Heer, das die Reichsacht exekutiert. Erst nachdem seine Länder,
Wälder und Burgen zerstört wurden und viele seiner treuen Untertanen gefallen waren, gelangt
Herzog Ernst zur Erkenntnis, daß er ein Sünder ist und Buße leisten muß, um auf die Gnade
Gottes und die Erlösung hoffen zu dürfen:
wir haben wider gote getân
daz wir im billîch müezen
ûf sîn hulde büezen,
daz er uns die schulde ruoche vergeben
her nâch, obe wirz geleben,
und wider heim ze lande komen. (V. 1818-23)
Deutlich ist an diesem Punkt das religiös-ethische Moment des Spielmannsepos zu bemerken. Der geistliche Verfasser des Herzog Ernst will seine Zuhörer zur Umkehr und Buße
ermahnen, denn das ottonische “Paradies”, so wie es am eindrucksvollsten das Hochzeitsfest zu
Mainz (V. 479ff.) mit seinen Wonnen, Freuden, Belustigungen und Spielen aller Art versinnbildlicht, ist ständig vom Teufel bedroht.
Die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit stellt für den Verfasser des Herzog Ernst die
conditio sine qua non der Erlösung dar. Der Geistliche läßt seinen Helden den Entschluß fassen,
sich für Gott zum Kreuzzug zu verpflichten und in den Dienst des Heiligen Grabes zu treten. Der
Gedanke, übers Meer zu fahren, wie die Teilnahme am Kreuzzug in der Literatur des Mittelalters
oft umschrieben wird, ist nicht profanen Ursprungs und wirtschaftlicher Provenienz (“ern wolde
unschulde rechen, / nieman getorste sprechen / daz die helde guote / durch ir armoute /
gerûmet haeten ir lant”, V. 1881-85), sondern stellt eine göttliche Eingebung dar (“Dô sprâchen
die helde guote / alle ûz einem muote, / im haete got den sin gesant”, V. 1837-39). Auf diese
Weise wird die Fahrt des Helden in den Orient als heilsnotwendig legitimiert und mit einer
allegorischen Bedeutung befrachtet, die eine entsprechende Lesart erfordert. Nicht als verarmter Abenteurer zieht Herzog Ernst nach Jerusalem, sondern als bußfertiger Pilger und als
miles christianus. Und die Kreuzzugsritter, an derer Spitze er sich als Beschützer stellt, fahren
nicht als seine Untertanen mit, sondern als seine Brüder in Christo.
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Ernsts Fahrt in den Orient versinnbildlicht die Durchwanderung des irdischen Jammertals
durch den aus dem Paradies vertriebenen Sünder. Im vallis lacrimarum erwarten den Sünder,
der “den grimmigen tôt” (V. 2170) stets vor den Augen hat, “grôze nôt” (V. 2169), “vil dicke wê”
(V. 2173) und “starke[...] arbeit” (V. 2175). Die Route der Orientfahrt korrespondiert im Spielmannsepos Herzog Ernst dem realen Landweg, den die Kreuzheere am häufigsten wählten, und
führt durch “Ungerlant” (V. 2011) und “durch der Bulgaere walt” (V. 2033) “ze Kriechen in diu
rîche” (V. 2036) nach “Constantînopel in die stat” (V. 2039) und dann weiter “gen Sûrîe dem
lande” (V. 2128). Dieser geographische Realismus widerspricht nicht dem allegorischen
Charakter des Weges durch das Jammertal. Vielmehr verleiht er der Route, die weiter durch den
fabulösen Orient führt, die Glaubwürdigkeit, die der religiös-ethischen Verbindlichkeit des Epos
zugrunde liegt.
Unterstand bis Syrien die Reiseroute dem menschlichen Willen, so übernimmt ab dort die
als Naturgewalt allegorisierte Allmacht Gottes die Kontrolle über die Route der bewaffneten
Pilgerfahrt. Ein heftiger Sturmwind treibt “ûf dem vil freislîchem mer” (V. 2143) die Schiffe
auseinander, so daß “sich jâmer unde wê / underm gotes gesinde (huop)” (V. 2134f.). In der
christlichen Symbolik gilt der Sturm auf offenem Meer als Ausdruck des göttlichen Zorns über
den sündhaften Menschen. Auf der Fahrt in den Orient bekommt Ernst als Sünder den Zorn
Gottes zu spüren, doch wird ihm auch die göttliche Gnade zuteil. Nach drei Monaten
hoffnungsloser Irrfahrt auf dem stürmischen Meer erleben die Kreuzzugsritter die Gnade des
Allmächtigen: “sie sâhn in allen gâhen / ein vil hêrlîchez lant: / daz was Grippîâ genant” (V.
2204ff.). War das Meer ein Ort der Gefahr und des Todes, so bedeutet Grippia Rettung, Leben,
Gnade Gottes: “ez ist ein michel wunder / daz got mit uns hât getân” (V. 2424f.). Das Erzählmuster: Todesgefahr und wunderbare Rettung, das sich in der Grippia-Episode ankündigt, liegt
allen Stationen der Irrfahrt Ernsts durch den Orient zugrunde. Dieses Muster verleiht dem
Spielmannsepos die Spannung, die der Unterhaltungsliteratur eigen ist, dient jedoch zugleich
der religiös-ethischen Unterweisung, indem es auf die ubiquitäre Präsenz Gottes als des Lenkers
des menschlichen Geschicks hindeutet und der Irrfahrt des Menschen auf den stürmischen
Wogen des Lebens eine allegorische Dimension verleiht.
Nachdem er Ungarn, Bulgarien und das Oströmische Reich mit Konstantinopel in eher konventionellen Bildern beschrieben hatte, wendet sich der Verfasser der Schilderung des
fabulösen Orients und seiner Bewohner zu. Er tut es mit großem gestalterischem Elan, indem er
seine Kenntnisse des orientalischen Erzählguts, der Etymologien Isidors von Sevilla, der
klassischen Mythologie und der antiken Teratologie zu einem opulenten und zugleich doppelbödigen Diskurs bündelt, der sich bald als Hymne, bald als Schmährede liest. Mit wenigen Ausnahmen gilt die Hymne den Ländern des Orients, die Schmährede ihren Bewohnern. Während
die orientalischen Länder durch Reichtum, Pracht und Schönheit immer Bewunderung hervorrufen, werden ihre Bewohner stets als seltsam, ja monströs geschildert. Diese Polarität kennzeichnet den Diskurs, der den fabulösen Orient zum Inhalt hat, während der Kreuzzugsorient
(Äthiopien, Alexandria, Jerusalem) neutral und vorurteilslos, jedoch auch ohne große Inspiration, beschrieben wird. Zum fabulösen Orient zählen im Spielmannsepos Herzog Ernst das
Land “Grippîâ” (V. 2206) und ihre Bewohner - die Kranichmenschen -, der Magnetberg, das
Land Arimaspi mit ihren Bewohnern - den “Cyclôpes” (V. 4521) -, das Land der “Plathüeve” (V.
4671) und dasjenige der “Ôren” (V. 4853), das Land “Prechamî” (V. 4898) mit seinen Bewohnern, den Pygmäen, schließlich “Cânâan” (V. 5025), das Land der Riesen. Verweilen wir bei
der Beschreibung von Grippia und den Grippianern, um die Polarität des Orientbildes in Herzog
Ernst exemplarisch zu analysieren.
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Das Bild des Orients im Spielmannsepos Herzog Ernst
Grippia ist “ein vil hêrlichez lant” (V. 2205), eine Burg der Superlative, mit “manic werk
hêrlich, / von golde harte zierlîch” (V. 2533f.), mit “manigen palas reine / [...] / schoene unde
wol getân, / vil gar wunderlîch geworht” (V. 2538-41). Märchenhaft mutet der unerschöpfbare
Überfluß an vornehmen Speisen und erlesenen Weinen an, die sich wie im Schlaraffenland den
Geretteten in Gefäßen aus Gold darbieten, märchenhaft die Farbenpracht der Edelsteine und
der Perlen, die der Burg Grippia Glanz und Anmut verleihen, märchenhaft die Marmorstraßen,
die wie Schnee vor Sauberkeit glitzern, märchenhaft die paradiesischen Gärten und Innenhöfe,
die zum Verweilen einladen. Die raffinierte Kultur und die hohe Zivilisation Grippias begeistern
den Fremden, lassen ihn voller Bewunderung gestehen: “ich waene burc deheine / ûf erden ie
sô rîch gestê” (V. 2696f.). Der Glanz, die Reichtümer, die Pracht Grippias evozieren das Bild des
Himmlischen Jerusalem:
ez wart nie burc sô maere
geworht ûf dirre erden
noch nimmer kunde werden
erbûwen alsô schône.
sist aller bürge ein krône,
die man in der werlde hât gesehen [...]. (V. 2786-91)
Grippia, die orientalische Stadt par excellence, betört die Augen des Abendländers, erweckt
seine Sinnlichkeit und trübt seine Vernunft. Deswegen ist die Stadt für den Eindringling gefährlich. Sie umgarnt den Fremden mit ihrer Schönheit, führt ihn in Versuchung, bringt ihn in
Todesgefahr. Entgegen Ermahnungen zur Besonnenheit und Vorsicht gibt sich Ernst in Grippia
dem Genuß des “Orientalischen”, d.h. des Irdischen, hin, was viele seiner Gefährten das Leben
kosten wird: “mich lustet vil sêre / daz ich hin wider kêre / und die burc baz besehe, / swaz halt
mir dar inne geschehe: / sie ist sô rehte wol getân” (V. 2485-89) – mit diesen Worten gesteht
Ernst die Faszination, die Grippia auf ihn übt. Derselben Faszination erliegt er, wenn er das
schöne und klug angelegte Badehaus erblickt, in dem es lieblich aus warmer und kalter Quelle
plätschert. Auch wenn er sich der Gefahr bewußt ist, in die er sich begibt, handelt Herzog Ernst
wieder nach dem Lustprinzip: “mich lustet vil sêre / daz wir in daz bat gân. / wir durfen kein
angest hân” (V. 2704ff.). Von der Sinnlichkeit Ernsts war bis zur Ankunft in Grippia nie die
Rede, höchstens von seiner Impulsivität. Es ist der Orient, der Ernsts Sinnlichkeit erweckt, um
sie schließlich im Geist des christlichen Keuschheitsideals mit einer militärischen Niederlage zu
sanktionieren. Die Sanktion – die unrühmliche und verlustvolle Flucht aus Grippia - hat freilich
Gott bewirkt, in dessen Händen die Fäden des menschlichen Geschicks ruhen. Wenn Ernsts
Gefährten in Grippia gegen ungetaufte Leute kämpfen (“diz sint ungetoufte liute / unde ahtent
niht ûf got”, V. 3752f.), von der Perspektive auf “daz himelrîche” (V. 3744) beseelt, dann ist ihr
Kampf nicht zuletzt auch allegorisch als Kampf mit sich selber zu verstehen, als Kampf gegen
die “Heiden” in ihnen selbst. Jedem Kampf, den Ernst und seine Gefährten im Orient führen, ist
dieses Korrekturmoment eigen: Der Kampf ist dazu da, Abweichungen vom christlichen Ethos
zu beseitigen. Die Sinnlichkeit, der Ernst in Grippia, der orientalischen Stadt, verfällt,
repräsentiert eine Abweichung vom christlichen Ethos, die korrigiert werden muß, denn Grippia
stellt nicht nur ein Geschenk Gottes (V. 2402-05), sondern zugleich auch einen Raum der göttlichen Prüfung dar (“got will uns lîchte versuochen”, V. 2411). Die Prüfung gibt dem Helden die
Gelegenheit, sich als Kind Gottes zu bewähren. Ernst und seine Brüder in Christo erweisen sich
in Grippia als Kinder Gottes, indem sie beispielsweise auf Plünderungen verzichten, die bei
Kreuzzügen üblich waren. Sie nehmen aus Grippia nur soviel an Nahrungsmitteln mit, wie sie
für die Weiterfahrt nach Jerusalem benötigen (V. 2463-75).
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Im Kontrast zur Schönheit Grippias steht die Monstrosität seiner Bewohner. Zwar tragen die
Grippianer prächtige Kleider und kostbaren Schmuck, besitzen “schilt unde bogen / unde kocher
wol gezogen” (V. 2863f), in deren Beschreibung der Verfasser viel Sprachkraft investiert, doch
anatomisch, kulturell, auch sexuell, sind die Grippianer “seltsaene[...] liute[....]” (V. 2880). Halb
sind sie Menschen, halb sind sie Kraniche: “ir helse smal unde lanc, / gelîch den kranichen
gevar / von dem houpte unz ûf den lîp gar” (V. 3016ff.). Im Porträt der Grippianer dominiert das
groteske Element, das in der christlichen Ikonographie der Schilderung des Dämonischen vorbehalten ist und das den abendländischen Betrachter zum Lachen verleitet. Es ist das Lachen
des moralisch sich überlegen Dünkenden, der sich auch militärisch überlegen fühlt: “ich mac
des wol gelachen / daz in die helse sint sô kleine” (V. 2948f.). Dieses groteske Element begegnet
im Porträt aller orientalischen Völker als fundamentales Ingrediens der Fremde und als Ausdruck einer gewissen abendländischen Arroganz in der Begegnung mit anders gearteten
Kulturen. Die Reden und Gebärden der Kranichmenschen sind unverständlich (V. 3151ff),
ebenso ihre Sprache, die dem Schrei wilder Kraniche ähnelt (V. 3155) und als “vil lût unde
freissam” (V. 2826) empfunden wird. Im gesamten Spielmanns-epos gibt es zahlreiche
Reflexionen zum Thema Sprache, Sprachverständigung, sprachliche Kommunikation, die in der
deutschen Literatur des Mittelalters eher unüblich sind. Die Sprache als eine Dimension der
Fremde wird hingegen in der 6. Reise Sindbads thematisiert, was für die Vertrautheit des Verfassers mit der orientalischen Märchentradition spricht.2 Sitten und Bräuche der Grippianer sind
“wunderlîch” (V. 3380) wie die Sitten und Bräuche der meisten Völker, die Ernst auf seiner
Reise durch den fabulösen Orient kennenlernt. Nicht weniger grotesk ist die Art und Weise, wie
sich die Grippianer sexuell manifestieren: “als dicke er sie kuste, / den snabel steiz er ir in den
munt. / solh minne was ir ê unkunt” (V. 3244ff.). Die Befremdung, die Ernst in der Begegnung
mit den Grippianern verspürt, gilt jedoch hauptsächlich ihrer Lebensweise, die als Abweichung
vom christlichen Ethos kritisiert wird. Die Grippianer führen ein verwegenes Leben (V. 2884),
sind übermütig und lebensfroh (V. 2885). Die Reaktion der Ritter auf die Kranichschnäbler ist
entsprechend. Man schätzt die Grippianer gering ein (“sie huoben sie vil unhô”, V. 2935), hat
keine Angst vor ihnen (“uns kan doch von in niht geschehen”, V. 2939), und prahlt, mit tausend
und mehr von ihnen allein fertig zu werden (“ich will alters eine / tûsent bestân und mê”, V.
2970f.).
Die höfisch geregelte Lebensweise der Grippianer erinnert stark an die höfische Lebenswelt
des deutschen Heimatlands des Herzogs. Der Truchseß des Königs von Grippia wird ausdrücklich
als höfisch gebildet charakterisiert (V. 3190f.). Ob die kritischen Töne an die Adresse der
Lebensweise der Grippianer indirekt dem Leben im Weströmischen Reich gelten, muß als Hypothese offen bleiben. Inwieweit der geistliche Verfasser des Spielmannsepos in der ottonischen
Hofkultur Zeichen des Übermuts, der Verwegenheit und der maßlosen Lebensfreude erblickte,
kann schlecht überprüft werden. Die Parallelen zwischen dem höfischen Leben in Grippia und
demjenigen im ottonischen “Paradies” lassen sich nicht auf äußerliche Details reduzieren wie
etwa gleiche Rituale und Zeremonien, gleiche Pracht der höfischen Gewänder und Kennzeichen
der königlichen Macht, gleiche Tischgepflogenheiten, gleiche Vorliebe für bestimmte Speisen,
usw. Die Parallelen berühren Gebiete, die das Selbstverständnis der ritterlichen Kultur
definieren und den Orient als Gegenwelt der ritterlichen Kultur zeigen. Auffallend ist in dieser
Hinsicht die Parallele zwischen dem kaiserlichen Hochzeitsfest in Mainz (V. 457ff.) und dem
königlichen Hochzeitsfest in Grippia (V. 2996ff.). Die Hochzeit des Königs von Grippia mit der
2
Einzelheiten dazu bei Hans Szklenar, Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen, Göttingen 1966,
S. 165f.
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Das Bild des Orients im Spielmannsepos Herzog Ernst
indischen Prinzessin fungiert als Kontrastfolie zum kaiserlichen Fest im Weströmischen Reich.
Ihre Schilderung ist Selbstvergewisserung, Bejahung des gefährdeten ritterlichen Ideals,
Idealisierung eigener Bräuche und Kulturpraktiken. Beide Bräute stammen aus der Ferne, die
kaiserliche aus Bayern, die königliche aus Indien. Zwischen Indien und Grippia herrscht ein
blutiger Krieg, im Römischen Reich hingegen der beste Friede, der je auf deutschem Boden
erreicht wurde. Beide Bräute tragen mariologische Züge, Adelheid als keusche Dienerin Gottes,
die indische Prinzessin durch ihre verklärte Schönheit: “ir hût was wîzer dan der snê” (V. 3098),
die der Verfasser mit einem verbreiteten Topos der Marienlyrik beschreibt, entgegen den ethnographischen Kenntnissen der Zeit über die Dunkelhäutigkeit der Bewohner des indischen Subkontinents. Herrscht zwischen Kaiser und Kaiserin eine vollendete und dauerhafte Harmonie
(“sie lebten wünneclîche / [...] / und ân alle schande” V. 553-57), so ist die indische Prinzessin
im Lande ihres Gemahls zutiefst unglücklich, weil sie die Fremde nicht zu bewältigen vermag,
weder geschlechtlich (“solh minne was ir ê unkunt”, V. 3246), noch sprachlich:
sol disiu frouwe wol getân
in disem ellende
belîben an ir ende,
daz waere ein wunderlich geschiht.
sie vernimt ir sprâche niht:
sie kann ir sprâche niht verstân. (V. 3278-83)
Adelheids Eheglück liegt eine Brautwerbung zugrunde, die den Normen des höfischen
Ideals entspricht, während die indische Prinzessin brutal geraubt wurde. Für Ernst als Ritter
und als miles christianus gilt es, diesen Mißstand, diese Abweichung vom höfischen und christlichen Ethos, durch Kampf und bei Gefahr für das eigene Leben zu korrigieren. Daß Ernsts
Kampf um die schöne Prinzessin keinem erotischen Impuls folgt, sondern christlich motiviert
ist, unterstreicht der Verfasser des Spielmannsepos an mehreren Stellen. Nicht von Minne ist
die Rede in der Begegnung des Herzogs mit der Prinzessin, sondern von Caritas:
ez erbarmte in vil sêre
[...]
daz diu frouwe wol getân
undr in allen nieman sach
dem sie klagete ir ungemach
von ir starkem leide.
daz erbarmte sie dô beide. (V. 3258-64)
Indem er sich der indischen Prinzessin erbarmt und sie in Schutz nimmt, handelt Ernst als
Erlöser in der Not und bewährt sich als Verteidiger des ritterlichen Ethos. Anders als im
Artusroman, wo der Held für seine Tapferkeit mit der Hand der Prinzessin und der Herrschaft
über ihr Reich belohnt wird, erwarten den Protagonisten des Spielmannsepos weitere göttliche
Prüfungen, die er als Sünder zu bestehen hat, bevor ihm die Erlösung zuteil und die Rückkehr
ins Paradies gestattet wird.
Die göttlichen Prüfungen, die Ernst als Sünder besteht, verlaufen alle nach demselben
Schema, das den Abenteuern in Grippia zugrunde liegt. Der Held begegnet der Fremde in
grotesker Anthropomorphie und in vertrautem höfischem Kontext und wird als miles
christianus aufgefordert, Abweichungen vom christlichen Ideal unter Lebensgefahr zu
korrigieren. Lenker seines zivilisatorischen Eingreifens ist Gott, der ihm gnadenvoll beisteht. Der
Held besteht die Prüfungen, die ihm Gott auferlegt hat, durch Tapferkeit, Klugheit und Stärke
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353
Ioana Cr`ciun
des Glaubens, d.h. indem er sich als vollendete Verkörperung des ritterlichen Ethos erweist.
Durch Gebet, Reue, Bereitschaft zur Buße, jedoch auch durch praktische Intelligenz gelingt es
dem Helden, den als Orkus geschilderten Magnetberg (V. 3924ff.) zu überwinden, dessen ungeheuere Reichtümer ein Sinnbild der vanitas bieten. Die Rettung Ernsts und seiner Gefährten
ist, wie auch sonst, ein Zeichen der Gnade Gottes und ein Wunder (V. 4330f.), vergleichbar mit
dem Mirakel der Auferstehung:
Do si alsô zesamene wâren komen,
des wart grôz freude von in vernommen,
wan in unser trähtîn
nâch grôzer erbermde sîn
hâte beide lîp und leben
wider zeichenlîch gegeben,
als er noch tuot genuogen. (V. 4335-41)
Nicht zufällig essen Ernst und seine Gefährten nach der Rettung aus dem Orkus Fische (V.
4364ff.), eine symbolisch zu verstehende Speise. In der christlichen Symbolwelt stellt der Fisch
ein Sinnbild des Heilands, ein soteriologisches Zeichen dar.
Dieselbe symbolische Bedeutung kommt auch den Broten zu (V. 4495), mit denen die Ritter
ihren Hunger im Land Arimaspi stillen, nachdem sie mit Gottes Hilfe die gefährliche Floßfahrt
durch die an Edelsteinen reiche Berghöhle überstanden haben. Auch im Land Arimaspi gestaltet
sich die Fremde nach demselben Muster: grotesk anthropomorphe Gestalten, vertraute höfische
Lebensformen, sprachliche Kommunikationsschwierigkeiten, zu korrigierende Abweichungen
vom ritterlichen Ethos. Nicht anders als die Grippianer werden die Bewohner der Landes
Arimaspi als “wunderlîch” (V. 4514) beschrieben: “sie heten niht wan ein ouge / vorne auf dem
hirne. / sie hiezen einsterne, / ze latîne hiezens Cyclôpes” (V. 4518-21). Trotz ihrer anatomischen Seltsamkeit, die sie der Welt des antiken Mythos zuordnet, sind die Bewohner von
Arimaspi gastfreundliche Ritter und Grafen, treue Vasallen ihres freigebigen Königs, der wie der
Kaiser im Weströmischen Reich die Treue und die Tapferkeit seiner Untertanen reichlich zu
belohnen versteht. Anders als in Grippia, wo sich die Begegnung zwischen Morgenland und
Abendland als militärische Konfrontation gestaltet, findet im Land Arimaspi eine interkulturelle
Begegnung statt, die harmonisch verläuft und sich für beide Seiten als profitabel erweist. Herzog Ernst erlernt innerhalb eines Jahres die Sprache der Zyklopen, erzählt dem König von
Arimaspi seine Lebensgeschichte und erläutert ihm die Sitten und Gepflogenheiten seiner
deutschen Heimat:
man huote ir schône, daz ist wâr,
mê danne ein ganzez jâr,
ê sie die sprâche kunden.
dar nâch in kurzen stunden
hiez er den herzogen gewinnen
und bat in mit guoten minnen
im sagen diu rehten maere,
von welhem lande er waere
und wie getânen namen er haete,
daz er im daz kund taete
und im sagt diu rehten maere
waz mannes er selbe waere
und wie er kaeme in daz lant.
des antworte im der wîgant
und tete im kunt diu maere
daz er ein herzoge gwesen waere
354
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Das Bild des Orients im Spielmannsepos Herzog Ernst
dâ heime in sîme lande,
wie in âne schulde und âne schande
vertreip der rîchsten künige ein
der von anegenge kein
ie wurde in dem rîche:
und sagete im sunderlîche
des landes site und gebaere
und wie er dar komen waere. (V. 4629-52)
Diese interkulturelle Begegnung, die als gottgewollt geschildert wird (“sus hâte sie got
berâten”, V. 4624), stärkt das Band zwischen dem abendländischen Herzog und dem
orientalischen König. Von ihr profitiert sowohl der König von Arimaspi, der mit Ernsts Hilfe
seine Feinde besiegt, als auch der bayerische Herzog, den der König mit Ländereien und Besitztümern belohnt. Die gute, ja herzliche Beziehung zwischen dem christlichen Herzog und dem
mythischen König erinnert an die Beziehung Ernsts zu seinem kaiserlichen Stiefvater vor der
Verhängung der Reichsacht. Das feindliche Verhältnis zwischen Kaiser Otto und Herzog Ernst
findet hingegen eine Entsprechung im Verhältnis des Königs von Arimaspi zu seinen
monströsen Nachbarn, den “Plathüve” (V. 4671), den “Ôren” (V. 4852) und den Riesen des Lands
“Cânâan” (V. 5014). Die Platthufe, heißt es, haben sehr breite Füße, mit denen sie sich vor dem
Regen schützen (V. 4674ff.), während die “Ôren” ihre Hörorgane, die bis zu den Füßen reichen,
als Körperbedeckung benutzen (V. 4822ff.). Diese in grotesken Formen geschilderten Feinde
verheeren das Land Arimaspi (V. 4700) und greifen den König “mit roube und mit brande” (V.
4698) an, nicht anders als die kaiserliche Armee, die im Herzogtum Bayern die Reichsexekution
durchführte. Hier ist Ernsts korrigierendes Eingreifen gefragt, und der Held bewährt sich als
miles christianus, indem er die Feinde besiegt und sie tributpflichtig macht. Im Hintergrund
seines korrigierenden Eingreifens leuchtet stets die deutsche Heimat als ideales Verhaltensmodell. So spornt Ernst den König von Arimaspi, der bereit ist, den militärischen Drohungen der
Riesen nachzugeben, zum Widerstand an, indem er ihm sein Heimatland als “politisches” Verhaltensmodell empfiehlt:
ez taete in mînem lande
vil ungerne kein man
daz er sîme genôz würd undertân:
er laege ê tôt mit êren. (V. 5070-73)
Die Ehre, eine Hauptdimension des ritterlichen Ethos, wird durch Ernsts zivilisatorisches
Eingreifen verteidigt. Gott hilft Ernst, den Orient zu “besiegen”, d.h. ihm die Attribute der
höfischen und christlichen Kultur zu verleihen. Der Orient stellt jedoch keinen “realen” geographischen Raum dar, sondern ist allegorisch zu verstehen. Er versinnbildlicht zum einen die
als Jammertal stilisierte irdische Existenz mit ihren vielen Mühsalen und Nöten. Zum anderen
ist der Orient der geistige Innenraum des Sünders, der nach Erlösung und Rückkehr ins verlorene Paradies strebt. Indem er allegorisch gegen die “Heiden” kämpft und Korrekturen an
ihrem unhöfischen Dasein durchführt, kämpft Ernst in Wahrheit vornehmlich mit sich selbst
und der Unvollkommenheit seines geistigen Daseins als eines Christen.
Aus dem fabulösen, weil allegorisch intendierten Orient kehrt Ernst in Begleitung mehrerer
anthropomorpher Kuriositäten nach Bayern zurück. Er hat einen Giganten und zwei Pygmäen
dabei, dazu “vil Ôren und manigen Plathuof” (V. 5325), die als Beweise seiner Reise durch den
“Orient” fungieren. Wären diese Kuriositäten nicht Teil einer inneren, seelischen Landschaft,
dann wäre Ernsts emotionale Identifikation mit ihnen (V. 5330f.) eine mit dem Geist des
Mittelalters kaum vereinbare Exzentrizität. Doch Ernsts Lebensgeschichte dient als Exemplum
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355
Ioana Cr`ciun
und ist nicht als Lebensgeschichte eines Individuums mit seinen mehr oder weniger auffälligen
Besonderheiten intendiert. Den Beweis dafür, daß die Reise durch den Orient einer seelischen
Läuterung gleichkommt, liefern die Rückkehrroute des Herzogs in die bayerische Heimat und
die auf dieser Route zelebrierten Rituale der Opferung und der Buße. Erste Station der Rückreise ist Jerusalem, wo Ernst am Heiligen Grab betet und dort einen Teil seiner orientalischen
Schätze und seiner Kuriositätensammlung stiftet. In Jerusalem kniet Ernst vor dem Heiland und
opfert ihm den “besiegten Heiden”, der vor der Läuterung in seiner Seele steckte. Zweite
Station der Reise ist Rom, wo Ernst “ze sante Pêter in daz münster wît” (V. 5801) hineintritt
und dort betet. In der päpstlichen Stadt, in der Stadt des Stellvertreters Christi auf Erden, “da
gap er ouch daz opher sîn” (V. 5803). Damit ordnet er sich dem Sacerdotium unter. Dritte und
letzte Station ist das Bamberger Münster, wo sich Ernst während der Weihnachtsmesse als
Büßer “wullen und barfuoz” (V. 5923) vor den Kaiser wirft, ihn um Gnade anfleht und ihm einen
Teil seiner orientalischen Kuriositätensammlung schenkt. Ort und Zeit der Versöhnung mit dem
Imperium tragen eindeutige symbolische Züge. In der Stunde der Geburt Christi wird der Sünder
erlöst und darf ins Paradies zurückkehren, das der Kohärenz der Allegorie zuliebe Bayern heißt.
In der Person Ernsts versöhnen sich Sacerdotium und Imperium und vergessen für immer den
“Krieg”, so wie der König von Mohrenland und derjenige von Babylon im Kreuzzugsorient dies
allegorisch getan haben (V. 5612f.). Dem Prinzip prodesse et delectare folgend, bietet das
Spielmannsepos Herzog Ernst in unterhaltender Art religiös-ethische, jedoch auch politische
Unterweisung.
Literatur:
A. Primärliteratur
1.
Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der
Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski, Stuttgart 1979.
B. Sekundärliteratur
1.
2.
3.
356
Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart, 1976. Daraus: Herzog Ernst, S. 313f.
Szklenar, Hans: Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen, Göttingen 1966.
Szklenar, Hans/Behr, Hans-Joachim: Herzog Ernst. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage, Band 3, Berlin, New York 1981, Spalten 1170-91.
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ERZÄHLEN ALS CONSERVATIO SUI
Eine poetologische Lektüre
von Birgit Vanderbekes Erzählung Das Muschelessen
1
Anca R`dulescu
Einführende Bemerkungen
Kann der Familienalltag in den Zeiten des westdeutschen Wirtschaftswunders lebensgefährlich sein? Ist ein Diskurs der Machtverhältnisse und der Grausamkeit mit dem Register
von Komik und Ironie vereinbar? Birgit Vanderbekes Erzählung Das Muschelessen birgt
Antworten auf derartige Fragestellungen. In der naiven Perspektive auf vordergründig belanglose Situationen des privaten Lebens scheinen überraschend engagierende narrative Grundmuster durch. Die Zuhörer (Empfänger, Leser) verstricken, verlocken, so daß sie sich überhaupt
Zeit zum Zuhören nehmen, sich redend (schreibend) vor den Instanzen der Macht zu behaupten
– solche Kausalzusammenhänge vermögen dem (nicht) literarischen Erzählen den Rang einer
lebenserhaltenden Praxis zu verleihen, die um so mehr im Horizont der aktuellen kulturtheoretischen Diskussion über den Stellenwert des Subjekts Relevanz gewinnt: Stellt die
Literatur der 90er Jahre, so wie sie Birgit Vanderbeke vertritt, immer noch Anspruch auf
emanzipatorische individuelle Subjektwerdung oder kommt eher das Modell der prä- und/oder
2
postmodernen Selbsterhaltung der fragwürdig gewordenen Autonomie des aktuellen Subjektbegriffs entgegen?
In meinen Ausführungen möchte ich die angedeuteten Fragestellungen in Beziehung setzen
zu der Möglichkeit einer poetologischen Lektüre des ersten fiktionalen Textes, mit dem „Birgit
3
Vanderbeke 1990 fulminant die Bühne der Literatur betreten hat“ .
Auf die Erzählung Das Muschelessen, die der Autorin den prestigereichen IngeborgBachmann-Hauptpreis einbrachte, folgten weitere Bücher, die ihren schriftstellerischen Ruf
beim Leserpublikum und bei der Kritik festigten; ihre Erzählung Alberta empfängt einen Lieb4
haber ging, nach ihrem Erscheinen 1997, in die Bestsellerlisten ein; im Jahre 1999 bestätigten
weitere Ehrungen den künstlerischen Rang der Autorin: 1999 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den
Solothurner Literaturpreis, so wie den Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim: Bei der Verleihung des letzteren war es der aus dem Banat stammende Schriftsteller Richard Wagner, der
1
Vanderbeke, Birgit: Das Muschelessen. Erzählung. Rotbuch Verlag, Berlin 1990. Alle Zitate aus der Erzählung sind
dieser Ausgabe entnommen und im Text des Artikels mit der Abkürzung ME, gefolgt von der Seitenzahl nachgewiesen.
2
Wir verweisen auf den von Thomas Hobbes geprägten Begriff der Selbsterhaltung (conservatio sui) und auf seine
Wiederaufnahme im Kontext der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über den Stellenwert des Subjektbegriffs.
Vgl. Thomas Hobbes Leviathan. Edited with an introduction by C.B. Macpherson. Penguin Books 1985. Vgl auch Hans
Ebeling Das Subjekt in der Moderne. In: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Hg. und
eingeleitet von Hans Ebeling. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1996 (1976)1.
3
Urs Bugmann Ironie der Wahrnehmung. In: In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”. Zum Werk von Birgit Vanderbeke.
Hrsg. von Richard Wagner. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 2001, S. 119.
4
Vanderbeke, Birgit: Alberta empfängt einen Liebhaber. Alexander Fest Verlag, Berlin 1997.
Anca R`dulescu
die Laudatio hielt. Richard Wagner zeichnet übrigens auch als Herausgeber eines umfassenden
5
Buches „Zum Werk von Birgit Vanderbeke“ .
Die Erzählung Das Muschelessen kann ihre literarischen Vorzüge auch im Abstand von mehr
als einem Jahrzehnt seit ihrer Erstveröffentlichung unter Beweis stellen, etwa gegenüber Fried6
liche Zeiten , einem von inhaltlichem Standpunkt aus komplementären Text Vanderbekes, der
noch einmal mit dem problematischen Verhältnis von Eltern und Kindern und familiären Zwängen abrechnet. Eine kontinuierliche Dimension des Schaffens von Birgit Vanderbeke betrifft die
unmittelbare Erfahrung als Nährboden für das künstlerische Schreiben, den Eindruck der Nähe
zum Autobiographischen. Manche Stationen ihres Lebens lassen sich tatsächlich in den aufeinanderfolgenden Erzählungen wiedererkennen, etwa der Umzug aus der DDR in die Bundesrepublik (Das Muschelessen, Friedliche Zeiten) der Aufenthalt in Frankfurt (Friedliche Zeiten),
7
die Übersiedlung aus Berlin in den Süden Frankreichs (Ich sehe was, was du nicht siehst ,
Alberta empfängt einen Liebhaber). Die Schriftstellerin ist 1956 in Dahme, im Osten
Deutschlands geboren, ihre Familie zog 1961 in die Bundesrepublik. Sie studierte in Frankfurt
Recht und Romanistik, hielt sich in Berlin als freie Schriftstellerin auf und zog 1993 nach St.
Quentin La Poterie in Südfrankreich.
Indem sujetmäßig eine autoritäre Vaterfigur mit der Hinterfragung von Macht-und Gewaltstrukturen in der eingeschränkten Sphäre der Familie gekoppelt wird, ruft die Erzählung eine
ansehnliche historisch-kanonische Konstellation von Texten ab, die Bachmanns Erzählung Ein
Wildermuth, ihren Roman Malina einbeziehen und bis zu Kafkas Brief an den Vater oder seine
Erzählungen Das Urteil, Die Verwandlung und gar Fontanes Effi Briest (wird in der Erzählung
zitiert), Storms Hans und Heinz Kirch, ja sogar Kleists Marquise von O. zurückreichen kann. Die8
ser Konstellation lassen sich zahlreiche Beispiele aus der jüngsten Literatur zur Seite stellen.
Die Pointe des Sujets ist dabei, daß – umgekehrt als bei Kafka und ähnlich dem zynisch9
absurden Märchen des rumänischen Schriftstellers Ion Creang` Soacra cu trei nurori die zu
5
“Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”. Zum Werk von Birgit Vanderbeke. Hrsg. von Richard Wagner. Fischer Taschenbuch
Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
6
Vanderbeke, Birgit: Friedliche Zeiten. Rotbuch Verlag, Berlin 1996. Steht in Das Muschelessen der Vater als Monstrum
im Mittelpunkt, so rückt hier das problematische Verhalten der am Rande des psychischen Zusammenbruchs stehenden Mutter in den Vordergund. Der Text kennzeichnet sich durch eine umfangreichere, aber vordergründigere soziologische Analyse und stellt zweifellos im künstlerischen Werden der Autorin eine unabdingbare Gestaltungsphase dar.
Entstammt die narrative Dynamik in Das Muschelessen den Differenzen im Bereich der Kommunikation, so sind in
Friedliche Zeiten Differenzen zum bizarr-pathologischen Verhalten und zum politsch-sozialen Außenseitertum gesetzt.
7
Vanderbeke, Birgit: Ich sehe was, was du nicht siehst. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999.
8
Auffallend ist zum Beispiel die Häufigkeit des Themas der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in dem Band „Die
Besten“, in dem die prämierten Texte des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs zwischen 1976 und 2001 umfaßt sind:
Vgl. Darin Ulrich Plenzdorf Kein runter kein fern, Jürg Amann Rondo, Alissa Walser Geschenkt, Michael Lentz Neben
dem Tod. In: Die Besten. Die Preisträger aus 25 Jahren. Ingeborg Bachmann-Wettbewerb. Hg. Und mit einem Vorwort
von Iso Camartin. Piper, München, 2001.
9
Der Vergleich mag auf den ersten Blick befremden, doch er gewinnt an Legitimität, wenn dem Umstand Rechnung
geragen wird, daß die zugegebene Bewunderung der Autorin für Astrid Lindgren eine spezifische Perspektive auf ihr
Erstlingswerk eröffnet. Vgl. Ulrike Frenkel Einfach leben. In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”, a.a.O., S. 138) Skurrilität und Grausamkeit können auf den Hintergrund der gattungsmäßigen Unwirklichkeit des Märchens projiziert
werden, ebenso wie auf die angebliche Naivität in der Rezeptionshaltung. Bei Creang`` lehnen sich drei Schwiegertöchter gegen ihre sie mißbrauchende Schwiegermutter auf. Unter dem Anstoß der Jüngsten nehmen sie allmählich
ihre faktische körperliche, geistige und durch Solidarität gegebene Überlegenheit wahr und inszenieren den durch
Qualen herbeigeführten Tod der Schwiegermutter so, daß ihr jeweiliges Familienleben mit den Söhnen der alten Frau
endlich in ein vernünftiges Muster zurechtgerückt wird. Das Märchen erzählt die Greueltat im komischen Register und
setzt auf Belehrung durch Abschreckung, indem es zeigt, wie die Mißverhältnisse einer “verkehrten Welt” gekippt
werden können. Vgl. Ion Creang`: Soacra cu trei nurori. In: Ion Creang`: Povestiri. Pove[ti. Amintiri. Junimea, Ia[i 1983.
358
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Erzählen als conservatio sui. Eine poetologische Lektüre. Birgit Vanderbekes Das Muschelessen
Unrecht Unterdrückten – hier Tochter, Bruder und Mutter - gegen den Unterdrücker rebellieren,
bzw. über den Vater ein Urteil sprechen, das eine Nuance des Pointierten, aber Unwirklichen
bewahrt, obwohl es durch die Vorgeschichte reichlich begründet ist.
Textkontinuum und Erzählebenen
Als auffälligstes Merkmal der Erzählung muß wohl die Schaffung eines Textkontinuums von
mehr als hundert Seiten gelten, mit dem der Leser durchgehend in Atem gehalten wird, wobei
die syntaktischen und semantischen Zusammenhänge überraschend klar und übersichtlich bleiben. Die seitenlangen Satzperioden werden nur wenige Male (fünf mal) durch graphisch hervorgehobene Absätze unterteilt, demgegenüber scheinen die Punkte, oft auch dort wo sie ste10
hen, eine Relativierung ihrer satzabgrenzenden Funktion erfahren zu haben.
Es lassen sich drei Zeit- bzw. Handlungsebenen unterscheiden: Der kompositorische Kern
grenzt einen besonderen Moment im Leben einer Familie ein; er könnte thematisch mit „Warten auf den Vater“ umschrieben werden; es geht da um den Zeitraum von sechs Uhr bis zehn
Uhr an einem Abend, an dem drei Familienmitglieder, nämlich Tochter, Bruder und Mutter auf
die Rückkehr des Vaters von einer Dienstreise warten. Da letztere mit einer bevorstehenden
beruflichen Beförderung des Familienoberhaupts verbunden ist, hat die Mutterr zum feierlichen
Anlaß ein aufwendiges Muschelgericht zubereitet. Der Vater verspätet sich aber und verursacht
damit eine Störung im Regelwerk des Familienlebens; das quasi-untätige, doch irritierende
Warten muß sich in die Länge ziehen, bis es nach dem Verfließen von vier Stunden unwiderruflich von den Betroffenen aufgegeben wird, weil es vielfach seinen Grund und Gegenstand eingebüßt hat: Dem faktischen Ausbleiben des Vaters überlagert sich zum Schluß dessen endgültige Verstoßung durch die anderen drei Familienmitglieder, während das exquisite Gericht
auf den Müll landet. Der Abend mit dem „Muschelessen“ entspricht so einer Zäsur in der gemeinsamen Geschichte der Familienmitglieder; er teilt ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher
ein, was bereits von den Eingangssätzen verlautbart wird:
Daß es an diesem Abend zum Essen Muscheln geben sollte, war weder ein Zeichen noch ein Zufall,
ein wenig ungewöhnlich war es, aber es ist natürlich kein Zeichen gewesen, wie wir hinterher
manchmal gesagt haben, es ist ein ungutes Omen gewesen, haben wir hinterher manchmal gesagt,
aber das ist es sicherlich nicht gewesen, und auch kein Zufall. (ME 5)
Es wird ein klar gegliedertes Zeitgerüst umrissen, welchem die gesamte Geschichte differenziert zugeordnet werden kann. Zu einem zusätzlichen, einprägsam delimitierenden Strukturprinzip avanciert ein inhaltlicher Aspekt, nämlich der gespannte Blick auf die Uhr, den die
Tochter und die anderen Familienmitglieder mechanisch immer wieder vollziehen. Er markiert
mit Kursbuchpräzision Zeitabstände auf der aktuellen Geschehensebene und schafft Einschnitte
in den weitschweifenden Emotionen und Assoziationen der Anwesenden.
Ich jedenfalls kann mich genau erinnern, wann bei mir die unruhige Erwartungsstimmung umgeschlagen ist, ich habe nämlich in dem Moment auf die Uhr geschaut, und es ist drei nach sechs
gewesen. Um drei nach sechs ist meine Stimmung ins Ungute, ja, geradezu Unheimliche gekippt. Die
10
Auf die Besonderheit der Satzkonstruktionen speziell in Das Muschelessen und allgemeiner im Werk von Vanderbeke
gehen die Kommentatoren immer wieder ein, doch meistens in essayistischen Formulierungen, die den Effekt wiederzugeben versuchen, ohne sich auf tiefere Analysen zu stützen. Ulrike Frenkel hebt hervor, „wie wenig gekünstelt ihre
[Vanderbekes] Sätze sind: wie sie sich drehen, schrauben und wieder strecken, zu einem Punkt hin, der meistens eine
Pointe ist“ (U. Frenkel, Einfach leben, a.a.O., S. 137). Hans Ludwig Arnold zieht das Fazit: „Mit ihrem ersten Buch Das
Muschelessen hat sich Vanderbeke eine Sprache erarbeitet, deren verschlungene und bohrende Sätze für die
folgenden Bücher charakteristisch ist“. Vgl. H. L. Arnold, Birgit Vanderbekes Erzählen. In: “Ich hatte ein bißchen Kraft
drüber?, a.a.O., S. 81. „Wie nach einem Dammbruch wälzt der Redefluß sich vorwärts, Abschnitte gibt es kaum. Sätze
von zwei drei Seiten Länge sind beinahe die Regel. Ein Satz pro Ungeheuerlichkeit“ – heißt es bei Erika Wittwer. Vgl. E.
Wittwer:: Schwarzer Humor. In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”, a.a.O., S. 204.
