XiuCaiNo47 - Xiù Cai [Sju Tsai]

Transcrição

XiuCaiNo47 - Xiù Cai [Sju Tsai]
秀才
[xiù cai - sju tsai]
秀才遇到兵有理说不清
2004 年10月31日 (总第47期)
Einblicke in die Welt der Chinesen für die Freunde des Ostasieninstituts der FH Ludwigshafen
Entschlüsselt:
Die Botschaft des Olympischen Logos 2008
ls sich die chinesischen Verantwortlichen im
Juli 2002 daran machten, ein 标志 Logo für
die besten Olympischen Spiele aller Zeiten
festzulegen, gaben sie den Teilnehmern am
Wetbewerb um das Bildchen ein paar feste Vorgaben. Laut People's Daily vom 2.7.2002 waren dies:
A
# The official emblem of the 2008 Beijing Olympics should help promote the image of a
modern, bustling metropolis,
# ... officials stressed the symbol should give a
message about the city and the country as a
whole,
# The emblem should capture the special image
and spirit of Beijing and China, (刘敬民 Liu
Jingmin, 北京奥组委常务副主席 vice
president of the Beijing organizing committee),
# It should express how Beijing ... is entering the
21st century with a brand-new face (derselbe).
Auf Basis dieser glasklaren und kompromißlosen
Vorgaben legten sie am 3.8.2003, nach einem Jahr
angestrengter Arbeit, ihr Ergebnis vor.
Lange Zeit dachte
die halbe Welt:
Oh, ja! Sehr schön,
und: Aber was soll
das sein? Da waren
Sinologen schnell
zur Stelle und erläuterten den Unwissenden, es handele
sich wahrscheinlich
3.8.03: Große Freude herrschte bei der
um das Zeichen 京
Enthüllung des O-Logos 2008.
djing, das berühmte
Suffix, das eine Stadt als Hauptstadt ausweist wie in
北京 Bij§ng, 南京 Nánj§ng (Hauptstadt zu Beginn
der 明 Ming-Dynastie)
oder auch 东京 Tokio.
U n d
d a m i t
es nicht so einfach zu
erkennen ist, habe man,
meinten fachkundige
Alt-Sinologen, das
Zeichen eben im Stil der
篆书 Dschuan-Schriftzeichen gestaltet, also
des ersten wirklichen Ältestes Olympia-Logo der Welt,
noch vor den Griechen:
Schriftzeichen-Designs
zhuàn shã j§ng, ca. 2500 Jahre.
nach den 甲古文 Orakelknochen-Zeichen vor etwa 2.500 Jahren.
Eine clevere Wahl, sagten die Experten, denn
diese Form ist ja auch Millionen ausländischer
China-Touristen und den Expats bekannt, weil sie
auf ihren Namensstempeln zu finden ist, die sie sich
immer in China schnitzen lassen.
Soweit der Hinweis des Logos auf das klassische
China und seine immerwährende Kontinuität bis zum
Jahr 2008. Den Olympia-Bezug stellte das Logo natürlich dadurch her, daß 京 -erstmals in seiner Geschichte- zu laufen begann und aussah wie ein rennender Mann.
Chinesische Witzbolde haben mittlerweile erkannt,
daß
dieses Logo
nicht nur als
Hinweis für
die Olympischen Spiele
Beijing
2008 taugt,
sondern auch
für andere
O-Logo: WC-Einsatz-Variante für % & &.
Orte
L
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Hallo, Hallo! Hörst Du? Hier ist Stau, ich komme etwas später. Ist
eigentlich nichts passiert, hier, außer einem
TMD verdammttragischen Unfall. Ein Typ, ist gerade direkt ins
Krematorium
gebracht worden ... der Blödmann hat sich zweimal in der Luft
überschlagen ... ist über das Straßengitter gesegelt und dann sowas
von auf die Straße geknallt, daß er total auseinanderflog ... Aber,
hallo!, warte mal: Die Polizisten haben da ein interessantes Muster
auf die Straße gezeichnet ... Ja, ... ich sag' Dir ... schick' mal
jemanden rüber, mit 'ner
Digitalkamera ... das Design .. wir
haben es! Schnell!
Was die meisten Beobachter freilich immer noch
nicht verstanden haben, ist, in welcher Hinsicht dieses Logo eigentlich das beschworene image of a
modern, bustling metropolis ist bzw. eine message
about the city and the country as a whole enthält,
also eben Auskunft darüber gibt, how Beijing ... is
entering the 21st century with a brand-new face.
Genau dies nun erschließt sich dem Betrachter,
wenn er die Entstehungsgeschichte des Logos kennt.
Und die ist jetzt im chinesischen Internet enthüllt
worden, wie nebenstehend zu erkennen ist (wir
danken 凯 für die Zusendung des Beweises)
P.S. In den ersten drei Quartalen 2004 gab es in China 384.381 Verkehrsunfälle mit 77.664 Toten.
Ergebnis 2003: > 100.000 Verkehrstote.
鲁
河南大平矿难
1A-PR-Desaster
m 20. Oktober 2004 gab die chinesische
Regierung über ihre 100%ige Tochter 新华
Xinhua (Neues China-Nachrichtenagentur)
diese Meldung an die Weltöffentlichkeit, die
bis dahin glaubte, in China steige die Zahl der verschütteten und elend krepierenden Bergarbeiter ununterbrochen (Tote Jan-Sep 2004: 4.153):
A
China says deaths in coal mines fell this year
A government safety crackdown [!] helped cut the
number of deaths in China's accident-plagued
coal mines by 13 percent in the first nine months
of this year, the government said Thursday ...
(weiterverbreitet von AP)
Aber schon ein paar Minuten nach dieser Meldung
begann diese Nachrichtenserie:
# Explosion in Chinese Coal Mine Kills 56
# Explosion in Chinese coal mine kills at least 56
people
# 60 Die in Chinese Mine Blast; 88 Missing
# 62 missing miners, the government said Monday
# The death toll in a gas explosion in a Chinese
coal mine rose to 64 on Friday and chances that
84 missing miners might still be alive were
quite slim, the government said
# China Mine Blast Death Toll Rises to 66
# Managers of second mine detained for hiding
accident
# Death toll in China mine blast reaches 77
# China mine blast confirmed death toll reaches
82, many still missing
# Death Toll in China Mine Explosion at 86
(25.10.)
...
Vermutlich weiß bis heute niemand genau,
wieviele günstige, flexible Arbeiter 100 Meter unter
der Erde in Dunkelheit und Dreck noch verschüttet
und zugrundegegangen sind. Am Ende wird man
sagen: ca. 150 Tote.
Derweil beschäftigt sich die chinesische webBevölkerung auf ihre ganz China-traditionelle Weise
mit dieser Katastrophe. Die Toten-Gedenk-website
netor.com hat ihnen einen Bereich eingerichtet, wo
Mitleidige cyber-献花 Blumen, 点烛 Kerzen, 点歌
Lieder, 上香 Weihrauch oder 祭酒 Wein opfern (wo-
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für sie zahlen, Abbuchung über Mobiltelefon-Rechnung) und kurze Kommentare eintragen können.
Die sind nicht immer nur an die Toten oder deren
Frauen und Kinder gerichtet. 纪念大平的矿工兄弟
Gedenken der Bergwerks-Brüder von Daping steht
über der Abteilung. Wer sie anklickt findet zunächst
diese Liste:
Dem Gedenken der Brüder im Daping-
Kohlenbergwerk.
http://cn.netor.com/m/box200410/m42480.asp?BoardID=42480
#
#
#
#
#
#
#
!"#$%&'() #
10 24 !"#$%&'()82 #
10 23 !"#$%&'()79 #
10 22 !"#$%&'()66 #
10 22 64
!"#$%&'()
#
10 21 24:00 !"#$%&'()62 #
10 21 18:00
60
,-./01234567
*
+
10
20
22:00
47
895!:;<8=>?@ABCDEFGH?@
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:; I"JK3#LM
N
* #UVWXS%:S
400 N #Y200 OZ#
ST
148
56
;[\
.
Genau listen die website-Betreiber die Entwicklung,
beginnend mit der ersten Meldung vom 20.10 auf:
22:47 Uhr, in der Kohlengrube der 郑煤集团
Zheng Kohle-Gruppe in 大平 Daping, Stadt 新密
Xinmi, Provinz 河南 Henan, ereignet sich ein besonders schweres Gas-Unglück. Ersten Meldungen zufolge sind zu diesem Zeitpunkt ca. 400
Bergarbeiter untertage, von denen 200 die Flucht
gelingt. 148 sitzen im Stollen fest, 56 hat man
bereits tot geborgen. Ob die anderen noch leben
oder schon tot sind, ist unklar.
Auf derzeit 226 Seiten zu je ca. 15 Trauerbotschaften
haben die 祭奠人 Opfernden u.a. dies eingetragen:
#
#
^
]3^ Ihr von gestern,
_ Ich denke an Euch
cdefgh
`a Im Dunklen, b
Ist der
Sozialismus eine gute Sache? [wie es in einem
allseits
j bekannten Parteilied heißt]
# i
Ruhet in Frieden
[noH
# klm
Ich kann es nicht verstehen. Als ich
am Abend des 22. die Nachricht gehört hatte, habe
ich gleich begonnen, 4p
im Internet, dort, wo es
passiert war, auf der
Zhengzhou
website, zu
rs./3tu'
q
suchen
...
aber
es
gab
nichts
...
vM! wqrs!!!!!!!!! Warum gibt es auf der
website der Provinz Henan nichts über das
Bergwerksunglück!
Warum!!!!!!!!
^xyz{f|}^xI~n€'f
 Geht
#
Euren letzten Weg sicher, ich wünsche Euch
schöne
Tage im Himmel!
^x ‚j^x3ƒ#[„…†‡ˆc‰of3
i
#
Eine gute Nacht Euch, Eure Angehörigen müssen
sich nicht sorgen, die Regierung wird alles gut
erledigen
"JIŠ‹ Ž\
,Œ
Arbeit in der Hölle, und
#
doch
schafft Ihr Licht ’
|}^xI~c
#
" ‘ " Ich wünsche Euch, im
Himmel
arbeitslos
zu sein
“h”•h Grs^x–—
q
# i
... Sicherheit?
Effizienz?
Wofür
habt
Ihr
Euch
geopfert
rs˜M3tu'™vM! 3š› ...
# q
Warum gibt
es im ganzen web kkeine Kommentare zu dem
Unglück?
Šœ5žŸI ¡¢£ ¡¢£ ¡¢£
#
...
die kleinen Kohlegruben werden immer noch
illegalerweise eröffnet, immer noch illegalerweise
eröffnet,
immer noch[¬3!d­®
illegalerweise eröffnet ...
¦§¨©ª
q«
Die
# ¤¥
Machthaber und die herzlosen Reichen
Grubenbesitzer
sollen dafür mit ihrem Leben zahlen
!¯°±!"²³x´
#
Der Gruben-Chef sollte
für Euch sterben, Brüder
Letzteren Wunsch muß der wohl irgendwie mitbekommen haben, jedenfalls meldete er sich am 25.10.
(86 Tote) über die russische Agentur Interfax zu
Wort. Dies hatte er zu sagen:
Shanghai. (Interfax-China) - The October 20 Daping Coalmine accident has had no obvious negative impact on the coal production and sales of
Zhengzhou Coalmining Group, one of the major
suppliers of lean and hard coal in China, an
official from the Group told Interfax.
Aus solchen Reden ist das Pulver gemacht, das die
Basis der heutigen chinesischen Gesellschaft abgibt.
Wir sind gespannt, wer es anstecken wird, die Folgen
können wir uns schon jetzt gut vorstellen.
夫
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Bühne frei! Rot-China ist tot:
Es kann losgehen mit der 黄祸 Gelben Gefahr
ir hatten es ja schon vor fast zwei Jahren
geahnt (vgl, 秀才 No. 3). Daß freilich 明
镜周刊 Der Spiegel den Startschuß abgeben und seinen einstigen Ruf als Bild am
Montag damit wiederbeleben würde, war eine Überraschung:
Da kriechst also ein widerwärtiges, zähnefletschendes, tückisch äugendes Riesengewürm aus dem Inneren der Erde hervor, wo es bislang in der Gluthölle
hauste und wie Alien überlebte. Seine rechte Krallenpranke bohrt
es in den Atlantik und das Finanzzentrum
London (finis),
die linke in sibirischens RussenFleisch. Seine
ekelhaft-glänzende SchuppenWampe streckt
der Lindwurm
uns herausfordernd entgegen.
Die Botschaft?
Blonder
Der Spiegel, Heft 42/2004.
S i eg f ri ed au s
Hamburg, Germania, komm, stich mich ab!
Und die Folge der Geburt? Die Erde zerplatzt,
bricht auseinander, die Lava ergießt sich. Aber: China bleibt heil. Nur Rußland und Osteuropa sind zerbrochen, auseinandergerissen. Und natürlich hat es auf der anderen, nicht sichtbaren Seite der ErdkugelAmerika erwischt. Bush wahrscheinlich.
Was die Weltmacht China mit dem terrestrischen
Trümmerhaufen noch anfangen will bleibt unklar.
Leute! Dr. Follath! Warum habt Ihr es so
kompliziert gemacht und unlogisch? Warum habt Ihr
nicht einfach Eure Vorlagen aus dem letzten Jahrhundert genommen? Das wäre billiger gewesen und
deutlicher, mit einfachem Wiedererkennungswert für
Eure Leser und jene die Deutschen seit langem warnenden Vorstandsvorsitzenden und Verbandsfunktionäre. Viel klarer ist zum Beispiel diese Zeichnung
W
aus dem 19. Jahrhundert:
Lange hat die 秀才 Redaktionskonferenz an jenem Montag darüber gebrütet, warum Ihr soviel
Angst vor den Chinesen
habt. Dann fand Chefredakteur 约 die Ursache
in dem Politbüro-Photo
auf Seite 111 (s.u.).
Ihr glaubt also, 江泽民
Spiegel-Vorlaufer im 19.
Jiang Zemin sei wieder in Jahrhundert: China herrscht,
den 政治局常委会 Stän- aber die Erde blieb wenigstens
heil
digen Ausschuß des KPPolitbüros zurückgekehrt! Und habt Angst! Aber
beruhigt Euch, Leute, wir haben nochmal nachgeschaut: Der Mann ist wirklich raus aus dem Gremium - seit vollen zwei Jahren übrigens! Zum
Zeitpunkt Eures Erscheinens war er sogar als Vorsit-
Von der Spiegel-Redaktion neu besetzter Ständiger Ausschuß des
Politbüros:
ist wieder da!
µ¶·
z en d er d er 军 事 委 员 会 M i l i t ärk o m m i s s i o n
zurückgetreten und somit ohne jegliches Parteiamt.
P.S. Noch was: Ihr schreibt: ... Chinas Anteil an der
Weltproduktion: DVD-Spieler 80%, Spielwaren 70%,
Schuhe 50% ... Das ist natürlich Quatsch. Diese
Sachen werden dort bloß produziert, aber: in von
ausländischem Kapital finanzierten, von Expats organisierten und überwachten Fabriken, auf von
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ausländischen Ingenieuren konstruierten Maschinen,
nach ausländischen Designs und Architekturen, mit
ausländischem Vertriebs-know-how wieder außer
Landes gebracht und im Ausland von Ausländern
ver- und gekauft.
Chinesisch sind daran nur die genügsamen,
flexiblen und fleißigen Proletarier - und natürlich die
scharfen Mandelaugen-models, die immer machen,
was man ihnen sagt (zum Beispiel laptops aufklappen), weshalb die ausländischen Manager-Investoren
weiterhin sehr gerne nach China kommen und Redakteure immer neue China-Geschichten publizieren,
bei denen sie das Wichtigste vergessen.
¸¹ º» Geheimnisvolle Spiegel-Schöne des Ostens mit
aufklappbarem notebook ..
鲁
Einer unserer Leser macht auf folgendes aufmerksam:
China im internationalen Vergleich
Zur Problematik der Wertbezogenen Indikatoren
Im Zentrum der internationalen Vergleiche mit China
steht der Wert des Bruttoinlandsprodukts. Abgesehen
davon, ob das BIP richtig gemessen wird (da der
Netto-Ressourcenverbrauch nicht erfaßt wird etc.)
oder ob man der chinesischen Statistik trauen kann,
macht es einen erheblichen Unterschied, ob man das
BIP nach Wechselkursen in Dollar umrechnet oder
die Kaufkraftparität berücksichtigt. Das ist gerade im
Fall Chinas wichtig, da sich hier die beiden Werte
um den Faktor 4 unterscheiden.
Das macht sich ganz wesentlich bemerkbar bei
den Aussagen zum BIP pro Kopf, das je nach
Bezugsgrößen (real in 95ger Dollar) bei etwa 1000
USD (Wechselkurs) oder bei knapp 4000 USD
(Kaufkraftparität) liegt. Das ändert nichts daran, daß
die wirtschaftliche Lage eines großen Teils der
Landbevölkerung bzw. der Wanderarbeiter wesentlich schlechter ist. UNDP, Weltbank und auch die
seriösen chinesischen Institute weisen beide Werte
aus.
Auch die Internationale Energie Agentur verwendet seit langem beide Werte für die internationalen
Vergleiche von Energie-und Treibhausgasintensität.
Im Alltag der Medien, aber auch in Papieren, die
Politik begründen sollen, stößt man auf Manipulationen: Wenn einer belegen will, wie verschwenderisch
China z.B. im Vergleich zu EU, Japan oder den USA
mit Rohstoffen und Energie umgeht oder wie groß
das Einsparpotential ist, dividiert er den entsprechenden Verbrauch durch das BIP in Wechselkursparität.
Das gleiche gilt für die Treibhauswirkungen auf das
Klima, wofür er dann den CO2 Ausstoß auf das BIP
bezieht.
Wenn einer aber zeigen will, wie gut China schon
ist, dann nimmt er das BIP in Kaufkraftparität. Dann
kann man sogar zeigen, daß Chinas Energieverbrauch
pro Einheit BIP niedriger ist als derjenige der USA.
Als Grundregel gilt: Grenzüberschreitende Transaktionen, die nach Wechselkursen abgerechnet werden, sollten entsprechend in Leitwährungen verglichen werden. Vergleiche der internen Situation wie
z.B. des verfügbaren Einkommen der Haushalt
sollten in Kaufkraftparität erfolgen, jedenfalls
solange diese hauptsächlich im Inland produzierte
Güter einkaufen. Wenn die chinesische Führung vom
bescheidenen Wohlstand spricht, macht sie es daher
auch nicht an einem bestimmtem Wert pro Kopf fest,
sondern an einer Vergleichsituation, entweder gegenüber heute (drei mal mehr) oder an anderen Ländern:
z.B. Südkorea Mitte der neunziger Jahre.
Der Economist hatte in seinem Oktober-Extra
China und den USA eigens einen kleinen Block zur
Erläuterung eingesetzt. Ein bißchen Rigorosität
würde auch den vielen Specials und Extras und
Serien anderer Publikationen gut anstehen.
苏
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Chop Suey
杂碎
Weizen-Importe
Vor nunmehr fast zehn Jahren veröffentlichte ein
Lester Brown vom Worldwatch Institute seine
Studie Who Will Feed China? Wake-Up Call For a
Small Planet. Darin finden sich Berechnungen über
chinesischen Getreidebedarf bei steigendem
Einkommen und besserer Ernährung einiger hundert
Millionen Chinesen. Wer einen Horror-Text lesen
möchte, der greife zu dem Büchlein (150 Seiten,
ISBN 0-393-31409-X).
Brown hält es für ausgeschlossen, daß die
Ernährung der Chinesen aus eigenen Ressourcen
noch lange möglich ist. Der Ausweg: Importe. Und
die natürlich China-like in gigantischen Mengen,
jedenfalls so groß, daß die Weltmarkt-Preise davon
nicht unberührt bleiben werden. Browns Weckruf
alarmierte damals vor allem die chinesische
Regierung:
The American scholar's view not only sparked
strong repercussions in China's political and
academic circles, but also attracted worldwide
attention concerning the safety of China's grain
problem,
schrieb einmal die Nachrichtenagentur Neues China
(20.11.1998). Peking nahm sich den Weckruf wohl
zu Herzen, befahl den Provinzen, Getreide-autark zu
werden und manipulierte an den Weizenpreisen
herum, bis sie für die Bauern so attraktiv waren, daß
sie mehr produzierten. Höhepunkt war 1997 mit
einer Ernte von 123 Millionen Tonnen. Dann aber
stiegen auch die Lager-Kosten, und die Preise gingen
zurück. Die Bauern pflanzten fortan
Gewinnbringenderes und 2003 war die Weizenernte
auf nur noch 86 Millionen Tonnen gefallen.
Trotzdem hielten sich die Importe bislang in
Grenzen, was Beobachter darauf zurückführen, daß
die Regierung noch Vorräte auf den Markt bringen
kann, um die Lücke zu schließen. Die Höhe der
Vorräte wiederum ist Staatsgeheimnis. Mittlerweile
dürfte es die Frage sein, ob eine Erhöhung der
Weizenproduktion noch einmal möglich ist, ohne
anderen Anbau zu reduzieren, denn allenthalben
haben geschäftstüchtige Funktionäre
landwirtschaftliche Nutzflächen einbetoniert, um
darauf 开发区 development zones für die
ausländischen Investoren zu errichten. Schon im
Januar 2001 berichtete die Staatsagentur Neues
China dies als Problem. Es geschah aber nichts, denn
der warme Geldregen begeisterter ausländischer
Manager mußte weitergehen, Chinas Wohl und
Wehe hängt davon ab. Heute mehr denn je, weshalb
die Betonierung sogar zunham und inzwischen in
einem Bauernlegen großen Stils gemündet hat, gegen
das sich die Enteigneten mittlerweile drastisch zur
Wehr setzen (soweit sie nicht in Kohlegruben
verschüttet sind oder als um ihren Lohn betrogene
民工 floating population auf städtischen Baustellen
ihr Leben aushauchen). Im Frühjahr ordnete 温家宝
Wen Jiabao, der 人民的总理 Premier des Volkes,
einen Stop der Land-Vernichtung an, was ihm natürlich den Unmut der städtischen Funktionärskaste
einbrachte, insbesondere jener in Shanghai. Jetzt ist
das Edikt wieder aufgehoben worden, es darf weiter
betoniert werden. Passend dazu kauft China in
diesem Jahr auch 700.000 Tonnen Weizen in
Frankreich, einer der großen China-marchés, die
Chirac in diesem Monat mit seiner Gegenwart
adelte.
Mit steigendem Einkommen steigt auch der Fleisch- etc. Konsum, was
ein Steigen der Getreideproduktion erforderte, das nicht stattfindet:
China
D
1980
1990
1995
2002
+/%
Rindfleisch, kg
0,4
1
2,9
4,6
1.050
12
Geflügel, kg
1,7
3,3
7,3
10,5
518
14
14,6
25,9
39,1
52,5
260
82
2,1
4,6
6,1
13,3
533
264
Schweinefleisch, kg
12,0
20,4
26,8
34,2
185
53
Bier / pro Kopf, Liter
1,1
6,5
13,3
18,9
1.618
116
Pro Kopf Verbrauch
Fleisch, inges., kg
Milch, kg
Produktion
2003
Weizen (Mio. Tonnen)
55,2
98,2
102
90
86
Reis (Mio. Tonnen)
142
192
187
176
168
21
FAO Statistik
Wetten, daß ...
... ist nun im Land der Glücksspieler angekommen,
eine Meldung, die deutsche Blätter rauf und runter
druckten. Was die natürlich nicht wußten, bringt 秀
才: Wie heißt Gottschalk auf chinesisch? Natürlich:
哥特沙尔克. Und seine Sendung? 想挑战吗? Aber
was viel wichtiger ist: Was werden die Chinesen
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wetten? Und: dürfen die das überhaupt? Schließlich
gehört Glücksspiel
zum allergrößten,
aber leider immer
noch absolut geschlossenen Markt
d e s L a n d e s d e r Mit blonden Locken kann in China nichts
schiefgehen ...
Zocker, weshalb
die China-Investoren unter unseren Lesern schon
lange wissen, wohin sie ihre chinesischen Geschäftspartner am besten einladen, wenn die hierzulande zu
Besuch sind: in ein gepflegtes Casino (anschließend:
Sauna ...). Aber zurück zum Thema:
Um was wird gewettet? In der ersten Show zum
Beispiel, daß man nur mit einem Gabelstapler der
Firma 林德 Linde (厦门 Xiamen) ein am Boden liegendes Feuerzeug zünden kann. Das klappte dank
deutscher Linde-Technik in Kombination mit dem
dualen Ausbildungssystem für chinesische Mitarbeiter: gewonnen!
¼½
... den Rest erledigt der gute
Linde-Stapler. Aber wo ist das
Linde-Logo geblieben?
Wir haben jetzt diese Wette eingereicht: Der Titanic-Chefredakteur schafft es nicht, als Chinese verkleidet, in dieser Show, die Farbe von zehn LindeGabelstaplern/10 Siemens-Mobiltelefonen ... an ihrem Geschmack zu erkennen (die Augen des Kandidaten müssen diesmal aber wirklich blickdicht verbunden sein). Top! ...
埃提
Taiwan
Ex-福建Fujian-Gouverneur 贾庆林 Jia Qinglin
(heute: Vorsitzender der sogenannten Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes) besuchte Ende
September gemeinsam mit 陈云林 Chen Yunlin,
Direktor des 国务院台湾事务办公室 StaatsratBüros für Taiwan-Angelegenheiten Taiwaner Investoren in der Provinz Fujian.
Wie die Hongkonger South China Morning Post
meinte, um diese Leute zu beruhigen. Unser TaiwanExperte vermutet jedoch, daß genau das Gegenteil
der Fall war: um sie zu beunruhigen.
Zur Zeit läuft es nämlich aus Pekinger Sicht überhaupt nicht gut mit der Insel, die chinesische
Herrscher vor 1683 gar nicht, danach, bis 1894,
kaum und seither wieder gar nicht verwalten, seit
1949 jedoch trotzdem als ureigenes Territorium
betrachten, das sie mal 解放 befreien, mal mit China
统一 wiedervereinigen, in letzter Zeit aber am liebsten militärisch 攻击 angreifen möchten.
Taiwan-Präsident 陳水扁 Chen Shui-bian hingegen sieht immer weniger Zusammenhang zwischen
seiner Insel und China und arbeitet deshalb unverdrossen an einer neuen Verfassung, weil die alte von
1946 (!), von Ex-Diktator 蒋介石 Tschiang Kaischek noch aus China mitgebracht, nicht mehr mit
den Realitäten Taiwans übereinstimme, wie freilich
nicht nur Chen meint. Der immer noch offizielle
Name der Insel, 中華民國 Republik China, sollte
dann gleich auch noch nicht mehr verwendet sowie
eine Möglichkeit für Referenden (Horror-Frage: Bist
Du für oder gegen ein unabhängiges Taiwan?) in die
Verfassung eingebaut werden.
Beim letzten Nationalfeiertag in Taipei (noch am
10.10., obwohl das ein eher China-bezogenes Datum
ist -Sturz der letzten Dynastie, Republik-, weshalb
auch hier etwas Neues gesucht wird) gab es schon
einen Vorgeschmack: Erstmals verzichteten die Organisatoren darauf, zum Höhepunkt der Feierlichkeiten in die bislang heiligen 中华民国万
岁!万万岁 Lang lebe die Republik China! Hochrufe
auszubrechen. Auch die Flagge dieses sogenannten
Staates wurde nicht mehr gezeigt, stattdessen ein
Taiwan-Wimpel auf grünem Grund. Die Schulgeschichtsbücher unterziehen Fachleute derzeit einer
Remedur, wobei das Thema China weitgehend entfällt.
Aber das Schlimmste und Aktuellste ist: Es stehen
Taiwaner Waffenkäufe in Amerika für ca. 18 Milliarden Dollar an, die Präsident Bush schon seit Anfang
2000 gerne liefern und vor allem bezahlt sehen
möchte.
Auf Taiwaner Investoren in China, die dort zwischen 40 und 80 Milliarden Dollar angelegt haben,
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ü b e n ch i n es i s ch e
Funktionäre daher
schon länger Druck
aus, damit sie ihn an
ihren Präsidenten 阿
遍 Ah-bjän (Koseoder Spottname für
Chen Shui-bian, je
Von China nie geliebt, heute ein
Auslaufmodell - Fahne der sog.
nachdem, wer es wie
Republik China.
sagt) weitergeben,
der sich den chinesischen Forderungen beugen soll.
Zum Beispiel haben Taiwaner Firmen in China,
deren Chefs es mit Chens Partei halten, seit einigen
Monaten vermehrt mit Steuerfahndungen und ähnlichen unangenehmen Überprüfungen zu tun. Die
verdienen hier Geld ohne Ende, meinen KP-Funktionäre, wir werden es nicht zulassen, daß sie mit
ihren China-Profiten die Unabhängigkeit Taiwans
unterstützen. Dabei sind die Anhänger des Chen
Shui-bian vermutlich auch der Meinung, daß es nur
ein China gibt - allerdings ohne ihre Insel.
Gemäß dem alten Mao-Wort: Zuerst muß man
eine öffentliche Meinung herstellen diskutieren chinesische Gewalt-Experten mittlerweile völlig ungeniert und öffentlich darüber, wie man die Insel am
besten militärisch klein bekommt (秀才 No. 39). Etwas ist auch schon erreicht worden: Bundeskanzler
Schröder und Franzosen-Präsident Chirac lassen
kaum noch eine Gelegenheit aus, die anstehende
Befreiung Taiwans mit chinesischen Charakteristika
zu loben und kämpfen seit einem Jahr für die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China. Auch
wenn sie dabei vielleicht eher an den größten
Waffenmarkt der Welt denken und an europäische,
deutsch-französische Champions wie EADS: Das
Ganze kann nicht gut ausgehen.
Kürzlich heizte die französische (Zufall?) Agentur
AFP die Lage mit einer uralt-Meldung aus den 80er
Jahren an: Es gebe Besorgnisse, daß Taiwan an nukes
-DER Bombe- werkele.
Oder ist da was dran? Sollte man dort inzwischen
nach der alten chinesischen Devise 自力更生 auf die
eigenen Kräfte vertrauen arbeiten? Und vor allem:
向北朝鲜学习 Von Nordkorea lernen?
Gute News für VW Financial Services
Die 中国人民银行 People=s Bank of China (Staatsbank) experimentiert jetzt mit einer neuen Datenbank, die die Schulden und sonstige relevanten Informationen kreditnehmender Chinesen erfassen soll.
Seit Jahren boomt die Konsumenten-Kreditausgabe an Private zwar auch ohne eine solche Datenbank
(Stand Juni 2004: 183 Milliarden Yuan = 18,3
Milliarden Euro, nur für Autos!), aber es geschieht
sozusagen nur gegen Ehrenwort. Belastbare Informationen über die Schuldner (vor der Aushändigung des
Geldes) gibt es bislang keine. Konsequenterweise
hapert es natürlich allerorten mit der Rückzahlung,
und die PKW-Kreditgeber sitzen entweder auf einem
boomartig wachsenden Haufen 不良贷款 fauler
Kredite oder eben den beschlagnahmten Sicherungen, den Autos, die damit gekauft wurden, aber meist
in keiner besseren Verfassung sind als diese
Schulden.
Bei der Datenbank geht es um so eine Art 夏华
联合会 Schufa, woran die Regierung aber schon seit
mindestens zwei Jahren arbeitet, ohne daß etwas
dabei herausgekommen ist.
Die inzwischen am Rande des Nervenzusammenbruchs stehenden ausländischen Auto-Investoren
haben sich trotzdem in das sogenannte Autofinanzierungsgeschäft gestürzt (aus dem sich die Staatsbanken inzwischen lieber zurückgezogen haben wegen der ausstehenden 183 Milliarden Yuan vielleicht). Weitere Informationen? Dann: 秀才 No. 40:
Daniela Haag, Autofinanzierung in China)
标致 Peugeot
1997 beendete Peugeot seine Auto-Fabrikation in
广州 Guangzhou. Fast 400 Millionen Dollar waren
aber bereits in das Faß ohne Boden geflossen - Verluste, weg damit. Andere ausländische Autohersteller
ließen sich davon freilich nicht beeindrucken und
brachten zur gleichen Zeit Milliarden-Dollar-Investitionen nach China.
Heute sind alle da, mit riesigen Kapazitäten, teil
zu mehreren mit dem gleichen chinesischen Partner,
und wenn alles wie geplant und aufgebaut läuft,
werden schon 2010 jährlich 16 Millionen neue PKW
auf den chinesischen Markt kommen und 2020 um
die 120 Millionen auf dem größten Automarkt der
Welt herumfahren. China wird dann zwar etwa ein
Drittel der Welt-Ölproduktion benötigen, und der
Preis pro Liter Benzin in Deutschland wahrscheinlich
bei 10 Euro liegen, aber dann gibt es hierzulande
wenigstens keine Staus mehr, und wer es sich noch
leisten kann, hat endlich 通畅 freie Fahrt.
Bei solch tollen Aussichten hat es sich Peugeot
nun doch wieder anders überlegt und kommt reumütig zurück, obwohl die Firma als Citroen ja bereits
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seit Jahren mit 东风 Dongfeng kooperiert (vulgo:
Kopiervorlagen liefert). Mit eben diesem Hersteller
Dongfeng sollen ab 2007 nun zusätzliche, zunächst
150.000 am Ende aber 300.000 Autos jährlich gebaut
werden.
Dongfeng hat nun aber eine Bombe gezündet, an
die offenbar noch gar keiner der großen Auto-Strategen gedacht hatte: Man halte, sagte der DongfengChef 苗圩 Miao Wei, für diese Produktion Exporte
-auch nach Europa! Opel, aufgepaßt!- für eine sinnvollere Absatz-Strategie als den Verkauf in China
(wo es ja ohnehin immer schwieriger wird). PeugeotChef-Stratege Jean-Martin 佛尔兹 Foltz bestätigte
jetzt, in leicht panischer Diktion, daß im Kooperationsvertrag mit Dongfeng dieses Thema nicht geregelt sei:
There's nothing in the plans that would stop them.
Nothing in our agreement refers to exports.
Das ist einer der vielen, wie es in der 秀才
-Wirtschaftsredaktion heißt- überraschenden Geschäftsverläufe in China. In diesem Falle aber würden die joint-venture-Partner nicht nur dort, wo es
wegen der Mehrfach-Partnerschaften chinesischer
Auto-Hersteller schon gang und gäbe ist, nämlich in
China, sondern auch in Europa aufeinander losgehen.
Die Exporte könnten jedoch auch in Partner-Harmonie und schon viel früher beginnen, denn nur
einen Tag nach der Dongfeng-Ankündigung sagte
Peugeot-Citroen chairman Monsieur Foltz der Presse:
As you know the [China] market is slowing down
now, and we probably won't be able to do the full
target we had. Certainly our sales [in China] will
be lower than expected.
Tip: Monsieur Foltz erzähle seinen französischen
Mitarbeitern einfach, was deutsche Leistungsträger
den ihren schon lange sagen: Ihr seid zu teuer, zu
unflexibel und arbeitet obendrein zu wenig, weshalb
wir jetzt alles nach China auslagern.
Das beinahe Ende der Stadt Neuss ...
Ende Oktober letzten Jahres hatte das China-Fachblatt für die NRW-Stadt Neuss (die Neuss-Grevenbroicher Zeitung) gemeldet, eine chinesische Stadt
möchte mit der deutschen gerne eine Städtepartnerschaft gründen.
Als besonders attraktiv habe der anfragende Bürgermeister Yao Shung He (?) die Lage seines Ortes,
瑞安 Rui=an, in China hervorgehoben: nur 15km von
der Stadt 温州 Wenzhou entfernt.
Der Neusser Bürgermeister-Kollege Herbert Napp
(秀才-Vorschlag: 纳普) blieb jedoch 好苦 cool: Das
Angebot sei interessant. Aber: Man habe bereits vier
Partnerschaften. Er werde den chinesischen
Vorschlag deshalb in die politischen Gremien (?) zur
Prüfung geben.
Unzufrieden mit diesem Mangel an spontaner
Begeisterung war nur Ratsherr 罗森 Rosen, vielleicht weil er nebenbei als ehrenamtlicher Berater
zahlreicher chinesischer Investoren in Neuss tätig ist:
China ist die kommende Weltwirtschaftsmacht Nummer 1, hielt er Napp vor, da solle man sich geehrt
fühlen.
In Neuss betreibt ein Chinese (Guy Lin) aus Rui=an seit einiger Zeit ein Textil-Handelszentrum in der
Anton-Kux-Straße im Hammfeld. Das könnte dann
Anlaufstelle für jene 50.000 Chinesen sein, die
derzeit in Europa unterwegs sind, um Geschäfte zu
machen, wie Bürgermeister Yao aus Rui=an auch
geschrieben hatte.
Da unsere Gewährsleute seither nichts mehr über
diese Sache berichteten, hielten wir sie für erledigt.
Zum Glück für Neuss! Denn kein anderer Menschenschlag -außer die Amerikaner vielleicht- ist in China
so gefürchtet wie die Leute in und aus der Gegend
um Wenzhou. Seit Monaten durchstreifen sie in
Form privater Finanz-Gruppen chinesische Provinzen und Städte, um dort Immobilien en masse
zusammenzukaufen und damit zu spekulieren. Selbst
im abgehärteten Immobilien-Paradies Shanghai gehen mindestens zwei rote Lampen an, wenn die
beiden Schriftzeichen 温州 Wenzhou auf Visitenkarten aufscheinen.
... und das jetzt sichere der Stadt Gießen
Als wir Neuss so gerade für gerettet hielten, schlug
am 20.10. diese Bombe in der Redaktion ein: Gießener Anzeiger: Partnerschaft mit Wenzhou Chance für
die gesamte Region. Wir zitieren das Blatt:
Mit großer Begeisterung berichtete Oberbürgermeister Heinz-Peter Haumann gestern in einer
Pressekonferenz vom Besuch im chinesischen
Wenzhou. Es ist wichtig zu wissen, wie die chinesische Wirtschaft funktioniert. Und es ist sehr
hilfreich, mit diesem Besuch kompetente und
offene Ansprechpartner gefunden zu haben, sah
IHK-Präsident Dr. Wolfgang Maaß das Ergebnis
dieser Reise eher pragmatisch. Wie bereits letzten
Mittwoch berichtet, haben der Oberbürgermeister
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von Wenzhou und sein Gießener Kollege eine
Vereinbarung über eine Kooperationspartnerschaft unterschrieben.
Unterschrieben! Demnächst also 50.000 WenzhouLeute -die bereits in Europa Geschäfte machen!-, in
Gießen? Die Stadt hat derzeit nur 73.000 Einwohner
und dürfte das nicht verkraften ...
Bundeskanzler Schröder ...
... könnte ab Dezember diesen Jahres der beste und
älteste Freund Chinas aller Bundes- und Reichskanzler überhaupt sein, die Deutschland jemals hatte.
Dann nämlich unternimmt er seine 6. Dienstreise
dorthin.
Bisher hatte er immer sehr schöne Geschenke und
Aufmerksamkeiten dabei, was Freundschaft und
Erfolge dort unterfütterte:
# 1999, April, erste Reise: Entschuldigung dafür,
daß NATO-Raketen (in Deutschland beliebter:
amerikanische Raketen) gerade die chinesische
Botschaft in Belgrad zertrümmert hatten (KosovoKrieg);
# 1999, November, zweite Reise: deutsche Investitionen (BASF, Bayer, ThyssenKrupp ...) von 6
Milliarden DM, Produktionsbeginn des Passat bei
VW in Shanghai, Rechtsstaatsdialog;
# 2001, November, dritte Reise: 50 Airbusse 380
für 2,5 Milliarden Dollar angeboten, die die Chinesen dann aber doch nicht kauften, sowie (noch
einmal?) die auf der letzten Reise genannten
Investionen (BASF, Bayer, ThyssenKrupp ...)
und: das Transrapid-Projekt;
# 2002, Silvester, vierte Reise: Fahrgast bei der
Jungfernfahrt mit dem Transrapid;
# 2003, November, fünfte Reise: Ich komme jetzt
jedes Jahr, das EU- Waffenembargo gegen China
wird aufgehoben, Taiwan ist schuld an den Spannungen mit China, die Deutschen wüßten ja, was
die Teilung eines Landes bedeute. Und: China bekommt die Plutonium-Fabrik aus Hanau, basta!
Außerdem bekommt es ein Konsulat in Frankfurt
(Deutschland eins in 成都 Chengdu) und
außerdem einen neuen Botschafter in Peking.
Soweit, so erfolgreich.
Allerdings möchte der 秀才-Diplomatenberater
hier anmerken, daß nur das erste Versprechen der
5. Reise des Kanzlers (ich komme jetzt jedes Jahr)
bisher gehalten wurde: Hanau hingegen liegt immer
noch auf das versandfertigste verpackt in Deutschland und das Waffenembargo besteht weiter. Anson-
sten wissen die Westdeutschen inzwischen auch
nicht mehr so recht, ob die Teilung 1.200 (Spiegel)
oder gar 1.500 (FAZ) Milliarden Euro bedeutete.
Für jeden 中国通 China-Kenner allerdings steht
felsenfest, daß der Kanzler definitiv 丢面子 sein Gesicht verloren haben wird, wenn er bis zu seiner diesjährigen Abreise Ende November nicht noch ein,
zwei, drei sehr dicke Kaninchen aus seinem Zylinder
zieht.
Sollte der neue Mann im Pekinger Haus der Deutschen, der gerade seinen deutschen gegen einen chinesischen Namen, 史丹泽, eintauschte, dies hinbekommen, nach nur drei Monaten als Botschafter im
Amt, hat er sein Meisterstück vollbracht.