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Muscheln haben gerade unter der Küchenuhr gestanden, und als ich das Geräusch gehört hatte, ha11
be ich erst zu den Muscheln hin und dann sofort zur Küchenuhr hoch geschaut. (ME 10)
In den fokussierten Erzählkern wird eine umfassende, zeitlich fluktuierende Ebene der privaten Familientradition eingeflochten, die mittels Assoziationen, Erinnerungen, Anspielungen
individuelle und/oder gemeinsame Erfahrungen der Familienmitglieder kundgibt: sie erfaßt
Momente seit der Bekanntschaft und Hochzeit der Eltern, ihrer Flucht aus dem Osten, den frühesten tradierten Erfahrungen der Kinder bis zum ominösen Abend, der nicht lange nach einem
Zeitpunkt situiert ist, an dem die Tochter volljährig geworden ist. Eine dritte Zeitebene steht
vorrangig unter dem Gebot der Aussparung und der bloßen Andeutung – ihre chronologische
Situierung ist mit „hinterher“ (Vgl. ME 5), „nachträglich“ (ME 5) markiert, sie erweist sich aber
von besonderer Bedeutung dadurch, daß sie den präsentischen Charakter der Moment für Moment fokussierten Ebene des Wartens wieder aufhebt und der Vergangenheit überantwortet:
[...] weil das, was auf dieses ausgefallene Muschelessen dann folgte, tatsächlich von solcher Ungeheurlichkeit gewesen ist, daß sich keiner von uns mehr davon erholt hat. (ME 5)
Folgerichtig werden Vergangenheitsformen für den Bericht über die Ereignisse verwendet,
während die hervorgehobene Zeitspanne bald in der Art der erlebten Rede mit “an diesem
Abend” (Vgl. ME 5), “an diesem Tag” (ME 7) gefolgt von Perfekt oder Imperfekt, bald distanzierend “an jenem Abend” (Vgl. ME 34) signalisiert wird. Es ist eine Ebene der Vergewisserung über
das Geschehene durch kommentierende Versprachlichungsansätze und Beurteilung, ihr auffälligstes Charakteristikum ist die Einflechtung von Verben des Denkens, Sagens, Meinens, die
dazu führen, daß das Vorgefallene und Geäußerte immer wieder in indirekter Rede umrahmt
wird, wobei gleichzeitig die reziproke Ablösung der jeweils Handelnden/Sprechenden hervorgehoben werden kann. Die Beteiligten entwickeln Schuldgefühle und versuchen sich zu
rechtferigen:
Hinterher haben wir uns gefragt, ob wir da schon wußten, was los war, aber natürlich konnten wir
es nicht wissen, wir haben die ganze Zeit mit gedämpfter Stimme gesprochen, weil wir noch
immmer denken mußten, jeden Moment kann die Tür aufgehen, und er steht da und hat uns erwischt, wie wir über ihn reden, und das ist nun wirklich ungehörig. (ME 23)
Der gesamte Text der Geschichte gerät in die Nähe pragmatischer Gattungen wie das Protokoll, die Rekonstruktion eines Tathergangs, oder ein Rechenschaftsbericht, den die Tochter als
Ich-Erzählerin für alle Beteiligten, aber in eigener Verantwortung aufzeichnet. Der Vorgang der
Textproduktion wird zwar nicht näher als Schreib- oder Redetätigkeit erläutert und ist auch
nicht auf Ausschließlichkeit der individuellen Urheberschaft ausgerichtet, ein Aspekt der in der
12
Sekundärliteratur weniger berücksichtigt wurde. Die Rede der Ich-Erzählerin überschneidet
sich ständig mit der Rede der Mutter und des Bruders, aber auch frühere Äußerungen der verschiedenen Familienmitglieder, einschließlich des Vaters, in wechselnden Situationen werden
wörtlich zitiert, so daß sich eine ständig verändernde Konstellation von einzelnen und/oder
gemeinsam handelnden/sprechenden Subjekten formiert. Wir können nicht mit jenen Darstellungen einverstanden sein, die im Monologisieren die Ausprägung des spezifischen Erzähl11
Vgl. Auch ME 16, ME 17, ME 20, ME 22, ME 40, ME 106.
Kommentatoren haben im Ansatz die poetologische Dimension im raffinierten Spiel mit unterschiedlichen Fiktionsebenen und die Interferenz der Erzählerinnenfigur mit der Figur der Alberta erst und besonders für die 1997 erschienene Erzählung Alberta empfängt einen Liebhaber hervorgehoben. Richard Wagner nimmt eine Sonderstellung
dadurch ein, daß er die Einbindung einer poetologischen Ebene als kontinuierlicher Dimension literarisch-narrativen
Texte von Vanderbeke hervorhebt: „Das Schreiben war von Afang an auch eines der Themen von Birgit Vanderbeke. Ihr
Erzähldiskurs ist nicht einfach Literarisierung des Realen, sondern stets auch die Verhandlung der Mittel. (... ) die
Konstruktion (ist) bei Birgit Vanderbeke selbstverständlicher Teil der Erzählung. Vgl.: R. Wagner Laudatio auf Birgit
Vanderbeke. In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”, a.a.O., S. 308.
12
360
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Erzählen als conservatio sui. Eine poetologische Lektüre. Birgit Vanderbekes Das Muschelessen
13
stils von Vanderbeke sehen . Sie vernachlässigen die intimere Struktur der Perioden, die gerade
durch die Einflechtung von zitierten Reden der anderen Familienmitglieder entstehen. Es
kommt eine äußerst komplexe Struktur zustande, in der gerade die Interferenz, Multiplizität
und die damit verbundene Unselbständigkeit der personalen Subjekte in der privaten Familiensphäre hervorsticht. Die Erzählung zeigt sich schließlich als paradoxales Ergebnis und „mise en
abyme“ reflektorischer und artikulatorischer Prozesse, so wie sie von der vierstündigen tätigen
Untätigkeit des Wartens ausgelöst worden sind. Wir wollen die Besonderheit des syntaktischen
Kontinuums erst auf dem Hintergrund des poetisch-semantischen Beziehungssystems, so wie
es von der zentralen Figur des „Muschelessens“ hervorgebracht wird, erörtern.
Funktionen des „Muschelessens“
Den zeitgebundenen narrativen Strukturprinzipien überlagert sich die beträchtliche metaphorische Ausstrahlungskraft des bereits durch den Titel hervorgehobenen Muschelessensmotivs. Rolf Michaelis hatte in seiner Rezension der Erzählung die Nähe, ja Übereinstimmung
mit der Handhabung einer kulinarischen Besonderheit bei Thomas Bernhard hervorgehoben:
“Was bei Thomas Bernhard im 1986 in Salzburg uraufgeführten Sprechstück Ritter, Dene, Voss
die ‚Brandteigkarpfen’, sind bei Birgit Vanderbeke die Muscheln: Leib- und Magenspeise, mit
der Insassen des Familien-Gefängnisses ihre Mithäftlinge foltern. Bei Bernhard spuckt Ludwig
14
die ihm aufgenötigte Leckerei wieder aus. Bei Vanderbeke landen die Muscheln im Müll.“
Diese isolierte, betont negativ wertende Kritik übersieht die Spezifik und Komplexität des
Muscheln-Bildes im Text von Vanderbeke. Die Motivik des Muschelessens läßt sich intratextuell
und intertextuell mit einer Fülle von weiteren literarisch relevanten Elementen verknüpfen.
Wohl nicht zufällig stehen die kochbereiten Muscheln unter der Küchenuhr, die nicht nur
die Tageszeit, sondern auch die geschichtliche Zeit angeben kann; aus dem literarischen Epochen- und Autorengedächtnis könnte damit nicht nur Thomas Bernhard, sondern auch Wolfgang Borchert erinnert werden: Bei Vanderbeke wird die Zeit des Wirtschaftswunders signalisiert, zu der auch ein gewisser kulinarischer Snobismus gehört; die Uhr ist nicht mehr auf einen
ominösen Augenblick. erstarrt, sie ist nicht mehr, wie bei Borchert, Reliquie des durch eine
Bombennacht vernichteten Elternhauses und erinnert nicht mehr an intakt-exemplarische Familiensolidarität, etwa an die aufopferungsvolle Liebe der Mutter, die spät in der Nacht für
ihren schwer arbeitenden Sohn die karge Mahlzeit eigenhändig bereitstellt, sondern tickt ihre
Minuten weiter über einem Familienalltag, in dem die Eßgewohnheiten nicht mehr nur mit der
Befriedigung primärer Bedürfnisse einhergehen, sondern auch die Erfüllung von Vorgaben der
für den gesellschaftlichen Aufstieg wichtigen Statussymbole anvisieren; in der Sphäre des Privaten, im kleinbürgerlich/mittelständischen Milieu der “friedlichen Zeiten” neueren Datums
manifestiert sich der Familienkrieg mit seinen Kräften der Unterdrückung und Gewaltausübung
auf diskrete Weise. In der Spannung des Wartens bilden die optische Wahrnehmung des obstinaten Fortschreitens der Uhrzeit und das Hören des abstoßenden Klapperns der Muscheln
wichtige, obsessiv vernehmliche non-verbale Signale vor dem schrillen Klingeln des Telefons
zum Schluß.
Als Sexual-Symbol weist das Muschelnzubereitungsmotiv eine aussagenkräftige Nuancierung auf: Es ist zum ersten Mal, daß die alternde Mutter allein die umständliche Putzarbeit
übernimmt und damit um die Gunst ihres jüngeren, sich ihr immer mehr entziehenden Mannes
13
Vgl. H.L. Arnold: Birgit Vanderbekes Erzählen,, a.a.O., S. 81, 83 oder Jürgen Grambow: „Das Muschelessen ist in
geradezu atemloserweise monologisch.“ Vgl. Ders. Die Farben der Impressionisten und andere ungehörige Fragen.
Geschichtliches in den geschichten Birgit Vanderbekes. In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”, a.a.O., S. 112.
14
Michaelis, Rolf: Altneudeutsche Wörtersuppe.. In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”, a.a.O., S. 207.
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wirbt, was wohl als Tiefststand und bevorstehenden Umschlag ihrer ehelichen Unterwerfung zu
deuten ist – es ist wohl der letzte Moment in einer Beziehung, die mit einer mésalliance begonnen hat - “die Hochzeit von meinen Eltern ist ein fürchterlicher Skandal gewesen und ein
fürchterlicher dörflicher Skandal, aber mein Vater hat keine Abtreibung gewollt, das stand nicht
15
zur Debatte, weil er Verantwortungsgefühle hat und Moral”( ME 30) ; zeitweilig hat sie ihre
erotische Dimension entdeckt - nach dem als verspätete Hochzeitsreise empfundenen Besuch
beim Onkel; diese muß folgerichtig für die Kinder ein nur euphemistisch zum Ausdruck kommendes Tabu bleiben. Die Mutter tritt in dieser Perspektive als Komplizin des Vaters auf – nicht
unähnlich der Figur Melanie in dem Kapitel „Der dritte Mann“ aus Ingeborg Bachmanns „Mali16
na“-Roman – durch ihre Bereitwilligkeit, Tochter und Sohn beim Vater zu verpetzen und sie
dadurch der Gewalttätigkeit des Mannes preiszugeben.
Daß zum Zubereiten von mehreren Kilogramm Muscheln nur der große schwarze emailierte
Topf dienen kann, der als einzige größere Familienhabe auf der Flucht aus dem Osten in den
Westen gerettet worden ist, bringt ein weiteres bedeutungsträchtiges Element aus der privaten,
mit der Nuance der Authentizität, aber auch des Lächerlich-Komischen versehenen Erfahrung
ins Spiel: „es ist derselbe Topf gewesen, hat meine Mutter erzählt, den sie bei ihrer Flucht aus
dem Osten mit hatten , weil er zum Windelwaschen, was sie ja mit der Hand machen mußte,
vielmehr mit einem Kochlöffel, unentbehrlich war. Ich habe gesagt, ist das nicht unpraktisch,
einen so riesengroßen Topf auf die Flucht mitzunehmen, ich habe es mir geradezu lächerlich
vorgestellt, wie sie geflüchtet sind über Stacheldraht und einen so großen Topf mit sich herumgetragen haben sollen“ (ME 11) Es ist ein Gefäß, um das herum sich die akzentuiert apolitische
Familiengeschichte akkumuliert und das auch ins künstlerische Spiel mit literarischen Reminiszenzen hinüberführen kann, wobei eine ästhetische Haltung des Komischen und Ironischen
aktualisiert wird: Der solide, dennoch bescheiden-schäbige Topf verweist auf die unbeirrbare
Kontinuität kleinbürgerlicher, ja spießiger Verhältnisse durch die Geschichte der letzten zwei
hundert Jahre; man kann ihm nämlich selbst Kleists „Zerbrochenen Krug“ oder auch Hoffmanns
17
„Goldenen Topf“ an die Seite stellen.
Im Verweiszusammenhang der Erzählung stellt, unserer Meinung nach, das Verhältnis von
Reflexen und Reflexion als Dimensionen menschlichen Verhaltens und Erkennens eine wesentliche semantische Dimension dar. Das kritische Nachdenken der nunmehr erwachsenen Tochter
wird ausdrücklich von der reflexartigen Bewegung der Muscheln ausgelöst: „Die Muscheln haben ja gerade unter der Küchenuhr gestanden, und als ich das Geräusch gehört hatte, habe ich
15
Aus dem weiteren Kontext geht hervor, daß der aus äußerst äußerst ärmlichen, von Asozialität geprägten Verhältnissen stammende Vater die Erbin einer wohlhabenden, angesehenen Familie schwängert und angeblich aus moralischer Verpflichtung heiratet; der Zusammenhang läßt auf egoistische Motive des Arrivierens, die fortan als Familienzusammenhalt versprachlicht werden, schließen und begründet auch die Lieblosigkeit gegenüber der erstgeborenen
Tochter.
16
In dem Kapitel “Der dritte Mann”, dem “Traumkapitel” des Romans repräsentiert Melanie die Dimension der bereitwilligen Konkubine oder Komplizin des Vaters, die an den Mißhandlungen der Tochter mitbeteiligt ist. Vgl. Ingeborg
Bachmann Malina. In: Ingeborg Bachmann, Werke, Bd. 3, München, Piper, 1993.
17
Vgl. Heinrich von Kleist: Der zerbrochene Krug .In: Heinrich von Kleist Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1, Aufbau-Verlag 1955. Es sei daran erinnert, daß Frau Marthe den besonderen Wert des Kruges für die Geschichte der
Familie über mehrere Generationen und historische Erschütterungen hinweg hervorhebt. E. T. A. Hoffmann erläuterte
seinem Verleger die Anlage des geplanten Kunstmärchens, indem er auch auf den Zusammenhang zwischen dem
Motiv des Topfes als prosaisches Utensil im bürgerlichen Alltag und seiner kritisch-satirischen Absicht hinweist: „ [...]
keck ins gewöhnliche alltägliche Leben tretend und seine Gestalten ergreifend soll das Ganze werden. [...] aber der
Jüngling, der im Festtagrock seine Buttersemmel im Schatten des Busches verzehren wollte [...] wird in unendliche
wahnsinnige Liebe verstrickt für eine der Grünen; er wird aufgeboten – getraut – bekommt zur Mitgift einen goldenen
Nachttopf mit Juwelen besetzt [...]“. Zitiert nach Romantik. Volk u. Wissen Verlag, Berlin 1967, S. 456.
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Erzählen als conservatio sui. Eine poetologische Lektüre. Birgit Vanderbekes Das Muschelessen
erst zu den Muscheln hin und dann sofort zur Küchenuhr hochgeschaut. Das Geräusch ist von
den Muscheln gekommen [...]“ (ME 11) und, „es waren eindeutig sonderbare Geräusche, von
denen mir unheimlich wurde [...] außerdem haben sich sofort die Haare an meinen Armen aufgestellt, das machen sie immer, wenn mir gruselig ist, und man sieht das leider sofort, weil ich
schwarze Haare auf den Armen habe, deswegen hat meine Mutter auch gleich gesehen, daß
irgend etwas mir unheimlich war“ (ME 12f) In einem weiteren Erzählsegment wird die Debatte
über den Stellenwert von “Nachdenken”, “Gruselgedanken und Phantasien als reine Gedankenverschwendung”, „Gedanken” als “die schönste Verschwendung” (Vgl. ME 16) mit der Beobachtung des primitiven Nervensystems der Muscheln assoziiert: “Ich bin der Sache auf den
Grund gegangen und habe festgestellt, daß sich die Muscheln schließen, wenn man mit einem
Messer dazwischengeht, das löst irgend einen Reflex aus” (ME 16) Es gibt eine Analogie zwischen der Situation der Tochter, des Bruders und der Mutter in der selbstverständlichen, gewohnheitsmäßigen unreflektierten Hinnahme der Vaterherrschaft und dem Schicksal der primitiven Kreaturen, die auf dem Speiseplan stehen. Ähnlich wie die Weichtiere noch ein krampfhaftes Lebenszeichen von sich geben, beginnt sich die Verweigerung des Gehorsams in dem
jungen Mädchen zunächst als unwillkürliche körperliche Reaktion zu manifestieren. Der Zeitabstand, die Verschiebung zwischen Erfahrungen von der Art der Wahrnehmungen, Symptome,
Emotionen während des Wartens und dem intellektuellen Modus der Deutung, Zuordnung und
Wertung im Nachhinein markiert zusätzlich das Verhältnis zwischen den Geschehensebenen
und der Gesprächs- und Reflexionsebene auf der die Hervorbringung des Textes andeutungsweise stattfindet, was rückkopplungsartig auf die Funktion literarischen Erzählens für Vanderbeke hinweist. Wie bereits von Kommentatoren wiederholt hervorgehoben wurde, kann auch
eine Anspielung auf politisch-historische Erfahrungen abgelesen werden:
Ich bin ganz sicher gewesen, daß man sich vor so jemand ekelt, einfach weil man das weiß [daß er
in einer Stunde stirbt], und wenn man ihn eigenhändig ermorden würde wie wir jetzt die Muscheln,
dann noch viel mehr. Über diesen Gedanken bin ich in eine ausgesprochene Todesstimmung geraten, die beiden anderen haben getan, als hörten sie mir nicht zu, das ist ja Massenmord, habe ich
gesagt, alle auf einmal, zur gleichen Zeit, durch kochendes Wasser. (ME 15)
In einem weiteren, abstrakteren Sinn scheint die Frage nach der Analogie zwischen einem
anthropozentristischen Weltbild und elitistisch-narzissistischen Einstellungen in Gesellschaft,
Moral ud Politik umrissen zu werden. Eine der gefährlichen Idiosynkrasien des Vaters hat nämlich mit seiner Unfähigkeit zu tun, die biologisch/physiologi-schen Bedingtheiten seiner Kleinkinder zu akzeptieren, etwa das Zufällige in der ererbten Familienähnlichkeit: Die Tochter, die
ihm mit ihrem dunklen Haarwuchs eigentlich ähnelt, stuft er als „Affe“ (ME 70, 72), „Affenbalg“
ein:
Mein Vater ist nämlich ein gutaussehender Mann gewesen, sogar ein bestaussehender, und es hat
ihn beleidigt, daß ausgerechnet ihm das passieren mußte, einen kleinen schwärzlichen Affen zu
zeugen; mein Vater hat einen kräftigen Haarwuchs und muß sich zweimal am Tag rasieren, wenn er
die schwarzen Schatten am Kinn loswerden will, und besonders stolz ist er auf seine schwarzen
Haare gewesen […] man muß sich ja schämen für so einen Affenbalg, soll mein Vater gesagt haben
und untröstlich gewesen sein, daß einem so schönen Menschen ein derartig häßliches Kind widerfahren muß, und tatsächlich ist das Uncharmante an mir, wie er häufig gesagt hat, von Tag zu Tag
immer deutlicher hervorgetreten. (ME 70)
Die Analyse von Gewaltausübung nimmt nicht primär moralische Kriterien wahr, sondern
projiziert die Problematik auf eine offen bleibende anthropologisch-biologische Fragestellung,
bzw., Begründungsmöglichkeit des menschlichen Verhaltens.
Komposition und Umgangssprache
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Die Beziehbarkeit des Textkontinuums auf den ununterbrochenen Darbietungsmodus einer
musikalischen Komposition liegt nahe und wurde in Rezensionen und wissenschaftlichen Beiträgen häufig erwähnt. Im Text selbst gibt es explizite Verweise auf Musik, sowie auf Komponisten: Die Ich-Erzählerin gelangt dazu, die auf Harmonie angelegte Musik, die klassischen Publikumslieblinge in den Abonnementskonzerten, in denen „das Moderne geschmackvoll kurz“
(ME 93) auf dem Programm stand, aber auch die vom Vater sonntags ritualartig verabreichten
Verdi-Opern beinahe zu verabscheuen; vermittels des bildungsstreuenden Massenmediums
Radio befreundet sie sich mit der Musik jüngerer Komponistengenerationen und beginnt die
neuartige Verflechtung von Musik, logischem Denken und Mathematik zu würdigen, im Unterschied zu der musisch veranlagten Mutter, für die bereits die Musik von Gustav Mahler nicht
mehr reizvoll ist:
Ich habe das Moderne nicht auf diesen Konzerten kennengelernt, also nicht kurz, sondern heimlich
im Radio gehört, und aus dem Radio heraus den Eindruck gewonnen, daß die Musik der Mathematik
nicht fremd, sondern tief verwandt ist, sie gehören engstens zusammen, habe ich meiner Mutter gesagt, aber meine Mutter ist nicht für Zwölfton gewesen, das klingt so gar nicht harmonisch, hat sie
gesagt [...] (ME 93)
Die im Gespräch mit der Mutter durchscheinende Option für die formal präzise Konstruktion im Bereich des Künstlerischen hat ihre Entsprechung in der literarischen Textstruktur, die
auf eigentümliche Art „musikalische“ Eigenheiten für sich in Anspruch nimmt, kompositorische
Prinzipien der Wiederholung und Variation, die Vanderbeke den Ruf eingebracht haben, in die
18
Schule der Geläufigkeit zu Thomas Bernhard gegangen zu sein. Auf den Erzähler Thomas
Bernhard als Vorbild beruft sich explizite der zeitgenössische Schweizer Autor Jürg Laederach
mit Ausführungen, die auch auf den Text von Vanderbeke als „Sprachpartitur“ bezogen werden
könnten:
Ich arbeite sehr stark mit Wiederholungen, mit Emphase, erzeugt durch Wiederholung, durch dieses
Wiederkäuen nicht ganz desselben, mit leichten Varianten. Da ist Thomas Bernhard ganz eindeutig
vorausgegangen. [...] Emphase bedeutet, daß beim Erzählvorgang ein gewisser Pleonasmus stattfindet. Das Ereignis, das zum Aufbau der Erzählung wichtig ist, auch die Einzelheiten, die verschiedene Ereignisse zusammen, deren Schilderung eine Erzählung ergeben, werden doppelt verwendet, dreifach, vierfach. Ich sage es böse: Man stellt sich den Leser als etwas tauben und etwas
langsam begreifenden Menschen vor, dem man alles drei-bis viermal mit höchster Intensität in das
unbeteiligte gefühllose Gesicht schleudern will, dadurch erreicht die Prosa diesen Intensitätsgrad.
Also geschieht eine Übermitteilung, es ist eine Überofferte an den Leser. Der Gegensatz dazu ist
natürlich das lakonische Pathos, das Pathos des Auslassens, das Pathos des Zwischenraumes, das
z.B. Ilse Aichinger pflegt, Günter Eich in sarkastischerer Form natürlich auch gepflegt hat. Hier wird
nie etwas zweimal gesagt, und man kann sagen, jedes Wort, das niedergeschrieben wird, jeder Satz,
hat seine klare Funktion. Das ist eine funktionale Schreibweise. Dagegen die emphatische Schreibweise von Thomas Bernhard, die hat zwar ein sehr gut durchgearbeitetes, auch abstrakt einsehbares
18
Auf eine stilistische Nähe zwischen Vanderbeke und Thomas Bernhard hat zum ersten Mal – so Richard Wagner im
Vorwort zu dem Band “Ich hatte ein bischen Kraft drüber”- Sigrid Löffler im ORF hingewiesen:’Der typische BernhardSound wird zwar äußerlich kopiert, aber ohne dessen finstere Komik, ohne dessen ausgekostete Ambivalenzen’. Zitiert
nach Richard Wagner, in: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”, a.a.O., S. 10. H. L. Arnold hebt die Spezifik der Schreibweise Vanderbekes hervor: “ihr hypotaktischer Stil, der so atemlos ist, daß er kaum Absätze zuläßt, wurde als Vanderbekes spezifische Erzählweise erkennbar”. Hein Ludwig Arnold Birgit Vanderbekes Erzählen. In: “Ich hatte ein bißchen
Kraft drüber”, a.a.O., S. 81. Jürgen Grambow hebt das Spiel mit Sätzen und Satzvarianten hervor, das “ein hochkonzenriertes Amalgam” zustandekommen läßt. In bezug auf erzählerische Orientierungen meint er: “In der gnadenlosen
Logik dieser Wortarithmetik wurde die Autorin mit Thomas Bernhard verglichen. Das lag auf der Hand. Produktiv könnte aber auch ein Vergleich mit Martin Walser sein.” In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”, a.a.O., S. 112.
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Erzählen als conservatio sui. Eine poetologische Lektüre. Birgit Vanderbekes Das Muschelessen
funktionales Gerüst, wuchert aber auf diesem Gerüst munter drauf los. Natürlich, sobald man
19
Emphase sagt, muß man Thomas Bernhard sagen. [...]
Die angeführten Aussagen mögen auf sehr allgemeiner Ebene Aufschluß geben über einen
bei mehreren Autoren aufzufindenden Sprachduktus, in dem die tautologische Wiederaufnahme von Wörtern oder Syntagmen neuartige sprachliche Strukturen des „Kreisens“ und
„Kreiselns“ oder des „Spiralförmigen“ suggeriert, doch sie sollten präziser auf ihre Funktionen in
einzelnen konkreten Texten der jeweiligen Autoren untersucht werden. Bei Birgit Vanderbeke
begegnet uns eine Periode, in der sich Eigenheiten umgangssprachlicher Rede – Ellipsen in der
direkten Rede der Figuren, die Relativierung der Abgrenzung von syntaktisch selbständigen
Satzgefügen, die Wiederaufnahme von Syntagmen und die lockere Umformulierung von einfachen Sätzen, der Nachtrag, die Verwendung von verkappten Nebensätzen vor und nach
Verben des Sagens – mit Erscheinungen raffinierter Künstlichkeit kombinieren, wie etwa das
Verfahren der gesteuerten Variation der locker umgangssprachlich geformten Syntagmen, die
Durchsetzung der vorherrschenden reihenden Satzverbindung, der Parataxe mit ausholenden,
verdeutlichenden, bereichernden hypotaktischen Segmenten, die Verwendung des
anspruchsvollen Konjunktivs der Irrealität, u.a..
In der Erzählung Das Muschelessen hat das Sprachkontinuum seinerseits spezifische Funktionen. Die Wiederaufnahme und Wiederholung – hauptsächlich von einfacheren Aussageeinheiten – schafft nur annähernd Symmetrien und wird allmählich verändert und durch neue
Elemente bereichert. Nicht zufällig findet sich eine längere hyperbolisierend-ironische Reflexion über die verheerenden Folgen einer „Verschiebung“, die sich wohl auch als Leseanleitung
anbietet:
Ich weiß nicht, wie alles gekommen wäre, wenn wir um sechs hätten essen können, ganz normal. Es
ist überhaupt erstaunlich, was die Leute machen, wenn etwas nicht normal verläuft, eine kleine
Verschiebung weg vom Normalen, und plötzlich ist alles anders, aber auch gleich alles [...] Mord
und Totschlag geht los, und sie würden sich gerne, am liebsten lebendig, die Köpfe abreißen. (ME 33)
Verschiebung ist bei Vanderbeke mit einer unaufhaltsamen Dynamik verbunden, die
schließlich – anders als bei Thomas Bernhard - aus der Enge des Familienkreises/-quartetts
herausführt. Das Fortschreiten des Erzählprozesses läßt eine „Spirale“ entstehen, die in manchen Punkten analoge oder symmetrisch entgegengesetzte Situationen und Bedeutungen hervorbringt. In dem Maße, in dem die Tochter sich dabei beobachtet, daß sie den Muscheln Gewalt antut, werden allmählich auch Gedanken über die Gewalt des Vaters verfertigt. Der fortschreitenden Vergegenwärtigung und Versprachlichung von Übergriffen des Vaters entsprechen
jeweils neue Schritte der Aberkennung seiner Macht. Besonders deutlich ist dies an der Gestaltung der Vater-Mutter-Beziehung erkennbar. Die Stellung der Mutter als Elternteil ist prinzipiell symmetrisch zu jener des Vaters, aber das Oppositionsverhältnis ist dabei abgeschwächt.
Zu Hause nimmt sie, im Unterschied zur Schule, wo sie eine strenge, kompetente Lehrerin ist,
keine eigene Autorität wahr, sondern vermittelt nur jene des Mannes. Erst als sie sich zu dem
bis dahin verdrängten Gewaltprinzip bekennt, indem sie auf das literarische Vorbild „Effi Briest“
verzichtet und sich mit „Medeea“ identifiziert, wird eine Art Gleichstand der Bosheit erreicht
und überboten, als dessen Folge das Schicksal des Vaters endgültig der Belanglosigkeit überantwortet wird:
Und ihr sind zum Glück wieder diese ekligen Muscheln ins Auge gefallen, sie hat noch ein wenig
gegrübelt und dann gesagt, aber andererseits [...] und es ist dann herausgekommen, daß meine
Mutter schon immer ganz im geheimen Medea verehrt und bewundert hat (ME 104); wir haben es
19
Zitiert nach: Betten, Anne: Sprachrealismus im deutschen Drama der siebziger Jahre. Carl Winter Verlag Universitätsverlag, Heidelberg1985, S. 378f.
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meiner Mutter aber nicht übel genommen, daß sie uns alle vergiften wollte, sondern haben uns nur
gefreut, daß das Versöhnliche worunter wir sehr gelitten hatten, endlich einmal verschwunden war,
aber für meine Mutter ist es doch sehr schlimm gewesen, weil ihre ganze Harmonie und das Gute
im Menschen natürlich zusammenbrach; es ist etwas anderes, ob man Medea im stillen verehrt und
bewundert, während man Effi Briest zitiert, oder ob man es auch noch laut sagt, und jetzt hatte sie
es gesagt. Für meine Mutter ist an dem Abend alles zusammengebrochen[...] (ME105)
Über ihren Individualfall hinaus wird das Verhaltensmuster der Mutter einer weitausholenden Konstellation literarischer Soziologie eingegliedert, die die jüngere Geschichte der
Frauenemanzipation hinterfragt.
Geschichtliche Zeit. Die Herrschaft des Vaters
Der Vater könnte als ein etwas launischer Kleinherrscher, unverbesserlicher Pedant oder
verwöhnter „Prinz auf der Erbse“ erscheinen; seine Übertreibungen und Bizarrerien sind aber
dem Weltmodell der restlichen Familienmitglieder als Selbstverständlichkeiten und Regeln aufgeprägt. Ein Hauptverfahren seiner Machtausübung besteht gerade darin, daß er den Diskurs
der Herrschaft und/oder Gewalt ausspart. Folgendes Beispiel auf den ersten Seiten des Buches
ist symptomatisch für die – das Absurde streifende - Differenz zwischen faktischer Realität und
Perspektivierung des Realitätsmodells durch den Vater, so wie sie bereits das asymmetrische
Verhältnis zwischen den Erwachsenen, zwischen Vater und Mutter festlegt:
Ich mache mir nicht viel daraus [aus Muscheln], hat meine Mutter gesagt, während sie über die Badewanne gebeugt stand und abwechselnd ein kleines Küchenmesser und die rote Wurzelbürste in
der Hand hatte, beide Hände sind knallrot gewesen, weil sie sie beim Muschelputzen unters fließende kalte Wasser gehalten hat, und dann hat sie gründlich kratzen, schrubben, bürsten und mehrfach
spülen müssen, weil mein Vater nichts mehr gehaßt hat, als wenn er beim Essen auf Sande in den
Muscheln gebissen hat, daß es ihm zwischen den Zähnen geknirscht hat, das hat ihn förmlich gequält. (ME 6)
Die Mutter ist es, die nicht nur ausnahmsweise die Mühe für die Zubereitung des exquisiten
Essens auf sich nimmt, sondern einen wesentlichen, wenn nicht den wesentlichen Anteil bei der
wirtschaftlichen Erhaltung ihrer Familie unter den Erfordernissen der Wohlstandsgesellschaft
übernimmt. Sie führt alle mühevolle Arbeit im Haushalt tatsächlich durch, die große Qual hat
aber angeblich der Vater, wenn ihm auch nur das geringste Detail, hier ein Sandkörnchen, in
die Quere kommt. Er regiert teils kraft einer unartikulierten „Macht der Gewohnheit“, teils vermittels eines erklärten Diskurses der naturwissenschaftlichen und logischen Objektivität. „Verständigung“ ist zu einer starren Floskel abgenutzt, die sich jedwelcher tiefgreifenderen Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern entgegensetzt:
Habe ich mich deutlich ausgedrückt, hat mein Vater auch häufig gesagt, oder er hat gesagt, habe
ich mich noch nicht deutlich genug ausgedrückt, worauf sich der jeweils Angesprochene immer beeilt hat zu sagen, o doch, sehr deutlich, mein Vater hat auch gesagt, haben wir uns verstanden, und
jeder hat sich beeilt zu sagen, ja, haben wir, dadurch hat es in unserer Familie eigentlich keine Mißverständnisse und keine Verbote gegeben, mein Vater hat niemals etwas direkt verboten. (ME 102)
Die väterlichen Vorstellungen und Verhaltensmuster bestimmen die meisten Lebensbereiche
der gesamten Familie. Die obligaten Fahrten ins Freie, bei denen die Freizeit im Auto vertan
wird, das Verbringen des Urlaubs in fernen südlichen Ländern, wo sich auf Geheiß des Vaters
Frau und Kinder der versengenden Sonne auszusetzen haben, belegen den Umstand, daß sich
die Präsenz des Vaters nicht nur über die Wünsche, sondern sogar über die Biologie der anderen
20
durchsetzen will. Solche Momente würden noch nicht den Rahmen der Normalität im um20
Beide Kinder dürfen auf Geheiß des Vaters nur extrem kurzgeschoren auftreten, damit ihnen nicht etwa „ärmliche
Verhältnisse“ angesehen werden und damit die Weiblichkeit der Tochter nicht der Wunschvorstellung des Vaters über
einen ihm ähnlichen Sohn in die Quere kommt. Vgl. ME 91.
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Erzählen als conservatio sui. Eine poetologische Lektüre. Birgit Vanderbekes Das Muschelessen
fassenderen Sinne sprengen, doch andere Episoden werden deutlicher. Dem jungen Vater sind
bereits gefährliche Gewaltausbrüche nicht fremd gewesen:
Meine Eltern haben mein Kinderbett in das entfernteste Zimmer gestellt und die Türen geschlossen,
aber trotzdem hat keiner ein Auge zumachen können, mein Gebrüll muß so infernalisch gewesen
sein, hat meine Mutter erzählt, daß mein Vater gesagt hat, das ist ja kein Affe, das ist ja der Teufel
leibhaftig [...] er ist so aufgebracht über sein teuflisches Kind, diesen Satansbraten gewesen, daß er
mich einmal genommen und gegen die Wand geworfen hat; mein Vater hat dazu später gesagt, und
dann war es erstmal still; und ich habe gefragt, und dann, aber meine Eltern haben sich nicht mehr
erinnern können, was dann gewesen ist, ich habe sogar gehinkt wie der Teufel leibhaftig und immer
ein Bein nachgezogen. (ME 72f.)
Für den Leser wird es deutlich, daß die Ebene der Harmlosigkeit immer wieder weit zurückbleibt, wenn etwa berichtet wird, wie nun Bruder und Tochter über Andeutungen die schon
immer verschwiegenen Mißhandlungen zu artikulieren beginnen: sie kennzeichnen den Vater
klar genug als einen Sadisten, für den Quälen mit Genuß und Methode einhergeht:
Bei seinen logischen Schlußfolgerungen hat er immer Kognac getrunken, das haben wir an dem
Abend zufällig herausgefunden, weil mein Bruder, als er die Gläser geholt hatte, gesagt hat, der
Wohnzimmerschrank ist mir ganz verhaßt, immer holt er sich erst einen Kognac aus der Bar im
Wohnzimmerschrank, bevor es losgeht [...] Mein Bruder hat nicht wissen können, daß er es bei mir
auch so gemacht hat, und ich habe nicht wissen können, daß er es bei ihm auch so gemacht hat,
weil die Wohnzimmertür vorher zugeschlossen wurde und er den Schlüssel in die Hosentasche gesteckt hat, und meine Mutter konnte es also überhaupt nicht wissen, sie hat ja die ganze Zeit auf
dem Flur gestanden. (ME 42 )
Innerhalb der Wohnung gibt es eine herkömmliche Delimitierung des Raumes: während den
Kindern und der Mutter als gemeinsamer Aufenthaltsort die Küche vorbehalten ist, herrscht der
Vater hauptsächlich von der Zwingburg des Wohnzimmers aus, in welchem das von allen Familienmitgliedern gefürchtete schwere Möbelstück im ausschließlichen Geschmack des Vaters „neudeutsches Altdeutsch“ - (ME 43) steht:
Ich konnte den Wohnzimmerschrank schon überhaupt nicht ausstehen, weil ich ein paarmal mit
dem Kopf dagegen geflogen war, was ich an dem Abend auch gesagt habe, besonders die Griffe sind
förmlich lebensgefährlich, habe ich gesagt, die Schubladengriffe sind nämlich Eiche, gedrechselt,
gewesen und haben gefährlich weit vorgestanden, und meine Mutter hat sich beim Putzen öfter das
Knie daran angestoßen, und die Schlüssel an den Türen sind auch nicht besser gewesen, Messing,
ich habe gesagt, daß die Griffe und Schlüssel an diesem altneuhochdeutschen Wohnzimmerschrank
förmlich lebensgefährlich sind, ob nun gedrechselt oder aus Messing, daß aber die Griffe und
Schlüssel noch gar nichts sind, habe ich gleich hinzugefügt, gegen die Butzenscheiben, weil man die
ganze Zeit nur Sorge hat, nicht durch die Butzenscheiben hindurch zu fliegen, und das hätte man
sich nicht ausmalen können, was dann geschehen wäre, wenn einer die Butzenscheiben durchflogen
und also kaputtgemacht hätte. (ME 43)
Die Schilderung des Wohnzimmers entspricht noch immer der gewohnheitsmäßigen Perspektive der Kinder; sie ist von einer Naivität geprägt, deren konstruierte Künstlichkeit die Wirkung des Textes nur noch erhöht: solange Bruder und Tochter die Weltsicht des Vaters unreflektiert praktizieren, pflegen sie eine absurde Vorstellung, in der sich die Betroffenen
ängsten, daß die Instrumente in der Torturkammer beim Foltern Schaden nehmen könnten. Die
Szene erinnert an die berühmte Episode, in der bei Grimmelshausen das Kind, das später den
Namen Simplicius erhalten wird, zum ersten Mal mit den Gewalttätigkeiten und
Torturmethoden der Soldaten konfrontiert wird. In diesem rekurrenten Erzählverfahren können
unserer Meinung nach auch Elemente einer Rhetorik der „verkehrten Welt“ entdeckt werden,
die ihren bedeutenden Anteil bei der Erzeugung von Komik versehen.
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Auch in seiner Abwesenheit übt der Vater Angst und Autorität auf Mutter und Kinder aus,
denn sie sind bemüht, nicht zu sehr von seiner Fiktion einer „richtigen Familie“ abzuweichen
und sich Verfehlungen zu Schulde kommen zu lassen, die das Familienoberhaupt später in Verhören aus seinen Untertanen, die einander zu verpetzen haben, herausdrücken würde. Die Situation gilt nun auch spiegelverkehrt, was auch die Struktur des Textkontinuums bestimmt:
Indem sich Tochter, Bruder und Mutter zur – gemeinsamen - Rede über den Vater aufraffen,
beginnen sie bereits den Usurpator vermittels der Abwehrwaffe gegenseitiger Verständigung zu
stürzen, auch wenn diese sich vorerst auf elliptische Andeutungen beschränkt: In der folgenden
zitierten Passage heben wir die Ausdrücke, die sich auf Verständigung beziehen und ihre relevanten Kontexte, sowie die wiedergegebene direkte Rede der Figuren im Rahmen der fokussierten Erzählebene des Wartens hervor:
Hinterher haben wir uns gefragt, ob wir da schon wußten, was los war, aber natürlich konnten wir
es nicht wissen, wir haben mit gedämpfter Stimme gesprochen, weil wir noch immer denken
mußten, jeden Moment kann die Tür aufgehen, und er steht da und hat uns erwischt, wie wir über
ihn reden, und das ist nun wirklich ungehörig; statt uns auf ihn zu freuen und auf ihn zuzuspringen, sitzen wir da wie ertappt, weil wir über ihn reden, und das hat keiner gewollt, und
außerdem hat es sich keiner getraut, weil er da ausgesprochen empfindlich und ungemütlich sein
konnte, hinter dem Rücken tuscheln konnte er auf den Tod nicht leiden, aber nachdem ich gesagt
hatte, und wenn schon, und wenn ihm nun was passiert ist, wirklich aus purer Bosheit, weil meine
Mutter sich schon auf ihn umgestellt hatte, aber sie nicht entsetzt getan, sondern gesagt hatte, wir
werden sehen, danach, weil es so geklungen hatte, als würde sie es auch nicht so schlimm finden,
haben wir uns überlegt, was wir machen würden, wenn er jetzt einfach nicht käme, und es hat sich
bald herausgestellt, daß mein Bruder und ich es besser fänden, wenn er nicht käme, am besten
überhaupt nicht mehr käme, weil es uns keinen Spaß mehr machte, eine richtige Familie, wie er es
nannte, zu sein, in Wirklichkeit, haben wir gefunden, waren wir keine richtige Familie, alles in dieser
Familie drehte sich nur darum, daß wir so tun mußten, als ob wir eine richtige Familie wären, wie
mein Vater sich eine Familie vorgestellt hat, weil er keine gehabt hat und also nicht wußte, was
eine richtige Familie ist, wovon er jedoch die genauesten Vorstellungen entwickelt hatte, und die
setzten wir um, während er im Büro saß, dabei wären wir gern verwildert, statt eine richtige Familie
zu sein. (ME 23 f)
Der Zusammenprall der Perspektiven des Vaters und der Tochter in Hinsicht auf die Pflege
von familiären Bindungen erhält in der Schilderung des Verhältnisses zwischen dem Vater und
seiner in der DDR verbliebenen Mutter Aspekte einer in Groteske gekleideten Anklage. Das Defizit der unehelichen und materiell äußerst bescheidenenen Abstammung hat sich in dem arrivierten Erfolgswestler zu einem Überlegenheitskomplex ausgewachsen. Die arme Außenseiterin
des Dorfes wird von ihrem eigenen Sohn gemieden und diskriminiert, während dessen Tochter,
die Ich-Erzählerin der Geschichte, für die abgearbeitete „andere Großmutter“ Sympathie und
Respekt entwickelt. Beim Besuch im Herkunftsdorf akzeptiert der Vater, im Hause seiner eigenen Mutter eine Mahlzeit einzunehmen, nur unter der Bedingung, daß eine Köchin zu dem
Zweck angestellt wird. (Vgl. ME 78 f.) Es gibt offenbar in der Erzählung auch ein soziologisches
21
Interesse für das Phänomen „Familienmahlzeit“, über die Motivik der Muschelessens hinaus.
Nach dem Tod seiner Mutter legt erst der Vater untröstlichen Schmerz an den Tag und besteht
21
Es gibt zahlreiche Anhaltspunkte in diesem Sinne: Die Verpönung der bequemen Hotelmahlzeiten durch den Vater,
die ironische Hervorhebung der Virtuosität der Mutter, einer begabten aber enttäuschten Geigenspielerin, beim Zubereiten von pommes frittes. Marlies Gerhard hebt als Charakteristikum von Vanderbekes Erzählungen die Feinheit der
soziologischen Analysen hervor: “Ohne jeden direkten Zugriff auf Politik ist Birgit Vanderbeke für mich die Soziologin
unter den Autorinnen ihrer Generation. Ihre Erzählungen sind „Beiträge zur Geschichte der Bundesrepublik, Recherchen über eine bereits Historie gewordene Wirklichkeit.” Marlies Gerhard Lila ist eine andere In: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”,, a.a.O., S. 97.
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Erzählen als conservatio sui. Eine poetologische Lektüre. Birgit Vanderbekes Das Muschelessen
darauf, daß sie „das prächtigste Grab im ganzen Dorf [...] das einzige Grab, dessen Inschrift aus
Blattgold ist“(ME 80) bekommt und daß „das ganze Dorf zur Beerdigung eingeladen“ (ME 80)
wird. Dagegen weigert sich die Enkelin, noch wortlos, aber auch kompromißlos, an dieser Maskerade teilzunehmen.
Kleinlichkeit und Größenwahn paaren sich in dem Vater nicht nur hinsichtlich seiner privaten Familiengeschichte, sondern auch der jüngeren geschichtlichen Vergangenheit. Sein Heroentum in Sachen politischer Einstellung erschöpft sich beim Pendeln zwischen Osten und Westen vor dem Mauerbau in der – klischeehaften, doch kennzeichnenden – Geste des trotzigen
Mitnehmens von Bananen beim Passieren der DDR-Grenze. Die Zukunft seiner Kinder sieht er
gesichert, indem er für sie eine teuere, auf Vollständigkeit bedachte, gesamtdeutsche Briefmarkensammlung anlegt. Diese wird konsequent in den Schubladen seines berüchtigten
“altneuhochdeutschen” (ME 43) Wohnzimmerschranks verstaut, in dem sich auch das
vielbändige Zieglersche Geschichtslexikon und eine vollständige Sammlung des „Spiegel“
befinden; den Fragen seiner Kinder nach geschichtlichen Zusammenhängen weiß er höchstens
mit vielem Aufwand starre Sachbuchzitate vorzuführen – ein symptomatisches Verhalten für
die Borniertheit und die Unfähigkeit, politisch-historische Erkenntnisprozesse in Gang zu
setzen, mit Geschichte pädagogisch-erzieherisch umzugehen. Das Kleinstformat der
Briefmarken, auf welches die „friedlichen Zeiten“deutscher Nachkriegsgeschichte unter den
kleinbürgerlichen Verhältnissen der Wohlstandsgesellschaft reduziert und abgeebnet wird,
dürfte als eines der bemerkenswertesten Bilder der Erzählung hervorgehoben werden, in dem
sich Komik und Groteske zur wirkungsvollen Satire verdichten.
Emanzipationsgeschichte
Familienähnlichkeiten stellen die Grundlage für die gegenseitige Perspektivierung von Lagern und Bündnissen unter den Mitgliedern dar. Unter den beiden Kindern ist eher die Tochter
nach dem Vater geschlagen: sie gebärdet sich etwas jungenhaft –spröde (Vgl. ME 24), denn
schon als Kleinkind ist sie als der „Affe” (ME 69 u. a.) diskriminiert worden, während der später
geborene Bruder zum verwöhnten „Schmusekind“ (ME 24) der Mutter gediehen ist; sie hat den
dunklen Haarwuchs des Vaters, aber auch einen Hang für „Logik“ (ME 25) geerbt, was sie für
die Mutter und den Bruder als potentielle Verbündete des Familienchefs erscheinen läßt, der sie
keine Heimlichkeiten anvertrauen können:
Und sie haben sehr gezögert, etwas zu mir zu sagen, sich über den Vater bei mir zu beklagen, weil
sie dachten, ich verpetze sie, damit alle sehen, daß ich Vaters Tochter bin, in Wirklichkeit haben alle
gepetzt, jeder hat jeden verpetzt. (ME 24)
Spätestens durch die Umstände bei der Nötigung der noch kleinen Kinder zur „Mutprobe“
(ME 66) des Kopfsprungs ins Wasser ist zwischen Vater und Tochter die Vertrauensbasis endgültig zugrundegerichtet worden. (Vgl. ME 66 ff)
Die Tochter ist es dennoch, die als erste, von Ungeduld gereizt, Reaktionsweisen und Sätze
des Vaters unwillkürlich zu übernehmen beginnt, bis allmählich auch der Bruder und die Mutter
einstimmen. Ein kontinuierliches Motiv entsteht durch die Wiederaufnahme der Aussagen über
das Umschlagen der Stimmung:
Und so war plötzlich die ganze Stimmung verdorben und toxissch, deswegen habe ich auch plötzlich laut gesagt, wo ich es vorher nur leise gedacht hatte, er ist ein richtiger Stimmungsverderber
[...] und mein Bruder hat gesagt, wir verderben ihm sowieso nur die Stimmung, was auch gestimmt
hat, denn es hat meinem Vater gewaltig die Stimmung verdorben, wenn er am Abend gehört hat,
daß mein Bruder wieder nur eine Vier geschrieben hatte. (ME 35) (Vgl. auch Me 10, Me 20, ME 21,
ME 22, Me 40, Me 42, u.a.)
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Anca R`dulescu
Das Emotionale antizipiert und begleitet die Veränderung der Einstellung im Sinne eines
aufkommenden gemeinsamen Widerstands: „als meine Mutter den Wein aufgemacht hat, sind
wir uns alle drei ungemein aufsässig vorgekommen“ (ME 41). Zu den aktuellen Verrichtungen
kommen die Erinnerungen an frühere Erfahrungen zum Ausdruck und zwar, kennzeichnenderweise durch „Erzählen“ als anpruchsvollere diskursive Alternative gegenüber „Petzen“, die meistens dem Familienoberhaupt vorenthalten bleibt:
Wenn er weggewesen ist, haben wir oft die niedere Arbeit gemacht, weil es schneller ging und wir
uns dabei erzählen konnten; wir haben uns stundenlang Geschichten erzählt, was erfunden war
oder auch nicht oder gemischt dazwischenlag, was bei uns sonst nicht üblich gewesen ist, weil es
wichtige Dinge und unwichtige Dinge gegeben hat, und mein Vater hat alle wichtigen Dinge erzählt, meine Mutter hat die anderen wichtigen Dinge gepetzt, und die unwichtigen Dinge waren zu
unwichtig, um erzählt zu werden [...] auch jetzt haben wir hin und wieder erzählt, als wir zu dritt
um den Tisch herumgehockt haben und er nicht kam; wir haben uns auch gefragt, warum lassen wir
uns das bieten. So wie es mein Vater häufig gefragt hat; in seiner verdorbenen Stimmung hat er
vorwiegend auch gesagt, das lasse ich mir nicht bieten, das ist Tyrannei, lieber keine richtige Familie
als so eine“ (ME 64)
Erzählen und im umfangreicherem Sinne sprachliche Artikulation, kommunikativer Austauch stellen den Nährboden, die Bedingung - und auf einer skizzierten Ebene der „mise en
abyme“, das Ergebnis - der allmählichen Subjektwerdung beim Ausüben des Widerstands dar.
Dabei gilt für den Text von Vanderbeke, daß es zunächst nicht um einen theoretisierten oder
deklarativen Widerstand geht, sondern um primäre defensive Impulse der physisch verstandenen Selbsterhaltung; deren angemessener Ausdruck zeigt sich zum Beispiel auch in der
Gebärdensprache des Körpers, namentlich an den Händen der Mutter und vor allem des
Bruders, der den Umschwung von der zerstörerischen Selbstbezichtigung unter dem
unzureichenden Schutz der Mutter zur Bereitschaft der Abwehr seinerseits endlich vollzieht:
„ich habe dann hinüber zu meinem Bruder geschaut, während das Telefon endlos geklingelt hat,
mein Bruder hat gemerkt, wie ich auf seine Hände geschaut habe, und sofort eine Faust
gemacht, damit ich die blutigen Ränder nicht sehe an allen zehn Fingern“ (ME 108) Im
Verhalten der Betroffenen schreibt sich noch das Nichtabheben des Telefonhörers der Sphäre
unvollständig kontrollierbarer Reaktionen ein. Der im Anspruch naturwissenschaftlich
legitimierten “logischen Schlüsse” des Vaters setzt sich allmählich die andersartige ”Logik” der
Tochter, entgegen. Sie äußert sich vor allem in der vorsichtigen, relativierten Selbstsetzung als
unaufhaltsamem Gedankengang, der sich trotz seiner intersubjektiven Interferenzen, trotz oder
gerade wegen seiner “allmählichen Verfertigung beim Reden” zwischen mehreren Personen in
einer narrativ notwendigen Sukzession äußert.
Wenn sich auch der Erzählvorgang nach der Restriktion durch den authentischen Charakter
von Alltagserfahrungen orientiert, bleibt das Verhältnis zur philosophischen Subjektgeschichte
nicht unberücksichtigt. Die Erzählerinnenfigur vollzieht den Schritt zur Mündigkeit im doppelten Sinne. Nicht zufällig spielt sie auf ihren neu erworbenen gesellschaftlich-rechtlichen Status
einer Volljährigen, einer „Mündigen“ an und hebt dessen Bedeutung für ihre Person besonders
hervor. Ihre bisher trotzigste Auflehnung gegenüber dem Familienmachthaber betrifft die Weigerung, zum pompösen Begräbnis der Zeit ihres Lebens verpönten “anderen Großmutter” zu
fahren, doch der Vater kann sie, im Unterschied zu früher, laut Gesetz nicht mehr “windelweich” (ME 81) schlagen; folgerichtig erfüllt er diese gesetzliche Norm, deren Übertretung öffentliche Sanktionen nach sich ziehen könnte, und das ist, was er in seinem anpasserischen
Impetus schon immer vermieden hat. Den unmittelbaren, umfangreicheren sozialen Hintergrund geben demokratische politisch-gesellschaftliche Verhältnisse der stabilisierten westdeutschen Gesellschaft ab, die für die Jugendlichen auch authentischen Schutz und alternative
Freiheitsräume bietet: Das Mädchen kann sich in der nicht-autoritaristisch strukturierten schu-
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Erzählen als conservatio sui. Eine poetologische Lektüre. Birgit Vanderbekes Das Muschelessen
lischen Institution mit Leichtigkeit bewähren und sich sogar kleine Übergriffe leisten: manchmal schwänzt sie, um Privatstunden zu geben oder ins Kino zu gehen, ohne daß es von den
schulischen Behörden sanktioniert wird und ohne daß ihre Eltern es überhaupt wahrnehmen,
was die übertriebene Kontrolle in ihrem beschränkten Geltungsbereich nur noch lächerlicher
erscheinen läßt. Es wird angedeutet, daß, trotz der Engmaschigkeit des Familienkerkers, das
Mädchen sich kleine Freiheitsräume, sowie den Zugang zur anspruchsvollen Kultur zu verschaffen weiß, und zwar, durch die Lektüre oder durch die modernen Medien des Kinos und des
Radios. In der kleinen Runde der Wartenden ist es sie, die den Anstoß zum Andersdenken und
zur Zerstörung der falschen Familienvorstellung gibt, doch das neue Verhalten ist Produkt der
interferierenden Vergewisserung aller anwesenden Familienmitglieder. Aus dem Kontinuum der
Wiederholungen und der kleinen Verschiebungen ergibt sich zum Schluß eher als Fatalität,
denn als Entscheidungsfindung ein verändertes Verhalten. Der Schritt aus der familiären Verwicklung heraus in ein Anders-Denken und-Handeln ist nicht frei von der Unsicherheit über
22
eine neue schuldhafte Verstrickung . Weil Erzählen als Verständigungs- (Kommunikations-)
Praxis seine progressive Funktion durch verschiedene Bereiche hindurch bewahren kann, schafft
es eine Kontinuität zwischen pragmatischen und fiktiven Kontexten, deren Differenz entschärft
23
werden kann.
Im epischen Diskurs von Vanderbeke realisiert sich ein Subjektentwurf, der Emanzipation im
Sinne eines nicht aufgegebenen Anspruchs der Moderne weiter bejaht und verteidigt. In seinem
Mikrokosmos äußert sich aber weder ein singuläres individuelles Ich, noch ein undifferenziertes,
kompaktes “Wir”, sondern ein modifiziertes und modifizierendes Ich, welches personale Interferenzen und Substitutionen zuläßt. Es bildet nicht mehr das Prinzip des Descartes cogito ergo
sum ab, sondern veranschaulicht eher eine aktualisierte, korrigierte Formel dieses Prinzips, so
24
wie sie Hans Ebeling als cogito resisto formuliert hat.
22
In ihrer Rezension der Erzählung setzt Esther Röhr besonders treffende Akzente. Sie meint, Das Muschelessen sei
„keine Befreiungsgeschichte, kein neuerlicher Hymnus auf den Siegeszug der Töchter.“ Vgl. E. Röhr Sätze kreiseln ins
Nichts, in: “Ich hatte ein bißchen Kraft drüber”,, a.a.O., S. 199.
23
Unsereer Untersuchung vergleichbare Orientierungen sind in den Beiträgen von Urs Bugmann (a.a.O.) und Marlies
Gerhard zu würdigen. Ersterer stellt die Problematik von Erkenntnis in den Mittelpunkt, letztere erwähnt die Bedeutung von Fiktion als Ingrediens der Selbsterhaltung als gemeinsame Dimension weiterer Erzählungen von
Vanderbeke (Fehlende Teile, Alberta empfängt einen Liebhaber).
24
Vgl. Ebeling, Hans: Das Subjekt in der Moderne. In: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der
Moderne. Hg. und eingeleitet von Hans Ebeling. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1996 (1976).
Drei Dimensionen kennzeichnen – so Ebeling - die europäische Denktradition der Prämoderne und Moderne, nämlich
Selbstgewißheit, Selbsterhaltung und Selbstsetzung. Das Subjekt der Moderne hat aber beträchtliche Modifizierungen
erfahren, aber “ohne daß irgendein Gehalt der frühen Neuzeit preisgegeben und irgendein Ziel der Moderne selbst
verkürzt würde.” (H. Ebeling, a.a.O., S. 344) Seit Descartes und Thomas Hobbes über Kant, Hegel, Nietzsche und
Heidegger bis zur heutigen Philosophie ist eher eine Dynamisierung, Radikalisierung und Korrektur dieser Dimensionen
festzustellen: Das Denken hebt die Selbsgewißheit auf (die von Descartes postuliert wurde, indem er zwar die zeitliche
Pulverisierung des Selbsbewußtseins in unendlich viele Augenblicke behauptete, aber diese noch kompensierte durch
den Zugriff auf die unzerstörbare Kontinuität der göttlichen Präsenz) (Vgl. Auch S. 365 f: "Denken ist daher Denken
aus dem Schock der Erfahrung /Hervorhebung des Autors/, daß die Zeit und das Sein uns nicht brauchen”), die Selbsterhaltung als naturhafter wesentlicher Trieb der Todesvermeidung verwandelt sich auf philosophischer Ebene in die
Akzeptanz der unvermedlichen Endlichkeit des Todes; dieser bleibt seinerseits unwiderrufbarer Motor jeglichen philosophischen Denkens, gerade nachdem religiöse Transzendenz nicht mehr kreditiert wird; diese zwei Prinzipien sind
miteinander verklammert in der Selbstsetzung, die sich ihrerseits einschränkend und desillusionierend zum Widerstehen modifiziert. Das cartesianische cogito ergo sum ließe sich heute - so Ebeling - adäquat durch cogito resisto
ersetzen.
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HEINER MÜLLERS HAMLETMASCHINE
Ein dramatisches Endspiel?
Eleonora Pascu
Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn
Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann
Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte
Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar
Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.
(Heiner Müller, Der Horatier)
Der Dramatiker Heiner Müller errichtet eine Kunst-Welt eigenen Rechts, deren dunkle
Macht in gleichem Maße anzieht und abstößt, erschreckt und verführt. Mit den Mitteln der
Sprache und des Theaters versucht er seine eigene „Traumrealität“ in das kollektive Erinnerungsrepertoire zu integrieren, um damit mit seiner „Literatur“ Widerstand zu leisten,
gegen das Verschwinden des Menschen in einer von Wirren und Katastrophen heimgesuchten
Welt.
Das Thema seiner Werke ist stets eine Konstante: die Geschichte. Im Zentrum der Geschichtsbetrachtung steht das Ringen um eine menschlichere Welt. Im Theater sieht der Dramatiker die Möglichkeit die Geschichte durch präzise Bilder und gewagte Visionen transparent
zu machen, um neue Erfahrungen zu vermitteln. Seine Intention ist die Wirkungsweise geschichtlicher Mechanismen auf den Menschen darzustellen, ohne auf individuelle Schicksale zu
insistieren. Der geschichtliche Diskurs von Gewalt, Schrecken, Verrat und Opfer beherrscht die
dramatischen Texte, die grimmige Bilder der Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenbringen und düstere Zukunftsvisionen entwerfen. Dieser pessimistischen Position entspricht die
Ansicht des Dramatikers, daß Theater Wegmarken in den „Blutsumpf der Ideen“ schreibt.
Heiner Müller geht es in seinen Theaterproduktionen vordergründig um die Differenz zwischen Geschichtsprozeß und dem subjektiven Blick, der in seiner fragmentarischen Form die
totalisierende Geschichtsdialektik durchbricht. Mit der ordnenden Geschichtsanschauung zerfällt die Struktur des Dramas, das auf einen zentralen dramatischen Konflikt verzichtet, weil
auch dieser die Möglichkeit eines intellektuell gezielt beeinflußbaren geschichtlichen Fortschritts voraussetzt. Müllers Theater charakterisiert sich zugleich durch die Tendenz zum Lakonismus und zum bewußt Fragmentarischen. Er versucht mit seinen Produktionen eine kritischexperimentelle Dramatik zu initiieren, die einige dramaturgische Innovationen beinhaltet.
Aufschlußreich sind die Worte des Bühnenbildners Hans Schlieker zur Inszenierung des
Theatermaterials MACBETH, das 1982 an der Volksbühne Berlin aufgeführt wurde, in der Regie
von Heiner Müller in Zusammenarbeit mit Ginka Tscholakowa:
Macbeth, - der Traum von einem anderen Theater: die Kamera im Gehirn. Der Kopf sieht Bilder,
Worte sind blind. Jeder sein eigener Tod. Die Lesbarkeit ist die Brauchbarkeit der Sichtweisen. Zwischen den Worten, und da sind Räume, Ewigkeiten zwischen Traum und Tag. [...] Um Bilder festzu-
Heiner Müllers HAMLETMASCHINE – ein dramatisches Endspiel?
halten, gibt es Fotoapparate, die Inszenierung Macbeth fand zwischen Bildern statt: der Schnitt
geht durch die Rolle: dreimal Macbeth, Schichtungen von mehreren Rollen auf den Schauspieler,
das Spiel geht im Text umher. (Schlieker: 1988, 57)
Die mentalen Welten und die Träume verwandeln sich demnach in Theatertext, einem anderen Theater als dem gewohnten, das viele Lesbarkeiten zuläßt und dennoch sich der Interpretation entzieht. Die Reduktion bekannter Stoffe führt zu grundlegenden Mythen zurück, die
in einem komplizierten Rekonstruktionverfahren eine vielschichtige Textur bilden und die ihrerseits in Traumwelten eingebettet erscheinen. Somit drängen sich in den dramatischen Texten
eine Vielzahl von Chiffren, die sich nur teilweise entschlüsseln lassen. Das Spiel mit dem Text
zwischen den Bildern und im Text deutet auf die Eigenheiten der Müllerschen Stücke, die eher
als Bruchstücke zu bezeichnen sind, die seine Visionen thematisieren, aber auch immer wieder
zur Grundkomponente seines Schreibens zurückkehren, nämlich zur Geschichte.
Heiner Müller entwickelt durch seine Theaterstücke das Formenspektrum der Gattung Drama, indem er sie mit den Anforderungen der Zeit in Einklang bringt und auch auf der Suche
nach innovativen Schreibformen ist. Das erklärt auch die konsekvente Ansiedlung der Arbeiten
im historischen Kontinuum. Auf seiner Suche nach neuen theatralischen Ausdrucksformen setzt
er alle möglichen Mittel ein, um das „Unsichtbare“ darzustellen. Diesbezüglich ist der Begriff
„Theater des Möglichen“ legitimiert, der auf das Auffinden einer „Endspiel-Form des Dramas“
hinweist. (Vgl. Buck: 2000)
Die oft apokalyptisch anmutenden Endspiele seiner Dramen intendieren das Publikum zur
Aktivität zu bewegen, es aus der Normalität aufzuschrecken. Er erwartet vom Zuschauer mehr
als die gutwillige Aufgeschlossenheit für etwas Neues, nämlich die Bereitschaft mitzu- arbeiten, einen Anteil beim theatralen Experiment zu haben. Gleichzeitig ist er sich dessen bewußt,
daß eine gewisse Spannung zwischen den Interessen des Publikums einerseits und den Absichten des Autors andererseits ungelöst bleibt. Als Dramatiker verfolgt Müller einen eigenen
Stil, der begeisterte Zustimmung und wütende Ablehnung auslöst. Er gehört zur Gruppe der
unbequemen Schriftsteller, die in keiner literarischen Stilrichtung einzuordnen ist, auch wenn
die Theaterwissenschaftler gewisse Tendenzen erkennen und zugleich einige Zuordnungen
wagen. So ist Heiner Müller für manche Literaturwissenschaftler der talentierteste Nachfolger
Brechts, andere vergleichen ihn mit Beckett und Artaud. Kritische Stimmen gehen sogar soweit,
daß sie behaupten, daß der Dramatiker keine Theatertexte schriebe, sondern nur literarische
Pamphlete und politische Manifeste. (Vgl. Girshausen: 1978) Den schematisierenden
Wertungen widersprechen die Argumente der Theaterxperten, die den innovativen Aspekt und
die ästhetische Methode der Stücke hervorheben. Die theatralische Qualität ist auch in den
tradierten literarischen Vorlagen zu suchen, deren stoffliche und formelle modellhafte Wirkung
feststellbar ist. Nachvollziehbare Modelle, die dem Dramatiker in seiner Schreibpraxis oder in
seiner Regiearbeit dienen, wären kultische, plebejische oder obszöne Grundformen des Theaters,
zu denen neue Formen hinzukommen, wie Happening und Performance. Außerdem ist Kleists
Marionettentheaterkonzept für Heiner Müller sehr wichtig, wie auch das „Theater der Grausamkeit“ von Artaud, die theatralische Revolte Genets, das „Theater der Freiheit“ von Pina
Bausch und nichtzuletzt Robert Wilson Zerlegungstechnik des Theaters in seine kleinsten
Elemente. Eine aufschlußreiche Studie bietet der Theaterwissenschaftler Theo Buck, der auf die
möglichen Vorbilder eingeht, die innovativen Elemente bei Müller hervorhebt, die so manche
neue Interpretationswege eröffnen. So verweist er auf die Rolle der geistigen Auseinandersetzung mit dem antiken Theater, die Impulse von Shakespeare, Majakowski und Brecht wie
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Eleonora Pascu
auch Anregungen, die nur teilweise erkannt wurden. Zu erwähnen wären demnach Friedrich
Nietzsche, Sigmund Freud, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Felix
Guattari und vor allem die filmische Schnitt-Technik Jean-Luc Godards. (Vgl. Buck: 2000, 537)
Heiner Müller formuliert 1977, im Entstehungsjahr der HAMLETMASCHINE, seine klare
Position dem Brechtschen „Lehrtheater“ gegenüber:
Die christliche Endzeit der Maßnahme ist abgelaufen, die Geschichte hat den Prozeß auf die Straße
vertagt, auch die gelernten Chöre singen nicht mehr, der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor, der Molotowcocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis. Was bleibt: einsame
Texte, die auf Geschichte warten. Und das löchrige Gedächtnis, die brüchige Weisheit der Massen,
vom Vergessen gleich bedroht. Auf einem Gelände, in dem die LEHRE so tief vergraben und das außerdem vermint ist, muß man gelegentlich den Kopf in den Sand (Schlamm Stein) stecken, um
weiterzusehen. Die Maulwürfe oder der konstruktive Defaitismus. (VL, 85)
Die Schreibpraxis spiegelt den Verwandlungsproßeß der Positionen – von den anfänglichen
utopischen Erwartungen zu dem „konstrukiven Defaitismus“, eine Folge der desillusionierenden
geschichtlichen Entwicklung. Das Brechtsche Modell des Lehrstücks wird dementsprechend
verabschiedet. Heiner Müller konfrontiert in seinen neuen dramatischen Modellen das Publikum
mit der Frage, ob Gewalt, Terror und Unmenschlichkeit jemals ein Finale erfahren werden. In
diesem Sinne betrachtet er die Subversion der Kunst als eine Notwendigkeit, um die Wirklichkeit „unmöglich“ zu machen. Erst durch Destruktion auf der Spielebene des dramatischen Modells ergibt sich die Möglichkeit eines Neuanfangs bzw. einer anderen Wirklichkeit.
Aber wenn man Stücke schreibt, ist der Hauptimpuls wirklich Destruktion, bis wenn man, aber das
klingt furchtbar metaphysisch, vielleicht auf den Kern stößt, mit dem man dann wieder etwas bauen
kann. (GI 3, 193)
Die dramatischen Werke beinhalten eine ungewöhnliche Mischung von Theorien, Themen
und Blickrichtungen. Es werden verschiedene thematische Komplexe herausgestellt und gewagte ästhetische Konzepte entwickelt. Der Dramatiker verzichtet auf den Dialog, der als vernunftsorientiertes Handlungsmedium seiner ästhetischen Konzeption weniger dient. Dafür bemüht er den Monolog, meist eine Collage, die aus den verschiedensten Sprachschichten zusammengestellt ist. Die angestrebte „Total-Sprache“ prüft die (Nicht)Haltbarkeit des Textmaterials, das sich aus ineinander verflochtene Ausschnitte bzw. collagierte Endspielrituale
zusammenstellt.
Mich aktiviert eine gut formulierte Zeile, wo immer ich sie lese, was immer drinsteht. Diese Form ist
eine menschliche Leistung, und das ist ein Moment von Utopie, und das gibt Kraft. Die Menschen
verlangen von der Kunst immer Trost, verlangen immer, daß Kunst sie hinwegtröstet über Grundtatsachen der Existenz. Und wenn Kunst das nicht leistet, dann lesen sie Konsalik. (GI 1, 181)
Um der Trivialisierung der Kunst zu entgehen, verlegt Müller seine dramatischen Texte auf
zerebrale Wort- und Bildfolgen, die schockierend wirken. Die Bilder dienen am besten seiner
Konzeption, da er den Zuschauer damit überfluten will, um ihm die grausamen Erfahrungen der
Vergangenheit mit größter Intensität vor die Augen zu stellen. Die surrealen Phantasmagorien
steigern sich oft zu anachronistischen Alpträumen, die bewußt als Schreckensvisionen gehandhabt werden. Die Intention wäre demnach die Summe der jahrhundertlangen historischen
Greuel zu ziehen und vielleicht diese zu bannen.
Das Theater und zugleich die Literatur werden bei Müller erneut zu Orte der Erkenntnis und
des Denkens, die persönliche und globale Erfahrungen verbalisieren, die Verzweiflung und
Grauen erlebbar gestalten und die Quellen der Störfaktoren des menschlichen Daseins untersuchen. Im Prozeß der Verwandlung zeigt das Schreiben eine Einheit von Freude und Schmerz.
So vergleicht Heiner Müller sein Theater mit dem Kino und sieht dabei das Besondere seiner
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Heiner Müllers HAMLETMASCHINE – ein dramatisches Endspiel?
Theaterpraxis gegenüber der Filmkunst, die beispielsweise nur den Tod registriert, in der Reflexion auf die ambivalente Produktivität des Todes:
Wenn das Kino dem Tod bei der Arbeit zusieht, handelt Theater von den Schrecken/Freuden der
Verwandlung in der Einheit von Geburt und Tod. Das macht seine Notwendigkeit aus. (TA, 9)
Der Dramatiker Heiner Müller ist mehr ein „Bearbeiter“ als ein Erfinder, eine Betrachtung,
die von seinem Umgang mit den Texten seiner Vorgänger ausgeht. Im Verlauf der Zeit hat er
immer stärker den Zitatcharakter aller Literatur betont, bis zum Postulat des Verschwindens des
Autors. Die Abschaffung des Autors als Programm der eigenen Kunstproduktion hat Müller zunehmend zum Thema seiner dramatischen Werke gemacht. Bei ihm bedeutet diese Abschaffung
nicht etwa Unverbindlichkeit sondern Verantwortlichkeit.
Wenn man schreibt, übernimmt der Text die Führung. (KS, 290)
Die Autonomie der Kunst manifestiert sich demnach auf der Ebene der Sprache, und im
Falle von Heiner Müller in den dramatischen Texten. In seinem Streben nach einer TotalSprache verschwindet die dramenspezifische Handlung, indem die szenische Überprüfung des
Textmaterials in den Vordergrund rückt. Dabei spielt die Methode der Reduktion eine zentrale
Rolle, da ganze Textkonglomerate in einem langwierigen Prozeß zu dramatischen Kurzformen
zugeschnitten werden. Ineinandermontierte Textabschnitte verweisen in einer äußert rafinierten Architektonik auf die bedrohlichen historischen Prozesse, die während der Menschheitsgeschichte immer unmenschlichere Manifestationformen angenommen haben. In Bezug auf die
Kunst unterstreicht der Dramatiker, daß sie nicht mit Politik gleichzustellen ist, sondern sie
bearbeitet die Traumata, die diese erzeugt hat und die Wunden, die sie den Menschen schlug.
Sie kann die Funktion einer Selbstanalyse der Masse übernehmen, wenn sie sich jene Fragen
vornimmt, die das offizielle Bewußtsein verdrängt, aber nicht bewältigt hat. Das Bewußtsein
wird zur Szene, die sich der Theatralisierung der Wirklichkeit widmet, um den Augenblick der
Wahrheit zu erfassen. Die Projektionen des Bewußtseins appelieren an die Bewußtseinsdramaturgie, die ein Theater der „Freiräume“ schafft, das der Phantasie den Schritt ins Unbekannte
und in das noch nicht Erforschte erlaubt. Zugleich greift sie auf vergangene Erfahrungen, auf
schmerzhafte Erinnerungen zurück, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind.
Literatur ist auf jeden Fall so etwas wie Gedächtnis – und zwar auch Erinnerung an die Zukunft,
also Erinnerung an etwas, das noch nicht existiert oder existiert hat. (GI 2, 148)
Die Bezugnahme auf Mythen und klassische Helden führt zur Problematisierung archaischer
Modelle wie der unaufhörliche Bruderzwist, die Selbstzerfleischung, das Paradox der Geburt
von Neuem durch Tod und Sterben. Wie das Alte das Neue verschlingt, wie der Prozeß des Neuen seine Träger ruiniert, gehört zu den Grundthemen seiner Werke. Der Rückgriff auf mythische
und historische Metaphern entspricht einem „Abflug ins Parabolische“, einer Flucht vor der
bedrückenden DDR-Realität, die Heiner Müller als Bürger diese Staates erlebt hatte. Die umstrittenen „Produktionsstücke“ werden von Stücken verdrängt, die auf antike Stoffe zurückgreifen. Auffalend ist die Umfunktionierung der Antikenstücke und der Geschichtsdramen in
„Spielmodelle“, die sich die Mobilisierung von historischem Bewußtsein gegen die individuellen
und kollektiven Amnesien als Ziel setzen. (GI, 187) Darunter sind die Kurzdramen Philoktet,
Herakles, Ödypus Tyrann, die trilogiehafte Textur Verkommenes Ufer, Medeamaterial, Landschaft mit Argonauten zu erwähnen. Hinzu kommen klassische Stoffe wie Macbeth und
Hamlet, die eine ganz neue Gestalt erhalten. Die Reflexion der deutschen Geschichte wird in
dramatischen Texten wie Germania in Tod und Leben Gundlings Friedrich von Preußen, Lessing,
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Eleonora Pascu
Schlaf, Traum, Schrei thematisiert. Die Theatertexte bringen eine Auseinandersetzung mit der
„terroristischen Geschichte in ihrem Fortwirken“ und verbildlichen eine unerbittliche „Zertrümmerung tradierter Deutschland-Bilder“ (Vgl. Eke: 1996, 729f.).
SOMETHING IS ROTTEN IN THE AGE OF HOPE. ( HM, 89)
Dieses Zitat aus Heiner Müllers HAMLETMASCHINE könnte als Leitmotiv seiner Theaterstücke gelten. In den Mythenbearbeitungen gibt es immer wieder die Spannung zwischen
Mythos und historischem Fortschritt. Es ist eine Vertiefung der Müllerschen Skepsis gegenüber
einer beherrschten Geschichte, wenn er auf mythische Modelle zurückgreift.
Ich habe, wenn ich schreibe, immer nur das Bedürfnis, den Leuten so viel aufzupacken, daß sie nicht
wissen, was sie zuerst tragen sollen, und ich glaube, das ist auch die einzige Möglichkeit ... Man
muß jetzt möglichst viele Punkte gleichzeitig bringen, so daß die Leute in einen Wahlzwang kommen, d.h. sie können vielleicht gar nicht mehr wählen, aber sie müssen schnell entscheiden, was sie
sich zuerst aufpacken. (DG, 121)
Die Mehrdeutigkeit der Texte verbindet sich zunehmend mit einer oft hermetischen Vieldeutigkeit, die den Rezipienten stets in Schwierigkeiten bringt. Der Text ermöglicht eine Vielfalt
von Lesarten, denn er bietet viele „Eingänge“ und „Interpretations-Wege“. Die Textur gibt sich
als Labyrinth, als Rhizom oder als Bau, in dem der Rezipient sich selbst und seine Probleme
wahrnehmen muß. Nur dann arbeitet die „Textmaschine“ für ihn, wenn er aktiv eine von den
verschiedenen möglichen „Lesemaschinen“ anschließt. Zugleich muß er den Anspruch auf das
Verstehen „des Ganzen“ fallen lassen. Der Text versetzt den Rezipient in die Situation nur noch
Teile davon wahrzunehmen. Gerade das unvollständige, fragmenthafte Verstehen ist notwendig, um die Illusion des Bewußtseins zu bekämpfen, über einen Blick aufs Ganze selbst zu
verfügen. Heiner Müller entwickelt eine für den Zuschauer gezielt schockierende Bildsprache,
als dessen Vorbild er Artauds „Theater der Grausamkeit“ erklärt. Seine Figuren leiden nicht nur
unter Zerissenheit des Geschichtsprozesses, sondern sie werden regelrecht vor den Augen des
Publikums zerissen. Das makabre Spektakel der Verstümmelung und Zerstörung wiederspiegelt
die zerstörte Lebensordnung. Seine Stücke sind größten teils hermetische Texte der Sinndestruktion, Alpträume eines Intellektuellen über die Geschichte immer wieder zerstörter Hoffnungen.
DIE HAMLETMASCHINE
Ich will in meinen Adern wohnen,
im Mark meiner Knochen,
im Labyrinth meines Schädels.
(HM, 96 )
Der metadramatische Text der HAMLETMASCHINE (1977) stellt den Bruch mit einer an
Brecht orientierten Dramenpraxis dar. Es ist das extreme Beispiel, in der die traditionelle Form
des realistischen Theaterstücks demontiert wird. Das Drama aktualisiert die Betrachtung des
Theaters als medium eines „kollektiven Erinnerns“, das als „Organon des Utopischen“ zu fassen
ist. (Eke: 734)
Die geplante Uraufführung mit dem Regisseur Volker Geissler für das Schauspiel Köln ist zwei Wochen vor dem angesetzten Termin gescheitert (Vgl. Girshausen: 1978). Die Schwierigkeiten der Inszenierungsarbeiten deuten schon auf den komplexen Text, der sich der Interpretation und implizit
der Inszenierung entzieht. Der Uraufführung durch Jean Jourdheuil vom 30. Januar 1979 im Theatre
Gerard Philippe in Saint-Denis folgen andere Versuche den Text szenisch zu illustrieren. Auch die
Hörspielfassung von Heiner Müller, die vom Süddeutschen Rundfunk am 27.05.1978 ausgestrahlt
wurde, die Inszenierungen in Frankfurt und Hamburg und die bis heute berühmteste Produktion von
Robert Wilson beweisen wie schwierig es ist, das Drama als Theater-Spiel zu verwirklichen.
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Heiner Müllers HAMLETMASCHINE – ein dramatisches Endspiel?
Die Inszenierung des amerikanischen Regisseurs Robert Wilson hatte Premiere am
7.05.1986 in New York und erfuhr 1987 Aufführungen in Europa, in Frankreich, England und
Spanien. Die deutsche Inszenierung wurde am 4.10.1986 im Theater in der Kunsthalle, der Studiobühne des Thalia Theaters in Hamburg zum ersten mal präsentiert. (Vgl. Keim: 1998, 172).
Robert Wilson gelingt es am besten den Text zu „bebildern“ und durch die lupenhafte Aufführung im Stil des japanischen Theaters seine Ausdruckskraft zu illustrieren. Der Text wird
durch Wiederholungen, Übereinanderschieben der Ebenen akustisch inszeniert und so dringt
das Gesagte ins Gehirn der Rezipienten. Die dunklen Bilder Wilsons korrespondieren dem bitterdeutschen Text Müllers, die im plastischen Textvortrag eine faszinierend-erschreckende Dimension erfahren. (Vgl. Rischbieter: 1986, 5f.). Die Hörspielfassung und der besondere Sprachrhythmus der HAMLETMASCHINE muß für die musikalische Bearbeitung des Komponisten
Wolfgang Rihm ausschlaggebend gewesen sein. Die Faszination geht von der Endspielvision
aus, die in der Vertonung schwerwiegend wirkt.
In die Geologie dieses Textes eindringen heißt: in seinem Material den Weg formen, um ihn dort zu
suchen. Am Ende steht nicht Hamlet oder ein Täter oder eine Überführung oder ein 'offener Schluß'
– da ist kein Ende mehr. (Rihm: 1988, 78)
Das Zitat bietet schon eine Lesart des Dramas, das als ein „endloses“ Endspiel gilt. Der dramatische Text wurde zu seiner Entstehungszeit als „eine Selbstreflexion des marxistischen Intellektuellen“ bzw. „Nicht-Drama“ (Schulz: 1980, 149 und 154) betrachtet, Lesarten, die dem
historischen Kontext verpflichtet bleiben. Andere Kritiker betrachten diesen dramatischen Text
als bruchlose Weiterführung des bürgerlichen Avantgardismus, der in der Theatertheorie von
Antonin Artaud verwurzelt ist. Dann gibt es Stimmen, die das Stück als politische Absage an
den Marxismus verstehen, die ihre Energie aus dem Anarchismus bezieht, als Endzeitvision oder
als szenische Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Sinnverlusts im Geschichtsgang. Von
der intertextuellen Schreibtechnik ausgehend kann das Drama als eine produktive „écriture
réplique“ gelesen werden, eine dramatische Replik, die in eine dialogische Beziehung zu dem
„impliziten“ Text tritt. (Vgl. Keim: 49)
Heiner Müllers Theatertheorie ist die dem Ästhetischen verpflichtet und seine Methode besteht darin, der gesellschaftlichen Realität mit Hilfe der ästhetischen Mitteln beizukommen.
DIE HAMLETMASCHINE ist formal wie inhaltlich eines der provokantesten Stücke des
Dramatikers, ein Produkt seiner ästhetischen Methode, die er von Beginn an praktiziert hat. Am
Beispiel des dramatischen Textes läßt sich die gesamte Arbeit des Dramatikers betrachten, als
DDR- und BRD-Autor. Das Leben und Schaffen zwischen den zwei Fronten und Staaten wird in
der Dramenproduktion ebenfalls reflektiert. Gesellschaftsorientierte theoretische Argumente
und ästhetische Kriterien fundieren die Rezeption des Stückes.
Nun funktioniert dieses Stück ganz gut. Weil es ein Stück über eine Staatskrise ist, über den Riß
zwischen zwei Epochen. (GI 3, 70,)
Dem ästhetische Programm von Müller folgend, demnach die Kunst sich durch Neuheit legitimiert und dadurch „parasitär“ ist, gelangt man implizit zur Hinterfragung der ästethischen
Kategorien, mit denen er operiert. Der Dramatiker betrachtet die dramatischen Kategorien als
diskursive Formationen, die für die Bedeutungsproduktion und für die Subjektkonzeption in der
Gesellschaft als exemplarisch gelten. Die intertextuelle Schreibmethode führt zu einer neuen
Betrachtungsweise der Sprachfunktion im dramatischen Kontext und des Theaters selbst. Die
poetische Sprachpraxis verwendet die dramatische Gattung um die Logik der Welt im Sinne
Barthes als „ein Reich der Zeichen“ zu dokumentieren. (Vgl. Keim:1998, 46f.)
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Eleonora Pascu
Der Form nach entspricht DIE HAMLETMASCHINE einem Drama in Kurzformat, das als
Prosagedicht konzipiert wurde. In dem traditionell konstruierten Fünfakte-Drama entsteht ein
faszinierendes Wechselspiel zwischen dialogischen Szenen, Pantomime und monologische
Prosa. Sprachliche Techniken schaffen auf der akustischen Ebene ein Wechselspiel zwischen
rhythmischer Prosa und Verssprache, die auch mittels der Interpunktion unterstützt wird.
Rhythmische Strukturen erscheinen sowohl auf der akustischen als auch auf der visuellen
Ebene, und erinnern an die Experimente der Vertreter der konkreten Poesie, die besondere
rhythmische Effekte erzielten.
Kein Publikum der Welt versteht einen Text von Shakespeare, also begrifflich oder rational. Man
versteht über den Rhythmus. Und es ist z.B. schon ein großer Unterschied, ob eine Szene in Versen
geschrieben ist oder in Prosa. Weil, wenn es Verse sind, dann ist es eine unterschwellige Wirkung.
Das ist wie Werbefernsehen, Versdrama, also unterschwellige Werbung. Und was man versteht, ist
der Rhythmus. Man versteht nicht den Text. ( RA, 49)
Während Shakespeare in seinem Drama mittels des Theaters im Theater seine Wirkungsästhetik reflektiert, aktualisiert Heiner Müller die Forderung nach literarischer Innovation. Der
übercodierte dramatische Text der HAMLETMASCHINE, der sich einer Inszenierung widersetzt,
fordert das Theater als Institution und die Theatermacher neue theatrale Codes zu suchen, um
den dramatischen Text in Theater-Bildern zu übersetzen. Der poetische Entwurf definiert mittels der spielerischen Textkonstitutionen die Funktion von Theater neu. Das Drama bemüht die
Theatermetapher als Erkenntnismedium und produziert seinen eigenen Metadiskurs. Hamlets
Hinweis auf die Gattung Trauerspiel und die vielen theaterspezifischen Begriffe, die im dramatischen Text eingebettet sind, legitimieren die metatheatrale Ebene zu untersuchen. Die Monologstruktur und das Collageprinzip führen zum Verschwinden einer inneren Kommunikation der
Textsequenzen. Durch das monologische Reflektieren der eigenen Situation von Hamlet und
Ophelia wird jedwelche dramatische Illusionsbildung verhindert. Die explizite Thematisierung
der Theatersitution und des Rollenspiels bildet die metadramatische Ebene, die mittels verschiedener Techniken und Verfahren markiert wird.
Müller insistiert in seinem Drama auf metadramatische Aspekte, die im dramatischen Diskurs eingebettet erscheinen. Thematisierung des Dramas als literarischer Text, Inszenierung der
poetischen Sprache als dramatischer Text, Übercodierung bzw. Überflutung des Rezipienten mit
Bedeutungsebenen als Folge des intertextuellen Spiels, Verzicht auf dialogisches RollenSprechen, kommentierende Aussagen, untereinander austauschbare Stimmen sind nur einige
Signale, welche die Metaebene markieren. Den Verlust der Rollen unterstreichen auch die
Schauspieler, die sich bei der Inszenierung der HAMLETMASCHINE mit dem Text auseinandergesetzt haben. Ihre Lesarten orientieren sich nach den graphisch unterschiedlich gedruckten
Textteile, die somit eine mögliche Rekonstruktion der Rolle indizieren. Die Rekonstruktionsarbeit der rollentragenden Textausschnitte und ihre Umsetzung in Theater-Bilder ist von der
jeweiligen Interpretation des Regisseurs abhängig. (Vgl. Kutschera: 1988, 74 f. ) Der
dramatische Text erlaubt kein tradiertes Rollenspiel, denn es ist oft nicht eindeutig wer eigentlich spricht. Dies entspricht der Auffassung des Dramatikers der Literatur als Widerspruch
auffaßt und demnach seine dramatischen Texte unspielbar zu machen versucht.
Ich glaube grundsätzlich, daß Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten. Nur wenn
ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv oder
interessant. (BL, 259)
Das „Produktive“ bezieht sich in diesem Fall auf die Rezeption des fragmentarischen Textes,
dessen Leerstellen aufgefüllt werden sollen. Dies ergibt dann die Pluralität und zugleich die
Offenheit des dramatischen Textes, die der Intention des Dramatikers entsprechen.
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Heiner Müllers HAMLETMASCHINE – ein dramatisches Endspiel?
Man muß jetzt möglichst viele Punkte gleichzeitig bringen, so daß die Leute in einen Wahlzwang kommen. D.h.
sie können vielleicht gar nicht mehr wählen, aber sie müssen schnell entscheiden, was sie sich zuerst aufpacken.
Und es geht nicht mehr einfach so, daß man ihnen eine Information gibt und sagt, jetzt gibt es auch noch das.
Es geht, glaube ich, nur noch mit Überschwemmungen. (SS, 32 f.)
Und gerade in der Überschwemmung mit Bildern und Anspielungen konkretisiert sich die
Unmöglichkeit die Müllerschen Texte zu interpretieren. Zu viele Schlüssel versperren eine eindeutige Lesart, die auch auf der metatheatralen Ebene thematisiert wird. Das monologische
Reflektieren der eigenen Situation von Hamlet erfolgt im Drama von Heiner Müller auf der
metadramatischen Ebene. Auf der theatralen Ebene erfolgt die Thematisierung der Theatersituation und des Rollenspiels. Hamlet und Ophelia treten als Zitate von Figuren auf, deren
Drama schon längst stattgefunden hat und deren Rollen im Shakespeare-Text festgeschrieben
ist. Sie sind mit dem Problem konfrontiert, ob sie den vorgeschriebenen Rollenentwürfen folgen
oder mit der Überlieferung brechen sollen. Ihre Positionen sind diesbezüglich verschieden –
Hamlet zeigt vom Anfang an eine distante Haltung und negiert sich bereits in der im Präteritum erzählten Existenz. Eigene Reflexionen, Träume und Ängste werden thematisiert, die in
verschiedenen essayistischen Texten hervorgehoben werden und zugleich von den dramatischen Figuren der HAMLETMASCHINE geäußert werden. Dabei werden metadramatische Fragen
aufgeworfen, die den Dramatiker stets beschäftigen.
Die Realität kann man nur sehen, wenn man sie in Teile zerlegt, in Segmente. (KM, 63)
Diese neue Optik bringt die Forderung Theater für kleine Gruppen zu „benützen“, um Freiräume für die Phantasie zu produzieren, die im Gegensatz zu dem „Imperialismus“ der Medien
steht, der die Phantasie mit vorfabrizierten Standards angreift und abtötet. Eindeutige Signale,
die sich auf die metatheatrale Ebene innerhalb des dramatischen Textes beziehen, sind explizite
Begriffe, die auf das Medium Theater hinweisen. Beispielsweise der Hamlettdarsteller, der sich
den rollenspielenden Protagonisten zuwendet:
DU KOMMST ZU SPÄT MEIN FREUND FÜR DEINE GAGE
KEIN PLATZ FÜR DICH IN MEINEM TRAUERSPIEL. (HM, 90)
Die Theaterillusion wird gebrochen und der Rezipient wird sich der Thematisierung der
Gattung Drama bewußt. Damit wird auch das Motiv des Spiels im Spiel angedeutet:
Horatio/Polonius. Ich wußte, daß du ein Schauspieler bist. Ich bin es auch, ich spiele Hamlet. (HM, 90 f.)