Tip: Waffen für China könnten die Situation für
den Kanzler sehr entspannen - und längerfristig auch
die in der 台湾海峡 Taiwan-Straße ...
Darauf freut sich der Kanzler schon ein ganzes Jahr.
温家宝 Wen Jiabao hat einen Sohn
Vielleicht kann man sagen, daß chinesische KPFunktionäre -gemessen an westlichen Wahl-Demokratie-Kriterien- nicht so ganz lupenrein legitimiert
sind. Richtiger jedoch bleibt, daß sie erfolgreich
sind, was ja auch ein demokratisches Qualifikationsmerkmal ist.
Und nicht nur sie, auch ihre Kinder, Söhne wie
Töchter, sind stets erfolgreich (vgl. 秀才 No.3). Nun
gibt es einen neuen Beweis für den kausalen Zusammenhang zwischen erfolgreichem Politikervater und
erfolgreichem Sohn.
Nicht so positiv wie wir sehen das freilich (dubiose) Taiwan/Hongkonger Blätter wie 臺週刊 Next
Magazine und 开放 Open. Aber auch chinesische
Magazine wie 新财富 New Fortune und 21世纪经
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济报道 21st Century Economic Report hatten bei
ihrer Berichterstattung zu diesem Thema wohl Hintergedanken.
Dies ist die Kulisse: Im Juli kursieren in Peking
Gerüchte über eine Krankheit des Premiers Wen Jiabao. Er sei sogar länger im Hospital gewesen, heißt
es. Er habe eine Art Depression. Und die Ursache sei
sein Sohn 温云松 Wen Yunsong.
Das sei so gekommen: Im Mai des Jahres bringt
die Kantoner 新财富 New Fortune mal wieder eine
der in China so beliebten Hitlisten der Reichsten Chinesen heraus. Auf Platz 3 findet sich der Name eines
Mannes: 郑建源 Zheng Jianyuan. Seine Firma: 宝
华集团 Bao Hua Group, Versicherungsbranche,
Kapital 6,3 Milliarden Yuan (630 Millionen Euro).
Zu denken gibt vielen Kennern der Szene aber
sofort, daß niemand diesen reichen Mann kennt, auch
fehlte sein Photo auf der Liste, in der die anderen alle
eins haben.
Aber die Firma Bao Hua gibt es, und man weiß
auch, daß sie ein Hauptaktionär der 平安 Ping An
Versicherung des 马明哲 Ma Mingzhi ist, der die
Reichen-Hitliste 2003 anführte.
2003 nun hatte Bao Hua Aktien von Ping An im
Wert von 46 Millionen Yuan erworben. Und im Juni
diesen Jahres begab sich Ping An mit einer Sondererlaubnis von Premier Wen an die Hongkonger
Börse. Bingo! Der Aktienwert stieg, und der Anteil
von Bao Hua betrug plötzlich -ohne, daß irgendjemand irgendwas im Kerngeschäft gemacht hätte7,3 Milliarden HK-Dollar. Eine glatte Verdoppelung!
Inzwischen steht Herr 马 Ma (Ping An) wegen
Unregelmäßigkeiten unter Beobachtung kompetenter
chinesischer Behörden.
Und nun kommts: Am 1. Juli enthüllt der 21st
Century Report (广东 Guangdong), daß Herr Zheng
Jianyuan (Bao Hua, die diesjährige No. 3 auf der
Reichen-Hitliste), ein 傀儡 Strohmann sei. Der
wahre Chef von Aktien-Gewinner Bao Hua sei jemand anders:
... ca. 30 Jahre alt, meist wohnhaft in Peking, in
Amerika studiert, nach der Rückkehr in Peking
Firma aufgemacht, IT-Bereich und dort im Geschäft mit Ping An sowie nationalen Handelsbanken und 证卷 security-Firmen.
Und dieser Mann war ... Wen Yunsong, der Sohn des
Premiers Wen Jiabao. (Für Kontaktaufnahmen: Seine
Firma in Peking heißt 优创 Unihub, website:
www.unihub.net).
Für Premier Wen, der sich bereits als 人民的总理
Premier des Volkes sieht, unbestechlich und sauber,
soll das ein schwerer Schlag gewesen sein, zumal
auch seine Frau von dem undurchsichtigen Zheng
Jianyun etwas bekommen haben soll.
Erfahrene Beobachter brachten die Enthüllungskampagne natürlich umgehend mit dem erst später
bekanntgewordenen Abtritt des 江泽民 Jiang Zemin
als Vorsitzender der Militärkommission in Verbindung. Der sei nicht so ganz freiwillig erfolgt, sagen
sie, es habe Fußhakeln unter dem Tisch gegeben.
Wen Jiabao habe dabei nachgeholfen und Jiang
die gewaltigen IT-Geschäfte seines Sohnes, 江棉恒
Jiang Mianheng, in Shanghai vorgehalten - mit dem
Unterton, dort sei wohl nicht alles nach der reinen
Betriebswirtschaftslehre vor sich gegangen ...
Die Enthüllungen über Wen-Sohn Yunsong seien
in diesem Zusammenhang als eine Retourkutsche
Jiangs und seiner 上海帮 Shanghaier Freunde zu
sehen, glauben viele.
Inzwischen soll eine Untersuchung gegen 21st
Century Economic Report laufen - ausgelöst von Premier Wen. Thema: Was ist der Hintergrund des
Berichts vom 1. Juli? (Wir berichten weiter, sobald
uns der Report vorliegt.)
Unser society-Redakteur ...
... fand das alles eigentlich nicht der Rede wert ... bis
er beim Suchen nach einem Bild des Wen Yunsong
im chinesischen Internet auf die Seite der Immobilienfirma 搜房 stieß, die sich den (noch) passenden
englischen Namen So Fun gab.
Dort war 温云松 Wen Yunsong erwähnt, was
seine Aufmerksamkeit erregte. Anklicken brachte
unseren Mitarbeiter auf eine (für chinesische Verhältnisse) ziemlich explosive Seite, die unsere Eingangsthese (erfolgreicher Funktionär hat erfolgreiche
Kinder) nachdrücklich belegt, weshalb wir die Genealogie hier auch komplett bringen, so wie sie dort
stand:
ÃÄÅÆÆÇÈUnihub ÉÊËÌ ÍÎÏÐÑÒÓ, Wen
Yunsong, CEO der Pekinger Firma Unihub, Sohn
des
WenÍ
Jiabao.
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Zhu Yanlai, Bank of China (HK),
Abteilungs-GM, Tochter des Ex-Premiers Zhu
Rongji.
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Zhu Yunlai, China Int=l Finance Corp. î Vorstand,
Sohn des Ex-Premiers Zhu Rongji.
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) Li Xiaolin, China Power In=l, CEO,
Tochter
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Ex-Premiers
Li Peng .
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Xiaopeng, China Huaneng Group, General
Manager, Sohn des Ex-Premiers etc. Li Peng
Behindertenverbandes Chinas, Sohn des Deng
Xiaoping.
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Zhifang, CEO der Si Fang Group [Maschinenbau],
Sohn des Deng
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XÝÞ*YJ@A ÍKLMÑçÓ, Deng Rong,
Vize-Vorsitzende der China International Friendship
Association, Vize-Vorsitzende der ChinesischRussischen Freundschaftsgesellschaft und des
Komitees für Frieden und Entwicklung, Tochter des
Deng Xiaoping.
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`Ña Ó, Zhang Hong, Leiter der Abteilung für
Wissenschaft und Technik der Chinesischen
Akademie der Wissenschaften, Schwiegersohn des
Deng Xiaoping.
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a Ó, He Ping, Vize-Vorstandschef der Poli Group
Ziemlich subversiv und am 28.10. auch in China noch nicht gesperrt::
Kronprinzenpartei.
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, Jiang Miankang, Chef der
Organisationsabteilung des General Logistics Dep.,
Armee, Generalmajor, Sohn des Ex-Partei-, Staatsund Armeechefs Jiang Zemin.
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, Jiang
Mianheng, Vize-Präsident der Chinesischen
Akademie der Wissenschaften, Inhaber des
Milliarden-Dollar-Joint Venture Grace
Semiconductor in Shanghai (Partner ist der Sohn
des Taiwaner Milliardärs und Formosa Plastics
Eigentümer
Wang Yung-ching,
Winston Wang, Sohn des Ex-Partei-, Staats- und
Armeechefs.
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, Jiang Zehui, Präsidentin der
Forstakademie, jüngere Schwester des Ex-Partei-,
Staats- und Armeechefs
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1951 î
, Liu Yuan, General Logistics Dep. der
Armee, Generalleutnant seit 2000, Vize-Gouverneur
der Provinz Henan, jüngster Sohn des ExStaatspräsidenten Liu Shaoqi.
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45î78BÒÓ, Liu Weiming,
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ehem. Parteikomitee der Provinz Guangdong, VizeProvinz-Gouverneur, Vize-Vorsitzender der ProvinzKonsultativkonferenz, Sohn des ExStaatspräsidenten Liu Shaoqi. Í
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45î78BÒÓDeng Pufang,
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1938 î
Vorsitzender des [sehr geschäftstüchtigen]
[Militärkonzern], Ehemann der Deng Rong,
Schwiegersohn
des Deng
Í Xiaoping.
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, Zeng Qinghong, VizeStaatspräsident, Mitglied des Ständigen
Ausschusses des Politbüros, Sohn des ehemaligen
Innenministers
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Zeng Qingyang, Leiter der Abteilung für
Militärgeschichte der Militärakademie,
Generalmajor, Sohn des ehemaligen
Innenministers Zeng Shan
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, Zeng Qingyuan, Vize-Chef der
Logistkabteilung der Luftwaffe, Generalmajor, Sohn
des ehemaligen
Innenministers
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Zeng Haisheng, Vize-Leiterin des Allgemeinen
Büros [Armee] , Generalmajorin,Tochter des
ehemaligen Innenministers
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™š›—;Ëãë؜ᙝžŸÑçÓ, Yu
Zhengsheng, Parteisekretär der Provinz Hubei,
Mitglied des ZK, Enkel in 5. Generation des Zeng
Guofan [Mitte des 19. Jahrhunderts
Provinzgouverneur der letzten Dynastie, Sieger
über den
Taiping Aufstand], Sohn des
ehemaligen Vize-Premiers und Ministers für
Maschinenbau Huang Jing.
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î1986
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, Yu Qiangsheng, ehem. Chef der Pekinger
Staatssicherheit, 1986 nach Amerika geflohen,
Sohn des ehemaligen Vize-Premiers und Ministers
für Maschinenbau Huang
Í Jing.
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Ë㮯°ÑÒÓ, Xi Jinping, Parteisekretär der
Provinz Zhejiang, Sohn des ehemaligen VizePremiers
ÖÆÆ Xi Zhongxun.
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, Bo Xilai, Handelsminister, Sohn des
ehemaligen Vize-Premiers
Í Bo Yibo.
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, Wang Qishan,
Bürgermeister von Peking, Schwiegersohn des
ehemaligen Vize-Premiers
Í Yao Yilin.
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1942.05 î
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,
Liao Hui, Vize-Vorsitzender der Nationalen
Konsultativkonferenz, Chef des ÜberseechinesenBüros des Staatsrates, Sohn des ehemaligen VizeVorsitzenden des Nationalen Volkskongresses, Liao
Chengzhi [ebenfalls für Überseechinesen und
Taiwan zuständig].
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, Dai
Bingguo, Vizeminister des Außenministeriums,
Schwiegersohn des ehemaligen VizeAußenministers und Ministers für Kultur, Huang
Zhen.
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Konsultativkonferenz,
Wang Shoudao.
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ÆÆèéáá Í1943 î;ê֎Ž ëÖ?J
JëäìÑÒÓ, Wang Guangtao, Minister für
Bauwesen, Sohn des ehemaligen Bürgermeisters
von Shanghai und Leiters der Association for
Across the Taiwan Straits, Wang Daohan.
óRelations
ÆÆ×Ø ÙÚÚ Í1948.01 î
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, Zhou
Xiaochuan, Chef der Bank of China, Sohn des
ehem. Ministers für Maschinenbau-Industrie und
Ministers für Bauwesen, Zhou
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, Hu Deping, Vize-Vorsitzender der All China
Federation of Industry and Commerce [staatliche
Organisation der Privatindustrie, chinesischer
Industrie- und Handelskammertag] älterer Sohn des
ehem. Vize-Staatspräsidenten
WangÍ
Zhen.
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1945
ÒÓ
, Liu Hu, standing director der China
Resources und Vize-General Manager, zweiter
Sohn des ehemaligen Parteichefs
Í Hu Yaobang.
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ÒÓ î
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, Li Tieying,
Vize-Vorsitzender des Nationalen Volkskongresses,
älterer Sohn des ehem. Vize-Vorsitzenden des
NVK, Li Weihan.
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@AÑÒÓ, Teng Jiuming, Parteisekretär
von Chongqing, Sekretär der DisziplinKontrollkommission [Partei], Sohn des ehem.
Sekretärs der Disziplin-Kontrollkommission und
Vize-Vorsitzenden der Konsultativkonferenz, Teng
Daiyuan.
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1924.11 î
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, Ye Xuanping, ehem. VizeVorsitzender der Nationalen Konsultativkonferenz,
Sohn des ehem. Marschalls (und Verhafters der
sog. Viererbande) Ye Jianying.
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Jiang Mianheng, Sohn des Ex-Partei-, Staats- und
Armeechefs, schwingt nicht nur die Schere zwischen roten Frauen.
Ein Studium in Amerika reichte für die Position des Vize-Präsidenten
der Akademie der Wissenschaften.
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;ØÏ@AÔÑÒÓ, Wang Jun,
Vorstandsvorsitzender der CITIC Group
[Finanzorganisation, Quasi-Bank] ältester Sohn des
ehemaligen Vize-Staatspräsidenten
ìíWangÍZhen.
¸ÕÆÆ1Ö×ØÉÊÙ-ڐÉÊ Ô
ÒÓ
, Wang Bing, Vorstandsvorsitzender Nan Hai
Öl- und Hubschrauber, jüngerer Sohn des
ehemaligen Vize-Staatspräsidenten
íWang Zhen.
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ÉÊ ÑÒÓ 1944 î
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,
Wang Weiyan, Vorstandsvorsitzender der
Shenzhen Yan Tian Port Holding, Sohn des
ehemaligen Vize-Vorsitzenden der
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<=
Das kommentierte der anonyme, fleißige Sammler
mit dem Fluch: TMD B, den wir selbstverständlich nicht übersetzen. Schon deshalb, weil es nicht
nötig ist: Ein Name nämlich fehlt in der langen Liste.
Raten 秀才-Leser, wer es sein könnte?
Falls Sie selbst einmal einen Blick in diese Liste
werfen möchten, so können sie dies entweder über
die Immobilienfirma So Fun versuchen:
http://sofun.com oder direkt:
http://cqbbs.soufun.com/post/1703_4255805_4255805.htm
Es wäre nicht uninteressant zu wissen, wieviel Zeit
nach dem Erscheinen dieser
-Ausgabe vergeht,
bis diese explosive, Staatsgeheimnisse verratende
Aufstellung aus dem web genommen wird.
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Schon wieder Siemens
Wer die China-Aktivitäten des deutschen Traditionskonzerns in den letzten Monaten verfolgte, müßte
inzwischen davon überzeugt sein, daß der Ende des
Jahres scheidende Vorstandsvorsitzende
die
endgültige Verlegung der Firma in sein Lieblingsland
(þ ) vorbereitet.
Erst macht er Siemens zum Vertriebspartner
Europa der chinesischen Telefonfirma
Ningbo Bird (
No. 41), dann läßt er sich durch
den Verlust des Eisenbahngeschäfts (
No. 42) so
unter Druck setzen, daß er beim nächsten derartigen
deal entweder seine Ware oder ihr know-how (besser
gleich beides) eigentlich als Geschenk anbieten muß,
um zum China-Erfolg zu kommen, und jetzt macht er
die (vorsichtig ausgedrückt) undurchsichtige, CiscoNetztechnik-kopierende Firma þ Huawei sogar
zum Lieferanten für Siemens Netz-Produkte, die
nicht nur in China verkauft werden.
Vor diesem Hintergrund möchte mancher in der
Redaktion schon glauben, daß die Transrapid-Technik demnächst für den berühmten Appel und=n Ei an
Ë
Commander 吴祥明 Wu Xianming übertragen
wird. (Oder an einen der zahlreichen Hersteller chinesischer Magnetzüge.)
Commander Wu könnte dann freilich im Gegenzug sein Büro, gleich neben dem ausgelagerten Vorstand im geplanten 200-Millionen-Dollar-Siemens
Hauptquartier in Peking nehmen und dort dafür
sorgen, daß die Strecke nach Shanghai doch noch
magnetbahnmäßig ausgebaut wird. In diesem Fall:
摘下帽子 Hut ab!
Da kann man fast nicht verstehen, warum China
noch Jahre auf internationale Unterstützung angewiesen sein wird. Raumfahrer, Olympische Spiele,
Weltausstellung, Transrapid und die oben genannten
Gründe sprechen eigentlich dagegen, woraus die
Japaner übrigens schon die Konsequenzen gezogen
und ihre ODA genannte Entwicklungshilfe seit 2000
halbiert haben.
Die KfW teilt auch mit, das chinesische ProKopfeinkommen habe sich auf 940 Dollar erhöht,
vergißt jedoch hinzuzufügen, daß damit das Jahreseinkommen gemeint ist.
Fahrlässig ist die Aussage, die Regierung in Peking spare eifrig. Das Gegenteil ist schließlich der
Fall: Die Sparguthaben der Bevölkerung sind längst
ausgegeben, das Land mit 220 Milliarden Dollar im
Ausland verschuldet und im Inland dürfte der
Schuldenberg sich auf viele hundert Milliarden Dollar belaufen.
Transrapid
Schwere Schützenhilfe erhielt die schnelle 磁悬浮
列车 Schwebebahn in der Ausgabe 3/04 der Chancen, ein Magazin der KfW Bankengruppe. Es ist ein
Spezial: China - ein Land im Boom. Vorsichtshalber
sind alle Beiträge nicht gezeichnet, vielleicht, weil
man den Inhalt schon öfter an anderer Stelle gelesen
hatte? Zum Beispiel: ... wächst und wächst ...
Investoren stehen Schlange ... Chinas Wirtschaft war
über Jahrtausende dem Westen auch technologisch
haushoch überlegen ... u.s.w.
Wurden die 200 Millionen DM Staatszuschuß für den Transrapid in
Shanghai aus Mitteln des KfW-WohnraumModernisierungsprogramms finanziert?
4··
Nicht ganz verstanden haben wir den Zusammenhang zwischen der diesmaligen Preisrätselfrage:
Bis wann müssen spätestens die zinsgünstigen
Kredite der KfW Förderbank zur Wohnraummodernisierung beantragt sein?
und der Belohnung für die richtige Antwort (31.
12.2004).
道
Ohne besondere Ankündigung für unsere Leser erschienen in den letzten Wochen:
M 秀才 No. 44 - Das Ende der englischen Sprache, wie wir sie kennen?
M 秀才 No. 45 - Nachdruck: Carl Crow, 400 Millionen Kunden
M 秀才 No. 46 - Nachdruck: Carl Crow, The Chinese Are Like That
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Worte und Taten, Geschäft & Demokratie
Wir verkaufen Euch den Strick,
mit dem Ihr andere fesselt
Das deutsch-chinesische Fachblatt Wirtschaftswoche berichtete neulich einmal über eine
neue Große Mauer der Chinesen und diente seinen business-Lesern aus dem SoftwareBereich damit einen brandaktuellen großen chinesischen Markt an (den größten der
Welt): den für firewalls. Mit denen nämlich möchte die Partei ihre Schutzbefohlenen im
Land vor elektronisch pausenlos eindringenden 反华力量 antichinesischen Kräften und
System-Veränderern abschirmen. Die dafür benötigte firewall-Technik muß natürlich
jemand liefern, wofür er Geld bekommen kann. Ein großer Markt, in der Tat.
Aber ein sehr platter Vergleich, WiWo, denn diese Mauer soll ja nicht Menschen
draußenhalten wie die alte aus Stein oder die aus Leibern, die die Nationalhymne besingt.
Die chinesische firewall soll auch nicht Hacker mit Feuer abschrecken, wie bei uns,
sondern sie soll die Chinesen vor dem Feuer selbst schützen, was der einheimische
Begriff 防火墙 Anti-Feuerwand auch genau zum Ausdruck bringt. (Nebenbei: 墙 tjiang
heißt Wand, nicht Mauer, was 城 tschöng heißt, weshalb die Chinesen ihre Große Mauer
长城 und nicht 长墙 lange Wand nennen. Kann da beim WiWo-Fachblatt für China etwa
keiner Chinesisch? Angebot: Die 秀才-consultants sind gerne bereit, gegen ein happiges
Honorar hier auszuhelfen!)