Das Theaterspiel wird letztendlich generell negiert.
Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die
mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nicht angeht. (HM, 93)
Die Steigerung auf der metatheatralen Ebene findet statt, indem der dramatische Text einen
Höhepunkt signalisiert.
Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verlorengegangen. Die Schauspieler heben ihre Gesichter
an den Nagel in der Garderobe gehängt. In einem Kasten verfault der Souffler. (HM, 95)
Müller entwirft ein offenes Spielmodell, das er mit visionären, bitterbösen, oft grotesken
Text- und Bildlandschaften verbindet. Die Offenheit des Dramas manifestiert sich auch in der
Konzeption, daß eine „Geschichte“ sich auf der Bühne nicht schließen soll. Diese Auffassung
markiert einen radikalen Bruch mit der Konvention. Die skizzenhaften Einzelszenen verbinden
„synthetische Fragmente“, die auch den Rezipienten bzw. Zuschauer in das Spiel der Fragmente
einbeziehen. Ursprünglich ist der Text der HAMLETMASCHINE auf zweihundert Seiten angelegt
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gewesen, doch das Endresultat ist ein Kurzdrama von neun Seiten, das sich in fünf Bildern aufgliedert. Spezifisch ist die Fragmentform, der fraktale Charakter, der bewußt eingesetzt ist.
Das Fragment erscheint als eine Kategorie der ästhetischen Technik von Heiner Müller. Die
Fragmente weisen eine gestörte Beziehung von Kunst und Realität auf. Die fragmentarische
Literatur stellt Beziehungen zum Theater und zum Publikum her, ein Prinzip, das Müller bewußt
funktionieren läßt. Damit ist es ersichtlich, daß Zusammenhänge nicht gänzlich eliminiert werden, sondern diese suchen sich innerhalb des textuellen-dramatischen Spiels. Das Bruchstückhafte bildet das Fundament des dramatischen Textes. Die Müllersche Dramaturgie des Fragments ist teilweise dem rituellen Theater und der amerikanischen Avantgarde verpflichtet; zugleich gibt es Bezüge zu Nietzsche, Artaud und Beckett. Der Fragmentcharakter ist genau kalkuliert, indem die formale Strenge inhaltliche Offenheit gewähren soll. Die Fragmente, die sich
im intertextuellen Spiel wiederfinden, erlauben ein wirksames Aufstellen von Assoziationsketten, eine Art „Überschwemmung“, die ins ästhetische Kalkül hineinpaßt. Der dramatische
Text weist eine Verflechtung von Sprachschichten auf, die in einer genau konstruierten
literarischen Form aufzufinden sind. Fischer-Lichte betrachtet Müllers Drama als ein sich selbst
korrigierender und erweisender „work in progress“ (Fischer-Lichte: 1990, 273).
Die poetische Rekonstruktion eines neuen Sprachraums in der intertextuellen Dekonstruktion von bestimmten Texten wird des weiteren untersucht. Die Verwendung von unterschiedlichen Schriftarten signalisiert die unterschiedlichen Sprechebenen, die in den fünf Bildern erscheinen. Die graphische Markierung signalisiert die rollenhaften Textstellen bzw. differenziert
die eingebetteten Zitate, die im dramatischen Text in eine Art Vernetzungsstruktur treten und
lenkt somit die Leserichtung des Rezipienten.
Der Titel des Dramas, DIE HAMLETMASCHINE, und auch die Überschriften der fünf Bilder
werden mit Majuskeln geschrieben. FAMILIENALBUM (Bild 1), DAS EUROPA DER FRAU (Bild 2),
SCHERZO (Bild 3), PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND (Bild 4) und WILDHARREND/IN
DER FURCHTBAREN RÜSTUNG/JAHRTAUSENDE (Bild 5).
Die Angaben zu Raum, Zeit und non-verbalen Aktionen, die als Nebentext gelten, werden
mittels der Kursivschrift markiert. Zum Beispiel Enormous room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr
(HM, 91)
Die Angaben zu den dramatischen Figuren, die als Sprecher eingeschaltet werden, erscheinen in Majuskeln, beispielsweise OPHELIA oder HAMLET bzw. STIMMEN, eigentlich die
einzigen monologisierenden Figuren.
Die sogenannte dramatische Rede, meist monologische Einsätze, wird in halbfetter Normalschrift gefestigt, die zeitweise mit Majuskeln durchsetzt ist, da der Autor einiges hervorzuheben intendiert. Bsp. „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung
BLABLA , im Rücken die Ruinen von Europa.“ (HM, 89)
Manchmal ist der Kursivtext von Majuskeln in Kursivschrift durchsetzt. Bsp. „ Sprechen
gleichzeitig in seiner Sprache den Text ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE UMZUWERFEN, IN DENEN
DER MENSCH... Hamletdarsteller legt Kostüm und Maske an.“ (HM, 96)
Das typographische Spiel bewirkt einerseits eine Störung des Leseflusses, andererseits führt
es zu einem selektiven Lesen. Die unterschiedlichen Textschichten generieren eigenständige
Bedeutungsebenen, die in szenischen Widerspruch treten. Es entsteht zugleich ein visuelles
Spiel mit den Sprachzeichen, die in der Verschiedenheit der Graphie einen Zusammenhang suchen. In der Polyphonie der Stimmen, die das kollektive Gedächnis vertreten, ist die vielschichtige Textur wiederzufinden.
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Heiner Müllers HAMLETMASCHINE – ein dramatisches Endspiel?
Keim unterscheidet in der typographischen Gestaltung fünf grundlegende Schriftarten, die
das Vorhandensein von fünf Sprechebenen in den fünf Bildern markieren. (Vgl. Keim: 51f.) Dieser Feststellung folgend wird die Untersuchung des weiteren eine besondere Aufmerksamkeit
der graphisch-intertextuellen Schreibweise schenken.
Das Lesen des dramatischen Textes verwandelt sich in eine Suche nach dem richtigen Weg
durch ein Labyrinth von Zeichen. Einzelne Textschichten bilden mit ihrer Graphie den Wegweiser, der zu einem anderen Text weiterführt und immer so weiter. Die Frage stellt sich, ob die
einzelnen Textschichten miteinander in Bedeutungsrelationen eingehen oder als isolierte
Monolithe dastehen. Beim Lesen fällt die Opposition zwischen der dramatischen Rede und dem
als Nebentext fungierenden Kursivtext auf. Die dramatische Rede besteht ihrerseits aus einem
Konglomerat von Zitaten, die verschiedentlich signalisiert werden: wörtliche Zitate, Assoziationen, poetische Stimmungsbilder, Übernahme von Stillagen. Die Vielzahl der Intertextualitätssignale und die Überdeterminiertheit der Textpassagen läßt keine lineare Lesart zu, sondern
bestimmt neue Leseregeln. Die vernetzte Struktur des dramatischen Textes kann einerseits einem Prisma gleichgestellt werden, in dem sich jedes Element in einer Bewegung der Konstruktion und Dekonstruktion im anderen reflektiert und wiederum gebrochen wird. Andererseits
ermöglichen die Spiegelreflexe eine labyrinthisch-rhizomartige Struktur zu erkennen, die unendliche Dimensionen von Wahrnehmungsformen anbietet.
DIE HAMLETMASCHINE erweist sich als eine Übereinanderprojektion einer Vielzahl von Textebenen, die miteinander zu „dialogisieren“ versuchen, wobei sie sich auf den Shakespeare
Hamlet-Text stützen. Müllers Text besteht aus einer Montage von fünf Bildern, die in ihrer Zusammenstzung Polyperspektivität generiert. Bewußt eingebetete Lexeme bilden ein Beziehungsgeflecht mit dem Prätext, der in der umorganisierten Architektur neue Bedeutungsebenen einbezieht. Beispielweise das Lexem „Gespenst“ bezeichnet in dem ersten Bild den ermordeten Vater von Hamlet, so wie es im Shakespeare-Drama festgeschrieben erscheint.
Hier kommt das Gespenst, das mich gemacht hat, das Beil noch im Schädel. (HM, 90 )
Diese Textepassage wird im vierten Bild wiederholt, aber mit leichten Veränderungen, die
neue Assotiationen zulassen.
IM RÜCKEN DAS GESPENST, DAS IHN GEMACHT HAT. (HM, 96)
Wenn man beide Zitate und auch den Nebentext kombiniert, entsteht eine Bedeutungsebene, die an das kommunistische Manifest von Marx erinnert und an den schon so oft
zitierten Satz: „Ein Gespenst geht um Europa.“ Der Auftritt der als Marx, Lenin und Mao verkleideten Frauen unterstützt die Behauptung, daß das „Gespenst“ als Personifikation des
Kommunismus gedeutet werden kann. Die Vielzahl der Textschichten erlaubt keine direkte Entschlüsselung und erzwingt eine andere Art der Lektüre der eingefügten Prätexte, die eine
eigenartige Vernetzung generieren. Ins „textuelle“ Spiel wird ein Geflecht „auktorialer
Bewußtseinselemente“ gebracht, die im collagierten Textgeflecht einen „Innenraum des
Bewußtseins“ bewirken soll. Ineinander „verfugte“ Ausschnitte, collagierte Endspielrituale und
– figurationen erscheinen auf dem Hintergrund eines „unmenschlichen“ historischen Prozeß
projeziiert. Heiner Müller fügt oft Eigenzitate ein, eine Technik die in seinen Dramen ein bevorzugtes textgenerierendes Verfahren darstellt:
WIE EIN BUCKEL SCHLEPP ICH MEIN SCHWERES GEHIRN
ZWEITER CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN FRÜHLING ( DB, 89)
„Hier spricht Elektra“ (HM, ) die Proklamation Ophelias weist Bezüge zum ELEKTRATEXT auf
und zu den anderen Verarbeitungen der mythologischen Stoffe. (Vgl. TA, 119 f.) „ER WAR EIN
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MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN“ und „ICH WAR MACBETH“ (HM, 95) ist ein Hinweis auf
Müllers Klassikerbearbeitungen. „Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern..“ (HM, 91) stammt aus dem Geschichte verarbeitenden Stück LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. (LG, 166)
IM WINTER KAMEN SIE INS DORF
ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN. (ZM, 79)
Diese Zitat aus ZEMENT wiederholt sich in der HAMLETMASCHINE, in einer verfremdeten
Form, wobei der Titel in diesem Kontext eingebaut erscheint und mit anderen Signalen ein neues Textgeflecht eingeht.
Durch die Vorstädte Zement in Blüte geht
Doktor Schiwago weint
Um seine Wölfe. (HM, 93)
In der intertextuellen Dekonstruktion „konstruiert“ Müller einen neuen poetischen Sprachraum. Diese Methode wiederspiegelt sich in der Patchworktechnik, die graphisch visualisiert ist.
Innerhalb der Untersuchung wird die typographische Eigenheit des Textes eingehalten, um der
Intention der Dramatikers gerecht zu bleiben und in der Zitierweise keine Fälschung des
Originals zu unternehmen.
Im ersten Bild verweist der Untertitel des Dramas auf eine literarische Familie, nämlich die
„Hamletfamilie“. Das Hamletmotiv wurde seit Shakespeare von mehreren Autoren bemüht, wie
Britting, Döblin, Neumann und Brecht, um die fixierte Problematik in einer neuen Form zum
Ausdruck zu bringen. Keim bemerkt berechtigterweise, daß auch die Rezeptionsgeschichte des
Hamlet Dramas thematisiert wird, wobei sie in ihrer Studie die repräsentativsten Beispiele
nennt. (Keim: 1998, 59 f.) Freud und Eliot sehen in Shakesperes Hamlet unter anderem auch die
Thematisierung der ödipalen Konstellation. Diese Lesart legitimiert sich schon im ersten Bild,
mit der Aussage von Hamlet:
Ich werde dich wieder zur Jungfrau machen, Mutter, damit der König eine blutige Hochzeit hat. DER
MUTTERSCHOSS IST KEINE EINBAHN.... Jetzt nehme ich dich meine Mutter, in seiner, meines Vaters
unsichtbaren Spur. (HM, 91)
Freiligraths Gedicht Deutschland ist Hamlet wird mit dem Revolutionsgedanken in Verbindung gebracht. Hinzu kommen die Deutungen von Brecht und Jan Kott, die einerseits auf
die Aktualität hinweisen und andererseits darin die Evozierung der Lebensverhältnisse im
Stalinismus wiedererkennen lassen. Im Bild dominiert das Hamlet-Zitat, das durch die Verknüpfung eines literarischen Motivs eine Reihe von Assoziationen erweckt und damit verschiedene geschichtliche Prozesse anspielt. Damit wird die Rezeptionshaltung gelenkt, die sich
auf die generelle Problematik des Hamlet-Mythos richtet und folglich auf das reflektierende Ich
des Intelektuellen.
Heiner Müllers Verwendung des Hamletvorgangs stellt eher dessen Demontage dar. Schon
im ersten Bild wird mit der Konstellation des Hamlet-Dramas der gesamte Shakespeare bemüht. Macbeth und Richard III werden im dramatischen Text explizit markiert und ihre Nennung verweist auf das Motiv der Gewalt. Das „Familienalbum“ deutet auf die Fortpflanzung der
Gewalt hin, der sich Hamlet schließlich entzieht. Er durchschaut den Reigen der Morde und
verweigert den absurden Mordakt.
Das Morgen findet nicht mehr statt. SOLL ICH/ WEILS BRAUCH IST EIN STÜCK EISEN STECKEN IN /
DAS NÄCHSTE FLEISCH DER INS ÜBERNÄCHSTE / MICH DRAN ZU HALTEN WEIL DIE WELT SICH
DREHT. (HM, 90)
Hamlet entzieht sich dem mörderischen Zirkel aus Überdruß, genau so wie sein shakespearischer Vorfahre. Keine utopische Vorstellungen erfüllen seine Gedankenwelt, sondern eine düstere Weltverachtung. Er identifiziert sich mit dem brutalen Thronräuber, in dessen Taten er
seine heimlichen Wünsche wiedererkennt, und projiziert somit seine Abscheu vor sich selbst
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Heiner Müllers HAMLETMASCHINE – ein dramatisches Endspiel?
auf die Histoire, in der er nur eine ewige Wiederkehr des Gleichen sehen vermag. Diese Lesart
wird von Heiner Müller bestätigt, indem er sich über die Mechanismen des Hamlet-Mythos
äußert:
Hamlet ist ein Lustobjekt der Interpreten. Für Eliot die Mona Lisa der Literatur, ein mißlungenes
Stück: die Reste des Rächerdramas, marktgängiges Zeitgenre wie heute der Horrorfilm, ragen sperrig in der Entfaltung. Ein Diskurs, den das Schweigen bricht. Die Dominanz der Monologe ist kein
Zufall: Hamlet hat keinen Partner. Für Carl Schmitt ein bewußt, aus politischen Gründen, verwirrter
und verdunkelter Text, begonnen in der Regierungszeit der Elisabeth, abgeschlossen nach der
Machtübernahme des ersten Stuart, Sohn einer Mutter, die den Mörder ihres Mannes geheiratet
hatte und unter dem Beil starb, eine Hamletfigur. Der Einbruch der Zeit in das Spiel konstituiert den
Mythos. Der Mythos ist ein Aggregat, eine Maschine, an die immer neue und andere Maschinen angeschlossen werden können. Er transportiert die Energie, bis die wachsende Beschleunigung den
Kulturkreis sprengt. (SD, 100)
Dabei ergibt sich die Tendenz den Text in ein unmittelbares Verhältnis zur politischen Realität der Gegenwart zu setzen. Punktuelle Anspielungen und auch die Eigenzitate aus Müllers
früheren Dramen unterstützen diese Lesart. Der Bezug zur DDR-Realität wird etwa im Satz, der
im Drama Der Bau einen konkreten Bezug zur Hamletfigur aufwies. Der Ingenieur Hasselbein
bezeichnet sich selbst als Hamlet als „zweiter Clown im kommunistischen Frühling.“ Der Zusammenhang mit der Realität der sozialistischen Aufbaujahre und dem Konzept der kommunistischen Utopie, die in den frühen Stücken erscheinen, wird diesmal in kritischer Bezugnahme
deutlich: SOMETHING IS ROTTEN IN THE AGE OF HOPE (HM, 89), auch im Zeitalter der (sozialistischen) Hoffnung.
Eine andere Dimension, die schon vom Anfang her deutlich wird, ist daß das Hamletmotiv
auch psychoanalytisch funktioniert. Der Text zeigt den Vorrang der Befreiung verdrängter Triebund Reflektionsgeschichten. So verarbeitet Hamlet seine gestörte Haltung zur Realität als Problem seiner Beziehung zu Vater und Mutter, und auch zu seinen direkten Bezugspersonen,
Ophelia und Horatio. Hamlets Eingangsmonolog beginnt mit seiner sich selbst negierenden
Behauptung „Ich war Hamlet.“ (HM, 89) Erst später wird die explizite Selbstverleugnung eintreten. (Vgl. Bild 4) Das Traumatische der Situation, in der Spiel und Realität ineinander verwoben werden, wird zum Ausgangspunkt des Dramas, in dem die Protagonisten zu ihrem Selbst
nicht mehr zurückfinden, nur noch rollenhafte Existenzen führen und schließlich sich selbst
negieren.
Die narrative Anfangspassage entspricht der distanzierten Erzählhaltung Hamlets, der seine
Geschichte erzählt. Der Rest des Monologs geht über vom punktuellen Kommentar zur Reflexion, die den angedeuteten Vorgang aufsaugt. Die Konstellationen Hamlets werden zu einzelnen
Figuren zerlegt, denen er begegnet: Gespenst, Horatio, Polonius, Ophelia und Gertrud. Im Mittelteil der Sequenz versteht sich Hamlet als Theaterfigur, die ihre Rolle im bekannten Trauerspiel erprobt. Die metatheatrale Ebene erlaubt Abweichungen vom traditionellen Stoff, indem
die der Destruktion überlebende Hamletfigur Mord- und Todesphantasien betreibt, die dem
Artaudschen Theaterkonzept verpflichtet scheinen. Hamlet versucht die Traditionskette der
Gewalt zu durchbrechen, aber am Ende spielt er dennoch „seine“ Rolle – er tötet Polonius und
vollzieht das schon längst festgeschrieben Trauerspiel. Eine aus Zitaten collagierte Textmontage
versucht einen Hamlet-Monolog zu generieren, der Ausschnitte aus den Shakespeare Prätexten
mit anderen englischen Zitaten kombiniert, die ihrerseits ein Müller Selbstzitat umrahmen.
Textstellen aus Richard III, Hamlet wie auch Eliots Ash-Wednesday und Müllers Der Bau werden
bemüht.
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I’M GOOD HAMLET GI’ME A CAUSE FOR GRIEF
AH THE WHOLE GLOBE FOR A REAL SORROW
RICHARD THE THIRD I THE PRINCEKILLING KING
OH MY PEOPLE WHAT HAVE I DONE UNTO THEE
WIE EINEN BUCKEL SCHLEPP ICH MEIN SCHWERES GEHIRN
ZWEITER CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN FRÜHLING
SOMETHING IS ROTTEN IN THIS AGE OF HOPE
LETS DELVE IN EARTH AND BLOW HER AT THE MOON
(HM, 89)
Die Montage fungiert als eine Art Monolog, in dem Hamlet seine Betroffenheit begründet.
Er reflektiert weierhin über das Ende der Geschichte, implizit über das Ende der Menschheit.
Die vieldeutige Hamletfigur, die oft als Schlüsselfigur der Neuzeit betrachtet wird, identifiziert sich teilweise mit dem todessüchtigen Melancholiker der Shakespearekonzeption, aber
auch mit der politischen Tragödie des Individuuums. Die Hamlet-Inszenierungen, in denen die
Titelrolle von berühmten Schauspielrinnen gespielt wurden, u.a. Asta Nielsen oder Sarah Bernhard (Schmidt: 2000, 162) antizipiert die Sehnsucht des Müllerschen Helden, der sich als Ophelia kleidet. Diese Verwandlung kann aus der Perspektive des Benjaminschen Konzepts über die
weibliche Gewalt eine andere Lesart zulassen.
Wenn wirklich die Befehls- und Herrschaftsgewalten weiblich werden, dann wandeln sich die Gewalten, wandelt das Weltalter, wandelt das Weibliche selber sich. Wandelt sich nicht ins vage
Menschliche, sondern es schickt sich an, ein neues, rätselhaftes Antlitz entstehen zu lassen: ein politisches Rätsel, wenn man so will, ein Sphinxgesicht. (Benjamin: 1972, 62)
Die Rezension zu Gladkows Roman Zement, der Müller als Vorlage für seine gleichnamige
Dramatisierung dient, deutet mit dem Hinweis auf das sphinxhafte Gesicht der Geschichte. DIE
HAMLETMASCHINE stellt ein extremes Beispiel der „dramatischen“ Entstofflichung von Geschichte dar. Konkrete historische Vorgänge der Geschichte werden angedeutet, abstrahiert.
Bloß das vierte Bild bringt Spuren faktisch abgelaufener historischer Ereignisse, ohne daß sie
ausgearbeitet werden. Noch eine mögliche Anspielung wäre in der Textpassage zu erkennen,
die sich auf Stalin und die Entstalinisierung bezieht. Doch die Bemerkung „Sein Name ist austauschbar“ (HM, 93) betont die Wiederholbarkeit des Vorgangs, der seine konkrete Hinweiskraft
verliert. Auch die sich anschließende Beschreibung des Aufstandes, den Hamlet als Hintergrund
seines „Dramas“ imaginiert, nimmt die im Text explizit vorgenommene Verallgemeinerung auf.
Der Prozeß der Abstraktion von datierbarer Geschichte findet über mehrere Stufen der Reflexion statt, ein typisches dramaturgisches Prinzip für die Schreibtechnik von Heiner Müller. Die
Abstarktion des Hamlet-Mythos entspricht der einen Vorgangsweise des Dramatikers, dernach
der Weg zum Konkreten vorbereitet wird. Er führt vom Hamlet-Zitat über das Eigenzitat zu
einer realistischen Situation. Die Zitatebenen des dramatischen Textes stellen die Partitur dar,
die im Prozeß der theatralen Umsetzung die literarischen Andeutungen entschlüsseln muß.
Somit werden die im Zitat vage enthaltenen Situationen, Probleme und Reflexionen in TheaterBilder übersetzt. Hinzu kommt ein zweites Verfahren, das Müller oft gebraucht – der Weg vom
Konkreten zum Abstrakten, indem er eine konkrete historische Situation zum Mythos abstrahiert und somit die Geschichte in der Dimension der Unendlichkeit begreift. Das Verhältnis von
Abstraktem, dem Mythos und dem Konkreten, der Geschichte als Stoff führt auf Müllers
Grundhaltung zurück.
Das zweite Bild, EUROPA DER FRAU betitelt, bezeichnet im Untertitel einen geschichlichen
Raum, der über das Hamlettheater hinausgreift. Müller zitiert in dem als Nebentext intendierte
räumliche Regieanweisung den Romantitel The enormous room von E.E.Cummings, der durch
die Problematisierung der KZ-Situation auf die Zwänge des eingesperrten Individuums hinweist.
Die Anspielung auf die Frauenproblematik als Vertreterin der Unterdrückten bzw. als Opfer der
geschichtlichen Herrschaft erfährt im Text eine Erweiterung der Dimension. Die literarischen
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Anspielungen sind diesmal nicht mehr in den wörtlichen Zitaten vorhanden, sondern sie vermitteln sich über Stillagen und thematische Affinitäten. Der Europa-Myhtos wird angesprochen
– Europa, die in der griechischen Mythologie ein Opfer des allmächtigen Zeus wird. Damit wird
ein doppelter Hinweis auf die Opferrolle der Frau verdeutlicht. Auch der Nebentext insitiert auf
diese Lesart, indem die duale Weltordnung angedeutet wird: Opfer-Herrscher. Der Text basiert
auch auf die private Erfahrung Müllers mit dem Selbstmord, nämlich den seiner Frau, den er
bereits in anderen Dramen thematisiert. Die Textinterpretation konkretisiert die Bilder mit literarischen Selbstmordbeispielen, von Emilia Galotti bis zu Maria Magdalena, Verarbeitungen des
Opheliamotivs bei Verlaine und Rimbaud, bei Trakl und Heym. Ophelia, der dieses zweite Bild
gewidmet ist, hat keine Zeit für Bedenklichkeiten. Sie übernimmt die Rolle des geknechteten
Volkes als Opfer der Herrschaftssysteme. Ihr bleibt die Wahl zwischen Selbstzerstörung und
Aufbegehren: "Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat.“ (HM, 91) Die sich als Ophelia
bekennende Frau identifiziert sich mit den anderen Frauenopfern, die in dieser kondensierten
Aufzählung erwähnt werden.
Das SCHERZO, als drittes Bild betrachtbar, ist eher ein Zwischenspiel, das keine Inhalte
entwickelt, im Gegenteil, das Vorhergehende in Form von Groteske parodiert. Dieses Bild erscheint als ein Drehpunkt des Ganzen, der den Zusammenstoß des in den ersten zwei Bildern
entstandenen Chaos auf einen ästhetischen Begriff bringt. Die im dramatischen Text, in den
ersten und letzten Bildern sonst streng getrennten Lebenssphären von Hamlet und Ophelia
berühren sich im zesurhaften SCHERZO und verwandlen die Begegnung in eine Groteske. Die
Zusammenführung der Hauptprotagonisten wird einen Dialog, wenn auch aneinadervorbeiführenden, generieren.
OPHELIA
Willst du mein Herz essen, Hamlet. Lacht.
HAMLET Hände vorm Gesicht:
Ich will eine Frau sein.
(HM, 92)
Die Weiterführung des Gedankenganges von Hamlets Monolog aus dem ersten Bild erfährt
in diesem Dialogierungsversuch eine Umkehrung. Die im Nebentext markierte Lachintention
von Ophelia annuliert den gewalttätigen Hintergrund der von ihr gestellten Frage, die eigentlich Hamlets Intention fast textuell wiederholt. Die Groteske der Situation verschärft sich noch
mehr durch Hamlets Antwort, die gar keinen Zusammenhang mit der vorhergehenden Replik
aufweist. Die Textstelle erinnert eher an ein Spiel, das im nachfolgenden Nebentext getrieben
wird – Travestie, groteske Pantomime oder dramatisches Endspiel.
Das vierte Bild, PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND, nennt vom Anfang an historisch
datierbare Situationen: den Ungarn-Aufstand im Jahr 1956 und die russische Revolution. Darauf weisen auch die Anspielungen auf Pasternaks Titelhelden aus dem Roman Doktor Schiwago
und das Eigenzitat aus dem Stück ZEMENT. Die Sequenzen gehen von der Erinnerung an historische Ereignisse zur Theatersituation über, deren Möglichkeit Wirklichkeit abzubilden und
handbar zu machen in Frage gestellt wird. Von der Darstellung der geschichtlichen Prozesse
bleibt im Drama nur noch die Form des Vorgangs übrig, wie sie sich im widersprüchlichen Erlebnis des Subjekts vermittelt. Das Traumhafte des Geschehens, das den objektiven Verlauf und
die subjektive Reaktion vermischt, läßt den Text zur Vorlage filmischer Darstellungstechniken
werden. Robert Wilsons Inszenierung appeliert an filmische Einlagen – an die Langsamkeit des
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Eleonora Pascu
No-Theaters, das die Gestik in lupenhafter Technik hervorhebt und auch jedem Wort seine Aussagekraft gewährt. Die metatheatrale Ebene ist besonders stark betont, insbesondere durch die
Einführung eines Hamletdarstellers, der explizit erklärt: „Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keien
Rolle mehr.“ (HM, 93)
Die mediale Welt übernimmt den Vorrang und thematisiert die historischen Bilder.
A BAD COLD HE HAD OF IT JUST THE WORST TIME
JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION (HM, 93)
Das Scheitern der Revolution wird angedeutet, bezogen auf die historischen Revolutionen,
die schon am Anfang der Szene erwähnt werden. Die Thematisierung erfolgt in dem narrativen
Text, der die Mechanismen der Revolution beschreibt. Müller baut autobiographische Elemente
ein, die an seine Situation erinnern: „Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde,
wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber.“ (HM, 94)
Literaturzitate bringen existenzialistisches Weltbewußtsein hervor: EKEL erinnert an Nietzsche und auch an Sartre, dessen NAUSEE wörtlich zitiert erscheint. Der Begriff „Ekel“ kann als
Chiffre für die emotionale Reaktion des Subjekts auf die es bedrängende Alltagssituation gelesen werden. Einen Hinweis dazu gibt Müller selbst, in einem Gespräch, wobei er auf den
Zitatcharakter der Textstelle hinweist.
Mir fällt die Hamlet-Interpretation von Nietzsche ein: Das ist ein Mann, der weiß mehr als er ertragen kann, er weiß mehr, als er gebrauchen kann unter den Umständen, in denen er lebt und zu
leben gezwungen ist. (SP, 30)
In seiner Hamlet-Interpretation beschreibt Nietzsche die Beziehung zwischen einem metaphysischen Weltverhältnis des erkennenden Menschen und der Kunst als Möglichkeit der Lösung des widersprüchlichen Verhätnisses. Das Vorbild des Erkennenden findet er in Hamlet, den
er als neuzeitliches Beispiel des Weltbezugs heranzieht.
In der Bewußtheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgott Silen: es ekelt ihn. (Nietzsche: 1956, 48)
Hamlet gerät bei Müller in einen Rollenkonflikt – identifiziert sich mit der revolutionären
Menge, mit Hamlet, dem Autor und seinem Schreibinstrument (Schreibmaschine): „Ich bin die
Schreibmaschine“ (HM, 94) Neben Hamlet stehen andere Modellfiguren, berühmte Mörderfiguren wie Macbeth, Richard III, Raskolnikow, an deren Fall gesellschaftliche Vorgänge deutlich werden.
Die Einblendung der Fotografie des Autors bringt die subjektive Haltung von Heiner Müller
mit ein. Die Zerreißung der Fotografie steht für die Weigerung, die Möglichkeit der Selbstisolation für sich zu akzeptieren. Zugleich ist es ersichtlich, daß im dramatischen Text die Problematik des Schriftstellers reflektiert wird. Diese Geste wird als eine Kritik einer privatistischen
Haltung interpretiert, und demzufolge entzieht sich der Autor jedwelcher Identität mit dieser
Haltung und vernichtet sich selbst als Autor. Er zeiht sich aus dem gefährlichen Spiel heraus,
obzwar er die gefahr der Entwicklung zur Maschine hin sieht. Heiner Müller verweist auf diese
Situation in seinem Brief an Linzer: „Der Riß zwischen Text und Autor, Situation und Figur, provoziert/zeigt an die Sprengung der Kontinuität.“ (BL, 236)
Die Dezentrierung des Ich findet statt – der Rückzug in das Selbst. Einige Interpreten gehen
sogar so weit, daß sie darin das Verschwinden des Autors sehen und demnach ein Endspiel des
dramatischen Textes prophezeien. Das letzte Bild, WILDHARREND/ IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG/ JAHRTAUSENDE startet mit einem Hölderlin Zitat, das auf die Anwesenheit von Hamlet
hindeuten kann, dadurch, daß es den Handlungsstrang des zweiten Bildes weiterführt. Im Mittelpunkt steht eine amputierte Ophelia, im Rollstuhl eingebunden. Es präsentiert ein Bild, das
nicht zum Monologtext zu passen scheint, in dem das bisherige Opfer seine Ansprüche an die
Metropolen der Welt präsentiert. Die im einführenden Nebentext erwähnte Tiefsee eröffnet den
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Heiner Müllers HAMLETMASCHINE – ein dramatisches Endspiel?
Interpreten die verschiedensten Interpretations-Wege. So gibt es die Assoziation mit Atlantis,
Symbol der Seele bzw. Rückkehr zu mythischen Zeiten und Räumen, Projektion einer vierdimensionalen Raumzeit, das finale Schweigen in Shakespeares Tragödie. Die polyvalenten Lesarten korrespondieren der Intention des Dramatikers, der sich gegen die Eindeutigkeit währt.
Die übercodierte Textstelle erscheint als Chiffre für einen unfaßbaren Zustand. Ophelia wird
von der mythologischen Gestalt der Elektra verdoppelt. Anklage und Forderung an die Geschichte stehen im Widerspruch zu Ophelias Restriktion und deuten somit auf den Bruch der
„Botschaft“ an die dominanten Systeme, an die „Metropolen der Welt“. Ophelia verkündet damit den totalen Bruch mit der Vergangenheit. Die Heterogenität der Berufungsinstanzen der
Proklamation wird durch Literaturzitate kenntlich gemacht: Joseph Conrads Heart of Darkness,
Artauds Unter der Sonne der Folter und die Anspielung auf den internationalen Anarchismus,
ausgesprochen in der Aussage „Es lebe der Haß, die verachtung, der Tod.“ (HM, 97), schließen
sich an. Um diese Bezüge besser zu verstehen folgen wir einer Aussage des Dramatikers Heiner
Müller, der sich auf das Theater von Artaud folgend bezieht:
Artaud ist der Ernstfall. Er hat die Literatur der Polizei entrissen, das Theater der Medizin. Unter der
Sonne der Folter, die alle Kontinente dieses Planeten gleichzeitig bescheint, blühen seine Texte. Auf
den Trümmern Europas gelesen, werden sie klassisch sein. (DG, 119 f.)
Der polyphone Text, in dem die einzelnen Stimmen der Autoren verschwunden sind, verbindet nur noch ihre Aussagen in einem „universalen“ Diskurs, der alles Gesagte einbezieht.
Susan Atkins Aussage aus dem Zeugenbericht: „Wenn sie mit Fleischmessern durch eure
Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen“ (HM, 97) schokiert durch die apokalyptisch
anmutende Vision, deren rätselhafter Inhalt erneut auf Übercodierung stößt und somit kaum
entzifferbar ist. Dieser Schlußsatz des collagierten Monologs deutet auf eine historische
Perspektive als eine Erfahrung, die erst in der Zukunft erfahrbar ist. Eine lakonisch anmutende
Aussage - eine utopische Perspektive oder ein Endspiel ??? Die Dramaturgie erreicht eine
Phantasmagorie der Verzweiflung, welche jedwelches vernunftsorientiertes Geschichts-Modell
ablehnt und kein weiteres Denk-Spiel erlaubt. Zugleich vollzieht der Dramatiker die Überschreitung der tradierten Gattungsgrenzen, indem er den lyrischen Sprachduktus in einem zur
Aufführung bestimmten dramatischen Text verwendet. Die Lyrik, vertreten durch die verschiedensten collagierten Verse, vermischt sich in einer faszinierenden Textur mit den Prosaelementen und bilden den Korpus der dramatische Textes, eine geschickt durchkomponierte
literarische Montage, die stets vor ihrem Zerfall in ihre Grundkomponente steht – dem Wort.
Auf der stilistischen Ebene entsteht ein spannendes Spiel zwischen Verssprache und Prosa. Die
Graphie, die fünf verschiedene Schriftarten und den Wechsel zwischen Prosatext und
Verssprache hervorhebt, generiert einen eigenartigen Rhythmus. Keim hebt von diesem Standpunkt den Wandel der Repräsentationsfläche der Buchseite zu einen dreidimensionalen Raum
für ein „Theater der Wörter“ hervor. Demnach vereint der Dramatiker im dramatischen Text
„Rhythmus als akustisches wie auch als typographisch dargestelltes visuelles Prinzip und als
zentrale Bezugsgröße der dramatischen bzw. theatralen Kategorien Raum und Zeit.“ (Keim:
1998, 77)
Robert Wilson bemerkt in Bezug auf die HAMLETMASCHINE, daß dieses Stück eine sorgfältige Struktur aufweist und daß die Textteile, auch wenn sie parallel sind und für sich selbst
existieren, nicht austauschbar sind. Als Protagonisten treten Hamlet und Ophelia auf, aber nur
als Zitate von Figuren, deren Drama im Shakepeare-Text festgeschrieben ist. Die Frage stellt
sich, ob sie die Rollen spielen oder mit der überlieferten Rollenführung des Entwurfs brechen.
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Eleonora Pascu
Hamlet distanziert sich vom Anfang an vom Muster. Er erzählt nur noch seine Geschichte, die
längst abgeschlossen ist und zum Mythos erklärt wurde. Die neuen Rollenzuschreibungen
scheitern im Nu, denn eine Weiterschreibung des Mythos ist in der Konzeption des Dramatikers
unmöglich. Er hat sein Endspiel gespielt. Er kann nur noch anders rezipiert werden, aus dem
gegebenen Kontext gelesen als Variation einer Variation, als Zitat im Zitat.
Heiners Stücke sind großartig, weil sie nicht so geschrieben sind, daß man sie verstehen muß. Das
ist wie bei Shakespeare. Wir können HAMLET nicht verstehen. Es gibt viele Möglichkeiten, ihn zu
verstehen – als dies und das und jenes – aber am nächsten Abend kann man ihn ganz anders lesen.
(Wilson: 1988, 65)
Literatur:
A. Primärliteratur (mit Siglen):
1.
2.
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HAMLETMASCHINE. In: Mauser. Berlin 1986 (HM)
LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. In: Spectaculum 26. Frankfurt
am Main 1977 (LG)
ZEMENT. In: Geschichten aus der Produktion 2. Berlin 1974
Brief an Linzer. In: Theater-Arbeit. Berlin 1975 (BL)
Der Dramatiker und die Geschichte seiner Zeit. In: Theater heute. Sonderheft. 1975 (DG)
Gesammelte Irrtümer 1-3. Frankfurt am Main. 1986-1994 (GI)
Der Rhythmus, die Arie und der Leim. In: Wolfgang Storck (Hrsg.): Explosion of a Memory. Berlin 1988 (RA)
Shakespeare eine Differenz. Rede bei den Shakespeare-Tagen in Weimar. In: Wolfgang Storck (Hrsg.): Explosion of
a Memory. Berlin 1988 (SD)
Stückproben. Mitteilungen des Suhrkamp-Theaterverlages. Frankfurt am Main 1977 (SP)
B. Sekundärliteratur
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Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Rolf Tiedermann und Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.). Frankfurt am
Main 1972f.
Buck, Theo: Heiner Müller. In: Alo Allkemper und Norbert Otto Eke (Hrsg.): Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2000
Fischer-Lichte, Erika: Theater des „neuen Menschen“. In: dies.: Geschichte des Dramas. Tübingen 1990
Girshausen, Theo (Hrsg.): DIE HAMLETMASCHINE, Heiner Müllers Endspiel. Köln 1978
Keim, Katarina: Theatralität in den Spätdramen Heiner Mällers. Tübingen 1998
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. In: Werke in drei Bänden. Band 1. München 1956
Rihm, Wolfgang: Gangarten. HAMLETMASCHINE. Brief an P.O. In: Wolfgang Storck (Hrsg.): Explosion of a Memory. Berlin 1988
Schmidt, Hans-Dietrich: Hamlet. In: Klaus Völker (Hrsg.): Der große Schauspielführer. München 2000
Schulz, Genia: Heiner Müller. Stuttgart 1980
Wilson, Robert: Be stupid. In: Wolfgang Storck (Hrsg.): Explosion of a Memory. Berlin 1988
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SCHREIBEN ALS REFLEXIVES VERB
Schwierigkeiten beim Schreiben über eine andere Kultur:
Brasilien bei Hubert Fichte und Hugo Loetscher 1
Jeroen Dewulf
2
In seinem Essay “Schriftsteller und Schreiber”, unterscheidet Roland Barthes zwischen
Schriftstellern (écrivains), die vor allem das Problem “Wie schreibe ich?” beschäftigt, und
Schreibern (écrivants), für die das Problem “Was schreibe ich?” zentral ist. Anders gesagt:
Schriftsteller interessiert “schreiben” als intransitives Verb, während “schreiben” für die Schreiber als transitives Verb wichtig ist. Wer jedoch mit Sprache arbeitet, weiss, dass “schreiben”
noch eine andere Art Beziehung zum Objekt hat, nämlich eine reflexive. Tatsächlich kann man
sich fragen, ob nicht jedes Schreiben, wenigstens teilweise, auch ein “sich Schreiben” ist. Das
beschriebene Objekt, so der Anthropologe Volker Gottowik, trage stets Züge des beschreibenden
3
Subjektes, oder, um es mit Barthes zu sagen: Beim Schreiben ist ein rhetorischer Struktur “degré zéro” unmöglich.
Auf den ersten Blick mag diese Feststellung unproblematisch scheinen, fraglich wird sie jedoch, wenn wir über eine andere, eine “fremde”, Kultur berichten wollen, von der wir wissen,
dass sie unseren Lesern wahrscheinlich unbekannt, möglicherweise sogar höchst “exotisch” ist.
Die logische Konsequenz wäre also, dass ein Berichten über eine “fremde” Kultur, wegen der
Notwendigkeit der Selbstreflexion, unmöglich objektiv sein könnte, da derjenige, der schreibt,
nicht umhin kommt, auch “sich selbst” zu schreiben. Mit anderen Worten, eine objektive Darstellung einer fremden Kultur wäre nicht mehr als eine Utopie.
Fest steht, dass Berichten über andere Kulturen nicht nur ein philosophisches oder psychologisches Problem ist, sondern auch, und vielleicht vor allem, eine Frage des Schreibens. Paul
Atkinson betont, dass “all scholarly or ‘scientific’ writing must relay on textual conventions and
4
rhetorical methods” und dass es daher keine Möglichkeit für einen neutralen Text gibt: nicht
5
einmal für rein-wissenschaftliche Werke, geschweige denn für ethnologische Schriften.
Allerdings ist diese Problematik verhältnismässig neu. Jahrhundertelang war die Fremdendarstellung weitgehend eine Sache der Europäer, während das Umgekehrte höchstens als Spiel
ernst genommen werden konnte. Deswegen wurde die Tatsache, dass jede Fremddarstellung
teilweise auch eine eigene Darstellung war, gar nicht als Problem betrachtet. Dass das so zustandene gekommene Bild der “Anderen” manchmal sehr wenig mit der Wirklichkeit zu tun
hatte, lässt sich daher (auch) durch die unproblematische Autorität des erzählerischen Ichs
begründen.
1
Der Autor bedankt sich bei dem “Centro Interuniversitário de Estudos Germanísticos” (CIEG-Coimbra) für die Unterstützung im Rahmen des POCTI-Programmes.
2
Barthes, Roland: Literatur oder Geschichte, Frankfurt a.M., 1969, S. 44-53.
3
Gottowik, Volker: Konstruktionen des Anderen: Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation,
Berlin, 1997, S. 67.
4
Atkinson, Paul: The Ethnographic Imagination: textual constructions or reality, London-New York, 1994, S. 35.
5
Atkinson zitiert in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer literarischen Analyse eines in der Zeitschrift Nature
erschienenen Artikels über DNA-Forschung. Atkinson, a. a. O., S. 45.
Jeroen Dewulf
Erst zu Anfang dieses Jahrhunderts wurden in der Anthropologie erste Versuche gemacht,
das Erkenntnisproblem anzugehen. Man sah ein, dass eine objektive Beschreibung der anderen
Kulturen unmöglich war, solange sie eine Teilnahme der anderen an der Deutung ihrer Lebensform von vornherein ausschloss, und man dachte, die Lösung in einem Perspektivenwechsel
gefunden zu haben: fremde Kulturen würden so nicht mehr auf der Grundlage der eigenen
Werturteile, sondern aus der Perspektive ihrer Mitglieder gezeigt. “Teilnehmende Beobachtung”
nannte man die in Argonauts of the Western Pacific (1922) auf die melanesischen Trobriander
angewandte Theorie Bronislaw Malinowskis.
Allerdings versuchten manche Autoren, vor allem seit dem Ende des Kolonialismus, auch in
der Literatur ein ehrliches und möglichst richtiges Bild der fremden Kulturen zu vermitteln. Die
Voraussetzungen waren jedoch ganz andere. Die Reflexivität des Schreibens konnte für die
Autoren gar kein Problem darstellen, da sie per Definition zur Literatur gehörte; niemand erwartete von der Literatur, dass sie den Anspruch einer rein objektiven Wirklichkeitsdarstellung
erhebe. Die Konsequenz wäre dann aber, dass in literarischen Werken, die eine fremde Kultur
als Thema haben, das Bild dieser Kultur eine subjektive Sache ist, die der Realität nicht (ganz)
entspricht und auch nicht (ganz) entsprechen sollte. Wie logisch diese Konsequenz auch ist,
nicht alle Autoren gaben sich mit ihr zufrieden und suchten Alternativen.
Im deutschen Sprachraum ist in der Literaturdiskussion, vor allem unter Impuls von Paul
Michael Lützeler, heute immer mehr die Rede von einem “postkolonialen Blick”. Zwei Autoren,
die, nach Lützeler, in der deutschen Literatur eine bedeutende Rolle zur Entstehung eines postkolonialen Blicks gespielt haben, sind Hubert Fichte und Hugo Loetscher. Ich möchte die möglichen Lösungen, die beide für die Darstellungsproblematik einer fremden Kultur in der Literatur
angeboten haben, hier vergleichen und tue das anhand des Beispiels von Brasilien.
Obwohl Loetscher viel früher als Fichte Berichten und journalistische Arbeiten über Brasilien verfasst hatte, konnte man dennoch 1979, im Jahr, wo Loetschers Wunderwelt erschien, in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen, dass jetzt auch die Schweizer “im Windschatten von
6
Hubert Fichtes “Ethnopoesie” mitsegelen” möchten. Man bekommt den Eindruck, die meisten
Literaturkritiker in Deutschland seien davon überzeugt gewesen, dass mit Fichte das Problem
endgültig gelöst sei und was nach ihm käme höchstens Plagiat sein könnte. Dennoch lässt sich
zeigen, dass Loetscher mit seiner Fremdendarstellung damals viel origineller war als Fichte.