Aber was hat es eigentlich mit dem Markt für Anti-Feuerwände auf sich? Wir haben uns
etwas in diesem naturgemäß nicht sehr öffentlichen Feld umgeschaut.
in neuer Plan der chinesischen Partei-Regierung sieht vor, in den kommenden fünf
Jahren ein sogenanntes Nationales Informationssystem aufzubauen. Um dabei möglichst
rasch voranzukommen, würden die requirements for
market access to
information security
products liberalisiert, ein Wort, das ausländische
China-Lieferanten und Investoren stets sehr gerne
hören.
Ø Gu Jianguo, É áÉ
Vize-Direktor im Polizeiministerium, Büro
für die Überwachung der Sicherheit öffentlicher
Informationsnetze, China's top information security
authority, wie die Nachrichtenagentur Xinhua im
April diesen Jahres humorvoll formulierte, sagte
dazu:
A new regulation on information security products manufactured at home and abroad will
come out in the near future, further widening
market access for software developers.
Endlich mal ein offener Riesenmarkt! Freilich
E
ÒqÄ
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Ò!UqÄâ"
geht es beim Nationalen Informationssystem im
wesentlichen um das glatte Gegenteil: um sichere
Informationen, um solche, die nicht brennen und
manche Leute womöglich heiß machen - im Kopf..
Der Aufruf des Herrn
Gu traf den Nerv chinesischer IT-Firmen, die daraufhin schon in diesem
Sommer die Initiative ergriffen und sich in puncto
Information einen Pakt der Selbst-Disziplin gaben,
den sie auch sogleich unterschrieben. Kernpunkt der
Abmachung:
to advance the healthy and orderly development
of the Internet industry in China.
Also schön gesund und ordnungsgemäß, wie das
deutsche Bürokratenwort lautet.
Auch ohne Pakt halfen aber befreundete ausländische Unternehmen gerne und schon lange den nicht
grundlos besorgten Funktionären, die immer wieder
ungesunde Dinge im Internet finden, wie zum
Beispiel die oben dokumentierte Liste der erfolgreichen Kinder chinesischer Leistungsträger oder die
gnadenlose Abrechnung eines Professors der
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# $
Peking Universität ( Ø Jiao Guobiao) mit dem
Propagandaministerium
zu Beginn des Jahres (
× á).
Große Geschäfte auf diesem weiten Feld macht/
wittert zum Beispiel:
Cisco Systems. Die Firma
investiert deshalb gerade (neu) 32 Millionen Dollar
in ein Forschungs- und Entwicklungslabor in Shanghai.
Dies kündigte President and CEO John [Geld!
in China einer der beliebtesten Nachnamen]
Chambers Ende September öffentlich an. Es sei
Cisco=s first R&D center in China, which has been
designed to tailor its products to meet the
changing demands of service providers in the
market.
The changing demands of service providers - das ist
sehr schön formuliert!
Im 3. Quartal 2005 gehe es dort los mit der Zuschneiderei auf die Bedürfnisse der lokalen Kunden.
Mr. -Money-Chambers:
The facility will hire 100 employees over the next
18 months, and investigate new voice technologies. What we are announcing today is the first of
many steps we will take in research and development in China .... We believe in giving something
back and truly becoming a Chinese company
Cisco ist also bald eine wahre chinesische Firma.
Man kooperiert derzeit mit
Digital China
(gehört zum größten PC-Hersteller Chinas,
Legend, heute: Lenovo), Software- und Vetriebspartner für ausländische Firmen wie zum Beispiel auch
Microsoft. Digital China ist Cisco-Distributionspartner, nachdem Toshiba die Firma als Vetriebspartner gefeuert hatte.
Man muß bei solchen Kooperationen natürlich
wissen, daß ausländische Software-Hersteller in
China von der
State Encryption
Commission gehalten sind (und dieser Weisung auch
gewissenhaft nachkommen), alle Verschlüsselungen
ihrer Produkte (vom server über den PC, das
Mobiltelefon bis hin zum DVD-Spieler) den Behörden zu offenbaren. Know-how-Transfer also inclusive - und zur Abwechslung mal ganz bewußt und
freiwillig.
Ciscos Top-Konkurrent vor Ort ist
Huawei,
eine rein-chinesische Unternehmung. Wie es kommt,
daß diese rein-chinesische Firma mit der Cisco-WeltTop-Netztechnik mithalten kann? Vielleicht, weil
Huawei sich sein know-how heimlich bei Cisco
abgeholt hatte? Jedenfalls verklagte Cisco Huawei
Anfang 2003 in den USA. Vorwurf: copyright-Klau
bei einer IOS genannten Software, die in sogenannten
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Routern eingesetzt wird und dort als firewall feature
set arbeitet, also den Fluß von Informationen erlaubt
- oder eben auch nicht.
Die Huawei-Chinesen hätten alles geklaut,
jammerte das Cisco-Management damals: die
Software selbst und gleich auch noch die Handbücher für deren Installation und Nutzung.
Im Juni 2003 ließ Cisco sogar Razzien im Superboom Perlfluß-Delta durchführen (mit chinesischen
Detektiven und in Kooperation mit der chinesischen
Polizei), weil auch andere Produkte kopiert worden
seien. Die Firma war zu diesem Zeitpunkt auf echtem
Krawall-Kurs mit vielen einflußreichen Chinesen.
Wie lange kann so etwas gutgehen in einem Land,
wo Wirtschaft und Politik nicht nur eng beisammen
liegen, sondern recht eigentlich identisch sind?
Nicht lange. Im Oktober 2003 verkündeten die
Cisco-Manager ganz überraschend, daß sie ihren
Streit mit Huawei aussetzen würden. Vielleicht
könne man sich auf anderem Wege einigen.
Was war geschehen? Hatte Mr. Chambers Angst,
das Verfahren könnte negativ auf die eigenen ChinaRooter-Geschäfte durchschlagen? So sieht es Cisco
wohl inzwischen, macht Geschäfte und wäscht seine
Hände in Unschuld, während andere mit den Produkten der sauberen Firma aufmüpfige Chinesen ans
Kreuz nageln:
If the government of China wants to monitor the
internet, that's their business. We are politically
neutral
So einfach ist das mit den business ethics.
Im August 2003, als Cisco noch rabiat gegen
Kopierer Huawei vorging, teilte die deutsche Firma
Siemens ungerührt mit, man werde nun, bei der
Entwicklung eines chinesischen Mobilfunkstandards
der sogenannten 3. Generation (3G) mit ... ja:
ausgerechnet Huawei kooperieren, dem CiscoKopierer.
Dafür sollen von den Partnern 100 Millionen
Dollar für ein Gemeinschaftsunternehmen bereitgestellt werden (Siemens: 51 Prozent). Entwicklung,
Produktion, Verkauf und Service der TD-SCDMA
genannten Technik sollen dort stattfinden. Natürlich
fehlt auch Ex-Siemens-Infineon nicht bei dieser
Unternehmung: noch ein joint venture mit Huawei.
Kopier-Klagen haben wir von Siemens bislang nicht
gehört - arbeitet man harmonisch und produktiv
zusammen? Aber woran?
Bei Mobilfunk fallen einem natürlich sogleich die
vielen Milliarden
SMS ein, die die Chinesen
durch die Netze jagen. Kann man denen trauen? Wer
weiß, welche
Schriftzeichen die da benutzen!
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>?
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Und tatsächlich nutzen zum Beispiel unzufriedene
Taxifahrer gerne den SMS-Service, um Streiks und
Demonstrationen gegen lokale Behörden zu organisieren.
Und siehe da: Gerade in diesem Sommer, schossen sich die Staats-Kontrolleure auf die überhandnehmenden SMS ein - erneut in Form einer Self-Discipline Standards on Content in Mobile Short Messaging Services genannten Richtlinie für die sogenannten
SMS service provider. Von
denen gibt es derzeit fast 3.000.
Freilich darf man der konfuziannischen
Selbstdisziplin auch dieser Leute nicht allzusehr
trauen, findet zum Beispiel die Pekinger Firma
Venus Tech und schreibt auf ihrer website auch
rührend offen warum:
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ST
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WX
[\]^_`abcdefgh;=ijk
<=YZ
cl`mnfop<=qrst c=iuvfwxy
z{|}~€}‚ƒ„}…†
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cŒfŽh;‘’9“”cl•–—˜
™š›œržŸ6} ¡c<¢ip£¤¥ r.
SMS sind eine feine Sache für die Nutzer, aber sie
sind für die Informationssicherheit [vulgo: Partei]
auch eine versteckte Gefahr. Denn mit Hilfe des
neuen, aufblühenden Mittels der SMS werden
auch Pornographie, Gewalt, politische Gerüchte,
reaktionäre Reden, Betrügereien und illegale
Werbung verbreitet. Und das hat bereits so Überhand genommen, daß es die Stabilität der
Gesellschaft berührt. Deshalb muß es dichte,
hoch-effiziente SMSFilter-Plattformen
geben.
Genau. Fehlt nur noch der Terrorismus als Argument.
Aber, Gefahr erkannt, Gefahr gebannt: Nun werden also reichlich Filter im Mobilfunk-Netz eingesetzt (auch in das von Siemens entwickelte, wenn es
tatsächlich einmal fertig wird und zum Zuge kommt?
Und wer tüftelt das aus?).
Wäre zum Beispiel das Wort SARS im Frühjahr
2003 schon in solche Filter (Filzer-?)-Programme
eingegeben gewesen, hätte sich die Regierung wahrscheinlich so manchen Skandal erspart.
Jetzt hilft also die Venus von Peking. Mit ihrem
Himmelstransparenz Filtersystem
für Informationen löst sie nach eigener Auskunft alle
Probleme der himmlischen Regierung, weshalb das
Produkt auch gerade vom
Amt für Öffentliche
Sicherheit die Lizenz erhalten hat. Mit Hilfe der
römischen Liebesgöttin Venus kann das Ministerium
für Liebe nun die SMS seiner geliebten Untertanen in
real time überwachen. Die werden darüber begeistert
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sein.
Chefin der Firma Venus ist
Dr. Jane Yan
Wangjia [nomen est omen:
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ausgezeichnet Ausschau halten],
eine im Ausland ausgebildete und
dann zurückgekehrte Expertin, die
mittlerweile zu den Kandidatinnen
der
IT
Stärksten IT-Frauen Chinas gehört.
Kooperationspartner dieser
lieblichen Venus sind zum Beispiel IBM, Microsoft und HP. Venus von Peking: Dr.
(Motto: 'mer kenne uns, 'mer helfe Jane
Yan
Wangjia.
uns, chinesisch auf der Venuswebsite:
,
,
gemeinsam wachsen, das know-how gemeinsam
das Wissen und die Erfolge genießen).
Die Staats-Kontakte des Unternehmens (und
seiner Partner?) sind natürlich auch gut, ja programmatisch, wie wir
der website entnehmen.
Schon am 24.1. 2000
war der damalige Parteiund Staats- und
Armeechef
Jiang
Zemin aufmerksam
geworden und bei Venus
Hu
zu Besuch gekommen. 24.1.03: Generalsekretär
Jintao inspiziert die Venus.
Sein Eindruck war
offenbar hervorragend, denn anschließend gaben sich
VIP-Kunden die Firmen-Klinken in die Hand:
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Am 24.1.2003 empfing GeneralsekreAm gleichen Tag schaute auch
tär
Hu Jintao Vorsitzender
[ Militärkommission]
persönlich die Venus
Jiang Zemin vorbei.
Info Tech-CEO Dr.
Yan Wanggui. Er stellte neue Anforderungen an
und setzte noch größere Hoffnungen auf die Entwicklung der Firma. Führer der Ministerien für
Öffentliche Sicherheit, für Staatssicherheit und für
die Informationsindustrie, des Büros für Geheimhaltung, der Volksbefreiungsarmee und andere
sind bereits persönlich bei Venus zu Inspektionen
und Besichtigungen vorbeigekommen ...
Seite 17 von 38
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@A [xiù cai - sju tsai]
2004
Das SMS-Filzen findet in den sogenannten SMSCentern statt, wohin die Nachrichten vom (dort
natürlich leicht zu indentifizierenden Inhaber des)
Sendegerät zunächst gehen, bevor sie (vielleicht) an
den Empfänger weitergeleitet werden. Als Ausstatter
solcher SMS-Center in China sind da im Geschäft
die Firmen: Nokia, Centigram, Logica, Sema,
Ericsson, MXE, Comverse, NewNet.
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administration committee, Mr. Yuan Xuyang, the
vice director general of common information
network security supervise bureau of police Dept.,
Mr. Gu Jianguo [den hatten wir oben schon], the
vice director general of common information
network security supervise bureau of police Dept.,
presided this open ceremony, Mr. Meng Hongwei,
the minister assistant of Police Dept., made the
opening words.
Zurück zum Internet. Eine ausländische Firma, die
sich über ihr China-Geschäft derzeit sehr freut, heißt
Amaranten. Ihr Asia Representative Office
hat sie gleich im Zentrum des Geschehens aufFuhua Mansion, ein
gemacht, in ... Peking (
Gebäude im passenden stalinistischen Zuckerbäckerstil am östlichen 2. Ring). Eifrig bucht die Geschäftsführung Stände auf einschlägigen Messen in China
und freut sich über die guten Ergebnisse. Zum
Beispiel auf der 2004
2004 Beijing InfoSecurity Exhibition of Beijing
Science & Technology Week im Mai diesen Jahres.
Hauptsponsor: Volksregierung der Stadt Peking:
Amaranten company ... demonstrated its high
performance firewalls and VPN products, which
attracted many eyes' attentions and made it stand
out from others in the show.
Microsoft liefert Software zum BlokAuch
kieren unliebsamer websites und zum Ausfindigmachen aufmüpfiger Chinesen, die ihre unkonventionellen gesellschaftlichen Ansichten heutzutage gerne
und immer wieder ins Internet stellen, jedenfalls hat
dies schon vor längerem South China Morning Post
herausgefunden.
Nortel Networks (Kanada), steckt in den
kommenden Jahren 200 Millionen Dollar in den
Aufbau von Forschung und Entwicklung in China.
Wieviel davon für technische Behörden-Helfer verwendet wird, die dazu dienen, mit dem surf-Verhalten der nur schwer zu kontrollierenden Chinesen auf
dem laufenden zu bleiben, sagte das Management der
Firma nicht, als es diese Strategie im Februar 2002
verkündete. Nortel wird auch gerne genannt, wenn
Organisationen wie amnesty international oder
jüngst die Harvard Law School im freien Westen gut
lebende Manager für ihre unfreien China-Gechäfte
geiseln.
Websens liefert derweil Filter und Überwachungstechnik, hat schon eine kleine chinesische
website, aber noch keinen Schriftzeichen-Namen.
(Wie wär's mit
wang djiän - Web-Zensur, klingt
auch so ähnlich wie Websense?)
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=ijkÒù9
ëìíîïðñò
Das Venus-Überwachungssystem ist ziemlich einfach: Alles hängt
am
Himmelstransparenz Filtersystem für
Informationen (links unten).
Kooperationspartner von Venus ist auch eine
chinesische Unternehmung namens Victory-Idea, in
, was man als Großartige Ideen
Schriftzeichen:
übertragen kann. Zu seinen ausländischen Partnern
rechnet Victory derzeit einige koreanische Unternehmen (Pars Co., NES CNC) sowie die irische Infocell und die israelische Pelican.
Auf der sogenannten Sicherheitsmesse
InfoSecurity im Oktober
2002 kam der Polizeiminister-Assistent
Meng
Hongwei zu Besuch und ließ sich den Wavebreaker
vorstellen, dessen Name wohl Programm ist. Weitere
Top-Kunden listet die Firma in ihrem schönen, aber
hier verständlichen Englisch auf, mit dem sie eigentlich in unsere große Sprachausgabe (
No. 44) gehört hätte:
When the security exhibition opened in Oct. 20,
many leads entered the open ceremony that
include Mr. Meng Hongwei, the minister assistant
of Police Dept., Mr. Li Runfeng, the director of
science technology committee, Mr. Xu Zhanghe,
the vice-director of national information center,
Mr. Zhang Huisheng, the vice manager of the info
advance Dept. of information industry Dept., Mrs.
Cai Hong, the vice director general of national
secrecy bureau, Mr. Wang Changxi, the office
director of national commerce password
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@A [xiù cai - sju tsai]
2004
Als sich im September 2002 einige Leute darüber
aufregten, daß neue Techniken der chinesischen
Internet-Polizei plötzlich google so clever lahmlegten, daß Anfrager ungefragt auf chinesische Anbieter
umgeleitet wurden, meldete sich der Sprecher dieses
Filter-Software (vulgo: Zensur-Software)-Produzenten, ein gewisser Ted Ladd, mit der Erkenntnis: Es
sehe so aus, als nutze Peking eine modified firewall:
the system looks for banned content. Was er von den
Modifikationen genau weiß, sagte er jedoch nicht.
Websense website: Das ist die Reihenfolge: Porno, spyware ...
Erstmals entdeckt haben sie alle den riesigen
chinesischen Markt für Kontroll-Software so um das
Jahr 2000 herum, als die chinesische Regierung mit
u
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ihrem
Gold-Schild-Projekt anfing, das im
großen Stil und mit neuester Technik schlechte ausländische Einflüsse auf ihr Volk abgeschirmen soll.
Damals versammelten sie sich auf der 2. Pekinger
InfoSecurity 2000 (organisiert von Reed Exhibition
Companies, London). Star-Gäste: Vize-Präsident Hu
Jintao (heute Partei- Staats- und Armee-Chef) und
Polizei-Minister
Jia Chunwang (heute:
Chef der Generalstaatsanwaltschaft). Die ausstellenden Firmen zeigten ihre TopProdukte gegen Internet-Kriminalität.
Was die chinesische Partei-Regierung darunter
versteht, werden sie schon gewußt und ihre Exponate
entsprechend ausgesucht haben. Mittlerweile hat
auch der Champion der Informationsfreiheit, Google,
verstanden. Die Firma, die im Herbst 2003 noch
halblaut über Zensur klagte, hat sich inzwischen
(ebenso wie Yahoo) angepaßt und sortiert gleich aus,
was unerwünscht sein könnte. Der clou dabei: ungesunde Suchergebnisse werden dem surfer gar nicht
erst angezeigt. Das war früher anders, da merkte man
erst beim Klicken auf die noch angezeigten ungesunden links, daß sie blockiert waren. Jetzt merkt man
nicht einmal mehr, was es noch zum Thema gibt.
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Leider immer noch nicht geklärt:
Was heißt eigentlich Dildo auf chinesisch?
Vom 6. bis 8. August trafen sich die Shanghaier
zur AdultExpo 2004.
Da gab es interessante Sachen zu sehen und zu
befühlen, weshalb die 秀才-Messeabteilung gleich
die Ausschreibungsunterlagen anforderte, die aber
erst jetzt eintrafen (wg. DHL?).
Ausländer waren aufgefordert, unbedingt
folgende Renner mitzubringen:
$ Sex-related Medicines $Apparel & Lingerie $
Dildos $ Vibrators & Massagers $ Toys for men $
Love Dolls $ Gay Products $ Anal stimulators $
Bondage & Spanking $ Lubes & Lotions $
Condoms $ Miscellaneous Toys.
Das klang ja alles ziemlich aufregend - leider
war es zu spät für uns. So gaben wir die Unterlagen
an unseren redaktionseigenen Chinesisch-Lehrer
weiter, der schon lange wissen wollte, wie man
diese Dinge übersetzt. Er verglich die obigen
Beschreibungen sodann mit den Exponaten der
einheimischen Aussteller, kann jedoch immer noch
keinen Dildo oder Anal-Stimulator auf chinesisch
bestellen. Sinologen, helft:
性保健品 Bleiben Sie schön gesund beim ...
补肾滋补产品 das müßte uns mal ein Experte
traditioneller chinesischer Medizin erkären
性病防治产品 Verhütung peinlicher Krankheiten
改善性功能的产品 Potenzmittel
卫生消毒剂 Desinfektion
润滑剂 Gleitmittel
性辅助器具 Womit man vorher spielen kann
情趣内衣/服饰 anregende Dessous und Schmuck
安全套 Pariser
避孕药 daß-nichts-passiert-Medizin
宫内节育器 Verhütungsmittel im Palast ... na ja
用于干预生殖道感染的产品 übersetzen wir nicht,
gefühlsabtötend
用于检查 Inspektionsmittel (?)
诊断 Diagnose (?)
报刊图书音像制品 Magazine ... (chinesische??)
生殖健康 gesunde Werkzeuge
音像制品 Musikinstrumente (??)
夫
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@A [xiù cai - sju tsai]
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Lohnkostenvorteile in China:
深圳三千民工悲情抗争
3000 Verzweifelte kämpfen in Shenzhen
Immer mehr Leistungsträger auch der deutschen Wirtschaft (vulgo: Vorstände, Strategen)
sind immer begeisterter von den unerschöpflichen Vorräten Chinas an billiger
Arbeitskraft. Nicht nur Arbeiterinnen und Arbeiter kann man hier noch weit unterm
Discountpreis bekommen, auch Ingenieure und andere qualifizierte Tätigkeiten sind
günstig zu haben. Daß nach der Investition in Gebäude, Anlagen, Maschinen etc.
erhebliche Beträge in die Ausbildung der flexiblen Mitarbeiter zu stecken sind, fällt erst
später auf. Betriebe, die auf Zulieferung aus China setzen und ihre bisherigen Partner in
Europa gekündigt haben, plagen sich nicht selten mit dem endlosen Nacharbeiten der
zugelieferten Teile, was ihre Kosten wieder auf das alte Niveau hebt. Besser machen es
hier zum Beispiel Hongkonger Landsleute der Chinesen wie die Firma 金寶通國際
Computime International Ltd., die im südchinesischen 深圳 Shenzhen produziert.