In Xango (1976) und Lazarus und die Waschmaschine (1985) hatte sich Fichte mit dem afrikanischen Synkretismus in – unter anderem - Brasilien auseinandergesetzt. In diesen Werken
versuchte er eine sogenannte “Ethnopoesie” zu schreiben, wobei es keine Trennung mehr geben
sollte zwischen literarischem und ethnologischem Schreiben. Die “teilnehmende Beobachtung”
Malinowskis wurde für die Literatur angewendet, und das Bild Brasiliens, das so entstand, wäre
daher nicht mehr Fichtes Bild, sondern das der eigentlichen Brasilianer. In Lazarus und die
Waschmaschine wird tatsächlich versucht in der Perspektive der Brasilianer zu berichten, und
damit der Leser keine Zweifel hegt über etwaige Unrichtigkeiten, endet das Brasilien-Kapitel
mit nicht weniger als sechszehn (16!) Seiten Anmerkungen und Anhang. Wo Fichte erzählt,
erzählt er nicht mehr “sich selbst”, sondern es sind die Brasilianer, die, wenigstens auf den ersten Blick, das Wort haben. Damit meinte Fichte das Problem der Reflexivität des Erzählens
gelöst zu haben, und die Mehrheit der Kritiker folgte ihm darin.
6
Brode, Hanspeter: “Stilistische Fingerübungen”, in: FAZ, 23.05.1979.
390
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Schreiben als reflexives Verb. Schwierigkeiten beim Schreiben über eine andere Kultur
Einige jedoch hatten ihre Bedenken. Kritik kam unter anderem von Seiten des Literaturkritikers Renato Berger, der in Hinblick auf Xango zu Recht feststellt, dass “was als Poesie aufgefasst werden könnte, lediglich die Druckweise [ist], ein Satz unter dem andern wie in Ge7
dichtform”. Es ist klar, dass die “Lösung” Fichtes mehr “ethno” als “Poesie” war. Aber ist es
überhaupt möglich, eine fremde Kultur wahrheitsgemäss darzustellen, ohne die rein literarische
Komponente aufzugeben?
Hugo Loetscher meinte ja, und tat dies, drei Jahre nach Fichtes Xango, in einer ziemlich
provokativen Weise. Auch er hatte vor, eine brasilianische Region (den Nordosten) darzustellen,
und auch er wollte es “in der Perspektive der Einwohner” tun. Auf einer Reise durch den Bundesstaat Ceará war er Zeuge der Beerdigung eines kleinen Mädchens, Fátima, eines Opfers der
sozialen Misere. In Wunderwelt versucht Loetscher, dem toten Kind von ihrem Nordosten zu
erzählen. Da Fátima nie ihre eigene Region hatte kennenlernen können, wollte er ihr wenigstens in der Phantasie vom Nordosten erzählen. Die Sprache, die Loetscher wählt, ist daher eine
sehr einfache, da es sich in der Erzählung, scheinbar, um einen Monolog mit einem Kind handelt. Loetscher wählt dafür eine Technik, die im heutigen Postmodernismus, seit der Entdeckung von Bakhtins Schriften, sehr geläufig ist, 1979 in der deutschsprachigen Literatur
jedoch verhältnismässig neu war: die der Mehrsprachigkeit. Loetscher vertritt die Ansicht, dass
zu jeder Situation eine eigene Sprache gehört und dass man eine fremde Region am besten so
schildert, indem man die verschiedensten Sprachen, die zur Situation dieser Region gehören,
auftreten lässt. Das tut er mit dem Nordosten, unter anderem mit der poetischen Sprache der
“literatura de cordel”, mit der religiösen eines Padre Cícero, mit der politischen eines Francisco
Julião, usw. Ausserdem, und im Gegensatz zu Fichte, weist Loetscher, je nach Situation, der
Ästhetik und der Phantasie eine sehr bedeutende Rolle zu. Das Resultat, Wunderwelt, ist ein
phantasievolles und höchst ironisches Spiel mit Metaphern und Sprachen, wo es klar wird, dass
das Bild des Nordostens, das so entsteht, ein persönliches ist, obwohl es sich aus Erfahrungen,
8
Begegnungen und Lektüre aus dieser Region Brasiliens zusammensetzt. Trotz allem bleibt der
Nordosten tatsächlich das eigentliche Thema, Brasilien wird nicht zu einer reinen Fassade. Was
Loetscher erreichen wollte, war: “Fabulierende Fiktion. Aber eine, die sich nicht an persönliche
Erlebnisse und Einfälle halten konnte, sondern sie musste ihre Inspiration auf historische und
soziologische Fakten ausrichten, auf statistische Angaben, auf religiösen Tatsachen oder volks9
kundliche Gegebenheiten.”
Wie zu erwarten war, löste dieser Schreibstil Loetschers bei der Darstellung einer Region
der sogenannten “Dritten Welt” zum Teil heftige Reaktionen aus. Loetscher habe eines der
drängendsten Probleme zum Demonstrationsobjekt schriftstellerischen Könnens gemacht und
10
habe aus dem Leid ästhetischen Gewinn geschlagen, meinte Christoph Siegrist und Heinrich
Delb fragte sich sogar, ob es nicht besser gewesen wäre, Loetscher hätte eine analytische Studie oder eine historisch-soziologische Arbeit über den Nordosten verfasst, anstatt sich “in die
11
Metaphorik zu verlieren”. Zusammenfassend könnte man sagen, dass, indem Loetscher – viel
mehr als Fichte - an der Literarität festhielt, er nach der Meinung der meisten Kritiker sowieso
7
Berger, Renato: “Xango - Gott der armen Leute?”, in: Thomas Beckermann (Hg.), Hubert Fichte: Materialien zu Leben
und Werk, Frankfurt a.M., 1995, S. 124.
8
Vgl. Dewulf, Jeroen: Hugo Loetscher und die ‘portugiesischsprachige Welt’ – Werdegang eines literarischen Mulatten,
Bern, 1999, S. 127-190.
9
Loetscher, Hugo: “Vom Bild zur Erzählung”, in: Tages Anzeiger Magazin, 10.03.1979.
10
Siegrist, Christoph: “Wunderwelt als Sprachwunder”, in: Aargauer Tagblatt, 05.05.1979.
11
Delb, Heinrich: “Brasilianische Begegnung”, in: Sankt Galler Tagblatt, 28.04.1979.
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391
Jeroen Dewulf
ein falsches Bild des Nordostens dargestellt habe, was, vor allem in Hinblick auf die dortige
Armut, unerhört sei.
Stimmt es aber, dass Loetscher in Wunderwelt Aussagen über den Nordosten macht, die
falsch sind? Dieser Frage bin ich nachgegangen, und zwar zusammen mit den eigentlichen Dargestellten: mit “nordestinos”. Ich setzte mich mit einer kleinen Gruppe von Deutschstudenten
der Universität Fortaleza zusammen und las mit ihnen Passagen aus den erwähnten Werken
von Hugo Loetscher und Hubert Fichte. Tatsächlich wurden bei Loetscher Unstimmigkeiten gefunden. Im Kapitel über den legendären Räuber Lampião lesen wir in Wunderwelt: “Was für ein
12
Militär wäre er gewesen - er hat privat eine Stadt wie Mossoró belagert”. Was bei Loetscher
zu einem Sieg wird, war in Wirklichkeit aber eine Katastrophe für Lampião gewesen, ein “gro13
sser Fehler”, wie der US-amerikanische Soziologe Billy Jaynes Chandler bestätigt. Später lesen
wir bei Loetscher über den Politiker Francisco Julião, dass er sich bei seinen Predigten “nicht
14
auf die Bibel stützt, sondern aufs Gesetzbuch”. Auch da legten die brasilianischen Studenten
Protest ein, sie fanden sogar ein Interview von Julião, in dem er wörtlich sagt: “We use in our
15
exhortation the words of the Bible. Yes, because the Bibel is a revolutionary book.”
Man könnte daher meinen, dass die Kritiker also Recht hatten und dass Loetscher anstatt
an der Ästhetisierung und Phantasie festzuhalten, tatsächlich besser, wie Fichte, die Literarität
zu einer fast symbolischen Bedeutung zurückgebracht, oder, wie Delb vorschlägt, besser völlig
aufgegeben hätte. Allerdings haben die Studenten nicht nur Loetschers Wunderwelt, sondern
auch Fichtes Xango gelesen. Es wurden manche Schreibfehler gefunden, und vor allem die Tat16
sache, dass Fichte die Candomblé-Religion sehr auf Homosexualität einengt, erregte Staunen.
Bei einer seiner Theorien stützt sich Fichte auf ein angeblich brasilianisches Schimpfwort für
Homosexuelle, welche, nach Fichte, “bichos” genannt werden. Das übersetzt er, ganz richtig,
mit “Tieren” und verknüpft das Wort mit den “passiven Homosexuellen”, welche demnach als
17
Tiere betrachtet werden sollten. Diese ganze Theorie ist jedoch nicht schlüssig, da Fichte das
Wort schlicht und einfach falsch verstanden und “bicho” statt “bicha” gehört hat, so dass
Fichtes ernst gemeinte Theorie bei den brasilianischen Studenten Anlass zu Gelächter wurde.
Es ist durchaus möglich, weitere Unstimmigkeiten aufzufinden, sowohl bei Loetscher als
auch bei Fichte. Aber darum geht es hier nicht. Was gezeigt werden sollte, ist, dass beim Beschreiben einer fremden Kultur immer Interpretationsfehler gemacht werden. Die sechszehn
Seiten Anmerkungen sind bei Fichte keine Lösung. Loetscher gesteht jedoch ganz offen, dass er
die reine Objektivität auf seine journalistischen Werke beschränkt, während in der Literatur die
18
Phantasie und das Fabulieren im Vordergrund stehen. Die Diskussion, ob Lampião in Mossoró
verloren oder gesiegt hat, erhält mit dieser Literaturauffassung sekundäre Bedeutung.
12
Loetscher, Hugo: Wunderwelt, Zürich, 1983, S. 140.
Chandler, Billy Jaynes: Lampião: O Rei dos Cangaceiros, Rio de Janeiro, 1986, S. 112.
14
Loetscher, a. a. O., S. 105.
15
In: Andrade, Manuel Correia de: The land and people of Northeast Brazil, Albuquerque, 1980, S. 209.
16
Auch Renato Berger stört es, dass “immer wieder auf das Vorherrschen der Homosexualität innerhalb der Kulte
hin[gewiesen wird], ohne dass der Zusammenhang mit den Kulten ersichtlich wird.” Berger, Renato, a.a. O., S. 125.
17
Fichte, Hubert: Xango: Die afroamerikanischen Religionen. Bahia, Haiti, Trinidad, Frankfurt a.M.: Fischer, 1976, S. 57.
18
“Ich komme nicht darum herum, als Intellektueller Stellung zu aktuellen Fragen zu beziehen. Und Stellung beziehen,
heisst: mich dazu äussern. Tue ich dies jedoch als Journalist, ziehe ich mich nicht in den Elfenbeinturm zurück, so
nehme ich mir das Recht heraus, in der Literatur nach literarischen Kriterien - und nur nach literarischen - vorzugehen.” (Bucher, Werner/Georges Ammann: Schweizer Schriftsteller im Gespräch, Band I, Basel, 1970, S.81-82)
13
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Schreiben als reflexives Verb. Schwierigkeiten beim Schreiben über eine andere Kultur
Ausserdem stellen wir in der Anthropologie eine ähnliche Evolution fest. Tatsächlich stellte
sich dort heraus, dass Malinowskis “Lösung” höchstens eine theoretische war. Die Praxis zeigte,
19
dass die Dargestellten, die Trobriander, sich im Werk Malinowskis gar nicht wiedererkannten.
Der US-amerikanische Anthropologe Clifford Geertz schlug vor, zu akzeptieren, dass Ethno20
graphen nun einmal nicht das wahrnehmen, was ihre Informanten wahrnehmen, und vertrat
die Ansicht, dass sie daher unmöglich Interpretationen erster Ordnung vermittlen können.
Ethnologische Schriften sind deswegen, nach Geertz, “Fiktionen, und zwar in dem Sinn, dass sie
21
“etwas Gemachtes” sind”. Mit Geertz vollzog sich Anfang der siebziger Jahre die sogenannte
“literarische Wende” in der Anthropologie.
Die Tatsache, dass Loetscher der Phantasie eine Rolle zuschreibt, obwohl er versuchte, den
Nordosten in der Perspektive der “nordestinos” darzustellen, entspricht also einer Tendenz innerhalb der Anthropologie, wo man immer mehr und immer konsequenter versucht zu schreiben, anstatt einfach aufzuschreiben. So weit wie Loetscher geht man in der Anthropologie
post-Geertz jedoch nicht. Loetscher sucht die Fiktion absichtlich auf, wo man sie in der Anthropologie - manchmal noch sehr widerwillig - akzeptiert. James Clifford betont daher: “Ethnographische Diskurse sind auf keinen Fall Reden erfundener Charaktere. Informanten sind
22
ganz bestimmte Individuen mit Eigennamen –Namen, die angegeben werden können”. Anthropologen wie Kevin Dwyer, Dennis Tedlock und Vincent Crapazano, versuchen neuerdings die
seit der Aufklärung in Vergessenheit geratene Dialogstruktur mit dem Fremden wieder aufzunehmen, wobei die Dialogpartner allerdings keine erfundenen, sondern mit Namen und Daten
genannte Individuen sind.
Allerdings ist das Endergebnis auch in diesem Fall kein wirklicher Dialog, sondern lediglich
eine Repräsentation dieses Dialogs. Ausserdem erliegt man der Gefahr, dermassen aus der Perspektive der Einheimischen zu berichten, dass die eigenen Leser die Realitäten kaum mehr verstehen. Volker Gottowik hat Recht, wenn er betont, dass die Lesarten, die Ethnographen von
23
anderen Kulturen entwickeln, allegorisch sein (sollten). Damit ist gemeint, dass Darstellungen
einen deutlichen Bezug zu den Themen und Problemen, mit denen sich ihre eigene Gesellschaft
konfrontiert sieht, aufweisen sollten. Indem man das Fremde völlig aus der Perspektive der
Fremden darstellt, verliert man den Bezug zum eigenen Leser. John Van Maanen betont daher
zu Recht, dass “literal translations of cultural practices in one society for readers in another
24
would be gibberish”.
Man kann jedoch weitergehen und fragen, ob die Behauptung, mit der “Stimme der Anderen” zu reden, ohne dabei die dadurch entstandene Arbeit als Fiktion akzeptieren zu wollen,
nicht gerade der Höhepunkt des Neokolonialismus ist. Aus Edward Saids Orientalismus wurde
deutlich, wie sehr dieses Reden mit der Stimme der Anderen Teil des kolonialistischen Unterdrückungssystems war. Wie Said zeigt auch Homi Bhabha eine Beziehung zwischen Repräsentation und Macht auf: “the colonial discourse [is] an apparatus of power [...] The objective of
19
Siehe: Young, Michael W. (Ed.): The Ethnography of Malinowski: The Trobriand Islands 1915-1918, London, 1979.
Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M., 1983, S. 292.
21
Ebd.. S. 23.
22
Clifford, James: “Über ethnographische Autorität”, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text:
Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M., 1993, S. 147.
23
Gottowik, a. a. O., S. 119.
24
Van Maanen, John: Tales of the Field. On writing Ethnography, Chicago-London, 1988, S. 23.
20
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Jeroen Dewulf
colonial discourse is to contrue the colonized as a population of degenerate types on the basis
of racial origin, in order to justify conquest and to establish systems of administration and in25
struction”. Man braucht nur die Situation umzudrehen, um zu verstehen, wie nah Repräsentation und Macht beieinanderliegen: Wie würden Europäer reagieren, wenn zum Beispiel ein
afrikanischer Anthropologe behaupten würde, er habe in seinem Werk Deutschland aus der
“Perspektive der Deutschen” dargestellt? Diese Umdrehung machte Bernard DeVoto im Moment, wo Margaret Meads And Keep Your Powder Dry erschien, indem er schrieb: “The more
anthropologist write about the United States, the less we believe what they say about Sa26
moa”. Nicht ohne Grund widersetzen sich daher Autoren wie Derek Walcott Anthropologen,
27
die anfangen, “den Leuten zu erzählen, wer sie sind und was sie sind”.
Er wäre aber falsch, hier die Intension des Autors aus dem Auge zu verlieren. Im Moment,
wo deutlich wird, dass es sich um eine literarische Arbeit handelt, die als Ziel hat, den eigenen
Lesern von einer persönlichen Begegnung mit einer fremden Kultur zu berichten, und dies in
den verschiedenen Sprachen dieser Kultur zu tun versucht, haben wir es mit einer Art Repräsentation zu tun, die Valentine Daniel “die Kunst des Entdeckens der Sprache der Anderen”
28
nennt, und durchaus – vor allem im Hinblick auf die eigene Kultur – positiv gewertet werden
sollte. Indem Hugo Loetscher seine literarische Kreativität und Fabulierlust durch eine vielsprachige Repräsentation einer Fremdheitserfahrung bestätigt, zeigt er einen möglichen Ausweg aus der Sackgasse, in die, so Linda Alcoff, manche Feministinnen gelangt sind: “speaking
for others has come under increasing criticism, and in some communities it is being rejected.
There is a strong, albeit contested, current within feminism which holds that speaking for oth29
ers is arrogant, vain, unethical, and politically illegitimate”.
In der Literatur lässt sich das Repräsentieren des Anderen durchaus rechtfertigen. Repräsentation schlicht und einfach mit Repression gleichsetzen, wie es der Anthropologe Stephen
30
Taylor tut, scheint mir daher nicht nur übertrieben, sondern auch unklug, weil es Wasser auf
die Mühle eines gefährlichen Strebens nach Monokulturalismus ist, wo jeder am Ende nur noch
von sich selbst Kenntnis nehmen darf. Dass sich Malinowskis “teilnehmende Beobachtung”
heute nicht mehr verteidigen lässt, mag klar sein, dafür aber sehe ich in einer Welt, die sich
immer rascher mulattisiert, alle Gründe, um eine “teilnehmende Literatur” so wie Loetscher sie
uns in Wunderwelt angeboten hat, zu befürworten. Phantasie, Mehrsprachigkeit und Kreativität
öffnen, wegen ihrer grenzüberschreitenden Funktion, die Möglichkeit, über die und mit den
verschiedensten Fremden zu berichten, ohne sich selbst und andere zu belügen. In einer “teilnehmenden Literatur” wird die Reflexivität des Schreibens deswegen nicht mehr als Problem
betrachtet, sondern als Vorbedingung für eine Repräsentation. So ist es Loetscher gelungen, die
Dialektik von Fremdem und Eigenem zu einer Synthese kommen zu lassen, wobei der Autor
ruhig auch “sich selbst” schreiben darf.
25
Bhabha, Homi: The location of culture, London-New York, 1993, S. 70.
apud Geertz, Clifford: Local Knowledge: Further Essays in Interpretetive Anthropology, London, 1993, S. 9.
27
Interview von Edward Hirsch mit Derek Walcott, in: Neue Rundschau, Nr. 107, 1996, S. 105.
28
Valentine Daniel, E./Jeffrey M. Peck: Culture/Contexture. Explorations in Anthropology and Literary Studies, BerkeleyLos Angeles-London, 1996, S. 7.
29
Alcoff, Linda: “The Problem of Speaking for Others”, in: Cultural Critique, Winter 1991-92, Nr. 20, S. 6.
30
Tyler, Stephen: “Zum ‘Be-/Abschreiben’ als ‘Sprechen für’”, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs, a.a.O. , S. 288-296.
26
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WELTVERBESSERUNG UND WELTZERFALL
Thomas Bernhard: Der Weltverbesserer und Eugène Ionesco:
Les Chaises
Alina Voica
Verwandtschaft der Welt- und Dichtungsanschuungen. Prämissen
Wenn man die ganze Weltliteratur, im borgesschen Sinne, als ein faszinierendes System
kommunizierender Röhre anzusehen geneigt ist, wird man eine Äußerung wie die von Christian
Klug in seiner ausführlichen Arbeit “Thomas Bernhards Theaterstücke” als eine Hindeutung auf
das literaturgeschichtliche Weitergehen des Absurden bei einem Schriftsteller, der die Über1
treibung zu seiner einzigen Religion gemacht hat: “ ‘Die Absurdität ist der einzige mögliche
Weg’ (Kälte, 70), Innerlichkeit wahrhaftig mitzuteilen” (1991:92). Dieser ‘Weg’ der fanatisch
verabsolutierten ‘Innerlichkeit’, die mit gewalttätigen raffinierten Mitteln inständiger, scheinbar restloser Kompromitierung derselben zu erfassen sei, kann auf die Theaterverfassung eines
Champions des Absurden zurückgeführt werden, da sowohl Thomas Bernhard als auch Eugène
Ionesco das in eine schwere ontische Krise geratene Selbst durch die paroxistische Vertiefung
der Krise zu verklären versuchen. Die Richtlinien seiner Theaterkunst drückt Ionesco selbstparodisch in einem Theaterstück (“L’Impromptu d’Alma”) aus, das die Ernsthaftigkeit seiner quasi2
wissenschaftlichen Theaterkunstprinzipien aus seinen quasitheoretischen Texten in die Moquerie seiner einzigartigen dramatischen Sprache zieht:
Le théâtre est, pour moi, la projéction sur scène du monde du dédans: c’est dans mes rêves, dans
mes angoisses, dans mes désirs obscurs, dans mes contradictions intérieures que, pour ma part, je
me réserve le droit de prendre cette matière théâtrale. Comme je ne suis pas seul au monde, comme
chacun de nous, au plus profond de son être, est en même temps tous les autres, mes rêves, mes
désirs, mes angoisses, mes obsessions ne m’apartiennent pas en propre; cela fait partie d’un héritage ancestral, un très ancien dépôt, constituant le domaine de toute l’humanité. C’est, par-delà leur
diversité extérieure, ce qui réunie les hommes et constitue notre profonde communauté, le langage
universel. (Marie prend la robe d’ un des docteurs, s’approche de Ionesco qui a un ton de plus en plus
pédant.) Ce sont ces désirs cachés, ces rêves, ces conflits secrets qui sont à la source de toutes nos
actions et de la réalité historique. (Ionesco s’enflamme, devenant presque agressif, d’ un ton très solennel et ridicule, précipitant son débit.) […]” (1958: 166f.)
1
“Es ist manchmal die einzige Möglichkeit, wenn ich diesen Übertreibungsfanatismus nämlich zur Übertreibungskunst
gemacht habe, mich aus der Armseligkeit meiner Verfassung zu retten, aus meinem Geistesüberdruß, habe ich zu
Gambetti gesagt” (Bernhard, 1996:611); für die Vertiefung dieses Dichtungsbegriffs s. Hermann Kortes Studie: Dramaturgie der “Übertreibungskunst”. Thomas Bernhards Roman “Auslöschung. Ein Zerfall”, in: Thomas Bernhard. Text +
Kritik (1991:88-104).
2
s. z.B. Notes et Contre-notes, Paris, Gallimard, 1962; Présent Passé. Passé Présent, Mercure de France, Paris, 1968
Alina Voica
Dieser trasparent jungschen Stellungnahme des narzisstisch orientierten ‘Theatermachers’
(“Ich habe keine Leidenschaft, keine Besessenheit außer mir. Ich, das ich mir der Ruhm, das
3
Leiden, das Leben, der Tod bin”) , der sich selber zum heroischen Kreuzpunkt eines in der unerträglich wirkenden, unendlichen Wechselbeziehung von Verdichtung zur Verdünnung der
Weltsubstanz bestehenden Weltschmerzes gemacht hat, soll bei Bernhard den einholungsbedürftigen ‘Bewältigungsversuchen’ eines Ichs entsprechen, das die Erfahrung der Alterität als
bedrückend empfindet: “Nicht ontologische Spekulationen über Schein und Sein, sondern frustrierte narzißtische Bedürfnisse des Kindes sind Ursprung des Theatertopos bei Thomas Bernhard” (Klug, 1991:6).
Trotz einer in der Literatur allgemein erkannten Homogenität seines Gesamtwerkes soll seine Hinwendung zum Theater als “die Konsequenz aus einem erkannten Darstellungsproblem
[gelten] und aus einer gewandelten subjektphilosophischen Einstellung. […] Das Problem der
Darstellung ist das eines Übergangs vom Ich zu Wir” (Klug, 1991:10). Während Ionesco Theaterkunst polemisch ‘faute de mieux’ ausüben will, geht Bernhard in sie über als in die einzige
Möglichkeit, sich über seine unerträgliche Ernsthaftigkeit hinwegzuretten: “Die Thetralisierung
und Komisierung von Leidenserfahrung ist bei Bernhard wie bei Kierkegaard ein Mittel, sich
dem Bannkreis eigener Verzweiflung zu entwinden, ohne die gemachten Erfahrungen darum zu
verleugnen” (Klug, 1991:105).
Das in die Welt- mit einem heideggerschen Wort- ‘verworfene Ich’ erlebt sein ‘Verworfensein’ als Herumirren in einem kierkegaardschen Vorzimmer des Todes. Beide Schriftsteller leiden
unter einer schweren, kaum heilbaren ‘Krankheit zum Tode’, deren Symptomatik sich auf ein
subversives Einschleichen des als Verstörungsfaktor wirkenden Todes in die angebliche Kohärenz des Lebens reduzieren könnte. Die Todesbesessenheit der beiden Theaterkünstler bewirkt
dementsprechend ‘dramatische’ Theaterkunst-prinzipien wahrscheinlich exorzistisch gemeinten
Verharrens in diesem Vorzimmer des Todes. ‘Outlet’ einer riesigen axiomatischen Trostlosigkeit,
wird dieses Theater “zu Demonstrationszwecken benutzt” (Kesting, 1989:138), aber auch zur
4
‘Auslöschung’ der rücksichtslos in Frage gestellten ‘Ungeheurlichkeiten’ des Geistes.
5
Diese Schriftsteller stiften beide ein ‘Theater der Gewalttätigkeit’ , wobei die Gewalttätigkeit sich sowohl aus der extremen Sturrheit und Konsequenz ergibt, mit der man am vampirischen Durchmachen jedes Unüberwindbaren verweilt (sowohl thematisch durch eine meistens
thanatische Motivenkonstellation, als auch stilistisch durch Insistenz auf permanentisierte Redefiguren), als auch aus der extremen Aufregung im Kampf um die (künstlerische) Selbstbehauptung. Die Raserei des Theaterwesens bei Ionesco, der es trotz seines Widerwillens erfassen und veredeln will, die der bernhardschen erwähnten Übertreibung als seinem
fundamentalen Dichtungsprinzip entspricht, steht unweigerlich für die siegesreiche Exaltierung
des Theaters: “Durch die Umstellung des Akzentes von der diskursiven Kommunikation auf die
unmittelbaren Anwesenheit und Mitmachen [der Figuren], verfolgt Ionesco nicht das Zerfallen
der dramatischen Sprache, sondern hingegen das Abschaffen einer falschen ‘theatralischen’
Sprache, sowie ihre Reinigung und Essenzialisierung. Anders gesagt, betrifft seine Theaterkunst
3
Eugène Ionesco (1934:78); die Übersetzung dieses Textes und der folgenden Zitate aus dem Rumänischen ins Deutsche gehört uns.
vgl. Kafkas gewalttätige Auseinandersetzung mit den plagenden Erscheinungen seiner Innerlichkeit, die er als ‘ungeheure Gespenster’ empfindet, denen er sich zerstörungssüchtig entgegensetzen muss (s. Franz Kafka, Tagebücher
1910-1923, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 1983).
5
Ionesco hat jeden Denkprozess als eine Umwälzung im Wesen des menschlichen Seins betrachtet: “Jedwelches Denken, jedwelche Kunst ist angriffslustig” (1992:249).
4
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Weltverbesserung und Weltzerfall.
Thomas Bernhard: der Weltverbesserer und Eugène Ionesco: Les Chaises
das Wesen selbst des Theaters, so wie die Dichtung einiger Dichter, die das Dichterische selbst
dichten” (Balot , 1971:408).
Die Rücksichtslosigkeit dieses ‘Theaters der Gewalttätigkeit’ soll über die dramatische ‘Erfahrung’ des Humors relativiert und abgemildert werden. In seiner Thomas Bernhard-Monographie hat Hans Höller die Feststellung ausgedrückt, dass Bernhards dramatische Auswertung
des Humors auf eine ‘intensive Rezeption’ von Ionesco und anderen hervorragenden Vertretern
der sogenannten Literatur des Absurden hindeuten sollte: “Bernhards Dramen aber ließen von
Beginn an wieder jenes komödiantische Element aufleben, das die bürgerliche Aufklärung dem
Drama austreiben wollte und das auf dem Umweg über das Ausland, über die intensive Rezeption von Beckett, Ionesco, Genet und Artaud in den funfziger Jahren mit der österreichischen
Volkstradition zusammenfand” (Höller, 1993:125f.). ‘Du mécanique plaqué sur du vivant’, erweist sich der Humor sowohl bei Ionesco als auch bei seinem österreichischen Nachfolger einerseits als das Ergebnis unlösbarer existenzieller Widersprüche, andererseits als die letztmögliche Strategie, Abstand von sich selber zu gewinnen: “[…] der Humor ist meine Entspannung,
meine Befreiung, meine Rettung” (Ionesco, 1992:177); in einem zu Ionescos “Impromptu
d’Alma” symetrischen Theaterstück (“Über allen Gipfeln ist Ruh”) rhetorisiert Bernhard ebenso
selbstparodisch wie Ionesco seine eigenen (Theater)kunstprinzipien, wobei die Umschaltung zur
Komik als eine rühmliche Verklärung der Tragik herausgedeutet wird, als seine Rettung- Rettung der unendlichen Freude am rücksichtslosen Ausdenken der Welt:
Das Tragische habe ich do herausgearbeitet
daß es die Lust am Denken nicht verdirbt
die Komödie entstehen lassen aus der Tragödie
Das Lustspiel sozusagen in jedem Gedanken wahr gemacht
(Bernhard, 1988:250)
Den Humor stiftenden ‘Widerspruch’ lässt Klug in einen weiteren Horizont existenzphilo6
sophischer Verwandtschaften von Bernhard einerseits, und Pascal, Schopenhauer und Kierkegaard andererseits einfügen. Aus seiner ausführlichen komparatisten Analyse ergibt sich ein
bernhardsches subjekttheoretisches Modell der ‘Krankheit zum Tode’, dessen Hauptbeschaffenheit der Widerspruch als tragikomisches menschliches Schwanken zwischen Leben und Tod ist.
Ionescos verzweifelter Ausdruck der Lebensverzweiflung soll ebenfalls in diesem Sinne verstanden werden: “Der Mensch ist gekreuzt zwischen Lebens- und Todesekel” (Ionesco,
1968:119).
In seiner Arbeit “Der Kampf mit dem Absurden” spricht Nicolae Balot vom ‘absurden Humor’ im Rahmen der existenzialistischen Erfahrung (vor allem bei Kierkegaard, Sartre und Camus) unüberwindbarer Kluft zwischen Realität und Vernunft, indem er das Absurde als symptomatische Erscheinung in der Kultur betrachtet, deren psychologische Kennzeichen Unruhe,
6
Pascals und Schopenhauers Rezeption beruht auf einer allgemeinen Existenzverfassung der Widersprüchlichkeit,
während die philosophische Beziehung zu Kierkegaard die Beschaffenheit dieser Existenzverfassung voraussetzt:
a) “Beide [Pascal und Thomas Bernhard] denken die Wirklichkeit menschlicher Existenz als in sich selbst widersprüchliche. Auf Objekte des Begehrens bezogen, entspricht diese Widersprüchlichkeit dem ‘verworrenen’ Trieb des Menschen,
zugleich das eine und dessen Gegenteil zu wollen. Der Mensch steht im Spannungsfeld entgegengesetzter Kräfte, die
ihn hin und her werfen und für sein Unglück verantwortlich sind” (Klug, 1991:55);
b) “Das bekannte Diktum Schopenhauers über die Zirkularität von Schmerz und Langeweile fügt sich nahtlos in die von
Bernhard poetisierte Ontologie des falschen Zustands ein und könnte durchaus als Motto den meisten seiner Werke
voranstehen” (57);
c) “Auch bei Bernhard stehen die Zeichen des Widerspruchs nicht, zumindest nicht primär, in erkenntnistheoretischen
Zusammenhängen: Als Ausdruck einer Figurenexistenz markieren sie Akte von Ich-Konstitution, Selbstbewusstsein und
Verständigung; als Akte im Kommunikationssystem Autor-Publikum provozieren sie zu rezeptiver Eigentätigkeit” (89).
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Unsicherheit, Verzweiflung, Apathie und Zynismus seien. Der Humor kommt ins Spiel als Korrektiv dieser in der Literatur des Absurden äußerst intensiv erlebten universellen Krise des Geistes: “Die Unruhen und Besessenheiten von Ionesco sind ständig von einer Kraft zensuriert, die
bei den grossen Besessenen ausbleibt: der Humor” (Balot , 1971: 400).
In diesem Zusammenhang ist das Absurde die dichterische mild-erbitterte Erscheinungsform zerrissenen ‘In-der-Welt-Seins’ in den Theaterstücken von zwei ‘Theatermachern’, deren
Hauptstrategie zur Bewältigung der Seinzerrissenheit deren Reduktion ad absurdum ist.
Scheitern der (schriflichen) Unternehmungen zur Verbesserung der Welt
2.1. Das Scheitern zwischen Freiheit und Notwendigkeit. In einer axiomatisch unheilbar
todeskranken Welt ist das Misslingen aller möglichen angeblichen Versuche und Anstrengungen zur Durchsetzung der Lebensfülle ein Apriorisches. Laut einer solchen Weltanschauung wird das Scheitern zum natürlichen Zustand des Universums, das kontinuierlich
zugrundegeht, und der ‘Wille zum Scheitern’ zur einzig vernünftigen Einstellung des Menschen
zu seiner Umwelt:
Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir
vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den
Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann mit welcher wir da sind. (Bernhard, 1978:44)
Über den Humor wird es aber deutlich, dass die (absurde) Einstellung zu dieser als notwendig verstandenen Beschaffenheit des Seins Ausdruck der absoluten Freiheit ist: “Humor ist
im kierkegaardschen Sinne ein bestimmtes Verhalten zum Verhältnis von Freiheit als
existentieller Möglichkeit einerseits und faktischer Realisierung andererseits. Der Humor begreift die Realisierung als notwendiges Scheitern, wodurch er die Idee defizitärer Umsetzung
imunisiert” (Klug, 1991:110). Dazu könnte man eine äußerst radikale Einschätzung von Ionesco
betreffs der riesigen negativen Disponibilität des Theaters heranziehen: “Das Theater kann sehr
wohl die einzige Stelle sein, wo eigentlich nichts passiert. Die privilegierte Stelle” (Ionesco,
1992:202).
2.2. Der kategorische Imperativ der Weltverbesserung.. “Der Weltverbesserer” von Thomas
Bernhard und “Les Chaises” von Eugène Ionesco werden im folgenden als symetrische Thesterstücke aufgefasst werden, in welchen symetrische Gestalten auftreten, die mit schriftstellerischen Mitteln paroxistisch unproduktiv an der Rettung der Welt arbeiten. Die Notwendigkeit ihres höchst erhabenen Unternehmens besteht in der bitteren, bzw. zerstreutbitteren Feststellung der Zerrissenheit des ‘In-der-Welt-Seins’.
2.2.1. Die Welt wird in beiden Stücken als schreckliches Draußen empfunden, das durch
Verstopfung oder Leere, durch unwiderruflichen Verfall oder betäubende Verdunstung einen an
ihr ununterbrochen verzweifeln läßt. Das Unbehagen an der Umwelt wird bei Bernhard monologisch und über eine höchst intensive Verbalisierung zum Ausdruck gebracht, wobei die Überlegungen des Weltverbesserers durch ihre Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit an der Grenze zur Raserei stehen:
Ich wäre längst verrückt
bei offenen Fenstern
Ich hasse die Natur
ich hasse frische Luft
ich hasse was von draußen hereinkommt
(Bernhard, 1988:152)
Die Beziehung zur Umwelt wird als universelle Verstörung empfunden:
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Weltverbesserung und Weltzerfall.
Thomas Bernhard: der Weltverbesserer und Eugène Ionesco: Les Chaises
Alles stört uns
alles stößt uns vor den Kopf
Wir ersticken
wir ertrinken
wir müssen zusehen
wie alles verfault (167f.)
In Ionescos Stück wird das Elend der Welt eher mild, zerstreut und gutmütig ausgedrückt,
allerdings dialogisch, wenn auch durch eine Art Widerhall-Gespräch, das den Eindruck verstärkt, dass man dem leisen Verschwimmen der Welt im Dunst des Nichts beiwohnt:
LE VIEUX: Je ne sais pas, Sémiramis, ma crotte… Peut-être, parce que plus on va, plus on s’enfonce.
C’est à cause de la terre qui tourne, tourne, tourne, tourne…
LA VIEILLE: Tourne, tourne, mon petit chou… (Silence)
(Ionesco, 1954:15)
Am Anfang des Stückes versucht der Alte durch Eintauchen in seine zerrissenen Erinnerungen sein Leben zurückzugewinnen, aber es ist alles ins Gedächnislose zerronnen, und er
erfährt dabei bloß den lächerlichen Abklatsch einer nur geahnten Realität:
LE VIEUX: Comment y arrivait-on? Où est la route? Ce lieu s’appelait, je croi, Paris…
LA VIEILLE: Ça n’a jamais existé, Paris, mon petit.
LE VIEUX: Cette ville a existé, puisqu’elle s’est effondrée… C’était la ville de lumière, puisqu’elle s’est
éteinte, éteinte, depuis quatre cent mille ans… Il n’en reste plus rien aujourd’hui, sauf une chanson.
(18f.)
Der Zerfall allein gewährleistet der Welt ihren nicht wegzudenken Realitätsanschein. Das
Elend dieser Welt ist ihre Inkonsistenz, so wie das Elend der Gestalten ihre ontische Unzulänglichkeit ist. In diesem Zusammenhang könnte das ganze Unternehmen der Alten als Inszenierung ihrer ontischen Pertinenz herausgedeutet werden.
In Bernhards Stück lebt der Weltverbesserer in einer ‘Kloake’-Welt, die ‘ausgeräumt’ werden
muss; sein Unternehmen würde also eine wesentliche Reinigung abzielen, infolgedessen man
aber zum Nichts gelangen würde:
Die Welt ist eine Kloake
aus welcher es einem entgegenstinkt
Diese Kloake gehört ausgeräumt
Das ist ja auch der Inhalt meines Traktats
Aber wenn wir die Kloake vollkommen ausräumen
ist sie leer (166)
2.2.2. Es ist ein verfehltes In-der-Welt-Sein, das -wenn wenn man das heideggersche Konzept auf grobe Verhältnisse reduziert- folgende Koordinaten entwickelt: die Welt als pervertiertes Zuhause, das leidende, sich über sein Elend klagende Ich, das gescheiterte Mit-Sein, die
Widersprüchlichkeit als wesentliche Seinbeschaffenheit.
7
8
In dieser kranken Welt, deren Sein an Verstocktheit oder Starrheit leidet, wohnt ein krankes Ich, das an Schwäche, Alter und Tod leidet.
7
8
s. N. Balot (1971:375-438).
s. Lothar Pikulik, Heiner Kipphardt: Bruder Eichmann und Thomas Bernhard: Vor dem Ruhestand, in: Deusche Gegenwartsdramatik (1987:141-182); in dieser Studie werden die Hauptzüge bernhardscher Theaterstücke pertinent zusammengefasst: “[…] die Isolation und Stagnation, die Rollenspiele und Überlebensrituale, das Betäuben der Angst
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Alina Voica
In Bernhards Stück ist die Beziehung zur Krankheit (ein Topos in seinem ganzen Werk)
schon im Motto eindeutlich ausgedrückt: “Ich bin krank. Ich leide vom Kopf bis zu den Füßen
(Voltaire)”. Die Krankheit als Existenzübel rechfertigt seine heroische Absicht, die Welt zu verbessern, aber lässt zugleich durch den riesigen Widerspruch zwischen seinem elenden Zustand
und seinem Heroismus das Unternehmen von Anfang an ins Lächerliche ziehen. Dasselbe gilt
auch für die Alten in Ionescos Stück, die sich ‘im Sterbebett’ für die Verbesserung der Welt einsetzen, und die Rolle universeller Büßer auf sich nehmen:
LA VIEILLE: […] Papa, maman, vous êtes méchants!… Je ne veux plus rester chez vous… […] On
l’entendit encore crier: C’est vous les responsables… Qu’est-ce que c’est responsable? (47)
Die Krankheit des Weltverbesserers ist ein Erkennbarwerden eines verfehlten Wohnens in
einer verfehlten Zuhause-Welt, wo alles das Sein ‘verdirbt’:
Wir haben immer
einen verdorbenen Magen
alles verdirbt uns den Magen
Ist es nicht die Küche
ist es die Philosophie
oder die Sozialfürsorge (134)
Dabei ist die Verdauung ein polemisch grobes Sinnbild jeder Wechselbeziehung oder jedes
Einfühlungsprozesses, die das Existieren in der Welt voraussetzen sollte. Dem verstörten Magen
und im Ganzen kranken Körper:
Meine Ohren sausen
mein Magen drückt mich
Meine Pupillen schmerzen (152)
entspricht übrigens explizit im Text ein unheilbar verstörter Geist:
Der kranke Körper
zieht einen kranken Geist nach sich
Die Kuranstalten versprechen nichts
Ich leide unter Verfolgungswahn
manchmal höre ich die Erde beben
und ich sehen Risse in den Wänden
In der Nacht gehe ich durch zerborstene Städte
und liege mit aller Welt im Streit (183)
Diese negativ konotierte Entsprechung ist ein parodisch perfektes Gegenbild der klassischen
Harmonie von Körper und Geist, und deutet einen universellen Verfall an.
In “Les Chaises” sind die Müdigkeit, der Schwindel und die kindische Zerstreutheit die Symptome der ‘Krankheit zum Tode’. Die hilare Verspielung der zwei Alten, die grotesk verwöhnt zu
ihrer Kindheit zurückkehren, vielleicht um über die Todesangst hinweggetröstet zu werden, ist
9
also nicht nur das Zeichen der Verkalkung , sondern auch eine Art verzweifelte Strategie zum
Wiedergewinn der Lebensfülle, die sich aber in die Melancholie des Konjunktivs auflöst:
LE VIEUX, à la Belle: Voulez-vouz être mon Yseult et moi votre Tristan? la beauté est dans les
coeurs… Comprennez-vous? On aurait eu la joie en partage, la beauté, l’éternité… l’éternité… Pourquoi n’avons-nous pas osé? Nous n’avons pas assez voulu… Nous avons tout perdu, perdu, perdu.
(43)
9
und das Anreden gegen die Sinnlosigkeit, das verkrampfte Miteinander und das gehässige Gegeneinander, die fruchtlose Wiederholung und das eintönige Kreisen um immer dasselbe […]” (174f.).
In seinem Essay “Plus fort que la mort” (1997:240-247) spricht A. Paleologu von der “sainte décrépitude du vieux
couple amoureux, plus fort que la mort” (247).
400
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Weltverbesserung und Weltzerfall.
Thomas Bernhard: der Weltverbesserer und Eugène Ionesco: Les Chaises
So wie durch das Anhäufen der Stühle, versuchen sie sich in den ‘Gesprächen’ mit den bloß
eingebildeten Gästen die Täuschung des erlösenden Miteinanders zu verschaffen. Sie sind arme
greise Kinder, die die verspäteten Genießer ihrer armen Leben spielen, indem sie die Einholung
ihrer ontischen Konsistenz abzielen. Bei der bedauerlichen Feststellung einer unerfüllten Existenz inszenieren sie sich sorgfältig einen ruhmvollen Tod, die sie in die Fülle der Signifikanz
proijzieren sollte. In der Leere, die im Vorzimmer des Todes herrscht, wo man sich zu Tode
langweilt:
LE VIEUX: Je m’ennuie beaucoup. (15)
wollen sie die Dinge endlich geschehen lassen. Was sie erreichen, ist aber “ein hochstilisiertes Ballett aus Worten und Gesten, ein Zeremoniell, das sich in immer größere
Absurdität steigert” (Kesting, 1989:144).
Die Langeweile, dieses zweifellose Symptom der ‘Krankheit zum Tode’ des Menschen, der
keinen Gefallen an den thomasmannschen ‘Wonnen der Gewöhnlichkeit’ mehr findet, quält
auch den Weltverbesserer in dem gleichnamigen Theaterstück von Bernhard:
Es ist immer das gleiche
Diese Eintönigkeit
mit der ich tagtäglich fertig zu werden habe
Mein Kopf erstickt in dieser Eintönigkeit (133)
Eine weitere Koordinate dieses verfehlten ‘In-der Welt-Seins’ ist das gescheiterte Mit-Sein,
das vor allem auf Verständigungsproblemen beruht. Der Alte hält sich für einen ‘incompris’, und
der Weltverbesserer spricht von immer ‘größeren Verständigungsschwierigkeiten’. Die Äußerungsbeschwerden des Alten (die er durch die Übergabe seiner Botschaft einem Redner überwinden will) sind in einer psychologisierten Auffassung auf eine lebenslange Frustrierung zurückzuführen, auf mangelhafte Wechselbeziehungen zu seinen Mitmenschen, und nicht zuletzt
auf eine ebenso verspielte Scheue vor seiner riesigen Pflicht wie die ganze vorgestellte himärische Gestik der zwei Alten innerhalb ihrer ganzen feierlichen Inszenierung; in der Ökonomie
des Stückes weist diese Unbeholfenheit des Alten aber auch auf die unendliche Lächerlichkeit
seines Unternehmens hin:
LE VIEUX: Ah! J’ai tant de mal à m’exprimer… Il faut que je dise tout.