Neulich waren aber zur Abwechselung einmal die bislang so genügsamen Mitarbeiter
nicht mehr so recht zufrieden. Nur selten haben Außenstehende die Möglichkeit, über
diese Fälle etwas zu erfahren. Was in den Provinzen Chinas passiert, sehen die
zahlreichen ausländischen Korrespondenten in Peking nicht oder nur über InternetBerichte chinesischer Quellen (wenn alles schon wieder vorbei ist), wie jüngst bei den
Tumulten in 重庆 Chongqing, Provinz 四川 Sichuan, wo eine Nichtigkeit zum politischen
Mini-Aufstand führte. Das kann auch anderswo schnell passieren. Im folgenden ein
Bericht der 亚洲周刊 Asia Week (Hongong), deren Reporter im grenznahen 深圳
Shenzhen ausnahmsweise mal dabei war.
m letzten Tag der 黄金周 Goldenen Woche
um den Nationalfeiertag 1. Oktober herum,
am 6.10., ließen mehrere tausend Arbeiter
der Firma 美芝海燕电子厂 Meizhi Haiyan
Electronics, die zur Hongkonger 金寶通國際 Computime International Ltd. gehört, die Arbeit liegen
und gingen auf die Straße und blockierten erst einmal
den Verkehr. Mit einem Schlag deckte die Aktion die
unter der Oberfläche der chinesischen Gesellschaft
verborgene Krise auf. Die Verkehrsblockade symbolisierte dabei die schwerwiegende Blockade sämtlicher Kommunikationswege in der chinesischen Gesellschaft, sobald es um Anliegen der Bevölkerung
geht.
Die 3.000 protestierenden Arbeiter von Meizhi
Haiyan lehnten sich gegen ihre Auspressung auf,
dagegen, daß ihr monatliches Grundgehalt exakt 230
Yuan beträgt [23 Euro, im Monat]. Das lag weit un-
A
ter dem offiziellen, von den Behörden festgelegten
Mindestlohn von 610 Yuan [61 Euro] im Monat.
Mit den 23 gezahlten Euro, so meinte das Fabrik-Management, seien die 12-stündigen Arbeitstage bezahlt, was einen Stundenlohn von etwa einem Yuan
(10 Cent) entspricht. Die Arbeiter hatten sich schon
oft beim Management und den lokalen Behörden
darüber beklagt, aber eine Antwort war bislang immer ausgeblieben. So gingen sie nun auf die Straße.
Ein Teilnehmer sagte dem Asia Week-Reporter, sie
hätten keine andere Wahl mehr: Wir möchten das
eigentlich nicht machen, aber ohne diese Aktion
werden die Behörden weiterhin untätig bleiben.
Um acht Uhr morgens waren die Arbeiter nach
und nach auf die 梅花 Mej-hwa Straße gezogen, dort,
wo die sich mit der 梅秀 Mej-sju Straße kreuzt,
direkt vor dem Betriebsgebäude ihrer Firma. Um
8.30 Uhr war die Kreuzung blockiert.
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Sie standen dort in ihrer blauen Arbeitskleidung,
ruhig, ohne zu rufen und ohne daß jemand sie organisierte oder ihnen Anweisungen gab. Sehr geordnet
zogen sie dann zum 北环大道 Nördlichen Ring,
einer Verkehrsschlagader der Stadt, und blockierten
den Weg vollständig.
Etwa gegen 10 Uhr trafen einige Verkehrspolizisten ein und ihr Anführer begann mit den Arbeitern
zu verhandeln. Sie müßten, sagte er, 以大局为重 die
Gesamtlage im Auge haben und die Straße räumen.
Um 11 Uhr kamen schließlich auch Leiter der Stadtverwaltung Shenzhen sowie des Bezirks 福田 Futjän und verhandelten eine halbe Stunde lang mit den
Streikenden. 张礼铜 Zhang Litong, der Bezirksbürgermeister, versprach ihnen, er werde alles daransetzen, daß die Minimal-Rechte der Arbeiter garantiert würden.
Gleichzeitig aber verwarnte der Leiter des bezirklichen Arbeitsbüros die Streikenden:
Ihr glaubt, Eure legalen Rechte würden verletzt
werden, und ihr müßtet sie selber schützen. Aber
ihr dürft keine illegalen Mittel einsetzen. Eure
Verkehrsblockade ist ein ernster Gesetzesverstoß.
Der Verantwortliche der Stadtregierung drohte
schließlich:
Was ihr da macht, ist illegal. Ich hoffe, ihr zieht
von selbst ab, ansonsten werden wir den Platz
räumen lassen.
Blockade in
:Den chinesischen Arbeitern wird doppelte Gewalt
angetan, schreibt die Asia Week No. 43 ...
Den Arbeitern waren diese Drohungen der
Behördenvertreter freilich egal. Sie hielten vielmehr
deren bisherige Untätigkeit für ungesetzlich. Einer,
der seinen Namen nicht nennen wollte, sagte dem
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Reporter: Wenn die Regierung unsere berechtigten
Forderungen beachtet und rechtzeitig gehandelt hätte,
dann gäbe es den heutigen Zwischenfall gar nicht.
Unsere Gegenblockade kommt doch nur, weil der
offizielle Weg ewig versperrt ist, weil dort nichts
geschieht. Was wir hier machen ist nur 以毒攻毒 ein
Gegen-Feuer.
Die Behörden und die Medien bestätigten im
übrigen, daß die Arbeiter ihre Lohn- und Überstundenprobleme schon of berichtet hatten, sowohl dem
Shenzhen-Arbeitsbüro wie auch dem bezirklichen,
der Gewerkschaft und anderen Stellen. Aber ohne
Ergebnis.
Die Behörden kommen uns gleich mit Beschuldigungen, wir würden das Recht verletzen, anstatt
sich selbst einmal zu prüfen. Hier 官逼民反 wird
das Volk von der Obrigkeit zur Revolte gezwungen. Wir haben keine andere Wahl.
Alle Beteiligten, Behörde und Management,
geben zu, daß der bislang gezahlte Lohn 230 Yuan
beträgt und damit weit unter dem Mindeststandard
liegt. Fabrik-Leiterin 燕海瓊 Yan Haiqiong räumt
selbst ein, daß der Betrag dem Stand von vor zehn
Jahren entspricht und die Fabrikleitung den Betrag
seither nicht angehoben hat. Sie bestätigt auch, daß
ihr Unternehmen stark ausgelastet sei und viele
Überstunden anfielen: 2,1 Yuan [21 Cent] pro
Überstunde sind wirklich zu wenig, sagt sie nun und
versichert, dies werde geändert, man werde sich in
Zukunft nach den gesetzlichen Vorgaben richten.
Nach längeren Verhandlungen gab die Kapitalseite inzwischen tatsächlich nach und räumte auch
ihren jahrelangen Verstoß gegen das Arbeitsgesetz
ein. Rückwirkend ab September sollen nun 610 Yuan
[61 Euro] Grundlohn im Monat gezahlt und der
Überstundenlohn auf 5,40 Yuan angehoben werden.
Eine Verdreifachung!
So sieht also der Erfolg der Arbeiter nach nur
kurzem Kampf jetzt aus. Allerding finden die, daß
eine verspätete Gerechtigkeit keine mehr ist.
Man wird auch sehen, welchen Preis sie nun für
ihren Streik zahlen müssen. Denn beide, Management und Behörden, reden bereits davon, daß die
Leute von jemandem dirigiert und aufgestachelt
worden sind. Die Behörden drohen auch schon, daß
die bösartigen Provokateure von den Sicherheitskräften noch aufgespürt und abgeurteilt werden
würden.
Tatsächlich hatte die Stadtregierung schon am Tag
des Protests, als einige ihrer Vertreter mit den Arbei-
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@A [xiù cai - sju tsai]
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tern sprachen, eine gewaltsame Unterdrückung
vorbereitet. Die 福田 Fu-tjän [Bezirk] Polizeistation
und die Abteilung der Verkehrspolizei, das Arbeitsbüro und bezirkliche Sicherheitsdienste waren
erschienen, um die Ordnung zu bewahren. 李锋 Li
Feng, Mitglied des Parteikomitees und der Chef des
Sicherheitsamtes waren auch anwesend und hatten
die Blockade als illegale Aktion bezeichnet, die
ernsthaft kritisiert werden müsse.
Die Drohungen hatten Erfolg. Ab Mittag verließen
einige der blockierenden Arbeiter den Nördlichen
Ring. Etwa 2.000 jedoch blieben beiderseits der
Strqße stehen, unbeeindruckt vom Reden des Li Feng
und der anderen Mitglieder der Stadtregierung. Die
ordneten nun die Räumung an. Ca. 1.000 Sicherheitsund Einsatzpolizisten rückten an und drängten die
Demonstranten von der Straße. Gegen 12.30 Uhr war
der Nördliche Ring wieder frei.
Unsere Recherchen [亚洲周刊 Asia Week]
ergaben, daß die bestreikte Firma Meizhi Haiyan zur
Hongkonger 金寶通國際 Computime International
gehört, die sie mit zwei chinesischen Firmen aus
广东 Guangdong als joint venture betreibt. Im Auftrag amerikanischer, europäischer und japanischer
Unternehmen verarbeitet sie elektronische Komponenten weiter. Die Hongkonger Mutter wurde 1974
gegründet und begann Mitte der 80er Jahre mit der
Produktion in Shenzhen. Auf ihrer website salbadern
sie mit Sprüchen wie 客户的价值 Wert der Kunden
und 客户至上 der Kunde steht an erster Stelle ... Ein
ehemaliger Management-Mitarbeiter der Firma in
Shenzhen berichtete uns, daß es auch schon früher zu
Streiks der Arbeiter gekommen sei. Anlaß sei
gewesen, daß das Management den NachtschichtArbeitern den Essenszuschuß gestrichen hatte.
Damals sei ein Tag gestreikt worden, dann gab es das
Geld wieder. Auslöser für die jetzige Aktion waren
die kürzlichen Preiserhöhungen für landwirtschaftli-
B10 C31 D
che Produkte gewesen. Hier gibt es auch bei anderen
Arbeitern große Unzufriedenheit.
Die 3.000 Arbeiter bei Meizhi Haiyan waren seit
langem wie die Schlacht-Lämmer, ohne gewerkschaftlichen Schutz und ohne Unterstützung der
Regierung. Die Kapitalseite drückte ihre Löhne unter
das Minimum, nötigte sie zu Überstundenarbeit und
unterließ es überdies, sie zu versichern. Auch dies
führte bereits zu Auseinandersetzungen, sagte dieser
ehemalige Mitarbeiter.
... und meint damit fremde Manager und einheimische Behörden.
秀才 Sju Tsai möchte hier noch ergänzen: 歐陽伯康
Bernard Auyang, der Chef von 金寶通國際
Computime, der Hongkonger Muttterfirma, erhielt
1999 den Hong Kong Young Industrialist Award als
Anerkennung für seine Leistungen. Die Hong Kong
Electronic Industries Association ehrt ihn deshalb
auf ihrer website als Leitbild-Manager für die lokalen
young industrialists.
Ob damit auch seine Erfolge beim Kampf um das
23-Euro-im-Monat-Lohnniveau in Shenzhen eine
Rolle gespielt haben, bleibt dabei jedoch offen. Wir
道
vermuten: ja.
Jene Leser der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, die auch
den Dienstag-Teil Natur und
Wissenschaft mal ansehen,
wissen jetzt genau, was die
1.000 Milliarden Dollar
ausländischer
Direktinvestitionen in China
der Welt bislang gebracht
haben ...
... nämlich die Erkenntnis, warum bei uns die Luft so sauber ist (rot = Dreck).
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@A [xiù cai - sju tsai]
2004
B10 C31 D
Karl August Wittfogel und die Orientalische
Despotie in China
Totaler Staat, schwaches Eigentum?
Vortrag zum Symposium anlässlich des 90. Gründungstages der
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.
14.07.04
Thomas Heberer
In meinem Beitrag geht es nicht um die Biographie Wittfogels (1896-1988), der von 1925
bis 1933 an der Universität Frankfurt (Institut für Sozialforschung) tätig war. Eine solche
Biografie wurde bereits im Jahre 1978 von G.L. Ulmen vorgelegt. Ich werde auch keine
Würdigung seines Gesamtwerks vornehmen. Es geht mir vielmehr um eine neuerliche
Betrachtung seines Werkes Die Orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung
totaler Macht. Ich möchte der Frage nachgehen, ob uns (und wenn ja inwiefern) dieses
Werk heute noch einen Beitrag zum Verständnis der gegenwartsbezogenen
Chinaforschung und Banalyse zu leisten vermag. Vor allem aber möchte ich den raschen
sozio-ökonomischen Wandlungsprozess Chinas in jüngerer Zeit mit Wittfogels
Vorstellungen von der Erstarrung Chinas kontrastieren.
en dichotomischen Charakter dieses Werkes
hat Ulmen mit den Worten umrissen:Oriental
Despotism speaks to the present, but analyses
the past. It is about Asia, but looks to the
West. It condemns Communism, but thanks Marx.
Was war Wittfogel, von der Disziplin her gesehen?
Einige sehen in ihm einen Sinologen, obgleich die
Sinologie selbst ihm bislang keinen Platz in ihrer
Geschichte einräumt. Aber immerhin hat er unter A.
Conrady und Eduard Erkes in Leipzig Sinologie
studiert und sprach und las Chinesisch. Mit Richard
Wilhelm stand er in engem Kontakt. Wilhelm war
einer der Betreuer seiner Dissertation mit dem
Thema Die ökonomische Bedeutung der agrikolen
und industriellen Produktivkräfte in China, später
der erste Teil seines 1931 erschienenen Buches
Wirtschaft und Gesellschaft Chinas.
In einer Buchbesprechung in der Zeitschrift Sinica
bezeichnete Wilhelm dieses Werk als die erste
wirklich bedeutende Analyse der wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Struktur Chinas seit Max
Weber. Und in der Tat stellte sich Wittfogel bereits
mit dem Titel des Werkes in die Tradition Webers,
D
denn eines von dessen Hauptwerken hieß ja gerade
Wirtschaft und Gesellschaft.
Wilhelm schien Wittfogels Arbeit geschätzt zu
haben, denn auch über das klassenkämpferische
Buch Das erwachende China (1926) schrieb er in der
Frankfurter Zeitung, es sei das erste Werk auf dem
Weg einer Neuschreibung der chinesischen Geschichte von einem neuen historischen Standpunkt
aus. Andererseits hat Wittfogel erwähnt, dass die
Übersetzungen Wilhelms von großer Bedeutung für
sein Verständnis Chinas waren.
Andere sehen in ihm einen Soziologen, Sozialanthropologen oder Historiker.
Die unterschiedlichen Zuweisungen deuten darauf
hin, dass er sich im Grunde nicht nur einer Disziplin
zuordnen lässt. Er war Sozialwissenschaftler im
weiteren Sinne, Sozialwissenschaftler in der Tradition von Marx und Weber. Wie bei diesen bildete
auch bei ihm die Kritik am Kapitalismus und an der
bürgerlichen Gesellschaft den Ausgangspunkt seiner
frühen Schriften; aber anders als Marx und Weber
konzentrierte er sich in seinen Studien auf Asien,
schließlich auf China und dessen historische
Entwicklung.
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@A [xiù cai - sju tsai]
2004
Dies hing sicherlich mit seiner frühen Begeisterung für die Oktoberrevolution und die Klassenkämpfe in China zusammen. Die Kritik an der
Erstarrung und totalitären Herrschaft der Stalinzeit
und schließlich auch der Mao-Ära in China stärkte in
ihm den Gedan k en an ei n e Ko ntinuität der
asiatischen Despotie, als Ergebnis der von Marx
konzipierten und später von Stalin verworfenen
These von der asiatischen Produktionsweise.
Nun, um was geht es in der Orientalischen
Despotie? In Anlehnung an Marx argumentiert
Wittfogel, dass sich u.a. in Russland und China eine
ganz spezifische Produktionsweise entwickelte, die
Marx asiatische Produktionsweise genannt habe. In
Gesellschaften in ariden, aber latent fruchtbaren
Zonen komme dem Wasserbau und dessen Organisation eine entscheidende Rolle zu. Große Wassermengen könnten nur durch den massenhaften Einsatz
von Arbeitskräften reguliert werden.
Die Organisation solcher Einsätze sei aber nur
über Zwangsrekrutierung, d.h. Zwangsarbeit möglich. Der zentrale Staat unterwerfe alles seinem
managerialen Interesse und verwalte Mensch wie
Natur gleichermaßen. Von daher hätten sich in
solchen Gesellschaften (Wittfogel nennt sie
hydraulische Gesellschaften) keinerlei unabhängige
soziale Institutionen entfalten können. Dörfer und
Städte hätten keine Autonomie entwickeln können,
sondern seien Anhängsel des Staates geblieben. Der
hydraulische Staat habe auch die Herausbildung einer
unabhängigen religiösen Macht verhindert.
Im Unterschied zu Europa habe sich in solchen
Gesellschaften ein einzigartiges System totaler Macht
entwickelt. Terror habe als Instrument zur Durchsetzung des zweckrationalen Optimums der Herrscher gedient. Totale Unterwerfung habe der Staat
verlangt, wobei (in China) Prostration (der 叩头
Kotau) sichtbarer Ausdruck dieser totalen Unterwerfung gewesen sei.
Totale Einsamkeit (der Herrscher), permanente
Unsicherheit der Beamten und Furcht der Individuen
seien Kennzeichen dieser Machtverhältnisse. Der
Staat habe so stets die Gesellschaft dominiert, sei
stärker als die Gesellschaft gewesen.
In solchen Gesellschaften komme dem Staat eine
ganz besondere Rolle zu, einmal aufgrund der
Kontrolle über das Bewässerungssystem, zum
anderen auf Grund des staatlichen Monopols des
Eigentums an Boden. Beides sei verbunden mit einer
politischen und militärischen Übermacht des Staates,
B10 C31 D
ja, mit politischer Sklaverei.
Das gemeinschaftliche
Eigentum an Boden habe die
verschiedenen Dörfer voneinander isoliert, so dass sie
relativ leicht staatlicher Dominanz und Despotie hätten
unterworfen werden können.
Wittfogel hat diese These
aufgegriffen und versucht
nachz u weisen, dass die
totalitäre Herrschaft in der
Karl August Wittfogel.
Sowjetunion und in der VR
China notwendige Folge und Kontinuum der
absolutistischen Herrschaft im Rahmen der
asiatischen Produktionsweise sei. Er bezeichnete die
orientalische Despotie als die umfassendste Form
totaler Macht (S. 5) und die kommunistischen
S ys t e m e i n d i e s e n Lä n d e r n a l s a s i a t i s c h e
Restauration (S. XV). Unter Berufung auf Lenin
argumentierte er, dass unter solchen Bedingungen
selbst eine äußerlich erfolgreiche Revolution entarten
müsse (S. VII).
Während die feudalen Gesellschaften aufgrund
einer gewissen Offenheit ein Entwicklungspotenzial
besessen hätten, sei die hydraulische Gesellschaft
durch Stagnation gekennzeichnet.
Gegen Wittfogels Thesen ist in vieler Hinsicht
und mit Recht argumentiert worden:
# Etwa in Bezug auf die Reduzierung der Staatsfunktion auf hydraulische Prozesse;
# dass er übersehen habe, dass der Lößboden im
Norden, einem zentralen Ausgangspunkt agrarischer Kultur, semiarid gewesen sei, was den
Anbau ohne ausgeklügeltes Bewässerungssystem
gestattet habe;
# das Herrschaftssystem in China sei keineswegs
immer rein despotischer Natur gewesen;
# Wittfogels Sichtweise sei eine staatszentrierte;
# er habe die Entwicklung in unterschiedlichen
Weltregionen simplifiziert, indem er die Existenz
einer einheitlichen Produktionsweise unterstellt
habe;
# schließlich wurde die Reduzierung despotischer
Verhältnisse auf einen einzigen Faktor, die
Organisation von Wasserbauten, kritisiert.
Andere stellten das Gegenmodell der GentryGesellschaft auf: die Existenz einer grundbesitzenden
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@A [xiù cai - sju tsai]
2004
Klasse, die gleichzeitig die Beamtenschaft gebildet
habe, habe die staatlichen Organisationen zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen benutzt. Nicht der
zentralistische Staat, sondern partikularistische,
familienorientierte Interessen seien primäres Kennzeichen des traditionalen Staatswesens gewesen.
Gleichwohl hat Wittfogel mit seinem Bezug auf
Marx und Weber der Sinologie eine neue, sozialwissenschaftlich orientierte Richtung gewiesen, und dies
bleibt sein unbestreitbares Verdienst.
Im Folgenden geht es mir nicht um die Widerlegung einzelner Thesen Wittfogels aufgrund historischer Argumentation. Vielmehr bewegt mich die
Frage, was an seiner Argumentation für eine gegenwartsbezogene Analyse nutzbar gemacht werden
kann bzw. weshalb sich bestimmte, scheinbar statische gesellschaftliche Verhältnisse dynamisiert
haben.
Dabei möchte ich B chinabezogen - auf folgende
Fragefelder eingehen:
# auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft;
# auf die Ursachen raschen und radikalen Wandels
im Zuge des Reformprozesses seit den 1980er
Jahren;
# die Frage des Privatunternehmertums;
# die Bodenfrage;
# das Gesetz des abnehmenden administrativen
Mehrertrags und
# die Frage der asiatischen Produktionsweise im
Hinblick auf das lineare Bild chinesischer historischer Entwicklung.
1.
Der Staat ist stärker als die Gesellschaft,
er ist total
Ein Staat, der stärker ist als die Gesellschaft nennt
Wittfogel sein Kapitel über den Staat. Er kennzeichnet den Staat als hydraulischen Staat, der manageriale Aufgaben erfüllt (Managerstaat) und
es den nichtstaatlichen Kräften der Gesellschaft
unmöglich [macht] , sich zu unabhängigen
Körperschaften zusammenschließen, die dem
politischen Apparat das Gegengewicht halten
können (S. 79).
Die Städte waren Anhängsel des Staates und auch der
ländliche Raum brachte keine Gegenbewegung gegen
den Staat hervor, argumentiert er (123f.). Der Staat
bildete vielmehr ein einziges System totaler Macht
(S. 141).
B10 C31 D
Wittfogel hat den Staat gleichsam als monolithischen Block begriffen, der die Gesellschaft total
beherrscht.
Dass eine solche Auffassung in Widerspruch zu
den kontinuierlichen Bauernrevolten und Dynastiestürzen steht, hat er wohl bemerkt, denn er relativiert
im Verlaufe seiner Untersuchung die Frage der
Totalität: Einerseits sieht er im ländlichen Raum
keine Gegenkräfte gegen das hydraulische Regime
totaler Macht (S. 123ff.), andererseits argumentiert
er, viele Dörfer seien von einer totalen Regelung
ihrer Angelegenheiten verschont geblieben (S. 150),
was auf eine gewisse gesellschaftliche Unabhängigkeit hinweist. Schließlich erklärt er, es sei nicht
gelungen, die Dorfgemeinschaften trotz aller Überwachungsmaßnahmen totaler Kontrolle zu unterwerfen, auch wenn er die Freiheiten dieser Gemeinschaften als belanglos ansieht (S. 176f.).
Zugleich war die Politik des Staates personalisiert
und von daher nicht einheitlich. Es gab harte und
weiche Formen kaiserlicher Herrschaft, staatszentriertere und staatsfernere Herrschafts- und Machtstrukturen. Solange ein Herrscher lebt wird seine
Politik ausgeführt, stirbt er, dann endet auch seine
Politik.
Wittfogels Thesen verraten den Einfluss der
Totalitarismusthese auf seine Analyse. Am Schluss
seines Buches vertritt er die Auffassung von der
asiatischen Restauration, d.h. der Wiederherstellung
orientalisch-despotischer Verhältnisse durch die
Sowjetunion. Ähnlich argumentiert er in Bezug auf
die Volksrepublik China.
Das Dilemma des hydraulischen Staates mit seiner
totalen Macht findet gleichsam seine Kontinuität in
den sozialistischen Systemen.
Und in der Tat, unter dem Einfluss der Totalitarismustheorie wurden die sozialistischen Systeme nicht
unter dem Aspekt des Wandels, sondern unter dem
Aspekt der Stagnation untersucht.
Diese wissenschaftliche Sackgasse führte allerdings zu einseitigen und wenig differenzierten
Schlussfolgerungen. Nehmen wir etwa die von
Friedrich und Brzezinski aufgelisteten Kriterien für
totalitäre Staaten, nämlich:
# eine Ideologie,
# eine Partei,
# terroristische Geheimpolizei,
# Nachrichtenmonopol,
# Waffenmonopol und
# zentralisierte Wirtschaft,
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@A [xiù cai - sju tsai]
2004
dann scheinen sie auf die VR China der 50er Jahre
weitgehend ebenso zuzutreffen wie auf das China der
Kulturrevolution und das gegenwärtige China. Ein
totalitäres System scheint ohne prinzipielle systemische Transformation nicht wandelbar zu sein.
In sozialistischen Ländern, speziell in der VR
China, schien ein starker Staat einer schwachen
Gesellschaft gegenüberzustehen, wobei das System
die Menschen vereinzelte und gegenüber dem Staat
machtlos werden ließ.
Entsprechend dominierten in den Analysen Eliten,
die Bürokratie und deren Verhalten, zentrale Institutionen und makroökonomische Prozesse. Der
gesellschaftliche Alltag, die Rolle der Clanorganisationen und ihrer Verflechtungen, die Rolle der
Märkte als Kommunikationszentren, der Landsmannschaften und Geheimgesellschaften als informelle
Organisationsnetzwerke und der Volksreligion als
Stimulus für die Bildung von Sekten und Widerstandsbewegungen, d.h. die Selbstorganisation der
Gesellschaft hat Wittfogel unterschätzt bzw. übersehen.
Auch informelle Protestströmungen in der Bevölkerung, im Falle Chinas speziell der Bauernschaft,
blieben weitgehend ausgespart. Seine moderne Fortsetzung fand dieser Zentrismus in der berühmten
Kremlogie, dem Starren auf das Politbüro, das den
Blick auf Protest- und Widerstandsverhalten sowie
Veränderungsprozesse von unten her versperrte.
Joel Migdal hat diese unkritische Konzentrierung
auf die Machtspitze und den Staat einmal verglichen
mit dem Starren auf eine Mausefalle, ohne geringstes Verständnis von der Maus.
Die gesellschaftlichen Kräfte, etwa die Landbevölkerung, spielen in Wittfogels Untersuchung keine
Rolle. Mit dieser einseitigen Sichtweise eines
staatszentrierten Politikbegriffs, der die Selbstorganisation der Gesellschaft übersieht, steht er nicht
alleine.
In politischen Analysen von Entwicklungsländern
spielte und spielt z.B. die Bauernschaft eine eher
marginale Rolle. Bauern gelten als schwach,
zerstreut, unorganisiert, rückständig, konservativ; sie
scheinen nur wenig Einfluß auf politische Entscheidungsprozesse auszuüben und wurden daher als
eine zu vernachlässigende Komponente angesehen.
Dies gilt auch für die Diskussion über Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesse, wo, wie in
der Transitionstheorie, nur Eliten oder städtische
Schichten eine Rolle in Demokratisierungsprozessen
B10 C31 D
zu spielen scheinen oder wo die Bauernschaft per se
als Moment zur Aufrechterhaltung autoritärer
Momente begriffen wird (Autoritätskultur). Von sich
reden machte sie nur in revolutionären Prozessen, in
Form von Guerrilaarmeen, wobei die Bauern aber
weitgehend als eine von intellektuellen Führern
gelenkte Masse beschrieben wurden. Stellvertretend
für viele andere Wissenschaftler sprach Carl Schmitt
vom tellurischen Charakter der Bauernguerilla als
transportables und auswechselbares Werkzeug einer
mächtigen, Weltpolitik treibenden Zentrale, die je
nach Sachlage willkürlich hin- und hergeschoben
würde.
Gering bewertet wurden die spezifischen Formen
bäuerlichen Protestverhaltens, die in bäuerlichen Gesellschaften nicht ohne Wirkung bleiben und damit
Politik beeinflussen, wie falsche Angaben über
Erträge, Anbauflächen und Einkommen, Abgabe
minderwertiger Ernteerträge an den Staat, Verweigerungshaltung gegenüber staatlichen Anordnungen,
Steuerhinterziehung, Schlendrian, Diebstahl, Zerstörung öffentlichen Eigentums usw.
Zwar hat Wittfogel die Existenz solch informeller
Protestformen durchaus festgestellt (vgl. S. 413ff.).
Er hat allerdings übersehen, dass auch derartiger
Alltagswiderstand aufgrund der hohen sozialen und
ökonomischen Kosten auf Dauer politische Veränderungen erzwingen kann.
In Gesellschaften, in denen andere Formen der
Artikulation von Unzufriedenheit nicht möglich sind,
manifestiert sich in solchem Verhalten der Widerstand der Bauern. Protestverhalten dieser Art mag
sich in Zeiten politischer Repression subtiler gestalten, wird in Zeiten wirtschaftlicher und politischer
Liberalisierung dagegen offener und massiver.
Vaclav Havel hat in diesem Sinne einmal von
einem unabhängigen Leben der Gesellschaft, das
auch in Zeiten politischer Repression nie ganz
verschwunden sei, gesprochen. Ein solch unabhängiges Leben, stimuliert durch die Armut und existentielle Not der Bauernschaft, hat den chinesischen
Reformprozess letztlich in Gang gesetzt. Es war die
Bauernschaft in Armutsgebieten, die das, was später
von der Parteiführung als Reform bezeichnet wurde,
in ihrer Not spontan zu praktizieren begann: die
Aufteilung des Bodens unter die Familien und die
Rückkehr zu familiärer Bewirtschaftung.
Die allzu einseitige Analyse von Makrozuammenhängen hat u.a. dazu geführt, dass der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa und
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@A [xiù cai - sju tsai]
2004
in der ehemaligen Sowjetunion von den Sozialwissenschaften nicht einmal ansatzweise prognostiziert
wurde.
Überdies muss die Vorstellung von Staat als einheitlichem und homogenem Phänomen und Akteur
grundsätzlich hinterfragt werden.
Nicht nur Wittfogel, auch die Theorie des ostasiatischen Entwicklungsstaates oder Modelle staatsgeleiteter Wachstums- und Wandlungsprozesse stellten
den Zentralstaat, seine Politik und sein Durchsetzungsvermögen in den Mittelpunkt der Betrachtung,
im Sinne eines starken Staates.
Neuere Ansätze haben den Begriff des Staates
dekonstruiert und stärker auf das Interaktionsgefüge
Staat/Gesellschaft fokussiert. So geht etwa der
akteurzentrierte Institutionalismus davon aus, dass
soziale Phänomene als das Produkt von
Interaktionen zwischen intentional handelnden,
individuellen, kollektiven oder korporatistischen
Akteuren begriffen werden müssen.
Das Verhältnis Staat/Gesellschaft ist keineswegs
nur eine Beziehung zwischen Zentralstaat und
Gesamtgesellschaft, weil beide sich in verschiedene
vertikale und horizontale Ebenen und Organisationen
gliedern. Der Staat steht nicht einfach der Gesellschaft gegenüber, sondern stellt analytisch gesehen
einen Satz von Regeln und Institutionen dar, die eng
mit der Gesellschaft verwoben sind und diese mit
gestalten.
Staat begreife ich dabei weniger im Sinne von
Strukturen als im Sinne eines Prozesses. Denn die
vertikal-regionalen Untergliederungen des Staates
und die horizontale Differenzierung aufgrund
zunehmender Arbeitsteilung, der Institutionenwandel
sowie das sich ver鋘 dernde Interaktionsverh鋖tnis
Staat/Gesellschaft in dem Prozess rasch fortschreitenden Wandels l鰏 en die Vorstellung von stabilen
Staatsstrukturen, einheitlichem Handeln und klarer
Abgrenzung zunehmend auf.
Diese Hypothese ist wichtig, um den Ver鋘 derungsprozess im Beziehungsgef黦 e Staat/Gesellschaft pr鋑nanter erfassen zu k鰊nen.
In Entwicklungsprozessen ist nicht der totale
Staat gefragt, sondern ein Staat, der Staatskapazität
besitzt. Von der Perspektive eines Zentralstaates her
bedeutet dies zunächst, dass ein Staat über das Potenzial verfügt, politische Entscheidungen durchzusetzen. Theda Scocpol hat Staatskapazität definiert
als
to implement official goals, especially over the
B10 C31 D
actual or potential opposition of powerful social
groups or in the face of recalcitrant socioeconomic circumstances.
Von daher bezieht sich Staatskapazität nicht nur
auf die abstrakte Fähigkeit eines Staates ökonomisches Wachstum, Recht und Ordnung, den Ausgleich
von Disparitäten oder äußere Sicherheit durchzusetzen bzw. herzustellen.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen ökonomischer und gesellschaftlicher Liberalisierung Chinas,
die verbunden ist mit der Herausbildung neuer
sozialer Gruppen und differenzierterer Interessen,
verlangt Staatskapazität im Sinne der Gestaltung
eines Staatswesens zwei weitere Momente, die
gesellschaftliche Akteure vom Staat erwarten:
Lernfähigkeit und Verhandlungskompetenz.
Staatskapazität ist inzwischen nicht mehr nur
bloße Durchsetzungsmacht, sondern umfasst auch
das Moment der Verhandlungskapazität und der
Verhandlungskompetenz. Bezogen auf die gegenwärtigen Staatsfunktionen muss die o.g. Viererkategorie
in diesem Sinne erweitert werden. Bedeutet doch
Staatskapazität heute in stärkerem Maße auch das
Vermögen, neue soziale Gruppen, Verbände und
Organisationen in Verhandlungsprozesse einzubeziehen und einen Ausgleich zwischen partikularistischen Interessen zu finden.
Teil dieser Kompetenz ist das Moment des
Staatslernens, d.h., dass der Staat aus vergangenen
Fehlern und Mißerfolgen (politischen Erbschaften)
Schlußfolgerungen zieht, die zu einer anderen oder
korrigierten Politik führen. Es handelt sich von daher
um einen Anpassungsprozess an veränderte Sachund Problemlagen. Lernen bedeutet dabei auch die
Suche nach neuen, von staatlichen Akteuren akzeptierten Problemlösungen, wobei nicht der Staat in
toto Lernender ist, sondern bestimmte staatliche Segmente (Organisationen, Institutionen, Regionen).
Dies beinhaltet verschiedene Stufen von Lernen und
verschiedene Dimensionen von Lernprozessen.
In diesem Sinne impliziert Staatskapazität (hier
primär bezogen auf innerpolitische Prozesse) die
folgenden Momente:
# Legitimität im Sinne der von den Bürgern akzeptierten Rechtmäßigkeit des politischen Systems;
# Steuerungs- und Kontrollkapazität im Sinne
sozialer Kontrolle und Lenkung;
# Durchsetzungsressourcen (Finanz- und Zwangsmittel sowie personelle Ressourcen);
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2004
# Verhandlungskapazität, d.h. das Vermögen, neue
soziale Gruppen, Verbände und Organisationen in
Verhandlungsprozesse einzubeziehen und einen
Ausgleich zwischen partikularistischen Interessen
zu finden;
# Lernkapazität, d.h. die Fähigkeit, aus Fehlern und
Mißerfolgen zu lernen.
Der Reform- und Modernisierungsprozess seit den
1980er Jahren hat gezeigt, dass der chinesische Staat
zwar Kompetenzen abgegeben und nach unten hin
verlagert hat. Er hat dadurch sein Kapazitätsvermögen jedoch nicht geschwächt, sondern durch die
genannten fünf Kapazitätsmuster im Gegenteil
entscheidend gestärkt.
2.
Wie verträgt sich Wittfogels These von der
Unveränderlichkeit der orientalischen
Despotie mit dem radikalen Wandel Chinas
nach der modernen Despotie der
Kulturrevolution?
Weshalb, so ist zu fragen, konnte sich China vom
vermeintlich stationären, unveränderlichen Beharrungsvermögen der hydraulischen Gesellschaft
befreien und sich vom Hort der Stagnation zu einem
der weltweit dynamischsten Gesellschaften entwikkeln?
Zunächst, mit Beharrungsvermögen ist nicht
Unveränderlichkeit gemeint. Es gab durchaus Wandel und Wandlungsprozesse im dynastischen China,
aber die grundlegenden Institutionen haben sich eher
langsam verändert.
Überdies hat China bis Anfang des 20. Jahrhunderts keine Revolutionen hervorgebracht, sondern,
wie Barrington Moore mit Recht argumentiert, nur
Rebellionen, d.h., die Grundstrukturen der Gesellschaft wurden nicht verändert.
Einschneidende Veränderungen brachte das
Trauma des Opiumkrieges, mit dem Großbritannien
die Aufhebung des Opiumverbots durch den Kaiserhof und die weitere ungehinderte Einfuhr des
Rauschgiftes nach China durchsetzen wollte.
Militärische Niederlagen gegen europäische
Mächte und deren militärtechnische und ökonomische Überlegenheit ließen innerhalb Chinas die Frage
nach einer Modernisierung aufkommen. Der Sturz
der letzten Dynastie, der 清 Qing-Herrschaft, im
Jahre 1912, die Vierte Mai-Bewegung, gewisse zivil-
B10 C31 D
gesellschaftliche Entwicklungen während der
Republik China vor 1949 haben das Beharrungsvermögen unterminiert. Vor allem aber der Reformprozess seit den frühen 80er Jahren hat eine fast
unglaubliche Dynamik in Gang gesetzt.
Was waren die Gründe für diesen einsetzenden
Dynamikprozess?
Meines Erachtens ist das folgende Faktorenbündel
dafür verantwortlich:
# Das kollektive Trauma der gewaltsamen Öffnung
durch ausländische Mächte im 19. Jhdt. (Opiumkrieg) und der in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts als Folge dieses Traumas einsetzende
Modernisierungsimpetus unter den Intellektuellen
und politischen Eliten.
# Der nationalistische Charakter der chinesischen
Revolution und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Dieser Charakter bewirkte nicht nur,
dass ein eigener, unabhängiger Weg der Entwicklung gesucht wurde, sondern auch, dass eine
nationalistisch gesinnte Entwicklungselite zur
Verfügung stand, die China modernisieren und
mächtig werden lassen wollte.
# Kein Revolutionsexport durch die sowjetischen
Streitkräfte, sondern hausgemachte Machtergreifung durch die KPCh, gepaart mit einem entsprechenden politischen Selbstbewusstsein.
# Die Suche nach einem national definierten
chinesischen Entwicklungsweg als Alternative zu
fremdbestimmten (das politische und wirtschaftliche Konzept Maos, der Bruch mit der Sowjetunion ab Ende der 50er Jahre, der Große Sprung
nach vorn oder die Kulturrevolution müssen als
Teil dieses Nationalisierungsprozesses begriffen
werden). Anders als die osteuropäischen Länder
war China in seinen Entscheidungen daher relativ
unabhängig und musste keinem fremdbestimmten
Modell folgen.
# Anders als in der Sowjetunion war es der KPCh
nicht gelungen, die Macht der Bauernschaft zu
brechen. Alle Kollektivierungsbemühungen
mündeten stets wieder in Entkollektivierungsversuchen von unten (1957, 1961/62, 1975-78).
Dieses permanente Spannungs- und Konfliktfeld
zwischen der sozialistischen Stadt und den Bauern
endete mit dem Sieg der Bauernschaft Ende der
1970er Jahre (Landwirtschaftsreform und Rückkehr zur Familienbewirtschaftung).
# Das Trauma der Kulturrevolution wirkte als
Negativerfahrung für Eliten und Bevölkerung und
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mündete in einen Reform- und Öffnungsprozess.
Die permanenten politischen Kampagnen der
Mao-Ära, vornehmlich die Kulturrevolution,
hatten in der davon betroffenen Führungselite die
Überzeugung gestärkt, dass das wirtschaftliche
und das institutionelle System von Partei und
Staat einer grundsätzlichen Reformierung
bedurften. So etwas wie die Kulturrevolution
sollte sich nicht mehr wiederholen.
# Schwächung der revolutionsorientierten Elite
durch die Kulturrevolution und damit Schwächung des antireformerischen Potenzials. Die
reformunwillige Elite wurde in zwei Schüben
(große Viererbande 1976, kleine Viererbande
Ende 1978) von der Macht entfernt.
# Sozio-kulturelle Dispositionen (wie die Existenz
einer reformorientierten Elite sowie eine spezifische Wirtschaftspsychologie und Unternehmenskultur).
Diese Faktoren erleichterten oder ermöglichten
China einen anderen Entwicklungsweg als den der
Sowjetunion oder der sozialistischen Länder
Osteuropas, begünstigten die Einleitung wirtschaftlicher Reformen unter der Herrschaft einer kommunistischen Partei ohne ökonomischen und politischen
Verfall und erzeugten eine gewaltige Dynamik
ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels,
gekennzeichnet durch
# die Herausbildung marktwirtschaftlicher Strukturen,
# eine Diversifizierung des Eigentumsystems mit
dem Schwerpunkt Privatwirtschaft,
# die Entstehung neuer Schichten und Eliten,
# die Ökonomisierung von Politik,
# einen Werte- und Einstellungswandel,
# neue Formen gesellschaftlicher Organisation,
# Wanderungsbewegungen der ländlichen Bevölkerung (Migration) und schließlich den
# Wandel der KPCh von einer Klassen- zu einer
Volkspartei.