LA VIEILLE: C’est un devoir sacré. Tu n’as pas le droit de taire ton message; il faut que tu le révèles
aux hommes, il l’attendent… L’univers n’attend plus que toi. (26)
Das misslungene Abenteuer der Alterität, das bei Ionesco vor allem durch das Leitmotiv der
Stühle als die deutlichsten Zeichen der Unanwesenheit der Anderen dramatisch verwirklicht
wird, wird bei Bernhard durch die Verallgemeinerung der elenden, auf Machtverhältnissen beruhenden Beziehung des Weltverbesserers zu der Frau zum Ausdruck gebracht:
Die Frau schiebt den Fauteuil vorwärts
Wir treiben doch nur Unzucht miteinander
Die Frau schiebt den Fauteuil vorwärts
Wir treiben doch nur Unzucht miteinander
Die Frau schiebt den Fauteuil vorwärts (166)
Auf der dramatischen Textebene wird das gescheiterte Mit-Sein, sowohl bei Ionesco als
auch bei Bernhard, in eine schwere ‘Sprachkrise’ umgesetzt, die aber als ‘Krise der Kommunikation’ verstanden werden sollte: “Die in der Literatur des 20. Jahrhunderts und insbesondere in
der modernen österreichischen Literatur so ausgiebig beschworene Sprachkrise ist, wie Eugène
Ionesco unmißverständlich gegen unerwünschten Beifall eingewandt hat, nicht eine Krise der
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Sprache, sondern der Kommunikation und Sprachverwendung” (Klug, 1991:92). Die Hauptkenn10
zeichen dieser Sprachkrise sind: die monomanischen oder schwindelnden Wiederholungen , die
unüberwindbaren offensichtlichen Widersprüche, die Sinnlosigkeit der Äußerungen -besonders
11
bei Ionesco, in dessen Stücken ‘die phonetische Ekstase’ die letzmögliche Konsequenz des
Sprachzerfalls ist, als offenbare Ausdrucksform des Seinzerfalls:
LA VIEILLE, même jeu: Li lon lala, li lon la laire, orphelon-li, orphelon-li-relire-laire, orphelon-li-relirela… (22);
L’ORATEUR: Mmm, Mmm, Gueue, Gou, Gu, Mmm, Mmm, Mmm, Mmmm. (86)
Was die Widersprüchlichkeit als wesentliche Seinbeschaffenheit dieses todeskranken Seins
betrifft, sie ist nicht nur das Symptom einer schweren Kommunikationskrise innerhalb der Erfahrung des Mit-Seins, sondern auch einer ebenso schweren Selbstkommunikationskrise innerhalb der Erfahrung des Ich-Seins. Die sprachlich-logischen Versehen referieren unweigerlich auf
innerliche Widersprüchlichkeit des Menschen, der seine ontische Kohärenz verloren hat oder
nicht mehr in Anspruch nehmen kann:
Jede Reise ist ein Marter für mich
Die Last die ich auf mich nehme
Ein Platz in der Sonne vielleicht
aber ich hasse die Sonne
Ein Platz im Schatten
aber ich hasse den Schatten (Ebd.,142)
und:
LE VIEUX, à la Belle: Je suis très ému… Vous êtes bien vous, tout de même… Je vous aimais, il y a
cent ans… Il y a en vous en tel changement… Il n’ y a en vous aucun changement… Je vous aimais,
je vous aime… (Ebd.,42)
Im Unterschied zu Ionescos Gestalten, verbalisiert der Weltverbesserer die Sinnlosigkeit des
In-der-Welt-Seins, und zwar in seinem rücksichtslos assertorischen Stil, der eigentlich der Stil
des ganzen bernhardschen Werks ist:
Lauter überflüssige Tätigkeiten
die keinerlei Sinn haben (Ebd.,151)
oder:
Es ist sinnlos
Jede Auseinandersetzung ist sinnlos (Ebd.,159)
Die Klage über ihren Zustand ist ihnen gemeinsam. Der Weltverbesserer beklagt seine Isolation, sein selbstgebautes und genossenes Außenseitertum:
Wir sollten einen Spaziergang machen
alles blüht draußen
10
Die Wiederholung ist bei Bernhard nicht nur der Ausdruck der Verstocktheit der Sprache in sich selbst, sondern auch
der sprachinhärenten Kraft, die ausgedrückte Krise zu relativieren.
Siehe in diesem Sinne Willi Huntemanns Einschätzung: “Diese Lesearten-Ambiguität gilt erst recht für Bernhard: die
unablässige Wiederholung von Form- und Stilmerkmalen, die ursprünglich als Ausdruck einer modernen Leidenserfahrung, ja als Diagnose der modernen Gesellschaft gelesen werden konnten, gewinnt schließlich in der Verselbständigung artistische Perfektion und damit - da der Sprache der Bezug auf Inhalte im Unterschied zur Musik inhährent ist selbstparodische Züge, die die nihilistisch-pessimistische Botschaft wieder fragwürdig erscheinen läßt. Was anfangs
durchaus ungebrochen ernst gemeint war, wird in der Selbstwiederholung zum Topos.” (W. Huntemann, “Treue zum
Scheitern”. Bernhard, Beckett und die Postmoderne, in: Thomas Bernhard. Text+ Kritik; 1974:62 f.)
11
“Der Moment des Rausches, der hilaren Trunkenheit in den Theaterstücken von Ionesco ist immer durch die phonetische Ekstase gekennzeichnet” (Balot , 1971: 429).
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Weltverbesserung und Weltzerfall.
Thomas Bernhard: der Weltverbesserer und Eugène Ionesco: Les Chaises
zu sich
und ich sitze da
eingesperrt
kein Mensch kümmert sich um mich (Ebd.,121 f.),
wobei die innerliche Widersprüchlichkeit des Menschen, der unter quälendem Liebe-Haß zu
sich und zu seiner Umwelt leidet, wieder deutlich wird. Seine selbstbildnisartigen Gewissensbisse können als selbstironische Anspielungen auf die zweifelhafte Notwendigkeit seiner Weltverbesserungsinitiative gelesen werden:
Ich weiß
ich bin ungerecht
Ich bin ein Scheusal
ich bin unverbesserlich [!]
Ich bin gerührt
tatsächlich ich bin gerührt (Ebd.,120)
Die Alten beklagen ihr gescheitertes Leben: LE VIEUX: […] Ah!… De la douleur, des regrets,
des remords, il n’y a que ça… il ne nous reste que ça… (Ebd.,47), dessen Katastrophisches sie in
ein kosmisches Unglück projizieren lässt: LE VIEUX: On prenait ma place, on me volait, on
m’assassinait… J’étais le collectionneur de désastres, la paratonnerre des catastrophes…
(Ebd.,73)
Aus diesem Elend des zerrissenen In-der-Welt-Seins wollen sowohl die Alten von Ionesco
als auch der Weltverbesserer von Bernhard einen Ausweg in der verzweifelten Selbstbehauptung ihres wertvollen Ichs finden. Die Exaltierung des Wertvollen, im Falle des
Weltverbesserers sogar Genialischen, des kranken Seins ist ihr größter Widerspruch, aber
zugleich eine lächerlich narzisstisch-übernarzisstische Strategie zur Rechtfertigung ihrer
megalomanischen Absichten, die Welt zu verbessern. Um den Widerspruch zwischen seinem
Elend und seinem angeblichen Sieg über die Kräfte des Bösen abzumildern, deutet der
Weltverbesserer, ganz selbstverständlich, auf die mögliche, auf die romantische Poetik
zurückzuführende In-Beziehung-Setzung von Krankheit und Genie hin:
Der Erzbischof hat gesagt
ich sei ein Genie
und die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat geschrieben
ich sei epochenmachend
epochenmachend hörst du
epochenmachend
Natürlich sagt das gar nichts
epochenmachend hörst du
Möglicherweise ist meine Lähmung
die Urheberin meines Genies
möglicherweise (Ebd.,140)
Während in Bernhards Text dem Weltverbesserer seine wissenschaftlichen Verdienste öffentlich anerkannt werden, bestätigt in Ionescos Stück nur die Alte die messianische Gabe ihres
Mannes, indem sie ihn über sein präletales Übel hinwegzutrösten versucht:
LA VIEILLE, le Vieux est presque calmé: Voyons, calme-toi, ne te mets pas dans cet état… tu as
d’énormes qualités, mon petit Maréchal… essuie tes larmes, ils doivent venir ce soir, les invités, il ne
faut pas qu’il te voient ainsi… tout n’est pas brisé, tout n’est pas perdu, tu leur diras tout, tu expliqueras, tu as un message… tu dis toujours que tu le diras… il faut vivre, il faut lutter pour ton
message… (23)
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In diesem ganzen Zusammenhang der unerträglichen ‘Krankheit zum Tode’ kommt die Notwendigkeit der Weltverbesserung auf folgerichtige Weise als kategorischer Imperativ des ungetrösteten Seins vor: die Welt gehört gerettet! Der Weltverbesserer und der Alte nehmen sich
dementsprechend vor, die Welt aus ihrem Unglück herauszuhelfen, indem sie der Humanität
ihre erlösende Botschaft mitteilen. Der ‘Traktat’ und ‘le message’ sind ihre wissenschaftlich
fundierten Beiträge ‘zur Verbesserung der Welt’:
LE VIEUX: J’ai mis au point tout un sistème […] (65);
Für seine “unschätzbare[n] Verdienste/ um die Geisteswissenschaft” (180):
Mein ganzes Leben habe ich nur dem einzigen
Gedanken gewidmet
wie die Welt zu verbessern sei (181)
bekommt der Weltverbesserer den Doktortitel verliehen. Im Unterschied zu dieser assertorischen, undurchsichtigen Vorstellung seiner Arbeit, spricht der Alte in Ionescos Theaterstück
feuerig-deklamatorisch über seine messianischen Phantasien in seinem eingebildeten Gespräch
mit dem Kaiser, vor dem er die ganze Nichtigkeit des Niemand in die vollkommene Seinfülle des
Retters umschlagen lassen will:
LE VIEUX: D’autre part on n’a jamais voulu me prendre en considération… on ne m’a jamais envoyé
les cartes d’invitation… Pourtant moi, écoutez, je vous le dis, moi seul aurais pu sauvez l’humanité,
qui est bien malade. Votre Majesté s’en rend compte comme moi… ou, du moins, j’aurais pu lui
épargner les maux dont elle a tant souffert ce dernier quart de siècle, si j’avais eu l’occasion de
communiquer mon message; je ne désespère pas de la sauver, il est encore temps, j’ai le plan…
hélas, je m’exprime difficilement… (Ebd.,73 f.)
Der Nüchternheit des Weltverbesserers, der seinem festen Glauben an die Überflüssigkeit
und Sinnlosigkeit jedes Redeaktes keine Konzession eingeht:
Ich habe eine Rede vorbereitet
winkt die Frau heran und flüstert ihr etwas ins Ohr, worauf die
Frau wieder zurücktritt und sich hinsetzt
Aber ich halte keine Rede
Wenn wir etwas sagen
werden wir nicht verstanden
Wenn wir die Wahrheit sagen
ist es doch nur gelogen (185)
entspricht der Wortrausch des Alten, der seine apotheotische Seinerfüllung verbalisiert:
LE VIEUX: Majesté, ma femme et moi-même n’avons plus rien à demander à la vie. Notre existence
peut s’achever dans cette apothéose… merci au ciel qui nous a accordé de si longues et si paisibles
années… Ma vie a été bien remplie. Ma mission est accomplie. Je n’aurai pas vécu en vain, puisque
mon message sera révélé au monde… (82)
2.3. Weltverbesserung kehrt um in Weltzerfall
Der Traktat des Weltverbesserers ist eine Schrift ‘zur Abschaffung der Welt’, und die Botschaft des Alten ist der Tod. Selbstmord der Alten und Weggehen-Wollen des Weltverbesserers
korrespondieren sich einander als Gestik des Abschiedes vollkommen; während aber die Alten
dabei den letzten Schritt zu ihrer vollkommenen Selbstmystiphizierung tun:
LE VIEUX: […] quant à moi et ma fidèle compagne, après de longues années de labeur pour le progrés de l’humanité pendant lesquelles nous fûmes les soldats de la juste cause, il ne nous reste plus
qu’à nous retirer à l’instant, afin de faire le sacrifice suprême que personne ne nous demande mais
que nous accomplirons quand même… (85),
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Weltverbesserung und Weltzerfall.
Thomas Bernhard: der Weltverbesserer und Eugène Ionesco: Les Chaises
bricht der Weltverbesserer in einen seiner gewalttätigen Hassanfälle aus:
Wir müssen ausziehen
wir müssen weg von hier
Mir ist das Haus verhaßt
Die Gegend ist mir verhaßt
Sie ist mir immer verhaßt gewesen
Ich halte diese Umgebung nicht mehr aus
Weg weg (187)
Die beiden heroischen Weltverbesserungsinitiativen scheitern erhaben-lächerlich an der Inkonsistenz ihres Objekts einerseits und an der zweifelhaften Konsistenz ihrer erlösenden Botschaft andererseits. Die Hörer des ‘message’ sind die leeren Stühle, und die Leser des ‘Traktates’
haben es völlig missverstanden:
Das Traurige ist
daß kein Mensch meinen Traktat verstanden hat
kein Mensch hat jemals verstanden
was ich in meinem Traktat sage (129)
Die zwei Erlöser der Welt predigen den Weltzerfall. Ihr messianisches Unternehmen steigert
in eine verblüffende Apotheose des Nichts: in Ionescos Stück setzt sich das Nichts progressiv
ein durch das Anhäufen der Stühle und die absurden Reden vor den leeren Stühlen bis zum
grotesken Gestotter des stummen Redners:
L’ORATEUR: Mmm, Mmm, Gueue, Gou, Gu, Mmm, Mmm, Mmm, Mmmm (86);
in Bernhards Stück wird das Nichts als Ergebnis des Reinigungsprozesses der Welt, den der
Traktat wissenschaftlich behandelt, monologisch in Frage gestellt:
Die Welt ist eine Kloake
aus welchem es einem entgegenstinkt
Diese Kloake gehört ausgeräumt
Das ist ja auch der Inhalt meines Traktats
Aber wenn wir die Kloake volkommen ausräumen
ist sie leer (166),
oder auch verabsolutiert, indem es bloß behauptet wird:
Nein
es ist doch nichts
nichts
nichts (121)
Diese Apotheose des Nichts geht in beiden Theaterstücken mit einer (negativen) Exaltierung
der Stille zusammen:
Die Stille
die uns alle krank macht
die krankmachende Stille (121);
LE VIEUX: Je me réveille quelquefois au milieu du silence absolu. C’est la sphère. Il n’y manque rien.
Il faut faire attention cependant. Sa forme peut disparaître subitement. Il y a des trous par où elle
s’échappe (64)
Stille, Weggehen, Tod und Nichts sind die Schwerpunkte ihrer umwälzenden Botschaft zur
Erlösung der Welt.
2.4. Scheiternde Schriften
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405
Alina Voica
Bei der Analyse der zwei parallelen Unternehmungen zur Verbesserung der Welt, die beide
jämmerlich in ihr Gegenteil, den Weltzerfall, scheitern, muss eine Bemerkung nicht außer Acht
gelassen werden: sie sind beide Unternehmungen schriftlicher Art. Über den Traktat des Weltverbesserers oder die Botschaft des Alten könnte man der Humanität die höchste Wahrheit, die
Wahrheit ihrer Rettung, offenbaren lassen. Die Offenbarung sollte also ein Wort-Ereignis sein.
Da der Zustand dieser Schriften aber die Unleserlichkeit ist, bleibt die Offenbarung aus, und das
Niederschreiben als solches wird unter Fragezeichen gestellt:
Es ist widerwärtig
sich produzieren zu müssen
Aber wir brauchen das Echo (155)
In der Thomas Bernhard-Literatur ist die Bemerkung betreffend das leitmotivische Scheitern
12
der Unternehmungen schriftlicher Art in seiner Prosa schon ein Gemeinplatz: “Die schiternde
Schrift, die ungeschriebene oder die nicht abschließbare, die nicht über den ersten Satz hinausgelangende und die alles Leben absorbierende und schließlich mit dem Leben deckungsgleiche,
also nur im Tod zu vollendende Schrift, das ist das Motiv der Motive Bernhards […]” (Bartmann,
1974:24). Der Traktat in diesem Theaterstück ist ebenfalls eine große Abwesenheit, so wie die
Botschaft des Alten in Ionescos Stück, die in beiden Fällen bloß als Wachrufung im Text vorkommen.
Das große Thema der beiden Texte ist ein Text, den man nicht auszusprechen vermag, weil
er nicht auszusprechen ist, und den man dementsprechend bloß wachruft. Die unendliche
Strecke zwischen Wachrufen und Sein füllt man in beiden Texten mit Vorbereitung, Vorstellung, Inszenierung:
Die Vorbereitung allein
erfordert schon alle Kräfte
auf dem Höhepunkt des Ereignisses
bin ich vollkommen geschwächt
Aber ich darf mich nicht selbst verrückt machen
Kopf hoch
Hoch der Kopf (144)
Auf ontischer Ebene entspricht dieses Herausschieben des Textes, wie schon angedeutet, einem lebenslangen Herausschieben des Seins, im Rahmen einer schweren ontischen Unzulänglichkeit; auf poetischer Ebene könnte dieses metatextuelle Ausblenden des Textes, dessen Thema die ganze teleologische Substanz der humanistischen Unternehmungen (die Verbesserung
der Welt) ist, eine bittere Selbstparodie der Literatur kodifizieren.
Schlussfolgerung
Was den “Weltverbesserer” von Thomas Bernhard und “Les Chaises” von Eugène Ionesco
fundamental verbindet, ist die unüberwindbare Dialektik Weltverbesserung-Weltzerfall, die sich
im Rahmen einer vollkommenen Logik der im Kreise laufenden Folgerichtigkeit des Scheiterns
abspielt: man ist nicht (richtig); das verfehlte In-der-Welt-Sein gehört verbessert; das Ergebnis
des Verbesserungsvorgangs wäre das Nichts.
12
s. auch A. Pontzen: “Das Objekt, das den Lebenssinn setzt und an dem sich das existenzielle Versagen des Individuums vollzieht, ist die scheiternde, nie begonnene, nie zu Ende gebrachte oder nach Vollendung zerstörte, verschwundene Studie. Sie stellt ducrch ihre Abwesenheit das fehlende Zentrum der dezentrierten Texte dar und wird als
Leerstelle zur suggestiv bildlosen Metapher” (2000:312).
406
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Weltverbesserung und Weltzerfall.
Thomas Bernhard: der Weltverbesserer und Eugène Ionesco: Les Chaises
Nicht die im ganzen bernharschen Werk unweigerlich polemisch gemeinte Welt13
abschaffung ist die Lösung, - die Lösung gibt es nicht.
Literatur:
1.
2.
Bartmann, Christoph (1991): Vom Scheitern der Studien: Das Schriftmotiv in Bernhards Romanen. In: Arnold,
Heinz Ludwig (Hrsg.): Thomas Bernhard. Text+Kritik. H. 43. München, 22-30.
Bernhard, Thomas (1978): Ja. Suhrkamp. Frankfurt a.M.
- (1986): Auslöschung. Ein Zerfall (1.Aufl. 1986). Suhrkamp. Frankfurt a. M.
- (1988): Stücke 3. Vor dem Ruhestand. Der Weltverbesserer. Über allen Gipfeln ist Ruh. Am Ziel. Der Schein
trügt. Suhrkamp. Frankfurt a.M.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Balot`, Nicolae (1971): Lupta cu absurdul [Der Kampf mit dem Absurden]. Univers. Bucure[ti.
Höller, Hans (1993): Thomas Bernhard. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg.
Huntemann, Willi (1991): “Treue zum Scheitern”. Bernhard, Beckett und die Postmoderne. In: Thomas Bernhard.
Text+Kritik, 42-75.
Ionesco, Eugène (1934): Nu [Nein]. Vremea. Bucure[ti.
- (1954/1958): Les Chaises suivi de L’Impromptu d’Alma. Collection Folio. Gallimard, Paris.
- (1968): Présent Passé. Passé Présent. Mercure de France. Paris.
- [(1962): Notes et Contre-notes. Gallimard. Paris]
- (1992): Note [i contranote. Din francez` de Ion Pop. Humanitas. Bucure[ti.
Kesting, Marianne (1989): Das epische Theater: Zur Struktur des modernen Dramas. 8. Aufl. (1. Aufl. 1959). Kohlhammer. Stuttgart. Berlin. Köln.
Klug, Christian (1991): Thomas Bernhards Theaterstücke. Metzler Studienausgabe. Stuttgart.
Paleologu, Alexandru (1997): Despre lucrurile cu adev`rat importante [Über die Sachen, die wirklich zählen].
Polirom. Ia[i.
Pikulik/ H. Kurzenberger/ G. Guntermann (Hrsg.) (1987): Deutsche Gegenwartsdramatik. Vandenhoek & Ruprecht.
Göttingen.
Pontzen, Alexandra (2000): Künstler ohne Werk: Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur
von Wackenroder bis Heiner Müller. Schmidt. Berlin.
13
Es wurde gesagt, dass manche vor ihren ‘Zerstörungsphantasien’ in die Literatur fliehen, und dass fiktionale und
reale Weltabschaffung nicht weit weg voneinander liegen würden. Benjamin Henrich z.B. stellt die Frage “[…] ob es
nicht seltsame, bedrückende Verwandtschaften gibt zwischen Bernhard-Poesie und Nazi-Philosophie, zwischen einem
radikalen Dichter, der die Welt am Schreibtisch vernichtet, und radikalen Spießern, die Ernst machen müssen, weil sie
sich aus ihren Zerstörungsphantasien nicht in Literatur retten können. ‘Wir sind eine Verschwörung gegen den Ungeist
des Lebens’, sagen die Nazi-Geschwister stolz auf ihre Isolation, auf ihr Eremitendasein- so ähnlich tönte es auch
schon aus Ohlsdorf. Und wie weit ist der Weg von der (literarischen) Menschenverachtung zur (praktischen) Menschenver-nichtung?” (B. Henrich zit. nach L. Pikulik, 1987:177f.). Wenn man aber keine Autonomie des Ästhetischen
beachten würde, würde man die Schriftsteller aller Unzucht ihrer Helden beschuldigen. Der Weg von der Realität zur
Fiktionalität ist so weit wie der Weg von Dostojewski zu Raskolnikow.
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407
REPRÄSENTATION LITERARISCHER TEXTE
im dokumentarischen Fernsehen
Bianca Herlo
Einleitende Bemerkungen
In der Filmtradition besteht die Tendenz, die ästhetischen Ideale aus den klassischen bildenden Künsten auf den Film zu übertragen. Damit entstand eine visuelle Kultur, auf der das
Leitbild vom Vorrang des Bildes vor dem Wort beruht. Dieses vielfach auch in der neueren Dokumentarfilmpraxis vertretene Superlativ, das Bild sei das Wichtigste, ist hinsichtlich des Bedeutungsaufbaus und des Verhältnisses von Sprache und Bild jedoch revisionsbedürftig. Mit
meiner Arbeit habe ich u.a. darauf hinweisen wollen, dass bei der Darstellung filmischer Wirklichkeit nicht das filmische Bild maßgebend sein kann, sondern, neben anderen Ton-BildRelationen, hauptsächlich die Kombination von Sprache und Bild. Ausgehend von der Annahme,
dass es keine grundsätzliche Priorität zwischen den beiden, hier behandelten Zeichensystemen
1
gibt, habe ich im Hinblick auf die Entwicklungsmöglichkeiten des dokumentarischen Arbeitens
die visuelle Umsetzung literarischer Sprache im dokumentarischen Fernsehen herausgearbeitet,
insbesondere in den Kurzbeiträgen der Literatur- und Kulturmagazine.
Grundsätzlich habe ich mich auf die Verfahren konzentriert, die der semantischen Beein2
flussung von Wort und Bild zugrunde liegen. Der vorliegende Aufsatz soll einige Ergebnisse
vorstellen.
Zu den Magazinbeiträgen
Neben den Fernsehdokumentationen, die sich mit Schriftstellern und ihren Werken beschäftigen, bilden die einzelne Beiträge der Kultur- und Literaturmagazine das Forum des medialen Diskurses über Literatur.
Wenn der Vorwurf der Wortlastigkeit dem dokumentarischen Fernsehen im allgemeinen anhaftet, so gilt er als besonders treffend für die Arbeitsweise der Kultursendungen, die stark
journalistisch geprägt sind. Kurze Produktionszeiten, stark limitierte Mittel und nicht zuletzt die
Beschränkung auf maximal 10 Minuten Beitragslänge sind die am meisten angegebenen Gründe für das Fehlen einer komplexen Auseinandersetzung mit der Thematik. Der Vorwurf liegt
nahe, dass der Kommentar dementsprechend das leisten muss, was mangels Produktionsmittel
und -zeit nicht mit Bildern erreicht werden kann (vgl. dazu auch die Podiumsdiskussion Fern1
2
Ausführlich zum Begriff des Dokumentarischen vgl. Stott 1986; Nichols 1981; Hohenberger 1988.
Die Komplexität der Beziehungen zwischen Sprache und Bild in all ihren Manifestationen erfordert eine weitaus
tiefgehendere Untersuchung, als sie in diesem Rahmen vorgenommen werden konnte. Im Hinblick auf den Eingang
literarischer Sprache in den Filmtext liefert gerade die Untersuchung semantischer Aspekte der Wort-BildBeziehungen die Basis für weitere, syntaktische und pragmatische Betrachtungsweisen.
Repräsentation literarischer Texte im dokumentarischen Fernsehen
seh-Dokumentarismus in: Zimmermann 1994, 329 ff). Im Vordergrund steht dabei die journalistische Recherche und der Informationsgehalt, der sich im Fall von Literaturbeiträgen auf konkrete Datenangaben zum Schriftsteller/ zur Schriftstellerin, Inhaltsangabe des präsentierten
Werkes sowie Verweise auf das literarische Gesamtwerk der vorgestellten Person beschränkt.
Ungeachtet dieser Vorwürfe und Rechtfertigungen habe ich einige repräsentative Kurzbeiträge der Kulturmagazine ‚Kulturzeit‘ (3sat) und ‚Metropolis‘ (Arte) sowie des Literaturmagazins
‚Lesezeichen‘ (BR) auf die ihnen zugrundeliegenden Muster der Wort-Bild-Verwendungen analysiert. Es ging dabei nicht um die Konzepte und Ausrichtungen der jeweiligen Magazine, die
unterschiedlich mit und ohne Anmoderation arbeiten und unterschiedliche Schwerpunktlegungen aufweisen, sondern um die konkrete funktionale Verwendung der Ausdruckmaterien
Wort und Bild zur Konstituierung bestimmter Bedeutungen und Wahrnehmungsmodi.
Die gesichteten Beiträge, aus denen einige exemplarisch hier herangezogen werden, wurden
zwischen August und Oktober 2002 gesendet. Der Zeitraum von drei Monaten gibt für die Betrachtung ausreichend Aufschluss über die den jeweiligen Sendungen zugrundeliegenden
Muster und kann somit als repräsentativ gelten. Die Auswahl der Beispiele erfolgt zum einen
aufgrund ihres exemplarischen Charakters betreffend die formale Bearbeitung der Themen, zum
anderen aufgrund einer aus dem Rahmen fallenden Herangehensweise.
Das Format der einzelnen Magazinbeiträge ist weitgehend standardisiert: Im Zentrum stehen eine kurze Inhaltsangabe oder ein Hinweis auf die wichtigsten Themen des Bandes, ein
Kurzinterview mit dem Autor, möglicherweise ein Interview mit einem Kritiker, biografische
Angaben und Zusammenhang zu anderen Werken. Einige Beiträge beleuchten das politische
und gesellschaftliche Umfeld der Schriftsteller, insbesondere bei der Vorstellung ausländischer
Literatur – all dies innerhalb einer Gesamtlänge von durchschnittlich 8 Minuten, bei Metropolis
3
gelegentlich bis 15 Minuten.
Die Präsentation von Literatur in den Kultursendungen geschieht mitunter mit dem Ziel,
zum Lesen des vorgestellten Buches oder Schriftstellers aufzumuntern. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die im Medium Fernsehen präsentierten Titel überwiegend positiv, als lesenswert dargestellt werden - anders als die Besprechungen in den Feuilletonteilen der Presse, in
denen eindeutige Verisse zu lesen sind. Verwunderlich jedoch ist die Tatsache – um es vorwegzunehmen –, dass Schriftsteller und Werke mit einigen wenigen Ausnahmen eindimensional
und unkritisch beleuchtet werden. Dabei kann gerade die kritische, personalisierte Interpretation, die eine Eigenbewertung des Präsentierenden erfordert, erst das Interesse für die
Auseinandersetzung mit literarischen Werken wecken: Auch wenn ein besprochenes Buch verrissen wird, kann der bewusste Einsatz der eigenen Subjektivität den Zuschauer gegenüber dem
Wiedergebenen bewaffnen und zur eigenen Auseinandersetzung auffordern.
3
Erwähnt sei hier, dass die thematische Auswahl grundsätzlich von den kanonisierten Vorschlägen der Presse bestimmt
wird, von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bis zur „Zeit“ (mit Ausnahme der französischen Produktionen für
‚Metropolis‘), wobei sich abweichende Beiträge zumeist aus der ›optischen Attraktivität‹ eines Stoffs ergeben. Um mit
dem Medienpublizist Gerhard Lampe zu sprechen: „Gut hat es Martin Walser, er wohnt am Bodensee und kann mit
uns segeln gehen. Große Chancen haben südliche Autoren. Da kann man Siena zeigen, Rom oder Napoli. Oder Havanna. [...] Der Litera-Tour-Ismus dominiert so sehr, dass für ›Schwieriges‹ kaum Platz ist.“ (Lampe 1988, 83) Wenn auch
die „Hofberichterstattung“, wie Geisler es ausdrückt (Geisler 1988, 177), als auflagensteigernde Bekanntgabe der
neuesten Buchpublikationen eines etablierten Autors wie Günter Grass einen wichtigen Teil der Magazinbeiträge
ausmacht, so wird auch die Entdeckung junger, unbekannter Autoren zunehmend gefördert.
ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
409
Bianca Herlo
Begriffsbestimmung
Die semantische Beeinflussung von Wort und Bild habe ich anhand der Qualitäten der Zuordnung
4
analysiert, wie sie Reinhold Rauh für den fiktionalen Film erarbeitet hat . Ich möchte zunächst die vier
Grundformen vorstellen, auf die meine Untersuchung der heutigen Praxis der Magazinbeiträge aufbaut:
›Potenzierung‹, ›Modifikation‹, ›Parallelität‹ und ›Divergenz‹.
Die Potenzierung ist die hauptsächliche Qualität des Interferierens und meint die gegenseitige Steigerung, indem sich beide Aussageebenen ergänzen und damit ein größeres, übergeordnetes Ganzes ergeben: „Potenzierungen ermöglichen den sprachlich-bildlichen Gesamteindruck, für den die (mögliche) eigenständige Signifikanz des Verbalen oder Visuellen verwischt ist. Sie sind Garanten des Kino-Naturalismus, für den, wie im alltäglichen Leben, das
Sprachliche und das Visuelle in den jeweilig spezifischen Ausdrucksmaterien zumeist keine
besondere Relevanz haben und allein der Mitteilung der Nachricht dienen.“ (Rauh 1987, 76)
Eine Potenzierung im semantischen Sinne liegt dann vor, wenn Teilinformationen des Gesprochenen dem Visualisierten zuordenbar sind. Dies impliziert, dass der Text gegenüber dem
Bild über relevante zusätzliche Informationen verfügt, die auf der Ebene des filmischen Bildes
nicht vorhanden sind.
Bedeutung entsteht durch das Generieren bestimmter im Bild enthaltener Informationen
durch das Gesprochene, denn Text und Bild verschränken sich tiefenstrukturell in der Weise,
dass Sprache das Wahrnehmungsmuster für das konkrete Bildmaterial vorgibt, wie umgekehrt
die dem sprachlichen Muster entsprechenden und von ihm generierten Seme dieses konkretisieren und visuell erfahrbar machen.
Modifikation bedeutet eine gegenseitige Einschränkung, weil das Bild Aspekte enthält, die
zum Wort im Widerspruch stehen und damit eine Einschränkung in der Bedeutung des Wortes
und auch des Bildes erzeugen. „Modifikationen kommen wesentlich durch Generierung von
Oppositionen im Bild zustande und können im Übrigen auch noch nach den Merkmalen ›konträr‹ vs. ›kontradiktorisch‹ dichotomisch aufgeschlüsselt werden.“ (Rauh 1987, S. 84)
4
Rauh hat 1987 eine umfangreiche Kombinatorik der Wort-Bild-Beziehungen entwickelt, die, neben raum-zeitlichen
Zuordnungskriterien, semantische, pragmatische und syntaktische Aspekte berücksichtigt. In Anlehnung an Chateau/Jost hat er die Trennung von ›On‹ und ›Synchron‹ aufgegriffen und danach klassifiziert, ob sich eine räumliche
und zeitliche Zuordnung zwischen Wort und Bild feststellen lässt. Dabei entstanden folgende Verbindungsmöglichkeiten: 1. Wort und Bild lassen sich einander zeitlich wie räumlich zuordnen* (syntop-synchron). Diese Verbindung entspricht dem, was gewöhnlich ›On‹ genannt wird: Die Quelle des Gesprochenen ist hier optisch verifizierbar und das
Gesprochene verhält sich synchron; 2. Wort und Bild lassen sich einander zeitlich, aber nicht räumlich zuordnen. Diese
Kombination entspricht am ehesten der französische Bezeichnung ›hors du champ‹ oder dem, was im Englischen ›off
the screen‹ genannt wird. Besonders oft findet sie Anwendung im sogenannten Schuss-Gegenschuss-Verfahren, wenn
das Sprechen einer Person sich in der Zeit der nächsten, den Antagonisten visualisierenden Einstellung fortsetzt.
(asyntop-synchron) 3. Es kann auch – sehr viel seltener – eine räumliche Zuordnung ohne zeitlichen Bezug bestehen,
wenn beispielsweise die Schallquelle zwar im Bild ist, der Ton aber dem Bild beim Sprechen den Lippenbewegungen
nachhinkt. (syntop-asynchron) 4. Schließlich kann es ein Nebeneinander von Wort und Bild geben, ohne dass sie einander räumlich noch zeitlich zuordenbar sind. Hier ist also weder die Schallquelle des Gesprochenen zu sehen, noch
fällt der Zeitpunkt des Sprechens mit dem Zeitpunkt der Visualisierung zusammen. (asyntop-asynchron)
Daneben bieten gerade die Qualitäten der Zuordnung für die Erfassung des Ton-Bild-Phänomens im Dokumentarfilm
einen willkommenen Ansatz, vgl. hierzu Rauh 1987; Chateau/Jost 1979.
*Mit ›zeitlich zuordenbar‹ ist synchron gemeint, ›räumlich zuordenbar‹ bedeutet, dass die Schallquelle visualisiert ist. Als
Abkürzung benutzt Rauh den Neologismus syntop.
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Repräsentation literarischer Texte im dokumentarischen Fernsehen
Eine semantische Modifikation liegt demnach vor, wenn das Sprachliche dem filmischen
Bild zuordenbar ist und im sprachlichen Teil noch Informationen enthalten sind, die Informationen des Bildes widersprechen. Eben jene visuellen Informationen werden aber erst durch das
Sprachliche generiert bzw. bekommen dadurch Aufmerksamkeit. Es entsteht dabei der Eindruck,
dass das Bild als eigenständige Ausdrucksmaterie kommentiere. Modifikationen können oft als
Mittel zur Ironie eingesetzt werden und relativieren meistens das Gesagte. Diese Kombination
erlaubt es, den Kommentar als allwissende Instanz in seiner Lehrhaftigkeit beispielsweise zu
entlarven.
Bei der Charakterisierung der darzustellenden Protagonisten etwa kann ein solcher dialektischer Aufbau zur komplexen Darstellung möglicherweise unentbehrlich sein.
Von Parallelität ist hier die Rede, wenn die Informationen des sprachlichen Teils mit denen
des visualisierten Bildes semantisch deckungsgleich sind, das heißt es gibt auf sprachlicher
Ebene keine zusätzlichen, dem Bild zuordenbaren Informationen. Am einfachsten sind Parallelitäten auszumachen, wenn entweder das Sprachliche oder das Bildliche den Anschein erwecken,
überflüssig zu sein, wobei die visuelle Bedeutung auch in diesem Fall erst durch den Text
generiert wird.
Parallelität von Sprache und Bild wird in den gängigen Darstellungen des Verhältnisses
dieser Zeichenmaterien als das bei Anwendung des Kommentars besonders zu Umgehende
eingeschätzt. Diese Einstufung kann jedoch irreführend sein und pauschalisiert die Komplexität
der Ausdrucksmaterien Bild und Sprache. Parallelität von Verbalem und Visuellem kann beispielsweise von ästhetischem Nutzen sein, wenn es darum geht, die Spezifität der verwendeten
Materien verfahrensmäßig zu demonstrieren – denn man sagt etwas anderes, wenn man das
Gleiche auf andere Weise sagt. Auch kann Parallelität, beispielsweise bei der schriftlichen Darstellung des gleichzeitig verbal Wiedergegebenen, zur Intensivierung des Verständnisses beitragen, eine kontemplative Wahrnehmung herbeiführen oder Zusätze wie die persönliche
Handschrift des Autors u.ä. beinhalten. Es handelt sich hierbei keineswegs um unnütze Wiederholungen.
Von Divergenz ist dagegen zu sprechen, wenn das Wort Informationen liefert, die keinen
Bezug zum Bild herstellen, aber als dazugehörig empfunden werden und deshalb oft nur im
übertragenen Sinn zugeordnet werden können.
Die visuelle Ebene kann dabei metaphorisch auf Informationen des Sprachlichen bezogen,
das Sprachliche in einen völlig neuen, aus der gewohnten Wahrnehmung herausgerissenem
Kontext gestellt werden. Die semantische Divergenz eignet sich demnach, Metaphern zu bilden
5
und freie Assoziationen zuzulassen. Auch wenn Bild und Sprache keine gemeinsamen Inhalte
aufweisen, so bezieht der Zuschauer sie wegen des zeitlichen Verhältnisses automatisch aufeinander und vereinigt sie auf einer synästhetischen Ebene.
Die semantische Divergenz ist es auch, die Béla Balázs mit seiner Theorie über die ›Filmlyrik‹
anvisierte (vgl. Balázs 1980, 222). Auch in Harun Farockis filmischer Auseinandersetzung mit
Medien „Der Ärger mit den Bildern“ (1973) werden Divergenzen als Alternative für die Praxis
der Fernseh-Features empfohlen: Das Bild müsse als Symbol für das Gesprochene eingesetzt
werden, um der üblichen audiovisuellen Scheinordnung zu entgehen.
5
zum Begriff der Metapher vgl. Black 1996 oder Ricoeur 1986; zu filmischen Metaphern Whittock 1990.
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Wie auch Modifikationen können Divergenzen die bewusste Wahrnehmung von Ton und
Bild fördern, da sie weniger eine ›naturalistische‹ Wiedergabe realer Verhältnisse anstreben, als
vielmehr Bedeutungssysteme entstehen lassen, die mentale Bilder (Deleuze) durch wechselseitige Ergänzung und Infragestellung von Bildfolge und Tonspur erzeugen. (vgl. dazu auch
Blümlinger 1992, Zwischen den Bildern lesen, 12)
Anhand der Unterscheidung semantischer Potenzierungen, Modifikationen, Parallelitäten
6
oder Divergenzen, die jeweils unterschiedliche Modi der Wahrnehmung generieren, konnte die
verfahrensmäßig angewendete semantische Beeinflussung der beiden Ausdruckmaterien betrachtet und dadurch deutlich gemacht werden, inwieweit Annäherungen an Werke und Personen interpretativ, dialektisch oder rein informativ aufgebaut sind. Inwiefern wird eine Öffnung
der Interpretationsräume, eine Einfühlung in Stil und Sprache der Schriftsteller und Schriftstellerinnen unterstützt?
Ergebnisse
➧
Potenzierung:
Die Analyse der gesichteten Beiträge hat gezeigt, dass sich Wort und Bild hier grundsätzlich
semantisch potenzieren.
Die am meisten verwendete Art der Potenzierung ist die asyntop-asynchrone verbale Mitteilung von Basisinformationen über die Schriftstellerpersönlichkeit bei deren Visualisierung in
vertrauter Umgebung sowie das syntop-synchrone Interview, das Gespräch, bei dem der Filmautor meistens nicht visualisiert wird. Letzteres steht dabei eindeutig im Vordergrund: Die
eigenen Äußerungen des Protagonisten erlauben dem Rezipienten am besten, über Sprache,
Mimik und Gestik die Person zu erfassen.
Exemplarisch für semantische Potenzierungen, wie sie in den Kultursendungen eingesetzt
werden, steht der Film über George Tabori und seine Autobiografie „Autodafé. Erinnerungen“ (8
min., Metropolis, 31.08.; Autorin: Sabine Möhring). Der Beitrag nimmt das Erscheinen des Buches zum Anlass, um sich dem Leben des Schriftstellers und Theaterregisseurs zu nähern. Zur
Mitteilung biografischer Daten werden auf bildlicher Ebene historische Dokumente eingebunden, die darüber hinaus Verweise auf das Gesamtwerk des Protagonisten gewährleisten.
Im Vordergrund steht das Gespräch mit dem Schriftsteller, der zu bestimmten Themen Stellung
bezieht. Die Autorin verzichtet auf Zitate aus dem vorgestellten Buch und lässt dafür Tabori
selbst autobiografische Erinnerungen, die im Werk enthalten sind, nacherzählen. Der Anfang
des Beitrags soll hier als Beispiel für die potenzierende Einführung des Protagonisten, wie sie
überwiegend vorgenommen wird, dienen:
Vorgestellt wird Tabori mit einer asyntop-asynchronen Verbindung in Form von Kommentar
über seine Arbeit an einer Inszenierung in der Gedächtniskirche, über seine trotz fortgeschrittenem Alter weitergeführte Tätigkeit als Schriftsteller und Theaterregisseur („Er ist 88
Jahre alt und steht immer noch auf der Bühne“), während die Bildebene potenzierend Aufnahmen von Proben zur Opernbearbeitung „Entführung aus dem Serail“ von Mozart und dabei
Tabori bei der Arbeit zeigt. Durch die gemeinsamen Seme der beiden Ausdrucksmaterien entsteht für den Zuschauer ein klarer Eindruck über den Darzustellenden, bei dem die Bilder unterstützend wirken. Sie bieten auf nonverbaler Ebene einen Einblick in Taboris Regiearbeit und
seinen Umgang mit Mitarbeitern. Die hier sichtbare Genugtuung, mit der Tabori seine Arbeit
6
Wichtig sind in diesem Zusammenhang die dokumentarischen, fiktionalisierenden und ästhetischen Modi der Bedeutungskonstitution im Sinne Odins Semio-Pragmatik, vgl. dazu Odin 1989 und 1994.
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verrichtet, wirkt asimultan potenzierend auf die im weiteren Verlauf des Beitrags verbal geäußerte Leidenschaft für die Bühne, die für den Weltenbummler Tabori als einzige Heimat gilt.
Der Kommentar spielt für die dokumentarische Form von Kurzbeiträgen eine besondere Rolle: Er
adressiert sich direkt an den Zuschauer als vermittelnde, erklärende und beschreibende Instanz,
denn er hat in semantischer Hinsicht eine konstatierende Funktion. Zahlreiche Beiträge zeigen
jedoch, dass die Lieferung von Zusatzinformationen ins Unverständliche kippen kann, wenn die
Informationsdichte auf beiden Mitteilungsebenen - des Bildes und des Kommentars - zu hoch
ist.
Die Problematik der Informationsüberfrachtung ist in der Praxis allgemein bekannt, und es
gibt auch zahlreiche Konzepte von Fernsehschaffenden, sie zu umgehen. Bei Troller etwa beruht
dies rein technisch darauf, dass er Kommentare nur auf Totalen, nicht auf Großaufnahmen oder
auf bewegte Einstellungen verwendet: „Da kannst du kommentieren, ohne dass der Zuschauer
das Gefühl hat, da erklärt mir einer laufend etwas.“ (Troller 1994, 138) Auf die Schwierigkeiten
der Informationsvermittlung, wie sie bei den unterschiedlichsten Verfahren auftreten können,
soll hier aber nicht weiter eingegangen werden. Festzuhalten ist lediglich, dass diese Schwierigkeiten auch bei Potenzierungen vorkommen.
➧
Modifikation:
Bei der Analyse der Beiträge hat sich überraschenderweise herausgestellt, dass sie in der
semantischen Beeinflussung von Wort und Bild äußerst selten Modifikationen, Parallelitäten
und Divergenzen verwenden. Modifikationen etwa gewährleisten ein dialektisches Verhältnis
zwischen den Ausdrucksmaterien und schaffen eine differenzierte Darstellung des Protagonisten, indem sie diesen kontrovers zeigen sowie eine involvierte, persönliche Teilnahme des
Filmautors implizieren. Die anfänglich so auffällige Tatsache, dass die Beiträge einen kaum
kritischen Zugang zu den Schriftstellerpersönlichkeiten ermöglichen, ließe sich mitunter auf
das Fehlen einer verfahrensmäßigen Anwendung von Modifikationen zurückführen. Eine Ausnahme stellt hierbei der Beitrag über den Debütautoren Mark Z. Danielewski mit House of
Leaves (10 min., Metropolis, 19.10.). Der Amerikaner Danielewski, zu Besuch in Paris, hat 12
Jahre an einem ungewöhlichen, „kaum einzuordnenden“ 700 Seiten starken Grusel-Roman
geschrieben. Pierre-André Boutang führt anlässlich der Erscheinung in französischer Übersetzung mit ihm ein Gespräch auf der Terasse eines Pariser Cafés.
Formal strukturiert sich der Beitrag durch den Wechsel zwischen Gespräch und Einblendungen von Buchpassagen, aus denen sprachlich zitiert wird. Auffällig ist dabei die involvierte, teilweise visualisierte Präsenz des Filmautors, dessen provokative Fragen und Bemerkungen nicht, wie allzuoft der Fall, herausgeschnitten werden. Diese deutlich gekennzeichnete persönliche Sicht- und Herangehensweise des Interviewers erlaubt dem Zuschauer
eine eigene Beurteilung und Meinungsbildung: Durch seine Subjektivität bekennt sich der
Präsentierende zu einer Interpretation und weist das Dargestellte als Vermittelndes aus.
Die dabei verwendeten Modifikationen bestärken zum einen die humoristische Art des
Schriftstellers, schaffen zum anderen Widersprüche in seiner Darstellung und Selbstdarstellung,
die ihn als kontroverse Person offenbaren. Wenn etwa Danielewski im Laufe des Gesprächs
provokativ zum Singen aufgefordert wird, woraufhin er tatsächlich über eine Minute lang singt,
so hat das doppelten Charakter: Die hier offensichtliche Modifikation (der Zuschauer nimmt
den Protagonisten als Schriftsteller wahr, der aber plötzlich anfängt zu singen) wirkt humoristisch und verfremdend; sie unterstützt die untergründig spielerische Art, die Danielewski wie
auch das Buch kennzeichnet. Auf der anderen Seite zeigt sich hier die Zwiespältigkeit des Filmautors: Er mag sich nicht recht entscheiden, wie ernst er das Werk und seinen Verfasser
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nehmen soll. Diese Haltung offenbart sich besonders in der letzten Einstellung, bei der Danielewski gefragt wird, ob er sein Buch als großes Werk oder als völlige Hochstapelei betrachte.
Der Schriftsteller antwortet darauhin: „Hochstapelei! Ein Buch so wie ich: Ich bin ein Schauspieler, der die Rolle des Mark Z. Danielewski spielt. Das ist ein blinder Alter, der in Los Angeles
wohnt.“ Diese letzte asimultane Modifikation, die der vorhergehenden Auseinandersetzung mit
dem Buch widerspricht, rundet unterstützend die persönliche Haltung des Filmautors ab. Die
endgültige Verwirrung (durch die vermeintliche Infragestellung der Identität des Schriftstellers)
wird dem Werk selbst gerecht und gibt verfahrensmäßig das Ungewisse, Haltlose des Buches
filmisch wieder. Der Beitrag lässt die Frage offen: der Zuschauer hat selbst über das Buch zu
entscheiden, und das am besten, indem er es liest.
➧
Parallelität:
Parallelitäten können zum einen von ästhetischem Nutzen sein, wenn sie etwa die Spezifität der verwendeten Medien demonstrieren und somit verfremdend wirken. Filmgeschichtlich
gibt es einige Beispiele, die Parallelität von Bild und Sprache radikal genützt haben, um hier nur
Bresson zu nennen (etwa in „Le journal d’un curé“ von 1951), dessen „Verdoppelung“ (vgl. Farocki 1992, 133) das entscheidende Mittel war, um die Differenz der beiden Materialitäten
darzustellen. Parallelitäten bergen aber gerade in dokumentarischen Kurzbeiträgen auch die
Gefahr in sich, zu „unnützen Wiederholungen“ (Mitry 1965, 1049) zu verkommen und neigen
dazu, den Zuschauer in seiner Aufnahmefähigkeit zu entmündigen.
In den untersuchten Beiträgen ließen sich, abgesehen von einigen punktuell eingesetzten
semantischen Parallelitäten von Verbalem und Visuellem (etwa im Beitrag über Richard Ford
und sein Buch „Eine Vielzahl von Sünden“, in dem es an einer Stelle im Kommentar heißt: „mit
jedem Zug aus der Zigarette, mit jedem Schluck aus dem Weinglas geben sie sich neuen Mut
[...]“, während die nachinszenierten Detailaufnahmen eine glühende Zigarette, ein zum Mund
geführtes Weinglas visualisieren; 5 min., Lesezeichen, 6.10., Autor: Thomas Leuchtenmüller),
keine nennenswerte Beispiele finden.
Lediglich eine verfahrensmäßig eingesetzte Parallelität möchte ich erwähnen: im Beitrag zu
Veronique Olmis „Meeresrand“ (8 min., Metropolis, 17.08.) wird eine handgeschriebene Seite
aus dem Manuskript visualisiert, aus der Olmi asyntop-asynchron zitiert. Die semantische Parallelität fokusiert die Aufmerksamkeit auf den Text, wobei das Bild zusätzlich einen Eindruck
der persönlichen Handschrift der Schriftstellerin vermittelt und darüber hinaus signalisiert, dass
sie ihre Manuskripte handschriftlich verfasst.
➧
Divergenz:
Enttäuschend war bei der Analyse die Feststellung, dass Divergenzen kaum verwendet werden. Dabei eignen sie sich besonders, über die reine Inhaltsangabe hinauszugehen und Interpretationen assoziativ und metaphorisch zu fördern. Die Mehrzahl der Beiträge hat gezeigt,
dass Interpretationen dagegen wenn, dann meist verbal und äußerst entpersonalisiert in die
inhaltliche Wiedergabe eingeflochten werden. Auf die verwendete literarische Sprache wird
ledliglich durch Zitate eingegangen, ohne dass der visuellen Ebene Interpretationsmöglichkeiten eingeräumt werden. Dabei soll aber gerade die Beschäftigung mit Literatur im Fernsehen
die kreative Auseinandersetzung mit zwei verschiedenen Medien vorstellen, die das ästhetische
Potenzial des bewegten Bildes auf den literarischen Text zurückspiegelt, also durch die Bewusstmachung der Verschiedenheit der Materialitäten, sprich der verbalen Sprache und der
Bildsprache, erst die rückwirkende Interaktion ermöglichen.
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Repräsentation literarischer Texte im dokumentarischen Fernsehen
Ein gängiges Muster im Umgang mit Zitaten ist dagegen folgendes: Viele Beiträge visualisieren Seiten aus den Büchern, die jedoch durch zahlreiche Überblendungen, Zooms und Fahrten weder die Konzentration auf den Text fördern (wie dies bei Parallelitäten der Fall wäre),
noch Raum für zusätzliche Informationen bieten. Lediglich durch Wortfetzen und Satzteile, die
der Zuschauer zwischen zwei Überblendungen auffangen kann, wird deutlich, dass es sich um
simultan zitierte Passagen handelt. Dabei sind die Augen des Rezipienten so sehr bemüht, den
geschriebenen Text der kurzen Einblendungen zwischen Zoom und Überblendung zu entziffern,
dass der Inhalt des zitierten Textes kaum mehr wahrgenommen werden kann.
Ein anderes, gängiges Muster im Umgang mit dem literarischen Text stellt der Rückgriff auf
fiktionalisierende Modi der Nachinszenierung dar. Auffällig ist dabei der Versuch, auf visueller
Ebene konkreten Aussagen auszuweichen, etwa indem verbal vermittelte Inhalte ausschnitthaft, durch mit zahlreichen Effekten (Wischeffekt, Verschwommenheit, Slow-motion) versehene
Nah- und Groß-Aufnahmen wiedergegeben werden. Das vordergründig Atmosphärische der
Bildebene, das hierbei mit einfachsten Mitteln wie digitalen Effekten erreicht werden soll,
erscheint dabei als Notlösung zur filmischen Wiedergabe der Stimmung, die das literarische
Werk prägt.
Exemplarisch hierfür steht der bereits erwähnte Beitrag über Richard Ford und sein Buch
„Eine Vielzahl von Sünden“ (Lesezeichen, 6.10., 5 min., Autor: Thomas Leuchtenmüller): Die
gesammelten Erzählungen handeln von Familienmenschen, die Parallelwelten aufbauen und
nach einem anderen ›Ich‹ fahnden, indem sie außereheliche Affären eingehen. Die asyntopasynchronen Wiedergaben des inhaltlichen Zusammenhangs werden auf visueller Ebene von
undefinierbaren, von Großeinstellungen, Wisch- und Slow-motion-Effekten durchdrungenen
Aufnahmen eines Paares auf Bahnhöfen, in Hotelhallen oder Restaurants bestimmt. Die Bilder
arbeiten mit Klischeevorstellungen von Fremdgängern, die sich beispielsweise auf Hotelsuche
begeben, ohne diese als solche zu entlarven. Das äußerst Plakative und Stereotype der Aufnahmen spiegelt sich auf das Buch zurück und wird diesem, orientiert man sich an den
Kommentar, somit nicht gerecht. Sie wirken vielmehr einer Soap-Opera entliehen, mit dem
Zusatz, die Heimlichtuerei mit Wischeffekten und stets bewegten Großaufnahmen formal zu
unterstützen. Mag sein, dass die Bilder dem Buch mehr entsprechen, als der Kommentar; wenn
aber Richard Ford im Gespräch über seinen literarischen Versuch, „zauberhaftes menschliches
Verhalten“ zu erfinden, berichtet, so scheint die visuelle Wiedergabe als klägliches Unterfangen,
dieses ›Zauberhafte‹ wiederzugeben. Die stets potenzierende Beeinflussung von Wort und Bild
erlaubt kaum eine Betrachtung der Bildebene als eine vom literarischen Text getrennte, rein
interpretative Sichtweise.
Stereotypisierende Bebilderung von literarischem Text findet auch im Beitrag über Margaret
Mazzantini mit „Non ti muovere“ (Lesezeichen, 6.10., 7 min., Autoren: Alessandro Allaria, Clemens Riha) statt. Das literarische Eintauchen in männliche Abgründe, das sich im Rahmen einer
Liebe zu einer Prostituierten abspielt, wird bildlich mit unterbelichteten Detailaufnahmen einer
verwackelten Handkamera von übermäßig geschminkten Lippen, Reizwäsche und leidenschaftlichem, zum Teil gewalttätigem Sex dargestellt. Dabei zeugen die zitierten Passagen von einer
ganz und gar nicht stereotypischen, sondern vielmehr metaphorischen Sprachlichkeit („Ein
Augenblick nur, und ich zerfalle zu Staub“), die mit den visualisierten Klischeebildern verbotener Leidenschaft kaum etwas zu tun haben. Die potenzierende Verwendung der Bilder
schafft auch hier Zusatzinformationen, die sich aber äußerst negativ auf den Text auswirken
und ihn in seiner Aussagekraft einschränken, denn die Klischeebilder lassen Zweifel über den
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literarischen Aufbau der Figuren aufkommen. Eine Divergenz dagegen wäre hier um so angebrachter, um der literarischen Sprache zusätzliche Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten und
der Vorstellungskraft eines jeden assoziative Impulse zu geben.
Ich möchte abschließend einen Magazinbeitrag erwähnen, der zumindest ansatzweise einen
verfahrensmäßigen Umgang mit semantischen Divergenzen wagt, die im Zusammenspiel mit
Potenzierungen Eindrücke vom literarischen Duktus des Schriftstellers einfangen: Paul Louis
Rossi „La villa des chimères“ (Metropolis, 5.10., 15 min., Autorin: Dominique Rabourdin). Der
Beitrag stellt in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme dar: Auf bildlicher Ebene fängt er mit Hilfe
von semantischen Divergenzen Stimmungen ein und schafft Imaginationen und Metapher, die
sich im Werk Rossis wiederfinden. Auf der anderen Seite baut die Filmautorin im Gespräch eine
Vertrautheit auf, die den Schriftsteller zu stark persönlichen Aussagen bringt. Die bekennende
Zuneigung zu Rossi und seinen Werken schafft aber nicht nur Offenheit und Nähe im Gespräch
mit ihm. Sie vergegenwärtigt dem Zuschauer die Tatsache, dass jede Repräsentation von Literatur zunächst und vor allem auf einem Akt des Lesens basiert, das heißt, Interpretation ist.
Gerade diese eingestandene Subjektivität erlaubt, die filmische Interpretation als solche auch
wahrzunehmen, macht sie also dem Zuschauer plausibel: Sie erhebt nicht den Anspruch von
Allgemeingültigkeit, sondern zeigt eine mögliche Annäherung an das Werk, von der der Zuschauer Abstand nehmen oder der er sich anschließen kann.
Hier findet in Ansätzen statt, was Geisler schon 1988 folgerndermaßen propagierte:
Wenn eine Person sich sichtbar für oder gegen diesen oder jenen literarischen Gegenstand engagiert, wenn sich zwischen die einmalig-individuelle Sprachleistung einerseits und die unbestimmten
Erwartungen des Publikums andererseits ein bekennendes Individuum einschaltet, dann braucht Literatur nicht erst unnötig in Tonbildfluten umgegossen und ins Allgemeinverständliche umerklärt,
also nach den Normen jedermanns verkürzt und verbogen zu werden. (Geisler 1988, 188)
Wenn Subjektivität also den interpretativen Umgang mit dem Werk verdeutlicht und dem
Zuschauer die Möglichkeit einer Distanzierung bietet, so können Divergenzen die gewohnte
Sehweise entautomatisieren und somit neue Bilder und Gedankenkonstrukte schaffen. Als
Beispiel aus diesem Beitrag möchte ich folgende Einstellung heranziehen:
Text (Zitat Autor): „Diese aufdringliche Musik des Bolero, sie entsprach der Farbe unserer Jahreszeit,
dem ersten Oktoberregen, wenn Rot und Gelb sich unter das Chlorophyl der Herbstblätter mischen.
Ich schloss also den Kreis der Bilder und Erinnerungen. Und doch wusste ich, ich konnte ihn nicht
vergessen, diesen endlosen Tanz der Körper im strahlenden Raum, im feuchten Gedächtnis, die rosagrüne Klarheit der Lagune ...“
Bild: Travelling aus dem Boot in einem venezianischen Kanal an sonnigen, bunt gestrichenen Häusern entlang.
Das Nennen von Oktoberregen, Herbstblättern und Tanz der Körper ist hier nicht eindeutig
auf die Visualisierung einer venezianischen Häuserreihe an einem Sommertag beziehbar – es
besteht keine direkte gemeinsame Information. Hier treten Visuelles und Verbales als scheinbar
eigenständige Ausdrücke auseinander und beide können nur über mögliche Bildinhalte, die
konnotativ dem Verbalen zuordenbar sind, verbunden werden. Die Monotonie der Kamerafahrt,
die an Häusern und Menschen vorbeizieht, könnte etwa mit dem „endlosen Tanz“ in Verbindung
gebracht, die Farbpracht der Häuser auf die betont farbliche Sprachlichkeit („Farbe unserer
Jahreszeit“, „Rot und Gelb“, „rosa-grüne Klarheit“) bezogen werden, das Kanalwasser das
„feuchte Gedächtnis“ materialisieren etc. Das Travelling kann aber auch das Gefühl von Reise
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vermitteln, das dem vorgestellten Werk immanent ist (als Reise nach Norditalien verbunden mit
der Reise in die Vergangenheit). Nicht zuletzt geben die Bilder die romantische Stimmung des
Buchs wieder, das überwiegend von einer klischeehaften Italien-Liebhaberei zehrt.
Zusammenfassung
Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Annäherung an den Gegenstand Literatur, die letztendlich den Zuschauer auf literarische Schaffensprozesse und filmischen Umgang mit Sprache
sensibilisieren soll, diesen Anforderungen nur dann nachkommen kann, wenn sie filmisches Bild
und verbale Sprache gleichermaßend differenziert behandelt. Das aktive Nachdenken und Einfühlen des Rezipienten, das das Bewusstsein für Bild und Sprache gleichermaßen schärft, kann,
wie gezeigt, mit den analysierten Verfahren der semantischen Modifizierung, Parallelität und
Divergenz erreicht werden.
Ich habe in Ansätzen die Funktionsweise der semantischen Beeinflussung von Wort und Bild
aufgedeckt und die Spezifik der heterogenen Zeichenmaterien und deren bedeutungsstiftenden
Faktoren erläutert. Die systematische Unterscheidung von Potenzierung, Modifikation, Parallelität und Divergenz hat gezeigt, dass die Steuerung des filmischen Bedeutungsaufbaus jeweils
unterschiedlichen Mustern der bewussten und unbewussten Wahrnehmung der beiden Zeichenmaterien unterliegt. Während Potenzierungen in insignifikanter Weise Sprache und Bild
miteinander verschmelzen, im Wesentlichen die narrativen und erklärenden Elemente tragen
und ein naturalistisches Raum-Zeit-Kontinuum gewährleisten, können Modifikationen, Parallelitäten und Divergenzen vom bewussten, verfahrensmäßigen Umgehen mit den verbalen und
visuellen Materien Zeugnis geben. Das Potenzial dokumentarischer Formen im Umgang mit
literarischer Sprache liegt gerade in der Entautomatisierung fernsehdokumentarischer Sehgewohnheiten durch verfahrensmäßige Verwendung von semantischen Modifikationen,
Parallelitäten und Divergenzen und dem damit verbundenen Laviren zwischen dokumentarisierenden, fiktionalisierenden und ästhetisierenden Modi der Bedeutungskonstitution.
Die Ergebnisse der Untersuchung bieten Ansätze zur Weiterentwicklung dokumentarischer
Kurzbeiträge betreffend deren praktischen Umgang mit und die Verwendung von Wort und
Bild. Denn die Auseinandersetzung mit literarischer Sprache in Form von Fiktion stellt eine
Herausforderung an den dokumentarischen Film dar, Grenzüberschreitungen und Experimente
zu wagen.
Literatur:
1.
Albersmeier, Franz-Josef: Bild und Text. Beiträge zu Film und Literatur (1976-1982), Peter Lang, Frankfurt a.M.
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2.
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3.
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4.
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1991
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8.
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Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Sonderzahl, Wien 1992
10.
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11.
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12.
Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Metzler, Stuttgart 2001 (3. Auflage)
13.
Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Vorwerk 8, Berlin 1998
14.
Kreuzer, Helmut/ Schumacher, Heidemarie (Hg.): Magazine audiovisuell, Volker Spiess, Berlin 1988
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Mitry, Jean: Das Wort als Spiegel der Wirklichkeit, in: Sprache im technischen Zeitalter, (Hg. Höllerer, Walter)
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18.
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19.
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20.
Rauh, Reinhold: Sprache im Film. Die kombiantion von Wort und Bild im Spielfilm, MAkS Publikationenen Münster, Münster 1987
21.
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22.
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23.
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24.
Stott, William: Documentary Expression and Thirties America, University of Chicago Press, Chicago 1986
25.
Troller, Georg Stefan: Das Wort als Bild, in: Ernst, Gustav (Hg.): Sprache im Film,Wespennest, Wien 1994
26.
Whittock, Trevor: Metaphor and Film, Cambridge University Press, Cambridge 1990
27.
Zimmermann, Peter (Hg.): Fernseh-Dokumentarismus. Bilanz und Perspektiven, Ölschläger, Konstanz 1994 (2.
Auflage)
418
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DAS BILD RUMÄNIENS UND DER RUMÄNEN
in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick über die
imagologische Forschungsliteratur
Axel Barner
Nachstehende Arbeit versteht sich nicht als ein eigenständiger Forschungsbeitrag, sondern
möchte lediglich Auskunft geben über die in den letzten Jahren erschienene imagologischen
Untersuchungen zum Rumänienbild in der deutschsprachigen Literatur. Aus verschiedenen
Gründen erschien es mir sinnvoll, die bisher zu diesem Thema verfasste Forschungsliteratur
zusammenzustellen und sie einer kritischen Durchsicht zu unterziehen. Zum Einen ist in den
1
vergangenen zwei, drei Jahrzehnten eine ganze Reihe imagologischer Studien veröffentlicht
worden, die das Bild Rumäniens und seiner Bewohner in der deutschsprachigen Literatur zum
Gegenstand haben. Wenn die im Folgenden vorgestellten wissenschaftlichen Darstellungen auch
allen Epochen der deutschen Literaturgeschichte gewidmet sind, so ist doch die Dichte des
entworfenen Bildes sehr unterschiedlich. So liegen beispielsweise zum Rumänien-Bild im 20.
Jahrhundert nur punktuell zu bestimmten Autoren Untersuchungen vor. Deshalb sind sie, was
diesen Zeitraum betrifft, sehr lückenhaft. Außerdem steht eine synthetische Arbeit zu der Problematik noch aus. Da die Beiträge zur Imagologie Rumäniens und seiner Bewohner zudem
verstreut in zum Teil schwer erreichbaren Publikationen – ich konnte Arbeiten in rumänischen,
deutschen und belgischen Fachperiodika ermitteln - veröffentlicht wurden und in ihrer Qualität
und in ihrem Umfang äußerst unterschiedlich ausfallen, schien es mir sinnvoll, sie einer kritischen Durchsicht zu unterziehen und sie in gebotener Kürze vorzustellen. Den Mangel an einer
zusammenfassenden Darstellung kann dieser kurze Überblick natürlich nicht beheben.
Wenn man sich der Chronologie der Literaturgeschichte als systematisierenden Gerüsts bedient, so ist M. Diaconescus 1993 auf dem vom DAAD organisierten Germanistentreffens zwi2
schen der Bundesrepublik Deutschland, Rumänien und Bulgarien vorgestellte Untersuchung
diejenige, die zeitlich am weitesten zurückreicht, da ihr Verfasser die "literarischen und kulturellen Beziehungen zwischen der dakisch-römischen Bevölkerung und den Goten im 4. - 6. Jahr3
hundert" darzustellen versucht. Der Autor bezieht sich vor allem auf drei Quellen, auf das
Martyrium des heiligen Sava, die Epistola de fide, vita et obitu Wulfilae des Auxentius (um 380)
sowie die Cosmographia von Aethicus Histicus (um 400). Der Wert dieser Untersuchung wird
einerseits dadurch stark herabgemindert, dass Diaconescu zahlreiche schwer wiegende inhaltliche und terminologische Fehler unterlaufen. So schreibt er, der gotische Bischof Wulfila habe
Althochdeutsch
gesprochen und die lateinische Bibel im 4. Jahrhundert in eben diese Sprache
4
übersetzt ; so wird Allarichs, des Königs der Westgoten, Geburt in das Jahre 410 n. Chr. zurück-
1
Siehe dazu das Verzeichnis der verwendeten Literatur.
Diaconescu, Mihai: Literarische und kulturelle Beziehungen zwischen der dakisch-römischen Bevölkerung und den
Goten und die Perspektiven ihrer multidisziplinären Erforschung, in: Deutscher Akademischer Austauschdienst (Hg.):
Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland - Bulgarien - Rumänien, 28.2.-5.3. 1993, Bonn 1993, S. 27-42.
3
So der Titel des Aufsatzes.
4
Diaconescu, a.a.O. (Anm. 2).
2
Axel Barner
5
verlegt - in diesem Jahre eroberte Allarich Rom! - und der Kirchenvater Augustinus (354 - 430)
6
wird zum "glücklichen Augustin" . Der zweite, noch schwerer wiegende Mangel dieser Arbeit ist
die Tatsache, dass ihr Verfasser mit einer missverständlichen Terminologie arbeitet, denn obwohl
seine Darstellung einem Zeitraum gewidmet ist - dem 4. bis 6. Jahrhundert - der deutlich vor
der Ethnogenese sowohl des deutschen als auch des rumänischen Volkes liegt, verwendet er
immer wieder neben der geschichtswissenschaftlich zutreffenden Terminologie - Daker, Geten
bzw. Goten, Gepiden, Wandalen usw. - Begriffe, die historisch in die Irre führen, wenn er von
rumänisch-deutschen Interferenzen oder von kulturellen Beziehungen zwischen Rumänen und
Deutschen in der Spätantike bzw. im Frühmittelalter spricht. Er unterstellt solche Beziehungen
in einer Zeit, in der es weder ein rumänisches noch ein deutsches Volk gab. So ist es natürlich
völlig unhistorisch, zu behaupten, der Ostgotenkönig Theoderich der Große (456 - 526) habe
7
"auf dem Boden Italiens ... einen starken deutschen (sic!) Staat gegründet" . Ob diese Fehler aus
einer mangelhaften Übersetzung vom Rumänischen ins Deutsche – das Rumänische kennt
keinen Unterschied zwischen „germanisch“ und „deutsch“, beides ist gleichermaßen german –
oder aus der Vermengung beider Termini durch den Autor selbst verschuldet ist, konnte ich nicht
ermitteln. Außerdem wirken die Beziehungen zwischen romanisierten Dakern auf der einen Seite
und den germanischen Völkern auf der anderen - der Autor beschreibt sie als "solidarisch mit8
einander verbunden" und hebt deren "gutes Zusammenleben" hervor - stark idealisiert und
konstruiert, da man aus Quellenmangel darüber eigentlich zu wenig weiß. Aus den genannten
Gründen ist die Arbeit Diaconescus als imagologische Studie unbrauchbar.
Ganz anders stellt sich Adolf Armbrusters umfangreiche Studie über die Darstellung des Donau-Karpatenraumes in den mittel- und westeuropäischen Quellen des 10. bis 16. Jahrhunderts
9
dar . Der Autor, der sich eingehend mit der geographisch-politischen Terminologie der zeitgenössischen Quellen auseinandersetzt, hat eine immense Anzahl erzählender Quellen ausgewertet - das Quellenverzeichnis umfasst nicht weniger als 34 Seiten! -, um daraus das
Rumänienbild im Hoch- und Spätmittelalter sowie in der frühen Neuzeit zu rekonstruieren. Er
greift dabei nicht nur auf so bekannte Figuren der deutschen Literatur wie den geheimnisvollen
10
11
Klingsor "von Ungerlant" , den "herzoge Ramunc uzer Vlachen Lant" des Nibelungenliedes
sowie den traklewaida, Vlad III. }epe[, des Michel Behaim zurück, sondern ergänzt dieses Bild
12
durch das unbekannterer Autoren und deren Werke. Dadurch dass Armbruster die von ihm
herangezogenen literarischen Texte kenntnisreich auf den historischen Kontext bezieht, gelingt
es ihm, die sehr unterschiedlichen Intentionen der Autoren zu ermitteln. Das sich daraus ergebende Rumänienbild ist, wie nicht anders zu erwarten, kein eindeutiges; es gleicht vielmehr
13
einem "Puzzlespiel", wie der Autor in seiner Schlussbemerkung feststellt. Während die Autoren
des Früh- und Hochmittelalters stereotyp ein konturloses Bild wiederholen, welches ohne zeitgenössische Bezüge und Kenntnisse aus antiken Quellen schöpft, führen spätere historische
Ereignisse - die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen, die Gründung der Fürstentümer Moldau
5
Ebd., S. 29.
Ebd., S. 31.
7
Ebd., S. 36.
8
Ebd., S. 30.
9
Armbruster, Adolf: Der Donau-Karpatenraum in den mittel- und westeuropäischen Quellen des 10.-16. Jahrhunderts
- eine historische Imagologie (= Studia Transsylvania 17), Köln - Wien 1990.
10
Ebd., S. 51 - 54.
11
Ebd., S. 55 - 61.
12
Ebd., S. 125 und S. 142 - 155.
13
Ebd., S. 213.
6
420
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Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
und Walachei, die Kreuzzüge, Tartareneinfälle und die Bedrohung durch das Osmanische Reich dazu, dass im Spätmittelalter ein ernsthaftes Interesse am Donau-Karpatenraum und damit ein
erstes Rumänienbild entsteht, das auf historischen Fakten und Tatsachen beruht. Dieses Bild
allerdings steht im Dienste der Beeinflussung der öffentlichen Meinung zur Zeit der Türkenabwehr. Je nachdem, wie sich die jeweiligen moldauischen und walachischen orthodoxen
Fürsten gegenüber ihren westlichen Nachbarn, den katholischen Ungarn und Polen sowie auch
dem deutschen Kaiser, verhielten, zeichnen die Quellen ein entweder positives oder negatives
Bild der Rumänen. Ein gutes Beispiel dafür ist das ab dem Ende des 15. Jahrhunderts verbreitete
Schreckensbild vom Wojewoden Vlad }epe[, der durch seine sehr eigenständige, gegen die
sächsischen Kaufleute in Siebenbürgen gerichtete grausame Regentschaft das Rumänienbild bis
heute prägt. Die Abwehr der Türken in der frühen Neuzeit veranlasst die Menschen Mitteleuropas dazu, dem Raum, in dem die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich hauptsächlich stattfinden und der zu dieser Zeit im Mittelpunkt des historischen Geschehens steht,
mehr Aufmerksamkeit zu widmen. So entsteht im 16. Jahrhundert ein authentisches Bild der
Rumänen, das durch vor allem italienische Humanisten und durch zahlreiche Reisende geprägt
wird. Im Vordergrund des Interesses am Donau-Karpatenraum steht die Erkenntnis von der
Latinität der rumänischen Sprache sowie die Bemühungen der Rumänen, das Vordringen der
Türken aufzuhalten. Aber auch
... Land und Leute interessieren in einem bis dahin nie erreichten hohen Maße. Ein besonderes Augenmerk gilt dem wirtschaftlichen Vorteil und Gewinn, die dieser Raum seinem möglichen Alleinbeherrscher sichert. Erstmals wird die nicht unbegründete Vermutung geäußert und verdeutlicht,
dass dieser Raum einem europäischen El Dorado gleicht, dessen wirtschaftliche Möglichkeiten weit
14
davon entfernt sind, auch nur annähernd erschlossen, geschweige denn erschöpft zu sein.
Horst Fassel weist in seinem, auf eine breite Basis von Primärliteratur sich beziehenden Auf15
satz Die Darstellung Rumäniens und seiner Bewohner in der deutschen Literatur darauf hin,
dass man eigentlich erst ab 1918 von einem einheitlichen Rumänienbild in der Literatur sprechen könne, da in der Zeit davor - d.h. vor der Gründung des rumänischen Nationalstaates - das
Bild atomisiert gewesen sei. In der deutschen Literatur seien weniger die Charakteristika "der"
Rumänen hervorgehoben als vor allem die Eigenheiten der verschiedenen rumänischen Provinzen (Walachei, Moldau, Siebenbürgen usw.) sowie der verschiedenen Völker (Rumänen, Zigeuner, Ungarn usw.). Das hänge auch damit zusammen, dass die fremden Beobachter nicht auf ein
landeseigenes Identifikationsmodell, auf eine festgefügte rumänische Selbstdeutung sich hätten
beziehen können. Dennoch greift Fassel in seiner Darstellung auch auf die Zeit vor 1918 weit
zurück, wenn er betont, es gebe drei wichtige Phasen der Konstituierung des Rumänienbildes in
der deutschen Literatur: das 17. Jahrhundert, die Mitte des 19. Jahrhunderts und die erste
Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Der erste dieser drei Abschnitte - das 17. Jahrhundert - weist eine Besonderheit auf, denn
das Bild Rumäniens wird in der deutschen Barockliteratur fast ausschließlich von einem Autor,
16
von Martin Opitz, und von einem Werk, seinem Gedicht Zlatna Oder von ruhe des gemuethes
geprägt. Die germanistische Forschung hat sich wiederholt mit diesem Text auseinander ge-
14
Ebd., S. 219.
Fassel, Horst: Die Darstellung Rumäniens und seiner Bewohner in der deutschen Literatur, in: Buletinul Bibliotecii
Romane, XI (XV), 1984, S. 373-422.
16
Schulz-Behrend, George (Hg.), Martin Opitz, Gesammelte Werke, Band II/1, Stuttgart 1978, S. 60-108.
15
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17
setzt und die Frage zu entscheiden versucht, inwieweit Opitz' Poem in seinen ethnographischrumänienkundlichen Aspekten realistische Darstellung der Wirklichkeit - und damit eines der
frühesten Zeugnisse des Rumänentums - oder poetische Sublimierung und damit Idealisierung
18
und barocke Rhetorik ist. Obwohl die rumänische Philologie immer noch die Meinung vertritt,
19
Opitz habe ein realistisches Bild der Rumänen im 17. Jahrhundert gezeichnet , ist die Frage
durch Joachim Boeckhs Arbeit wohl letztendlich zugunsten der zweiten These entschieden,
...da das dreiteilige Gedicht von Opitz ... aufgrund rhetorischer Modelle konzipiert worden war, in
welcher die konkreten Anlässe sublimiert und das Ganze in einer Harmonie-Utopie sich ausschließ20
lich als ein Gegen-Stück zur greifbaren Wirklichkeit auswies.
Inzwischen geht die germanistische Forschung davon aus, dass die Reiseliteratur des Barock
reine Rhetorik ist, was sich am Bespiel der Amerika-Darstellungen dieser Zeit sehr gut exemplifizieren lässt, in denen der Kontinent zu utopia wird. Es überrascht daher nicht, dass Opitz den
umfangreichen Mittelteil seines Poems - übrigens eine der ersten Eklogen in deutscher Sprache
- dem idealisierten Landleben rumänischer Hirten und Bauern widmet. Siebenbürgen wird zum
"glücklichen Dazien", zur "Dacia felix", zu einem Land, das durch seinen natürlichen Reichtum
dem Paradiese gleicht. Mit der Darstellung der bukolischen Idylle verfolgt der Dichter eine didaktische Intention; denn bereits in seiner Vorrede weist er darauf hin, dass er damit den Leser
in den ungewissen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges zur Nachahmung des Idealbildes vom
rechten, einfachen (Land-) Leben ermuntern möchte. Opitz folgt darin einem der gängigsten
Topoi frühbarocker Lyrik. In seiner Vorrede dagegen, in der Widmung an seinen Gönner, dem
Herrn von Stange und Stonßdorff, findet sich eine realistische Schilderung über die eher ungünstigen Umstände seines Aufenthalts in Siebenbürgen: "Lufft/ Wasser vnd alles wessen vnsere
Dürfftigkeit nicht entberen kan..." sei ihm während seines Jahres in Weißenburg zuwider ge21
wesen, "ja auch deß Volckes daselbsten sitten/Sprachen/ reden vnd gedancken." Ähnlich
negativ klingen die Bemerkungen in dem einzigen aus seiner siebenbürgischen Zeit erhaltenen
Brief, in dem er sich über die Wohnverhältnisse beklagt, denn "...hier werden keine Wohnungen
gebaut, sondern mit Stroh gedeckte Höhlen, die den Löchern wilder Tiere weit ähnlicher sind als
22
menschlichen Behausungen."
Trotz des eklatanten Widerspruchs zur erlebten Realität hat Opitz' Topos einer "Dacia felix"
in der deutschen Literatur eine bedeutende Nachwirkung entwickelt, wie Horst Fassel feststellt:
Opitz hat durch sein Zlatna-Poem ein Modell für die Spiritualisierung einer wenig attraktiven Wirklichkeit in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges gegeben, das ebenso nachgestaltet wurde wie seine
23
Bearbeitung des 'Dacia felix'-Topos.
17
Zur Forschungsliteratur zu Opitz' Zlatna siehe meinen Beitrag über Opitz in: Barner, Axel: Opitz - Moltke - Tucholsky
- Enzensberger - Deutsche Reisen nach Rumänien, Bukarest 2001, S. 7-28, und: Fassel, Horst, Zur rumänischen Barockrezeption, in: Synthesis, 1977, IV, S. 106.
18
Siehe dazu Barner, Axel, a.a.O. (Anm. 17), S. 20-22, sowie Fassel, a.a.O. (Anm. 15), S. 390-393.
19
So zum Beispiel Micu, Dumitru, in: Martin Opitz, Zlatna sau despre cump`na dorului, Bukarest (Editura Uranus)
1993, S. 7; zuletzt noch 1998 Isb`[escu, Mihai: Wie sich Deutsche und Rumänen gegenseitig in ihren Literaturen
sehen, in: Gu]u, George: Wehn vom Schwarzen Meer... - Literaturwissenschaftliche Aufsätze (= GGR-Beiträge zur
Germanistik 2), Bukarest 1998, S. 254-276: "Das erste umfangreiche Bild des Rumänen 'nach der Natur' entwirft
Martin Opitz." Ebd., S. 257.
20
Zitiert nach Fassel, a.a.O. (Anm. 15), S. 390.
21
Ebd., S. 65.
22
Opitz in einem Brief an Caspar Cunrad vom 20.1.1623, zit. nach: Szyrocki, M., Opitz, München 1974, S. 55.
23
Fassel, a.a.O. (Anm. 15), S. 391.
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Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
Zu nennen sind hier die heute wenig bekannten Barockdichter Werner Eberhard Happel, der
mehrere Romane verfasste, die in Siebenbürgen und der Walachei spielen, Johann Tröster und
24
Sigmund von Birken, denen Opitz als Vorbild galt. Fassel sprich von einer "Hypertrophierung
des 'Dacia felix'-Topos", wenn die beiden letztgenannten Autoren in ihren Werken behaupten,
dass Dacien, ein mit allen Naturschätzen gesegnetes Land, Ausgangspunkt der Besiedlung Euro25
pas gewesen sei und die Siebenbürger Sachsen die Nachfahren der Daker seien.
Bei der Durchsicht imagologischer Studien zum Rumänienbild im deutschen Sprachraum
überrascht es, dass die meisten Arbeiten nicht der Literatur des 20. Jahrhunderts bzw. der Gegenwartsliteratur gewidmet sind, sondern dem 19. Jahrhundert. Neben den Arbeiten von Horst
Fassel und Klaus Heitmann sind dies auch diejenigen von Manfred Steinkühler und KlausHenning Schröder. Durch die 1848er Revolution, durch die Vereinigungsbestrebungen der rumänischen Fürstentümer, durch den Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich und
nicht zuletzt durch die Einsetzung einer deutschen Fürstenfamilie, der Hohenzollern, zu Königen
gelangt Rumänien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in das Zentrum nicht nur des politischen
Interesses der deutschen Öffentlichkeit. Dieses wachsende Interesse führt auch zu einem Umbruch sowohl in der Quantität als auch in der Qualität deutschsprachiger Rumänien-Literatur.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden eine ganze Reihe von Romanen und
Reiseberichten publiziert, die Rumänien zum Gegenstand haben. Fassel nennt hier die heute
vergessenen Autoren Bernhard Jäckle mit seinem Roman Der Zigeuner, Marie von Hrussocy mit
26
Der letzte Capy, Karl Bleibtreu mit Ein Freiheitskampf in Siebenbürgen und andere. All diese
Werke haben den Kampf um die nationale Unabhängigkeit und um soziale Emanzipation zum
Gegenstand und müssen vor dem Hintergrund der deutschen Reichseinigung unter Preußens
Führung gesehen werden, die das Interesse an Auseinandersetzungen um nationale Freiheit in
anderen europäischen Ländern wachhielt. Ein zweite Gruppe von Autoren - Wilhelm von Kotzebue, Rudolf Bergner, Mite Kremnitz - zeichnen zur gleichen Zeit in ihren Werken ein differenzierteres Rumänienbild, welches durch Reisen dieser Autoren nach Rumänien vermittelt war und
27
daher auf konkreter Anschauung und genauer Kenntnis der Verhältnisse beruhte.
Für deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts weist Fassel an einer Reihe von Werken (Alfred
Döblin Linie Dresden-Bukarest und Babylonische Wanderschaft, Leo Slezaks Reiseerinnerungen,
Wolfgang Hildesheimer Paradies der falschen Vögel u.a.) nach, dass sich in ihnen mehrere "rumänische" Topoi finden: Einerseits ist es der Orient-Okzident-Topos: Rumänien ist die Fiktion
eines Balkanlandes, das auf der Grenze zwischen Europa und Asien liegt. Andererseits aber
werden die Rumänen als kleines, aber starkes Volk dargestellt, das sich immer wieder für seine
nationale Unabhängigkeit erfolgreich gegen Unterdrückung zur Wehr setzte. Rumänien erscheint aber auch - findet sich hierin eine verspätete Reminiszenz an Opitz' "Dacia felix"-Topos?
28
- "als das Amerika Europas, als das Land der ungeahnten Möglichkeiten"
In einem zweiten Aufsatz (Südosteuropa und der Orient-Topos der deutschen Literatur im 19.
29
und 20. Jahrhundert ) weist Fassel nach, dass das grundlegende "Ordnungsprinzip" des literarischen Orient-Topos "...der Kontrast ist. Gegensätzliches wird miteinander verbunden: Logik 24
Ebd., S. 391-397.
Ebd., S. 392-393.
26
Ebd., S. 402-409.
27
Ebd., S. 409-411.
28
Ebd., S. 409.
29
Fassel, Horst: Südosteuropa und der Orient-Topos in der deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, in: Revue
des études sud-est européennes, XVII, 1979, S. 345-358.
25
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Unlogik, Wahrheit - Lüge, Grausamkeit - Mitleid, Märchen - Tatsachenbericht." Erst im Laufe
des 19. Jahrhunderts verschiebt sich langsam die "Motiv-Grenze" zwischen Orient und Okzident
weiter nach Osten, um erst gegen Ende des Jahrhunderts durch eine "hypothetische
31
Okzidentalisierung" Rumänien zu erreichen. Dass die Länder an der unteren Donau auch um
die Wende zum 20. Jahrhundert immer noch als "Zwischenwelten" angesehen werden, belegen
32
Karl Emil Franzos' Culturbilder, die noch 1901 pejorativ mit "Aus Halbasien" betitelt sind. Es
gelingt Fassel, anhand vor allem von Reiseberichten, nachzuweisen, dass dieser so gefasste
Topos in der deutschen Literatur zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts seine Gültigkeit
auch für Rumänien behält, das für die deutschen Reisenden dieser Zeit im Ausstrahlungsbereich
des Osmanischen Reiches lag. Die von Fassel herangezogenen Texte (L. Stürmer, Skizzen einer
Reise nach Konstantinopel, 1817; C. O. L. Arnim, Flüchtige Bemerkungen eines FlüchtigReisenden, 1837, Grillparzer, Ida Hahn-Hahn u.a.) bedienen das gängige Klischee, "... dass im
Orient öfters die höchste Pracht in Verbindung mit dem Gewöhnlichsten, Geschmacklosesten, ja
33
selbst Schmutzigsten zu finden ist." Dieses Stereotyp findet sich auch in der BukarestBeschreibung eines Autors, den Fassel nicht berücksichtigt. Der spätere preußische Feldmarschall schreibt 1835 in einem Brief an seine Familie:
In Bukarest erblickt man die elendsten Hütten neben Palästen im neuesten Stil und alten Kirchen
von byzantinischer Bauart; die bitterste Armut zeigt sich neben dem üppigsten Luxus, und Asien und
34
Europa scheinen sich in dieser Stadt zu berühren.
Dieser negativ konnotierte Topos ändert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und
differenziert sich desto stärker aus, als genauere Informationen über Rumänien zur Verfügung
stehen und je näher die sozialen und politischen Verhältnisse denen in Mittel- und Westeuropa
35
werden: "Die Zeitereignisse haben diese Wendung zum Positiven veranlasst." Rumänien wird
aus dem Orient-Topos herausgelöst und sowohl in der faktizistischen Reiseliteratur wie auch in
der fiktiven Belletristik, die, wie in den Werken von Wilhelm von Kotzebue (Laskar Vioresku,
1863) und Rudolf Bergner, Rumänien zum Hintergrunde hat, das Land positiv darstellen. Diese
Entwicklung wird in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts allerdings seltsamerweise wieder
umgekehrt, wie Fassel anhand von Werken von Alfred Döblin, Walter Serner, Hans Land und
Wolfgang Hildesheimer aufzeigt. Diese Autoren greifen den alten Orient-Topos wieder auf und
modifizieren ihn: Rumänien bzw. "der Balkan" wird zu einem Raum, dessen Bewohner Hochstapler, Betrüger oder Intriganten sind, in jedem Falle aber Menschen, die den guten bürgerlichen Sitten nichts abgewinnen können, wodurch dieser Teil Europas zum "Paradies der
36
falschen Vögel" wird.
Anders als Fassel greift Klaus Heitmann in seinen Arbeiten nicht nur auf die fiktive Literatur
zurück, die Rumänien zum Gegenstande hat, sondern bezieht auch die geografische, ethnologische, historische, diplomatische und feuilletonistische Texte in seine Untersuchung mit ein.
Nicht nur für die Zeit des 19. Jahrhunderts, sondern zum Rumänienbild überhaupt ist Klaus
30
Ebd., S. 346.
Ebd., S. 349.
32
Ebd.
33
So C. O. L. Arnim 1837, zit. nach Fassel, ebd., S. 350.
34
von Moltke, Helmuth: Unter dem Halbmond: Erlebnisse in der alten Türkei 1835-1839, hg. von Helmut Arndt,
Stuttgart 1984, S. 51; siehe zu Moltke auch meine Darstellung: Barner Axel; Opitz - Moltke - Tucholsky - Enzensberger - Deutsche Reisen nach Rumänien, Bukarest 2001, S. 29-52.
35
Fassel, a.a.O. (Anm. 29), S. 353.
36
So der Titel eines Romans von Wolfgang Hildesheimer.