Wittfogel konnte eine solche Entwicklung nicht
vorhersehen. Er war der Auffassung, die agrarische
Monopolbürokratie verhindere die Ausbildung einer
pluralen Gesellschaft aus dem Innern heraus, so dass
es des Einwirkens äußerer Kräfte bedürfe, um grundlegenden Wandel herbeizuführen.
Die Entwicklung Chinas hat aber gezeigt, dass die
Dynamik des Wandels primär inneren Faktoren
entsprungen ist. Das System totaler Macht ist einem
autoritären System gewichen, das sich zunehmender,
B10 C31 D
gradueller Pluralisierung der Gesellschaft nicht
entzieht, sondern sich als fragmentierter Autoritarismus darstellt: mit unterschiedlichen Interessengruppen, verschiedenen, scheinbar miteinander
unvereinbaren Entwicklungsmodellen und einer
Partei, die die wachsende Interessenvielfalt innerhalb
des Landes nicht mehr zu repräsentieren vermag.
3.
Die Frage des privaten Eigentums und
Unternehmertums
Die Eigentumsfrage nimmt bei Wittfogel einen
zentralen Stellenwert ein. Er konstatiert die
Dominanz von Staatseigentum auch im industriellen
Bereich, das diesen monopolistisch beherrscht habe,
auch wenn individuelles Eigentum weit verbreitet
sei.
In der nachgeordneten Rolle individueller Eigentumsrechte sieht er einen Kernfaktor der hydraulischen Gesellschaft. Die Erbteilung (Aufteilung des
Bodens unter alle Söhne) habe allerdings die Herausbildung größerer Latifundien verhindert. Wie schon
Montesquieu, Hegel und Marx sieht Wittfogel in
dieser Dominanz und der Schwäche des Privateigentums eine der Ursachen für den orientalischen
Despotismus.
Wittfogel unterscheidet zwischen starkem und
schwachem Eigentum, wobei er Eigentum hier
stärker als politische Institution begreift.
Starkes Eigentum entwickelt sich
in einer gesellschaftlichen Ordnung, die so
ausgewogen ist, daß die Eigentumsinhaber über
_ihre= Sachen mit einem Höchstmaß an Freiheit
verfügen können (S. 292f.),
während schwaches Eigentum sich in einer gesellschaftlichen Ordnung ohne solche Freiheit darstelle.
Unter Bedingungen starken Eigentums waren die
Eigentümer oder Unternehmer in der Lage, der staatlichen Macht Grenzen zu setzen. Im Falle schwachen
Eigentums schränkte der Staat die Entwicklung des
Privateigentums durch politische, steuerliche oder
gesetzliche Momente ein.
Die hydraulische Gesellschaft sorgte für einen
ungewöhnlich starken Staat und außerordentlich
schwaches Eigentum. Zwar gab es im traditionalen
China Privateigentum, aber es überwog das, was
Wittfogel als Bettlerbesitz (S. 373f.) klassifizierte:
wirtschaftlich zerstückelter und politisch machtloser
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Besitz von Handwerkern und Bauern. Kleinbesitz
überwog absolut, schaffte auch ökonomische Antriebe, aber keine politische Macht. Selbst das Eigentum
der größeren Kaufleute blieb im kaiserlichen China
ohne Gewicht.
Diese These ist insofern interessant, als sie zum
Verständnis der Frage beiträgt, weshalb sich in der
Kaiserzeit, aber auch danach, weder die Städte noch
ihre Bürger Emanzipationspotenzial entwickeln
konnten.
Die Schwäche des einheimischen Bürgertums
erleichterte die Machtübernahme durch die bäuerlichen Armeen, die tatsächlich nichts zu verlieren
hatten. Die kleinbäuerliche Wirtschaft und ihre
technologische Rückständigkeit machten einen
Zusammenschluss der Gesellschaft ökonomisch
unmöglich, weil ein solcher Zusammenschluss weder
über den Warenaustausch noch über die Vegesellschaftung der Arbeit möglich war. Und dies war ein
wichtiger Grund dafür, weshalb die KPCh in der
Mao-Ära einen Zusammenschluss im politischen
Bereich, nämlich im Primat der Politik suchte.
Die von Wittfogel konstatierte Tendenz, Privateigentum schwach, den Staat hingegen stark zu
machen, ging mit der politischen und ideologischen
Diskriminierung von Unternehmertum einher. Er
verweist hierbei auf einen Diskurs in der 汉 Han-Zeit
(206 v.- 220 nach Chr.), der sich u.a. gegen Privatbetriebe mit mehr als tausend Beschäftigten wandte,
da eine solche Anhäufung von Menschen Gelegenheit
zu verräterischer Tätigkeiten bieten könne (S.
410).
Harro v. Senger spricht in diesem Sinne von einer
anti-kapitalistischen Tradition, die bis in das erste
vorchristliche Jahrhundert zurückreiche, als nämlich
beschlossen worden sei, die beiden wichtigsten
Produktionsmittel jener Zeit (Salz und Eisen) nicht in
Privateigentum zu belassen, sondern in Staatsmonopol zu überführen.
Vorurteile gegenüber Privateigentum und Unternehmertum, die sich - historisch gesehen - auf Kaufleute und Handwerker beziehen, besitzen in China
also Tradition. Bereits in vorchristlicher Zeit unterlag
der Handel staatlichen Eingriffen, wurde er diskriminiert oder durch wirtschaftspolitische Maßnahmen
beschnitten.
Im Gegensatz zum Agrarsektor, der die unmittelbare Versorgung sicherstellte, wurde der Handel
als unproduktive, nur nach Gewinn strebende Tätigkeit angesehen, der Gewinne nur auf Kosten anderer
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zu machen schien.
儒家 Konfuzianer, 道家 Daoisten und 法家
Legalisten sahen im Streben nach Luxus und Geld
gleichermaßen einen Mangel an Moral und Tugend.
Von daher galten Kaufleute als zersetzende Kraft und
Gefahr für die soziale Ordnung, gerade weil Erwerb
von Reichtum Unterdrückung und Ausbeutung
impliziere.
Der Gelderwerbstrieb wurde zudem als Grundlage
einer alternativen Prestigeleiter und damit als
politischer Risikofaktor angesehen. In der Dichotomie 公 öffentlich - 私 privat wurde das Erstere stets
positiv im Sinne von gemeinsam oder gemeinschaftlich bewertet, das Letztere als selbstsüchtig oder egoistisch. Diesem Verständnis zufolge ist altruistisch,
wer im Interesse des Allgemeinwohls tätig ist,
egoistisch, wer für sich selbst wirkt.
Über massive Steuerabschöpfungen und administrative Hindernisse suchte die Bürokratie die Entwicklung von Handel und Handwerk zu beschränken.
Die Folge war, dass Handel und Handwerk sich
aufgrund der Stigmatisierung von Kaufleuten und
Unternehmertum kaum entwickeln konnten. Erworbener Reichtum wurde zur Erhöhung des Sozialprestiges oder für die Ausbildung der Kinder verwendet, aber nur selten reinvestiert.
Dies hing auch mit der niedrigen sozialen Stellung
der Händler und Handwerker zusammen, die auf den
untersten Stufen der Sozialhierarchie angesiedelt
waren, nach den Beamten-Literaten und den Bauern.
Mit der Etablierung eines sozialistischen Systems
ging die traditionelle Stigmatisierung eine Synthese
mit der sozialistischen ein. Privatwirtschaftliche
Tätigkeiten wurden neuerlich eingegrenzt und verboten. Gängige Vorurteile, die - über die Kaufleute hinaus - die Selbständigen als geldgierig, protokriminell,
unmoralisch und unsozial kennzeichnen, sind bis in
die Gegenwart hinein weit verbreitet.
Galt in der konfuzianischen Geistesgeschichte das
Streben nach Geld und Reichtum als eher unmoralisches Verhalten, so perpetuierte die chinesische
Interpretation der marxistisch-leninistischen Ideologie schließlich diese Sichtweise.
Nicht zuletzt der Reformprozess und die damit
verbundene Herausbildung marktwirtschaftlicher
Strukturen führten allerdings zu einem graduellen
Einstellungswandel. Das Streben nach monetären
Zielen und Reichtum wird heute nicht mehr so
negativ bewertet wie vor Reformbeginn. Vor allem
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unter der Jugend gilt die Erzielung hoher Einkommen als wichtiges Lebensziel. Unternehmer wiederum bilden eine soziale Gruppe, deren Tätigkeit
zwangsläufig gewinnorientiert sein muss.
Inzwischen wird akzeptiert, dass anders als Kaufleute, die Güter kaufen und verkaufen, Unternehmer
einen Produktionsprozess organisieren. Sie schaffen
in größerem Umfang Arbeitsplätze, zahlen Steuern
und Abgaben, tragen zur Verbesserung der lokalen
Infrastruktur bei und erhöhen - soweit es sich um
größere Unternehmen handelt - das Prestige des Ortes, in dem sie angesiedelt sind, sowie seiner
Funktionäre.
In der Regel wird von ihnen auch eine öffentliche
Verantwortlichkeit verlangt, d.h., dass sie die lokale
Gemeinschaft an den Vorteilen ihrer Unternehmertätigkeit partizipieren lassen (etwa durch Schaffung
von Arbeitsplätzen, Investitionen in die lokale Infrastruktur, Wohltätigkeitsspenden).
Von daher üben sie durchaus eine öffentliche
Funktion aus, sind also - informelle - gesellschaftliche Funktionsträger. Informell deshalb, weil der
lokalen Bürokratie häufig nicht klar ist, dass es sich
bei den größeren Privatunternehmern realiter um
Funktionsträger handelt, die über wirtschaftliche
Aufgaben hinaus zugleich wichtige gesellschaftliche
Aufgaben wahrnehmen.
Allerdings ist die Geringschätzung von Handel
und Kaufleuten keinswegs nur ein chinesisches oder
konfuzianisches Moment. Sowohl in der europäis ch en Ges ch i ch t e wi e au ch i n den meisten
Entwicklungsländern wurden sie als negative
Tätigkeitsfelder begriffen. Wie Shils gezeigt hat,
erwarteten die politischen Eliten von den Kaufleuten
und Unternehmern keinen substanziellen Beitrag zur
ökonomischen Entwicklung. Größere Unternehmen,
so Shils, gerieten unter die Vorurteile, die die
Intellektuellen und Intellektuellenpolitiker gegenüber
privaten Unternehmen hegten.
Seit den 90er Jahren hat sich die Bewertung von
Unternehmertum in China grundsätzlich gewandelt.
Dabei ist die Diskussion über den Unternehmer
vergleichsweise neu, da es den Unternehmer nicht
mehr gab bzw. nicht mehr geben durfte.
Die Bezeichnung als Kapitalist oder Bourgeois
wies ihnen in den 50er Jahren einen antisozialistischen Charakter zu und stellte sie außerhalb der
Gesellschaft. Nachdem nach der Sozialisierung der
Privatunternehmen als Unternehmensführung nur
noch das Duo Betriebsdirektor/-parteisekretär
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existiert hatte, traten mit den Wirtschaftsreformen in
den 80er J ahren wieder kleine Selbständige
(`IndividualwirtschaftendeA) und schließlich Privatunternehmer auf:
Abb. 1: Vom Kapitalisten zum Unternehmer
Schaubild: Heberer.
Die Rehabilitierung des Unternehmers wurde mit
einer Debatte über seine Funktion verknüpft. Chinesische Unternehmer mussten einfach anders sein als
westliche Kapitalisten. Sie waren entweder sozialistische Unternehmer, weil sie im Interesse des
Sozialismus B so die Argumentation B wirkten, oder
chinesische Unternehmer, die zum Aufbau der
Nation beitrugen.
Von daher unterschieden sie sich grundsätzlich
von reinen Ausbeutern und wurden akzeptabel.
Traditionelle, konfuzianische Vorstellungen von
Unternehmern, die - kontrolliert - im Interesse von
Staat und Gesellschaft wirken und sich korporatistisch in bestehende Strukturen einbinden lassen,
wirken hier nach. Der chinesische Unternehmer soll
Patriot sein, d.h., sich mit dem politischen System
und seinen Werten identifizieren. Er soll zugleich
moralisch hochstehend sein, eine gute Ideologie und
einen guten Arbeitsstil besitzen und sich entsprechend selbst vervollkommnen.
Dieser Pragmatismus, der die politische und
Wirtschaftskultur Chinas so nachhaltig geprägt hat,
schlägt sich nicht zuletzt in dem Beschluss des XVI.
Parteitags von 2002 nieder, den Unternehmern den
lange verwehrten Parteieintritt zu gestatten, da sie
ebenso wie Arbeiter, Bauern und Intellektuelle Teil
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2004
des Volkes seien und sich für die Modernisierung
Chinas einsetzten.
Eine wichtige Eigenschaft von Chinesen besteht
in einem ausgeprägten Pragmatismus. Weltanschauliche, religiöse oder politische Auffassungen wurden
immer wieder über Bord geworfen, wenn sie den
aktuellen Bedingungen oder der sich verändernden
Lage nicht mehr entsprachen.
Nicht nur die obige Unternehmerdiskussion und
Bbewertung, sondern auch das Statut der Kommunistischen Partei bietet dafür ein Beispiel. Der jeweilige Wandlungsprozess der KPCh und der ideologische Paradigmenwandel manifestieren sich exemplarisch im Wandel von Formulierungen im Parteistatut:
Aussagen im Parteistatut der KPCh (1956-2002)
1956: Der Marxismus-Leninismus ist die Richtschnur des Handelns der KP Chinas.
1982: Der Marxismus-Leninismus und die Maozedong-Ideen sind die Richtschnur des Handelns
der KP Chinas.
1997: Der Marxismus-Leninismus, die MaozedongIdeen und die Deng-Xiaoping-Theorie sind die
Richtschnur des Handelns der KP Chinas.
2002: Der Marxismus-Leninismus, die MaozedongIdeen, die Deng-Xiaoping-Theorie und das
wichtige Gedankengebäude der _Drei
Vertretungen= sind die Richtschnur des Handelns
der KP Chinas.
Der Übernahme des sowjetischen Weges (Kennzeichen: Marxismus-Leninismus) Anfang der 1950er
Jahre folgte die politische Sinisierung durch die
Maozedong-IdeenA Anfang der 80er Jahre und
schließlich die Ökonomisierung durch Einbau der
Deng-Xiaoping-Theorie in den 90er Jahren, eine
Theorie, die im Prinzip wirtschaftliche Entwicklung
plus Kontrolle durch die Partei impliziert. Bilden
doch die Ideen Dengs kein zusammenhängendes
Theoriegebäude, sondern lediglich einen Leitfaden
mit pragmatischen Anleitungen. Dengs Katz-MausTheorie (Egal ob schwarze oder weiße Katze,
Hauptsache, sie fängt Mäuse) war Ausgangspunkt
für die Konzentrierung der Makropolitik auf die
Wirtschaft und damit auch Ausgangspunkt für die
Ökonomisierung.
Die sozio-ökonomische Entwicklung schlägt sich
zugleich also in einer Veränderung der Grundprin-
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zipien der Partei nieder. So wurde die sozialistische
Marktwirtschaft zum Ziel der Parteipolitik und die
Ausbildung zu dieser Marktwirtschaft zum Grundkanon der Parteihochschulen erklärt.
Die Erhebung der 邓小平理论 Deng-XiaopingTheorie zur Leitideologie der Partei durch den XV.
Parteitag (1997) sowie die vom damaligen Parteichef
江泽民 Jiang Zemin vorgetragenen 三个代表 Drei
Repräsentationen, d.h. dass die KP sich der dreifachen Aufgabe gegenübersehe, (a) die Wirtschaft auf
eine moderne Grundlage zu stellen und den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben; (b) eine Gesellschaft mit hohem moralischem und Bildungsstandard
zu schaffen und (c) die Interessen aller Teile der
Bevölkerung zu berücksichtigen, stehen ebenfalls für
das Zurücktreten ideologischer gegenüber pragmatischen Momenten. Letztlich schlägt sich hierin der
Wandels von einer Klassen- zu einer Volkspartei
(Partei des ganzen Volkes) nieder.
China befindet sich heute in einem Transitionsprozess, um in Wittfogels Diktion zu sprechen, in
einem Übergang von schwachem zu starkem Eigentum.
Der Privatsektor ist Motor des Wachstums und
Ursprung der hohen Wachstumsraten. An anderer
Stelle habe ich gezeigt, dass und in welcher Form die
Unternehmer auf die Gestaltung von Politik- und
Wirtschaftsprozessen einwirken und damit politischen output beeinflussen. Belegen ließe sich diese
Transition ferner durch das Faktum, dass im März
2004 der Schutz privaten Eigentums bzw. privaten
Vermögens ausdrücklich in der Verfassung verankert
wurde, ein weiterer Schritt im Hinblick auf die
Stärkung privaten Eigentums und der privaten
Unternehmerschaft.
Wenn Wittfogels Argument, dass der Bestand der
hydraulischen Gesellschaft von der Aufrechterhaltung ihrer Eigentumsverhältnisse durch den Staat
abhängig sei (S. 370ff.), stimmt und wenn es stimmt,
dass Privateigentum ein
entscheidendes Mittel zur Überwindung der vom
Staat überwucherten asiatischen Gesellschaft (S.
549)
ist, dann belegt die jüngere Entwicklung Chinas in
der Tat, dass die Rückkehr der Privatwirtschaft und
der damit verbundene Aufstieg des Unternehmertums
die sozio-ökonomischen Strukturen Chinas verändert
haben.
Doch auch dieser Anstoß kam nicht von außen,
sondern war Ergebnis ökonomischer Notwendigkei-
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2004
ten, um den Zusammenbruch der Wirtschaft Ende der
70er Jahre zu verhindern.
4.
Die Frage des Bodeneigentums
In der hydraulischen Gesellschaft war der Boden
staatlich reguliert. Auch wenn das Bodeneigentum B
historisch gesehen - formal einer fiktiven Dorfgemeinde gehörte, so konnte der Staat gleichwohl den
Ankauf von Ländereien verhindern oder Boden
zuweisen und verkaufen. Immer wieder griff er in die
Gestaltung des Bodeneigentums regulierend ein und
verteilte den Grund und Boden, um einer Bodenkonzentration und damit sozialen Konflikten entgegen zu
wirken. Ein spezifisches Bodenausgleichssystem in
Form umschichtiger Landzuteilung sollte das
Entstehen großer Güter verhindern.
Zwar billigte der Staat jahrhundertelang das
Überwiegen von Privateigentum an Boden, schränkte
die Nutzung durch Vorschriften über Anbau und ein
zerstückelndes Erbrecht allerdings immer wieder ein
und erhob beträchtliche Steuern auf Bodeneigentum.
Von daher war das Bodeneigentum zweifellos
schwaches Eigentum im Sinne Wittfogels.
Es blieb auch in der Geschichte der Volksrepublik schwaches Eigentum. Zwar verteilte die Partei
den Boden durch die Landreform unter die Bauernschaft, um die unmittelbare Unterstützung der
Landbevölkerung zu erhalten, der Boden wurde aber
schon nach wenigen Jahren schrittweise
kollektiviert.
Rechtlich ist er heute Eigentum der Dorfgemeinschaften, realiter wird er (vom Staat) aber wie
Staatseigentum behandelt.
Die Konflikte um das Bodeneigentum haben sich
in den letzten Jahren zugespitzt. Häufig requirieren
lokale Funktionäre im Namen der Urbanisierung
oder Industrialisierung Boden und verkaufen diesen
an Unternehmen oder Immobilienspekulanten, wobei
sie die dadurch erwirtschafteten Einnahmen in die
eigene Tasche stecken. Ich selbst erlebte im August
2003 eine Demonstration von Bauern aus der
nordwestchinesischen Provinz 山西 Shanxi vor dem
Ministerium für Bodenverwaltung.
Eine Gruppe von ca. 40 Bauern und Bäuerinnen
hatte sich dort niedergelassen, um gegen den Verkauf
ihres Bodens durch korrupte Dorffunktionäre zu
protestieren. Wiederholt hatten sie in ihrer Kreisstadt, der Provinzhauptstadt und in Peking gegen
B10 C31 D
diese illegalen Machenschaften protestiert. Ohne
Erfolg. In einer eigens zusammengestellten Dokumentation legten sie diese Machenschaften offen.
Durch die Requirierung des Bodens war ihnen die
Möglichkeit zu landwirtschaftlicher Betätigung und
damit zu jeglichem Einkommen genommen worden.
Sie hungerten, teilweise mussten sie ihre Kinder
verkaufen, um überleben zu können. Mitarbeiter des
Ministeriums, die ich darauf ansprach, wiesen darauf
hin, dass die Zahl derartiger Fälle im Land so groß
sei, dass sie sich nicht um jeden Einzelfall kümmern
könnten. Selbst der Minister für Bodenverwaltung
wurde im Oktober 2003 wegen der Verwicklung in
illegale Grundstücks- und Immobiliengeschäfte
entlassen.