31
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Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
37
Heitmanns 1985 erschienenes Werk Das Rumänienbild im deutschen Sprachraum 1775-1918
die umfang-, kenntnis- und detailreichste imagologische Studie. Die 364 Seiten umfassende
Darstellung kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht annähernd angemessen referiert werden, weshalb ich mich im Wesentlichen auf die in Aufsatzform 1986 erschienene Zusammenfassung beziehe, in den Anmerkungen jedoch auch auf die entsprechenden Abschnitte der um38
fangreichen Gesamtdarstellung verweise. In einem ersten Teil problematisiert der Autor den
Begriff des "Volkscharakters" bzw. der "nationalen Eigentümlichkeiten der Rumänen"; dabei
gelangt er zu der Überzeugung, dass das von einem Volke gewonnene Image kein statischer
Begriff sein kann - sonst würde es zur "Zerrform des Stereotyps" degenerieren - sondern sich als
höchst variables, dynamisches und differenziertes "Interdependenzsystem" erweist, das häufig
39
mehr Aufschlüsse über das betrachtende Subjekt als über dessen Gegenstand selbst zulässt. Im
zweiten Teil seiner Studie (Zu den Anlässen der Image-Bildung. Das Interesse des deutschen
Sprachraums an den Rumänen in seiner geschichtlichen Entwicklung) zeigt Heitmann, dass Rumänien im Vergleich zu anderen Nationen vergleichsweise wenig Beachtung im deutschen
Sprachraum fand. Allerdings bedingen vier Aspekte während des 19. Jahrhunderts eine recht
konstante Beschäftigung mit dem Raum an der unteren Donau: Einmal sind dies die selbstverständlichen und permanenten Beziehungen der deutschsprachigen Volksgruppen der Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben und Bukowinadeutschen mit der rumänischen Mehrheitsbevölkerung, zweitens die Entstehung von deutschen Handwerkerkolonien seit dem 18. Jahrhundert, vor allem in Bukarest und Jassy, drittens das Interesse der internationalen Politik an
den Schauplätzen der Türkenkriege des 19. Jahrhunderts und viertens die Tatsache, dass mit Karl
40
von Hohenzollern-Sigmaringen 1866 ein deutscher Fürst an die Spitze des Landes trat. Ähnlich
umfangreich wie bei Armbruster zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rumänienbild ist
Heitmanns Materialbasis. Im dritten Teil nennt Heitmann nicht weniger als 540 Veröffentlichungen aus der Zeit zwischen 1775 und 1918, die er für seine Untersuchung herangezogen
hat. Dabei betont er den sehr unterschiedlichen Quellenwert der Texte, da manchen Autoren die
nötige Sachkenntnis fehle und sich deshalb ihre Darstellungen häufig in Plagiaten und Ent41
lehnungen erschöpfen. Wie ein Rückgriff auf Opitz' Zlatna, so betont Heitmann im 4. Abschnitt Der rumänische Volkstypus, wirken die Beschreibungen der physiognomischen Nationaleigentümlichkeiten, denn die Rumänen werden immer wieder als Menschen "von großem Reiz
42
des Erscheinungsbildes" beschrieben und als Abkömmlinge der Daker und Römer bezeichnet.
Bezüglich der Lebensgewohnheiten und Lebensweise der Rumänen führt Heitmann aus, dass das
Urteil der Reisenden des 19. Jahrhunderts durchaus widersprüchlich ausfällt - bis auf einen
Aspekt: "Beinahe totale Einmütigkeit kennzeichnet die Aussagen" zur außerordentlichen Anspruchslosigkeit bei Ernährung, Kleidung und Wohnung der Rumänen. Uneinigkeit herrscht
dagegen, was das Reinlichkeitsempfinden, die Arbeitsamkeit und das Verhältnis zum Alkohol
43
betrifft. Einigkeit herrsche dagegen wieder bei der Beurteilung der lockeren Sexualmoral. Hier
herrsche große Freizügigkeit, obwohl Heitmann betont, dass die Rumänienbeschreibungen sich
vor allem auf die rumänischen Frauen beziehen: "Besonders stereotyp ist die These, dass die
37
Heitmann, Klaus: Das Rumänienbild im deutschen Sprachraum 1775-1918 (=Studia Transsylvania 12), Köln 1985.
Heitmann, Klaus: Grundzüge des Rumänienbildes im deutschen Sprachraum vom späten 18. bis zum frühen 20.
Jahrhundert, in: ders., Rumänisch-deutsche Interferenzen, Heidelberg 1986, S. 21-42.
39
Ebd.
40
Ebd., S. 21-24; in: Heitmann (1985) S. 30-49.
41
Ebd., S. 24-25; in: Heitmann (1985) S. 50-77.
42
Ebd., S. 25-27, in: Heitmann (1985), S. 78-109.
43
Ebd., S. 27-30; in: Heitmann (1985), S. 115-163.
38
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rumänische Frau vor der Eheschließung sich durch Sittsamkeit auszeichne, hinterher aber einen
44
eher lockeren Lebenswandel führe." Das soziale Verhalten der Rumänen nimmt in der Untersuchung einen breiten Raum ein und ist von den von Heitmann zitierten Autoren sehr vielschichtig und widersprüchlich dargestellt. Einerseits wird das Volk als äußerst gutmütig, freundlich, selbstlos, gastlich, höflich und tolerant charakterisiert. Andererseits wird vor allem von
österreichischen Ethnographen eine "Wildheitsstereotype" wiederholt herausgestellt, wie Heitmann feststellt, deren Ursachen er mit dem Reflex der Unterdrückten auf ihre Unterdrücker
erklärt, wie er sich in periodisch wiederkehrenden Aufständen - Exzesse der Rumänen gegen die
magyarische Oberschicht in Siebenbürgen 1848/49, Haiduckentum, Bauernaufstände u.ä. 45
äußert. Eine "Reihe von Thesen mit Standardcharakter" kristallisiere sich heraus, so Heitmann,
wenn man die Literatur des 19. Jahrhunderts bezüglich der "Lebensauffassung und Weltanschauung im rumänischen Volk" - so die Überschrift des achten Abschnitts - untersucht: "Von
freudig-heiterer Hinnahme des Daseins ist nicht nur vereinzelt die Rede. Doch hält der über46
wiegende Teil der Autoren das Volk für schwermütig." Immer wieder wird die Melancholie, die
Schwermut der Rumänen beschrieben, die als eine "Art stoischer Indifferenzhaltung dem Dasein
gegenüber" interpretiert wird. Dieser Fatalismus wird allerdings nicht nur negativ bewertet,
47
sondern "im Sinne von 'würdevollem Gleichmut'" auch positiv gesehen. Die Autoren des 19.
Jahrhunderts sind sich darin einig, dass die Bindung an den Glauben für die Rumänen eine besondere Bedeutung besitzt; allerdings wird diesbezüglich immer wieder hervorgehoben, wie
oberflächlich die Glaubensvorstellungen sind bzw. dass vorchristliche, heidnische, aber48
gläubische und magische Vorstellungen im Volksglauben weiterleben. Viele Autoren heben die
"Abhängigkeit der Volksmentalität vom politischen und sozialökonomischen Kontext" der Zeit
hervor, wenn sie betonen, dass vor allem zwei Ursachen zu ihrer Erklärung herangezogen
49
werden müssen. Zum Einen wird immer wieder auf die Unterjochung und Ausbeutung
Rumäniens durch die Türken und deren Statthalter, die Fanarioten, und die Auswirkungen dieses
orientalischen Despotismus hingewiesen. Zum Zweiten formte "die Ausbeutung der breiten
bäuerlichen Schicht durch die der eigenen Ethnie angehörige Klasse der Bojaren" den Volks50
charakter. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehren sich dann die Stimmen, die das
gewaltige Entwicklungspotential bzw. den natürlichen Reichtum Rumäniens rühmen. Der Titel
51
einer 1896 erschienenen Monografie - "Rumänien, ein Land mit Zukunft" - zeigt eine neue
Sicht auf das Land an, die einerseits den bereits oben besprochenen, seit Martin Opitz gängigen
Topos einer „Dacia felix“ wieder aufgreift, aber andererseits bereits auf den Wandel des
Rumänienbildes am Ende des 19. Jahrhunderts hinweist.
Klaus-Hennig Schröder beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der Darstellung Rumäniens in
52
der "deutschen fiktiven Rumänienliteratur des 19. Jahrhunderts." Schröder konstatiert in
seinem Aufsatz ein im 19. Jahrhundert "von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigendes Interesse für
rumänische Gebiete und deren Bewohner", das in der Literatur genau zu verfolgen ist und in
44
Ebd., S. 31; in: Heitmann (1985), S. 164-180.
Ebd, S. 31-34; in: Heitmann (1985), S. 181-223.
46
Ebd., S. 35.
47
Ebd.
48
Ebd.
49
Ebd., S. 38.
50
Ebd., S. 37.
51
Benger, G.: Rumänien, ein Land mit Zukunft, Stuttgart 1896; zit. nach Heitmann (1985), S. 303.
52
Schröder, Klaus-Henning: Die deutsche fiktive Rumänien-Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Heitmann, Klaus:
Rumänisch-deutsche Interferenzen, Heidelberg 1986, S. 43-58.
45
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Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
zahlreichen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken in den 1880er Jahren seinen Höhepunkt
53
findet. Die wachsende Aufmerksamkeit, die das deutsche Publikum Rumänien widmet, hängt
vor allem, wie dies bereits andere Autoren - siehe Fassel und Heitmann - bemerkten, sicher mit
den politischen Entwicklungen zusammen, mit den Türkenkriegen, der 1848er Revolution, mit
der Thronbesteigung Carols I. von Sigmaringen-Hohenzollern 1866, dem rumänischen Unabhängigkeitskrieg 1877 und dem Berliner Kongress 1878, auf dem Rumänien förmlich seine
Unabhängigkeit erlangte. Julius Voß (1768-1832) publizierte 1826 den ersten deutschen
54
Rumänien-Roman Begebenheiten eines jungen Theologen in der Moldau und Griechenland , der
noch gänzlich unter dem Eindruck des griechischen Freiheitskampfes von 1821 steht und der
den zu jener Zeit in Europa weit verbreiteten Philhellenismus zum Ausgangspunkt hat. Aber
auch deutscher Nationalstolz nach den Befreiungskriegen sowie die Ideen der Aufklärung Fortschrittsglaube, Verstand, Wille und Selbstbeherrschung - sind tragende Motive, die dem
Verfasser, der nie in Rumänien war, am Herzen liegen. Differenzierter und kenntnisreicher, was
rumänische Verhältnisse anbetrifft, sind die Werke derjenigen Autoren, die das Land durch zum
Teil langjährige Aufenthalte kennen gelernt haben. Neben dem auch von Fassel erwähnten
Wilhelm von Kotzbue (1813-1887) nennt Schröder hier vor allem drei andere: Karl Emil Franzos
(1848-1904), Marco Brociner (1852-1942), beide jüdischer Herkunft und in der Bukowina geboren, sowie Mite Kremnitz (1852-1916), die als Hofdame über zwanzig Jahre am Bukarester
Königshof lebte. Die von diesen Autoren dargestellte Wirklichkeit unterscheidet sich vor allem
durch die unterschiedlichen Milieuschilderungen voneinander. Während Kotzebue mit seinem
1863 veröffentlichten Lazar Vioresku, ein moldauisches Genrebild die gehobene Gesellschaft der
Moldau, die er durch eigene Anschauung kennt, zum Gegenstand hat, "den armenischen Gutspächter, den großmäuligen Hauslehrer aus Preußen, den schlichten, altmodischen rumänischen
Bojaren, der von den neuen Sitten nichts weiß und seine Mamaliga noch mit den Fingern ist, und
55
als Gegensatz den Emporkömmling (ciocoi), skrupellos und korrupt" , ist es bei Brocimer die
städtische Mittelschicht, "Redakteure, Advokaten, Lehrer, Händler, kokette Ehefrauen ... alternde
Lebemänner" sowie deren Verwicklungen in die unter der Hohenzollern-Herrschaft übliche
56
"Korruption und politische Scharlatanerie". Brocimers größter Erfolg wurde das gemeinsam mit
Ludwig Ganghofer verfasste Schauspiel Die Hochzeit von Valeni, das 1889 uraufgeführt wurde,
57
dann über die meisten deutschen Bühnen lief und sogar in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
Mite Kremnitz, die der Königin Elisabeth von Rumänien als Vorleserin diente, schrieb eine Reihe
von Büchern über rumänische Themen; die fiktiven Werke - Schröder erwähnt ihre Erzählung
Radu sowie ihren zweibändigen Roman Ausgewanderte spielen in den gehobenen bzw.
städtischen Kreisen der rumänischen Gesellschaft:
Der historische Hintergrund wird nur angedeutet, Landschafts- und Milieuschilderungen sind selten,
'Gesellschaft' ist in eingeschränkter Bedeutung zu verstehen - es geht um die Sorgen der Be58
sitzenden, und das Dienstpersonal ist stets zur Stelle, wenn man es braucht.
Ein ganz anderes Bild dagegen entwerfen die Werke von Karl Emil Franzos Halb-Asien
(1876-1888), Die Juden von Barnow (1876), Ein Kampf ums Recht (1882) und Der Pojaz (1905),
die weite Verbreitung fanden, in verschiedene Sprachen übersetzt wurden und auch heute noch
zum Teil verlegt werden. Franzos' Engagement für die Entrechteten und Unterdrückten zeigt sich
53
Ebd., S. 45.
Ebd., S. 43-45.
55
Ebd., S. 47.
56
Ebd., S. 50.
57
Ebd., S. 53.
58
Ebd., S. 55.
54
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Axel Barner
darin, dass in seinen Werken Bauern oder Besitzlose immer wieder Träger der Handlung sind und
er sich mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Heimat kritisch auseinandersetzt, was
ihm auf rumänischer Seite viel Kritik einbrachte. Schon die Bezeichnung "Halb-Asien" für diesen
59
Teil Europas empfanden viele Rumänen als Beleidigung. Zusammenfassend stellt Schröder fest
- und hierin stimmen seine Ergebnisse mit denen von Fassel und jener allerdings auf einer viel
breiteren Materialbasis angelegten Studie von Heitmann überein - dass am Ende des 19. Jahrhunderts eine merkliche Zunahme des Interesses an Rumänien festzustellen ist, das sich in einer
Fülle von literarischen Werken mit Rumänien-Hintergrund niederschlug, weil "den Verfassern
von Rumäniendichtungen ... die politische Entwicklung zugute" kam, und dass das "Lob ... für den
60
Aufschwung des Staates geradezu obligatorisch" wurde. Er macht allerdings auch deutlich,
dass dieses sehr günstige Rumänien-Bild nicht immer mit der Realität übereinstimmt.
Manfred Steinkühlers 1970 erschienene Studie La Roumanie vue par les voyageurs allemands
61
(1800-1940) , die sich ausschließlich auf das aus Fiktion und Sachinformationen bestehende
Mischgenre der Reisebeschreibungen bezieht, stellte sicherlich zu seiner Zeit eine Pionierleistung dar, handelte es sich doch dabei um den ersten Versuch überhaupt, das Rumänien-Bild
in der deutschsprachigen Literatur nachzuzeichnen. Sie ist jedoch heute, vor allem durch die
materialreichen Arbeiten Fassels und Heitmanns, völlig überholt. Diese Arbeiten haben
außerdem gezeigt, dass Steinkühlers Feststellung, es gäbe vor dem Regierungsantritt Carols I.
(1866) in der deutschen Literatur nur sehr wenige Zeugnisse über Rumänien und aus der Zeit
62
vor 1800 praktisch gar keine, falsch ist. Die von Steinkühler für die Periode vor 1866 zitierte
Literatur (Becker, W./Gottlob, E., Journal einer Bergmännischen Reise durch Ungarn und Siebenbürgen, 1815; Moltkes Briefe von 1835-39., Neigebauer, I.F., Beschreibung der Moldau und
Walachei, 1854, sowie Kunisch, R., Bukarest und Stambul, 1861) bestätigt noch einmal den
Befund Fassels, der feststellte, dass der kontrastive, das Negative betonende Orient-Topos auch
63
auf die Länder an der unteren Donau übertragen wurde. Ähnlich wie die anderen, oben besprochenen Autoren konstatiert Steinkühler in seiner Studie, die sich übrigens nicht nur in ihrem
Aufbau, sondern auch in der Bewertung der von ihm herangezogenen Werke eng an die
politischen Ereignisse bzw. deren Chronologie hält, für die Zeit nach dem Regierungsantritt des
Hohenzollern Carol I. ein gesteigertes Interesse des deutschen Sprachraumes an Rumänien, das
sich auch darin niederschlug, dass um die Jahrhundertwende die ersten deutschsprachigen
Reiseführer über Rumänien erschienen. Dieses Interesse bezog sich vor allem auf die ungeahnten wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes, wie die von Steinkühler zitierten Autoren
64
(Benger, G., Rumänien, ein Land mit Zukunft, 1896; Kraus, H., Rumänien und Bukarest, 1896 )
belegen, und es zeigt damit den Wandel des Rumänienbildes an. Allerdings ist dieses Bild nicht
einheitlich, wie Steinkühler feststellt, denn neben diesen sehr positiven Einschätzungen finden
sich auch negative, die die Klischees des Orient-Topos fortschreiben, wie bei Kiderlen-Wächter,
65
einem deutschen Diplomaten, und bei Hugo Ganz . Steinkühler weist anhand einiger Autoren
59
Ebd., S. 48-49
Ebd. S. 57.
61
Steinkühler, Manfred: La Roumanie vue par les voyageurs allemands (1800 -1940), in: Mélanges des philologies
romanes, dédiés à la mémoire de Jean Boutière, Vol. II, Liège 1971, S. 911-931.
62
"Aussi les voyageurs allemands nous ont-ils laissé sur cette époque (d.i. die Zeit vor 1866) très peu de témoignages..."
(Ebd., S. 912) "Les premiers témoignages sur la Roumanie que nous aient laissés les voyageurs allemands, datent tous
des la première moitié du XIX. siècle." (Ebd., S. 912)
63
Ebd., S. 912-916.
64
Ebd., S. 918-919.
65
Jäckh, Ernst: Kiderlen-Wächter, der Staatsmann und Mensch, Briefwechsel und Nachlass, Berlin 1924; Ganz, Hugo:
Reiseskizzen aus Rumänien, Berlin 1903, zitiert nach Steinkühler, a.a.O., S. 919.
60
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Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
und deren Veröffentlichungen nach, wie durch den Kriegseintritt Rumäniens 1916 die
öffentliche Meinung in Deutschland umschlägt: Die Berichte, die Steinkühler zitiert - von
Olberg, Alfred, Der Siegeszug durch Rumänien,1918; Rakowski, Franz, Die Kämpfe einer
preußischen Infantriedivision zur Befreiung Siebenbürgens, 1917 - zeigen deutlich den Wandel
von einer positiven Haltung hin zum chauvinistischen Ressentiment gegenüber dem ehemaligen
Bündnispartner der Tripleallianz. Anders dagegen verhält es sich mit Carossas Rumänischem
66
Tagebuch , dessen Autor sich auch in einer feindseligen Umwelt die Idee einer übergeordneten,
der Humanität verpflichteten Solidarität erhalten habe.
Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg konstatiert Steinkühler eine Abnahme des deutschen
Interesses an Rumänien, die sich auch in einem Rückgang der Rumänien betreffenden Publikationen niederschlägt. Außer einigen rein touristischen Büchern hat der Autor für die Zwischen67
kriegszeit nichts zu bieten. Er weist aber darauf hin, dass sich der Sieg der Nationalsozialisten
1933 tendenziös in diesen Werken niederschlägt.
Ovid S. Crohm`lniceanu hat neben Carossas Rumänischem Tagebuch auch die Aufzeichnungen des expressionistischen Schriftstellers Gustav Sack, der wie Carossa 1916 an der
68
rumänischen Front eingesetzt war, ausgewertet. Beide Berichte geben zwar Aufschluss über
die inneren Befindlichkeiten ihrer Autoren bzw. deren Einstellungen zum Krieg, tragen aber
wenig bei zur Konstituierung eines Rumänienbildes während des Ersten Weltkrieges. Dies liegt
einmal daran, dass beide Autoren kaum mit der rumänischen Bevölkerung in Kontakt kamen, da
die Dörfer, die sie auf ihrem Vormarsch durchzogen, geräumt worden waren, und zweitens
daran, dass sie, für die die Rumänen einfach "der Feind" war, der politischen und sozialen
Realität des Landes kein Verständnis entgegenzubringen vermochten. Lediglich bei Carossa
zeigen Landschaftsbeschreibungen und einige Darstellungen der Menschen, dass ihm das hier
Begegnende fremd blieb, er es aber gleichzeitig bewunderte:
Man denkt zuerst an Italien; aber es ist noch etwas anderes darin, etwas tierhaft Geschmeidiges,
69
dazu etwas Verschlossenes, nach innen Horchendes, wilder alter Adel, der nach Asien weist.
70
Während Carossas Rumänischem Tagebuch, worauf Crohm`lniceanu hinweist , eine umfangreiche Sekundärliteratur, ja, selbst eine Doktorarbeit, gewidmet ist, gilt dies für einen anderen bekannten Schriftsteller, der während des Ersten Weltkriegs als deutscher Soldat in Ru71
mänien stationiert war, nicht. Kurt Tucholskys Briefe aus Rumänien werden durch allgemeine
72
Nichtbeachtung gewürdigt. Dies legt die Vermutung nahe, dass Tucholskys ironische, spöttische und polemische, ja, manchmal auch sehr hämische oder grob herablassende Bemerkungen
66
Ebd., S. 923-925.
Bernatzig, Hugo Adolf: Ein Vogelpradies an der Donau, Wien-Zürich 1929; Hielscher, Kurt: Rumänien, Landschaft,
Bauten, Volksleben, Leipzig 1933; Voigt-Dietrichs, Helene: Gast in Siebenbürgen, Jena 1936; Hauser, Heinrich: Südosteuropa erwacht - Im Auto durch acht Balkanländer, Berlin 1938; zit. nach Steinkühler a.a.O., S. 926-928.
68
Crohm`lniceanu, Ovid S.: Berichte deutscher und rumänischer Schriftsteller von der rumänischen Front im Ersten
Weltkrieg, in: Heitmann, K. (Hg.): Rumänisch-deutsche Interferenzen, Heidelberg 1986, S. 129-146.
69
Carossa, Hans: Rumänisches Tagebuch; zit nach Crohm`lniceanu, a.a.O., S. 137.
70
Ebd., S. 129.
71
Tucholsky, Kurt: Unser ungelebtes Leben - Briefe an Mary, hg. von Fritz J. Raddatz, Reinbek 1982. Briefe, die sich auf
Rumänien beziehen, umfassen den Zeitraum vom 17. Mai 1918 bis 19. Dezember 1918. (S. 61-205 o.g. Ausgabe).
72
Siehe zu Tucholskys Briefen aus Rumänien: Barner, Axel: Opitz - Moltke - Tucholsky - Enzensberger. Deutsche
Reisen nach Rumänien. Bukarest 2001, S. 53-74. Liffkas Aufsatz (Liffka, Richard; Kurt Tucholsky in Rumänien, in
Corbea, Andrei/ Nicolae, Octavian: Interferen]e culturale româno-germane (= Jassyer Beiträge zur Germanistik, Band
IV), Ia[i/Jassy 1986, S. 169-171) ist durch zahlreiche Fehler und Fehleinschätzungen gänzlich unzureichend. - Weder
Crohm`lniceanu, a.a.O., noch Heitmann, a.a.O., nennen Tucholsky in ihren Arbeiten, obwohl er zeitlich und thematisch implizit zu ihrem Untersuchungsgegenstand hätte zählen müssen.
67
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Axel Barner
über Rumänien und die Rumänen einerseits das von verschiedenen Germanisten konstruierte
positive Rumänienbild gestört hätten und dass auf der anderen, der rumänischen Seite,
Tucholskys Äußerungen als beleidigend empfunden wurden. Meine Untersuchungen haben ergeben, dass Tucholsky, im Gegensatz etwa zu Carossa und Sack, durchaus häufigen Umgang mit
Rumänen hatte, da er als Polizeikommissar der deutschen Militäradministration nicht in der
Kaserne lebte, sondern einen Polizeiposten - zuerst in Turnu Severin, später in Calafat - bezog.
73
Die Behauptung , Tucholsky hätte sich selten und nur beiläufig über Rumänien geäußert,
widerlegen seine Briefe, in denen sich zahlreiche Passagen über das Land finden, die in ihrer
kritischen, satirischen, ja zuweilen zynischen Art, den scharfzüngigen Kritiker der Weimarer
Republik vorausahnen lassen: Wenn er sich auch positiv über die rumänische Landschaft, die
gute rumänische Küche und das gemütliche Landleben äußert, so werden - wie bei diesem
dichterischen Temperament kaum anders zu erwarten - die gesellschaftliche Situation, die Vertreter der politischen Kaste und die Hauptstadt Bukarest mit Hohn und Spott geradezu überschüttet.
Hans Herbert Gruenwalds 1996 im Sonderheft Bukarest der Architekturzeitschrift "Stadt74
bauwelt" erschienener Aufsatz Bukarest im Spiegel deutscher Reiseberichte setzt das Bild von
der rumänischen Hauptstadt in der deutschsprachigen Reiseliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit dem der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in Beziehung und kommt dabei zu dem
überraschenden Ergebnis, dass trotz des raschen Wandels im Stadtbild der vergangenen hundert
Jahre die Konstanten des Images überwiegen:
Bukarest zeigt sich dem deutschsprachigen Besucher fast nie in seinem Da-Sein, sondern immer in
einem Dazwischen, irgendwo auf dem Weg aus dem Orient nach Europa. Und wird es lokalisiert, so
75
bestenfalls 'am Rande Europas"
76
Bukarest erscheint den Reisenden Hugo Fromholz und Paul Lindau am Ende des 19. Jahr77
hunderts auf dem Weg in die Moderne: Neben "orientalischen Restbeständen im Stadtbild"
konstatieren beide die Imitation französischer Architektur und Lebensart der Bukarester: Die
Stadt ist in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entschieden auf dem Weg zum "Klein-Paris".
Von diesem Charme des "Paris des Balkans" ist einhundert Jahre später allerdings nicht viel
78
übrig geblieben. Rüdiger Wischenbart und Werner Söllner beschreiben die Zerstörungen, die
Ceau[escus Modernisierungswahn geschuldet sind, die Überreste einer heruntergekommenen
bürgerlichen Architektur im Stadtzentrum sowie die tristen, grauen Neubaughettos, "...die
79
nachts wie zerklüftete Mondlandschaften aussehen." Eine weitere Konstante über die Jahrzehnte hinweg ist das Frauenbild deutscher Reisender: Die Bukaresterinnen, so stellt Gruenwald
fest,
retten mit ihrer intensiven Ausstrahlung ihre Stadt vor dem überall entdeckten 'Nachhall des Orients'. Was immer deutsche Schilderungen suggereieren wollen, wenn darin die Frauen von Bukarest
73
So Liffka, a.a.O. (s. Anm. 72), S. 171.
Gruenwald, Hans Herbert: Bukarest im Spiegel deutscher Reiseberichte, in: Stadtbauwelt Nr. 36 (Sonderheft Bukarest) vom 27. 9. 1996 (87. Jg.), S. 2072-2075.
75
Ebd., S. 2072.
76
Fromholz, Hugo: Unter dem Halbmond, Berlin 1894; Lindau, Paul: Aus dem Orient, Breslau 1890; zit. nach Gruenwald, a.a.O., S. 2075.
77
Ebd., S. 2072.
78
Wischenbart, Rüdiger: Canettis Angst. Erkundungen am Rande Europas. Klagenfurt 1994; Söllner, Werner: Bukarest,
eine Hauptstadt zwischen Kleinmut und Größenwahn, in: Frankfurter Allgemeine Magazin, 26.2.1993; zit. nach
Gruenwald, a.a.O., S. 2075.
79
Söllner, a.a.O.; zit. nach Gruenwald, a.a.O. (Anm. 74), S. 2072.
74
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Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
vorkommen, vermittelt das ganz allgemein den Eindruck selbstbewussten Strebens nach Moderni80
tät.
Mihai Isb`[escus Aufsatz Wie sich Deutsche und Rumänen gegenseitig in ihren Literaturen
81
sehen , scheint älter zu sein, als das Erscheinungsjahr - 1998 - nahelegt, da der Verfasser bedauert, dass "die Vorarbeiten auf diesem Gebiet“ - gemeint ist auf dem Gebiet imagologischer
82
Studien zum Rumänienbild - „sehr spärlich sind." Außer Karl Kurt Kleins Rumänisch-deutsche
83
Literaturbeziehungen von 1929 und Manfred Steinkühlers von mir oben zitierter Studie von
84
1971 sind Isb`[escu keine weiteren imagologischen Arbeiten bekannt. Vor allem die grundlegenden Darstellungen von Heitmann und Fassel bleiben unberücksichtigt, so dass Isb`[escus
Aufsatz hinter dem gegenwärtigen Forschungsstand weit zurückbleibt. Beginnend mit den Erwähnungen der Vlachen und ihres Herzogs Ramunc im Nibelungenlied über die Darstellung Vlad
}epe[ bei Michel Behaim, Martin Opitz' Zlatna, Wilhelm von Kotzebues Laskar Viorescu bis zu
Hans Carossas Kriegstagebuch untersucht der rumänische Germanist die bereits von uns oben
zitierten wichtigsten deutschsprachigen literarischen Zeugnisse zum Rumänienbild. Auch
Isb`[escu bleibt bei der Darstellung von Opitz' Zlatna der älteren Forschungsauffassung verhaftet, wenn er meint, das Gedicht Zlatna entwerfe "das erste umfangreiche Bild des Rumänen
85
'nach der Natur" , was inzwischen, wie wir oben dargestellt haben, als überholt gelten kann.
Isb`[escu wirft am Ende seiner Abhandlungen einige Blicke auf die kaum beachteten rumäniendeutschen Schriftsteller der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts und bezieht
damit einige Autoren in die Betrachtung ein, die bisher nicht untersucht wurden. Dieser Teil der
Darstellung bleibt allerdings äußerst fragwürdig, da es Isb`[escu nicht gelingt, über diese, dem
"sozialistischen Realismus" verpflichteten Nachkriegsautoren kritisch distanziert zu urteilen.
Oskar Walter Ciseks, Andreas Lillins, Arnold Hausers, Franz Storchs und Anton Breitenhofers
Werke dieser Jahrzehnte zeichnen, so Isb`[escu, die dem bereits früher von der deutschsprachigen Literatur vermittelten unveränderlichen positiven Züge des Rumänien-Bildes nach lediglich um einen Aspekt erweitert:
Eine neue ethische und politische Dimension gewinnt das Bild des Rumänen in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur der S. R. Rumänien, in dem die echte humanistische Eigenschaft der
rumänischen Arbeiter, Bauern und Intelligenzler im Zeichen des Arbeitskampfes um bessere und gerechtere Lebensbedingungen und um die Errichtung eines neuen sozialistischen Staates geschildert
86
werden.
Unhistorisch, unkritisch und stark idealisiert - und deshalb unbrauchbar - ist das von
Isb`[escu gewonnene Bild aus den Werken der o.g. Autoren der fünfziger und sechziger Jahre,
das der Autor unreflektiert übernimmt. Ihm scheint es das "wahre" Bild seiner Landsleute zu
sein, die in ihrer "unerschütterlichen Solidarität" für den Kampf um Gerechtigkeit und ge87
sellschaftlichen Fortschritt zwischen keiner Sprache und keiner Nationalität unterscheiden.
80
Ebd., S. 2075.
Isb`[escu, Mihai: Wie sich Deutsche und Rumänen gegenseitig in ihren Literaturen sehen, in: Gu]u, George: Wehn
vom Schwarzen Meere... - Literaturwissenschaftliche Aufsätze (= GGR-Beiträge zur Germanistik 2), Bukarest 1998, S.
253-276.
82
Ebd., S. 254.
83
Klein, Karl Kurt: Deutsch-rumänische Literaturbeziehungen, Heidelberg 1929.
84
Steinkühler, Manfred, a.a.O. (Anm. 61)
85
Isb`[escu, Mihai, a.a.O. (Anm. 81), S. 257.
86
Ebd., S. 267.
87
Ebd., S. 269.
81
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Axel Barner
Anders als zum 19. Jahrhundert gibt es, wie bereits weiter oben dargelegt, zum RumänienBild in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 keine umfassenden Untersuchungen. Neben
der unkritischen und daher unbrauchbaren Darstellung zur rumäniendeutschen Literatur der
fünfziger und sechziger Jahre bei Isb`[escu, kann ich daher nur auf die bereits oben zitierte
Darstellung Gruenwalds in der Bauwelt, meine, einen sehr begrenzten Rahmen abdeckenden
Einzelstudien sowie auf einen Aufsatz und ein unveröffentlichtes Manuskript des Schriftstellers
88
und Publizisten Hans Bergel verweisen. Die umfangreiche, in der Reihe Studien zur Reiseliteratur- und Imagologieforschung erschienene Dissertation Die Fremde rast durchs Gehirn, das
89
Nichts ... von Thomas Krause , 1998 erschienen, kann für unsere Zwecke außer Betracht gelassen werden, denn ihr Autor untersucht nicht das Rumänien-Bild, sondern die Deutschland90
bilder in den Texten der Banater Autorengruppe (1969-1991). Bei der Durchsicht der Arbeit
stellte ich zudem fest, dass es sich dabei nur sehr eingeschränkt um eine imagologische Arbeit
im engeren Sinne handelt, da sie über weite Strecken der Darstellung der Banater Autorengruppe als solcher gewidmet ist.
In meinem Aufsatz Gregor von Rezzoris Bukarest-Bild versuche ich anhand der drei Werke
Blumen im Schnee (1989), Greisengemurmel (1994) und Mir auf der Spur (1997) aufzuzeigen,
dass im Werk dieses wenig beachteten Schriftstellers eigentlich zwei Bilder der rumänischen
91
Hauptstadt nebeneinander existieren. Es ist einmal ein aus persönlichem Erleben vermitteltes
Bild vom Bukarest der dreißiger Jahre. In dieser Zeit lebte der junge Rezzori in der Stadt, die
auch für ihn damals noch auf der Grenze zwischen Orient und Okzident lag. So hatte er die
Möglichkeit, die Kontraste aus nächster Nähe kennen zu lernen. Diesem widersprüchlichen, aber
durchaus positiv konnotiertem Bilde - Rezzori feiert diese Zeit euphorisch als "meine mythisch
92
blau-gelb-rote Epoche" - stehen die finsteren Eindrücke aus der Ceausescu-Zeit und der Zeit
kurz danach gegenüber, als der Autor mehrfach für kurze Besuche im Lande war: Unter dem
Eindruck der harten Realität des Jahres 1990 verflüchtigt sich die Erinnerung an die ins Mythische erhobene Zeit der dreißiger Jahre und entschwindet in irrealer Ferne.
Ganz anderes als bei Rezzori, bei dem die Stadt zwischen erlebter Realität und sich als Fikti93
on erweisender Erinnerung liegt, ist Enzensbergers Bukarest situiert: Die Stadt ist hier umgekehrt zuerst ein Ort reiner Fiktion, der sich später allerdings als überraschend realitätsnah
94
erweist. Das Interessante an Enzensbergers Bukarest-Fiktion ist, dass sie - bereits 1984 zu
Papier gebracht - zumindest teilweise Realität geworden war, als sich der Autor 1990 zum
88
Barner, Axel: Dass Bukarest-Bild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 10. Jg., Heft 1, 1998, S. 120-132; Barner, Axel: Enzensberger, in: Opitz Moltke - Tucholsky, Deutsche Reisen nach Rumänien, Bukarest 2001, S. 75-88; Barner Axel: Gregor von Rezzoris
Bukarest-Bild, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 51. Jg., Heft 2, München 2002, S. 145-155; Bergel, Hans: Die
Begegnung mit dem anderen - Gedanken über die Gestalt des Rumänen in den Büchern eines Deutschen, in: ??; S.
183-190. (1978); Bergel Hans: Die Rumäität in den Büchern eines Deutschen (Das Schreibmaschinenmanuskript
wurde mir von Mariana L`z`rescu, Bukarest, zur Verfügung gestellt und trägt auf der ersten Seite den handschriftlichen Zusatz - des Verfassers? - : "Februar 2000; die deutsche Fassung ist bisher unveröffentlicht!")
89
Krause, Thomas: Die Fremde rast durchs Gehirn, das Nichts - Deutschlandbilder in den Texten der Banater Autorengruppe (1969-1991) (= Studien zur Reiseliteratur- und Imagologieforschung Band 3), Frankfurt/M 1998.
90
Ebd., so der Untertitel.
91
Barner Axel: Gregor von Rezzoris Bukarest-Bild, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 51. Jg., Heft 2, München
2002, S. 145-155.
92
von Rezzori, Gregor: Greisengemurmel, München 1996, S. 55.
93
Enzensberger, Hans Magnus: Bukarest, in: Ach Europa! - Wahrnehmungen aus sieben europäischen Ländern. Mit
einem Epilog aus dem Jahre 2006, Frankfurt 1987, S. 485-491.
94
Barner, Axel: Enzensberger, in: Opitz - Moltke - Tucholsky, Deutsche Reisen nach Rumänien, Bukarest 2001, S. 7588.
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ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003
Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
ersten Male in der Stadt aufhielt. Die Wirklichkeit hatte die Fiktion schneller eingeholt, als
Enzensberger es vermutet hatte. Der Text Bukarest ist aber nicht nur Realität gewordene Fiktion,
sondern vor allem auch eine Metapher und ein Beispiel dafür, das auch moderne, als kritisch
eingeschätzte Autoren mit gängigen Stereotypen und Klischees arbeiten, indem sie ihnen den
Wahrheitswert abgewinnen, der ihrer Intention entspricht. Denn untersucht man die Metapher
"Bukarest" eingehender, so wird deutlich, dass sie als Synonym für "den Balkan" verwendet wird.
Enzensbergers Bukarest wird dadurch zu einem genialen Verschnitt verschiedener Klischeemuster, wie sie in den achtziger Jahre durch die westliche Presse gegangen sind: Bukarest,
Rumänien, der Balkan - das alles steht für das Unsystematisierbare, das Ungeordnete und
Labyrinthische, für das, was sich dem westlichen Rationalismus entzieht.
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In meinem Aufsatz Das Bukarest-Bild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur habe
ich zu zeigen versucht, dass während der Zeit um die europäische "Wende" herum - also etwa in
den Jahren 1985-95 - durch das Erscheinen einer ganzen Reihe literarischer Werke offensichtlich ein extrem gesteigertes Interesse an der rumänischen Hauptstadt bzw. an rumänischen
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Themen ganz allgemein bestand. Dass in diesen Jahren das deutsche Interesse auf Bukarest
fokussierte, hängt sicherlich einerseits damit zusammen, dass während der Jahre 1985-95 die
politischen Ereignisse in Osteuropa ganz allgemein und die pervertierte Spielart des rumänischen "Sozialismus" unter Ceau[escu im Besonderen die Neugier des Publikums auf das, was
sich hinter dem "Eisernen Vorhang" abspielte bzw. abgespielt hatte, geweckt worden war.
Zweitens kommt hinzu, dass die große Anzahl der vor allem am Ende der achtziger Jahre von
Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelten deutschsprachigen Autoren durch
ihre Bücher, aber auch durch Artikel, Beiträge und Interviews in den Medien, die deutschsprachige Öffentlichkeit für ihr Herkunftsland sensibilisiert hatte. In den Texten dieser Autoren,
aber auch in denjenigen der Autoren bundesdeutscher und österreichischer Provenienz, die sich
Anfang der neunziger Jahre aufmachten, Rumänien und seine Hauptstadt zu entdecken
(Blaeulich, Mosebach, Wischenbart u.a.), erscheint Bukarest immer noch als eine Stadt der
Gegensätze, irgendwo, zwischen Orient und Okzident, am Rande Europas gelegen. Nicht zufällig
wird zum Beispiel Ceau[escu in die Nähe orientalischer Despoten gerückt, deren Größenwahn
sich in gigantischen Bauwerken widerspiegelt. Neben der Casa Poporului werden in den Texten
immer wieder die alte Klischees zitiert, wie das "orientalisch" anmutende Gewimmel fliegender
Händler auf der Strada Lipscani, die Reste verfallender Villenviertel, die einen letzten Hauch der
"Klein-Pariser"-Bohème ausstrahlen, im Kontrast dazu die grauen Wohnblockzonen an der Peripherie und die Frauen bzw. das im Westen weit verbreitete Klischee von der laxen Sexualmoral
der Rumäninnen.
Bukarest ist immer noch die Stadt der Gerüchte, der Legenden, Mythen und Wunder - beginnend mit
den zu Klischees erstarrten Daker-Mythen und der Dracula-Legende, die von vielen Autoren zitiert
werden, bis hin zu den modernen Legenden, zum Beispiel derjenigen, die sich 1995 um den Absturz
einer TAROM-Maschine ranken.... Westliche Klischees und der reale morbide Charme des Zerfalls
vermischen sich miteinander und formen, von den phantasmagorischen Erzählungen seiner Bewohner genährt, ein mythengefärbtes Gemälde von diesem Ort am Rande Europas. So verfallen auch
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Barner, Axel: Das Bukarest-Bild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 10. Jg., Heft 1, 1998, S. 120-132.
Neben Enzensbergers Bukarest handelt es sich dabei vor allem um Werke aus Rumänien stammender Autoren wie
Schlesak (Wenn die Dinge aus dem Namen fallen, 1991, Stehendes Ich in laufender Zeit, 1994) Söllner (Bukarest - eine
Hauptstadt zwischen Kleinmut und Größenwahn, 1993), Müller (Hunger und Seide, 1995), Wagner, Frauendorfer,
Wittstock, aber auch um österreichische und deutsche, z.B. Wischenbart (Canettis Angst - Das Reise-Buch der Ränder,
1994), Mosebach (Ceau[escus Palast - Ein Haus ohne Bilder, 1991), Blaeulich (Bukarester Geschichten, 1994), um nur
einige zu nennen.
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Axel Barner
Autoren, die sich um ein realistisches Bild der Stadt bemühen, der Erfindung und Phantasie, die
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durch westliche Stereotype und östliche Gerüchte und Legenden angereichert wird.
Aus unserer Darstellung sollte das Folgende deutlich geworden sein:
1. Obwohl die Rumänien-Vorstellung in der deutschsprachigen Literatur im Laufe der letzten
Jahrhunderte manchem tiefgreifenden Wandel unterlagen, ziehen sich doch einige Topoi wie
rote Fäden durch dieses Bild. Der Topos von der Latinität der Rumänen, der Orient-OkzidentTopos, das grausame Bild vom Osten (Dracula- und Ceau[escu-Mythen) und der "Dacia felix"Topos, um nur die wichtigsten zu nennen, finden sich als Hintergrundfolie in fast allen Werken
über Rumänien in der deutschsprachigen Literatur bis in die Gegenwart.
2. Während das Bild Rumäniens für die Zeit des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Ende des
Ersten Weltkriegs recht gut aufgearbeitet und umfangreich dokumentiert ist, gilt dies für das
20. Jahrhundert im Allgemeinen und für die Zeit nach 1945 im Besonderen nicht. Hier existieren
bisher nur sehr begrenzte Einzelstudien; umfassende Darstellungen fehlen.
3. Die von uns vorgestellten Studien sind von gänzlich unterschiedlicher Qualität. Dies betrifft einerseits die methodischen Verfahren, deren sich die Autoren bedienen, als auch die
Materialbasis, die für die Untersuchungen herangezogen wurde. Manche Darstellungen vermitteln inzwischen überholte Ergebnisse, andere wieder sind aufgrund einer unangemessenen
Begrifflichkeit abzulehnen. Die Arbeiten Heitmanns und Fassels zum 19. Jahrhundert sind die
weitaus fundiertesten, nicht nur weil sie auf einer äußerst umfangreichen Materialbasis gründen, sondern auch weil sie von ihrem methodischen Ansatz und ihren Ergebnissen die überzeugendsten sind und damit ältere Studien entbehrlich machen.
4. Ein Topos, der sich vor allem in der Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder findet,
würde eine genauere Untersuchung lohnen. Es ist der des Rumänen als Hochstabler, der sich
zum Beispiel in André Gides Die Falschmünzer, in Döblins Linie Dresden – Bukarest, in Thomas
Manns Zauberberg – hier ist es der Hauptmann Miklosch, der diesen Typus repräsentiert - in
Hildesheimers Paradies der falschen Vögel und anderen Werken zur Darstellung gelangt.
5. Die Termini „Bild“ und „Topos“ als Begriffe der Imagologieforschung wirken häufig unangemessen. Sie sind vor allem deshalb problematisch, da sie den Eindruck von Statik vermitteln,
der die untersuchten Sachverhalte häufig nicht trifft. Besser wäre es, zu einem anderen, den
sich verändernden Charakter imagologischer Erscheinungen betonenden Begriff zu gelangen –
vielleicht wäre es angebracht, den Begriff „Prozess“ in die Imagologieforschung einzuführen.
Literatur:
1.
Armbruster, Adolf: Der Donau-Karpatenraum in den mittel- und westeuropäischen Quellen des 10. - 16. Jahrhunderts - eine historische Imagologie, Köln - Wien 1990.
Barner, Axel: Das Bukarest-Bild in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 10. Jg., Heft 1, 1998, S. 120-132.
Barner, Axel: Opitz - Moltke - Tucholsky - Enzensberger. Deutsche Reisen nach Rumänien. Bukarest 2001.
Barner, Axel: Gregor von Rezzoris Bukarest-Bild, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 51. Jg. Heft 2, München
2002, S. 145 - 155.
Bergel, Hans: Die Begegnung mit dem anderen - Gedanken über die Gestalt des Rumänen in den Büchern eines
Deutschen, S. 183-190. (1978)
Bergel, Hans: Die Rumänität in den Büchern eines Deutschen (Maschinenmanuskript, vom Verfasser datiert auf
„Februar 2000“ - mit dem Zusatz „die deutsche Fassung ist bisher unveröffentlicht!“)
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Barner Axel, a.a.O. (Anm. 102), S. 130-131.
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Das Bild Rumäniens und der Rumänen in der deutschsprachigen Literatur. Ein Überblick
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