In der Tat werden die Bauern häufig gar nicht
oder nur unzureichend entschädigt. Das 2004年社
会蓝皮书 Blaubuch der chinesischen Gesellschaftsentwicklung für das Jahr 2004 konstatiert, dass
Bodenkonflikte einer der zentralen Konfliktfaktoren
im ländlichen Raum darstellten. Vielfach steckten die
Dorfkader einen Teil der Entschädigungssumme oder
den gesamten Betrag in die eigene Tasche.
Allerdings gibt es unterschiedliche Formen des
Widerstandes bzw. der Behandlung der Bodenfrage.
Vor allem in ärmeren Gebieten, in denen der Boden
im Interesse vorgeblicher Wirtschaftsentwicklung
enteignet wird, wird der Widerstand der Landbevölkerung häufig mit Brachialgewalt gebrochen, wobei
die Netzwerke lokaler Kader und die Ferne der
Medien Widerstand kaum publik werden lassen.
Den Betroffenen bleibt dann kaum mehr übrig,
als als Bittsteller in die Provinzhauptstadt oder nach
Peking zu fahren, in der Hoffnung, dass sich
irgendeine Institution dieses Falles annimmt.
In entwickelteren Gebieten gibt es andere Protestformen. So weigerten sich z.B. noch im Jahre 2004
die Bewohner eines Fischerdorfes in der ostchinesischen Hafenstadt 青岛 Qingdao, die ihrer Meinung
nach für die Requirierung ihres Bodens eine zu
geringe Entschädigung erhalten hatten, seit einigen
Jahren ihr Dorf zu verlassen. Bis nach Peking hatten
sie ihren Protest getragen. Sie hatten damit Erfolg
gehabt und eine wesentlich größere Entschädigung
erzielt. Die Stadtregierung von Qingdao wagte nicht,
mit Gewalt gegen die Fischer vorzugehen.
Das Bodenproblem hat auch mit dem Faktor zu
tun, dass die Bauern nicht Eigentümer, sondern quasi
nur Pächter des Bodens sind. Die ungeregelte Eigentumsfrage, d.h. dass der Boden nominell kollektives
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Eigentum der Dorfbewohner ist, in der Realität aber
von den Behörden als Staatseigentum begriffen wird,
führt zu signifikanter Ineffizienz der Bodennutzung,
zu Bodenspekulation von Funktionären und zum
Verlust dringend benötigter Anbaufläche. Unter der
Hand verkaufen oder verpachten Landbewohner
überdies ihren Boden an Dritte.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird im Grunde
kein Unterschied zwischen dem Verkauf von Boden
und dem Verkauf von Bodenrechten für einen
bestimmten Zeitraum gemacht, was darauf hinweist,
dass vornehmlich der Landbevölkerung die Frage des
gegenwärtigen Bodeneigentums nicht verständlich
ist.
Einen außergewöhnlichen Fall stellt schließlich
das Nachbarschaftsviertel in der südchinesischen
Wirtschaftssonderzone 深圳 Shenzhen dar. Das
frühere Fischerdorf mit rund 1.300 Einwohnern, die
überwiegend dem 黄 Huang-Clan angehören, wurde
1992 in ein 社区 städtisches Wohnviertel überführt.
Die Bodenrechte wurden schrittweise an die Stadt
Shenzhen verkauft, die eine städtische Gesellschaft
Hochhäuser mit Eigentumswohnungen errichten
ließ.
Wurde der Boden zunächst billig an die Stadt
verkauft und überdies Boden gegen Arbeitsplätze in
nichtagrarischen Sektoren abgegeben, so lernte die
Dorfgemeinschaft rasch dazu, forderte preisgerechtes
Engelt für den abgegebenen Boden und verteilte die
Einnahmen nicht einfach an die einzelnen Mitglieder
der Gemeinschaft. Vielmehr wurden alle Einnahmen
der ehemaligen armen Dorfgemeinschaft gemeinsam
in eine Aktiengesellschaft eingelegt, und alle 1.300
Bewohner wurden gemeinschaftlich Anteilseigner.
Überdies wurde in Produktions- und Dienstleistungsbetriebe investiert, um das Vermögen zu mehren. Die
Aktienanteile wurden pro Kopf verteilt und dürfen
nicht übertragen oder verkauft werden. Selbst die
Frau des Parteisekretärs, die aus Sichuan stammt,
erhielt keine Anteile, allerdings die Kinder der
beiden. Über die Ausschüttung von Dividenden
entscheidet der Vorstand, der sich jeweils am
Jahresende gegenüber der Gemeinschaft für seine
Tätigkeit rechtfertigen muss.
Ausgeschlossen davon bleiben die 50.000 von
auswärts zugezogenen bzw. temporären Bewohner,
die im Jahre 2004 in diesem Wohnquartier lebten.
Den Einheimischen allein obliegt auch die Verwaltung des Gebietes (das Einwohnerkomitee wird von
den 1.300 Bewohnern in direkter und geheimer Wahl
B10 C31 D
gewählt), die Verwaltung der Wohnungen und die
öffentliche Sicherheit (über 100 Milizionäre).
Teilweise wurden von der Gemeinschaft auch
Wohnungen angekauft und vermietet.
Auch hier fand, ökonomisch und politisch, ein
Wandel von schwachem Eigentum (gekennzeichnet
durch uneingeschränkte Verfügungsgewalt des
Staates über den Boden) hin zu starkem Eigentum
statt.
Bei Wittfogel findet sich ein interessanter
Vorschlag im Hinblick auf das staatlich regulierte
Land, Boden, den die Besitzer nicht beliebig veräußern dürfen. Er verweist auf ein historisches
Beispiel: In Byzanz wurde im 10. Jhdt. ein Gesetz
erlassen, das es den Bauern gestattete, Boden zu
veräußern, wobei fünf Kategorien in einer vorgegebenen Reihenfolge Vorkaufsrecht genießen sollten:
mitbesitzende Verwandte; sonstige Mitbesitzer; Besitzer von Grundstücken, die mit dem entsprechenden Bodeneigentum verschachtelt sind; Anrainer,
die gemeinsame Abgaben errichten und sonstige
Anrainer. Erst wenn diese Gruppen mit Vorkaufsrecht den Kauf ablehnten, sollte der Boden an
Außenstehende verkauft werden können. Auf diese
Weise sollte es Großgrundbesitzern erschwert
werden, durch Käufe Boden zu konzentrieren (S.
346).
Ein ähnlich gearteteter Maßnahmenkatalog könnte in Zukunft die m.E. notwendige Reprivatisierung
des Bodens in China erleichtern helfen.
Was einen möglichen Bodenkauf durch lokale
Funktionäre anbelangt, so findet sich bei Wittfogel
ebenfalls ein historischer Bezug: Im China der späten
Kaiserzeit war es staatlichen Funktionsträgern untersagt, in demjenigen Verwaltungsgebiet, in dem sie
tätig waren, Boden zu erwerben (S. 351).
5.
Das Gesetz des abnehmenden
administrativen Mehrertrags
Wittfogel argumentiert, dass durch Ausdehnung des
hydraulischen Systems bei gleichzeitig geringen
administrativen Kosten der administrative Mehrertrag zunehme. Hielten sich administrativer Aufwand
und administrativer Ertrag die Waage, so gebe es ein
Gleichgewicht administrativen Mehraufwands. Übersteige der administrative Aufwand indessen den
administrativen Ertrag, dann setze das Gesetz des
abnehmenden Mehrertrags ein (S. 150ff.)
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Übertragen auf die Entwicklung der VR China
ließe sich argumentieren, dass durch Ausdehnung
(nicht des hydraulischen, sondern des) sozialistischen
Systems und der damit verbundenen Massenmobilisierung und Massenkampagnen versucht worden ist,
in den 50er, 60er und 70er Jahren ohne großen
administrativen Mehraufwand ökonomische Entwicklungsprozesse zu initiieren. So wurde während
des 大跃进 Großen Sprungs nach Vorn versucht,
mittels einer Massenbewegung zur Errichtung
bäuerlicher Hinterhofhochöfen Großbritannien in der
Stahlerzeugung ein- und zu überholen. Der Mensch
in seiner Masse sollte das chinesische Substitut für
Technologieimporte sein. Millionen von Menschen,
vornehmlich die Landbevölkerung, sollten in Großkollektiven Probleme der agrarischen Ertragsstagnation und infrastrukturelle Probleme (u.a. durch
Bewässerungs- und Dammbauten) lösen. Diese Idee
fand ihren neuerlichen Ausdruck dann in der
Kulturrevolution.
Mao glaubte an die Umerziehbarkeit des Menschen durch permanente Revolutionen und in Massenbewegungen und daran, durch politische Bewegungen dieser Art einen neuen Menschen schaffen zu
können. Wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung verlangten seiner Meinung nach eine allumfassende Mobilisierung der Massen. Nach erfolgreicher Revolution, schrieb er,
die Mechanisierung weiter voranzutreiben, ist
nicht sonderlich problematisch. Das
Hauptproblem liegt in der Umerziehung der
Menschen.
Mit relativ geringen zusätzlichen Kosten und
ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerung
sollten die Pläne der politischen Führung durch
kostenlose Masseneinsätze umgesetzt werden.
Kurzzeitige reale oder vermeintliche Produktionserfolge ermutigten zu einem immer größeren Ausmaß an politischer Mobilisierung. Der Rückgang der
wichtigsten wirtschaftlichen Kennziffern in den 70er
Jahren und die Stagnation der Agrarerträge
verdeutlichten, dass das Mao=sche Entwicklungsmodell nicht zum Erfolg führte, der administrative
Mehraufwand und seine Kosten zunehmend die
administrativen Erträge überstiegen. Das
Mißverhältnis erreicht seinen tiefsten Punkt B so
Wittfogel B wenn der zusätzliche Aufwand überhaupt
keinen zusätzlichen Ertrag mehr produziert (S.
152).
Dieser administrative Nullpunkt war 1976 er-
B10 C31 D
reicht! Der Versuch totalitärer Kontrolle über die
Gesellschaft und jeden Einzelnen verlangte ein immer größer werdendes Heer an Funktionären. Dieses
verschlang nicht nur einen Großteil der Staatseinnnahmen, sondern erbrachte auch keine administrativen Mehreinnahmen. Die Aufrechterhaltung einer
solchen Kontrolle musste den Staat auf Dauer
finanziell ruinieren.
Tab. 2: Relation Kader Einwohner
Anfang der 50er Jahre, Kader : Einwohner
Jahr 2000:
1:600
1: 30
Beispiel Kreis Yanyuan/Sichuan:
Jahr 1937:
70 : 80.000
Relation: 1 : 1.143
Jahr 2000:
7.000 : 312.000
Relation: 1: 44,5
Quelle: Eigene Untersuchung.
Mit dem Gesetz des abnehmenden administrativen
Mehrertrags ließe sich so erklären, weshalb die
Mao=sche Entwicklungspolitik gescheitert und es ab
Ende der 70er Jahre zur Einleitung von Wirtschaftsreformen gekommen ist. Zwang doch die ungeheure
Armut auf dem Lande zur Abkehr von kollektivierten
Bewirtschaftungsformen. Was Bauern zunächst in
Armutsgebieten spontan praktiziert hatten und sich
wirtschaftlich als Erfolg erwies, wurde Ende des
Jahres 1978 von der Parteiführung zum Programm
erhoben und ab 1979 umgesetzt.
Eine entscheidende Maßnahme war die
Auflösung der ländlichen Kollektive und die Rückkehr zu kleinbäuerlicher Wirtschaft. Seitdem wird
der Boden per Vertrag an die Familien vergeben, die
Steuern und Abgaben entrichten und die Überschüsse
auf dem Markt (freier Markt) verkaufen können.
Obwohl der Boden rechtlich nicht Privateigentum ist,
d.h. nicht ge- oder verkauft werden darf, wirtschaften
die Bauern heute wieder eigenständig. Der Staat zog
sich von der Beteiligung an der Agrarproduktion
zurück, da diese, so Wittfogel, vom Standpunkt des
administrativen Ertrags betrachtet, besser durch
viele kleine bäuerliche Privatunternehmen betrieben
werden kannA (S. 153).
Das Gesetz abnehmenden administrativen Mehrertrags hat zugleich eine politische Dimension. Die
entmutigende Diskrepanz zwischen
zunehmendem Aufwand und abnehmendem
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politischen Gewinn macht die Regierung
abgeneigt, ihren Apparat weit über jenen Punkt
hinaus zu gebrauchen (S. 154).
Der Staat zog sich aus der Gesellschaft ein stückweit
zurück.
Der Wittfogel=sche Ansatz liefert damit einen
Erklärungshintergrund für das Interesse der politischen Elite an einer Änderung des Entwicklungsmodells, auch wenn er nicht das Interaktionsverhältnis
zwischen kollektiven Aktionsformen vor allem der
bäuerlichen Bevölkerung und der politischen Elite zu
sehen vermag.
6.
Asiatische Produktionsweise und
unilineares Geschichtsbild
Ein Kernfaktor der Auseinandersetzung über die
Asiatische Produktionsweise (APW) bestand in der
Frage, inwieweit die Menschheit sich nach einem
unilinearen Geschichtsbild entwickle.
Es ist zweifellos ein Verdienst Wittfogels, dass er
früh hierauf hingewiesen hat. Sozialgeschichte, so
schreibt er, verlaufe eben nicht unilinear, sondern
stelle einen komplizierten und multidimensionalen
Prozess dar (S. 31).
Galt die Einteilung der Gesellschaften aller
Völker der Welt gemäß der Stalinschen Formationenlehre (Ur-, Sklavenhalter-, feudalistische, kapitalistische, sozialistische Gesellschaft), die ihren
Ursprung in der europäischen Geistesgeschichte hat
(etwa bei Turgot) weltweit oder gab es verschiedene,
regional oder von der Entwicklung der Produktivkräfte abhängige spezifische Bedingungen, die ein
solches Schema grundsätzlich in Frage stellten?
Bezogen auf China konstatiert Wittfogel die
Existenz der APW, deren Existenz von Mao später
jedoch geleugnet worden sei. Anders als für Lenin,
der sich der asiatisch-restaurativen Kräfte im neuen
Sowjetsystem bewusst geworden sei, hätten für Mao
solche Überlegungen keinerlei Rolle gespielt, weil es
in Maos Bewusstsein keine sozialistischen Erwägungen gegeben habe:
Mao verriet keine alten sozialistischen Grundsätze, denen er offiziell anhing, weil für ihn diese
Grundsätze nie etwas bedeuteten (S. 546).
Das historisch-materialistische Schema der
historischen Stufenabfolge und Herarchisierung barg
Erklärungsmuster in sich, die der Verbindung traditionaler chinesischer mit sozialistischen Vorstel-
B10 C31 D
lungen entgegen kamen.
Diese traditionalen Vorstellungen vertragen sich
gleichsam mit dem historisch-materialistischen
Weltbild wie es von Stalin in den 30er Jahren
entworfen worden war, kam doch die o.g. Einteilung
der Gesellschaften dem traditionellen chinesischen
Hierarchsierungsdenken entgegen.
Dies gilt in besonderem Maße für die chinesische
Nationalitätenpolitik. Wies sie doch jeder der 55
nationalen Minderheiten ihren Platz in der Nationalitätenhierarchie und in ihren Beziehungen zum
fortgeschrittensten Volk, den 汉 Han, zu.
In Anlehnung an die traditionelle Bestimmung
von der Han-Kultur als höchster Kultur und an die
Aufgabe der Zivilisierung bzw. Sinisierung der
Barbaren blieben die sozialistischen Han in ihrer
Rolle gegenüber den Minderheiten, die sich auch der
marxistisch-leninistischen Theorie zufolge auf einer
niedrigeren Gesellschaftsstufe befanden.
Avantgarde, Träger und Bewahrer dieser Kultur
und Zivilisierung bildeten nun nicht mehr der
Kaiserhof, seine Beamtenschaft und sein Prüfungssystem, sondern die Kommunistische Partei mit ihren
Funktionären und ihrem Bildungssystem.
Die Aufgabe jeder Nationalität bestand darin, die
Han möglichst schnell einzuholen und Wirtschaft
und Gesellschaft denen der Han anzugleichen. Der
patriarchalische sozialistische Staat erhielt die
Aufgabe, entsprechende Schritte einzuleiten. Er legte
fest, was für die Minderheiten nützlich ist und
welche Sitten und Bräuche gesund (oder fortschrittlich) und damit reformierbar und welche
ungesund (oder rückständig) sind und abgeschafft
oder reformiert werden müssen.
Das APW-Konzept hätte zu einer Relativierung
oder sogar Verwerfung des Hierarchisierungsgedankens geführt und damit die Legitimierung der
Führungsrolle der Han und ihrer Partei über die
ethnischen Minderheiten zumindest relativiert.
Das entscheidende Moment dieses Konzeptes ist
aber das der Hierarchisierung, eben weil es Ungleichheit und Abhängigkeit legitimiert und damit perpetuiert.
Der amerikanische Philosoph Michael Walzer hat
entsprechend konstatiert, eine Hierarchisierung stelle
stets eine Bedrohung für die Menschen dar, deren
Kultur abgewertet werde. Rangordnungen, so
Walzer, seien niemals unschuldig, weil sie zu einer
Politik der Diskriminierung neigten.
Wittfogel hat mit seinem Insistieren auf der
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2004
asiatischen Produktionsweise letztlich dazu beigetragen, dass das Denken in eschatologischen und
hierarchischen Kategorien, die sich quasi gesetzmäßig in einem utopischen Paradieszustand
(Kommunismus) auflösen, erodierte. Die Romantisierung der Weltgeschichte (Rortry) endete mit
dieser Erosion.
7.
Fazit
Von chinesischer Warte aus stellen neuere Untersuchungen Wittfogels Erkenntnisse grundsätzlich in
Frage.
Ich will das hier nur an einem Beispiel
verdeutlichen. Wei Pan, Professor für Politikwissenschaft an der Peking-Universität, argumentiert total
konträr zu Wittfogel. China besitze eine starke
Tradition
a) ökonomischer Freizügigkeit (Kauf und Verkauf
von Boden als Naturprinzip);
b) politischer Gleichheit (in Form gleichberechtigten
Zugangs zu den Beamtenprüfungen);
c) von governance, die (unter den Bedingungen
verstreuter und autonomer Dörfer sowie geringer
sozialer Differenzierung) auf Überzeugung und
Konsens statt auf Machtpolitik aufgebaut und
weniger konfrontativ gewesen sei und
d) von Autorität und Legitimität die auf moralischen
Prinzipien statt auf Gesetzen oder religiösen
Regeln gegründet gewesen seien.
Obgleich Wei die Verhältnisse im kaiserlichen
China idealisiert, weil es tatsächlich nicht ökonomische Freizügkeit im Sinne eines westlichen Liberalismus gegeben hat, Wittfogels Vorstellungen von
schwachem Eigentum durchaus ihre Berechtigung
haben; auch die politische Gleichheit und der
gleichberechtigte Zugang zu den Beamtenprüfungen,
die Autonomie der Dörfer und die geringe soziale
Schichtung und die Wirkung moralischer Prinzipien
rekurieren auf schriftlich formulierte konfuzianische
Idealbilder.
Die Realität sah in der Tat anders aus. Gleichwohl wird hier von chinesischer Seite aus dem Determinismus der orientalischen Despotie widersprochen
und auf ideengeschichtliche Momente libertärer,
egalitärer und harmonischer politischer Konzepte
und Vorstellungen verwiesen.
Diese idealtypischen Vorstellungen, die zu einer
gewissen Elastizität der chinesischen Gesellschaft in
B10 C31 D
Geschichte und Gegenwart beigetragen haben, hat
Wittfogel zweifellos übersehen.
So sehr Wittfogels Skizze der chinesischen Gesellschaft von Einseitigkeit und (ideologisch
bedingtem) Determinismus geprägt ist. Er hat
gleichwohl einige Hinweise und Analyseinstrumente
an die Hand gegeben, über die es sich auch heute
noch nachzudenken lohnt.
Doch vielleicht war es gerade das Beunruhigende
und Aufschreckende seiner Untersuchung, das uns
warnte, uns allzu schnell idealisierenden Vorstellungen hinzugeben. Wittfogel rief dazu auf, aktuelle
gesellschaftliche Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der Pfadabhängigkeit zu sehen.
Hüten müssen wir uns vor einer deterministischen Verabsolutierung konstruierter Pfadabhängigkeit.
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Xiù Cai erscheint monatlich, aus aktuellem Anlaß öfter.
Herausgeber: Ostasieninstitut der FH Ludwigshafen, Dr. Jörg-M. R udolph.
Veranwortlicher Redakteur: Dr. Jörg-M. Rudolph. Anschrift: Ostasieninstitut der Fachhochschule Ludwigshafen, Rheinuferstraße 6, 67061
Ludwigshafen. Tel. 0621-586670, Fax 5866777, email: [email protected]
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