Sehen im Traum - Kunstuniversität Linz

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Sehen im Traum - Kunstuniversität Linz
EINZELKAPITEL
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SEHEN
IM
TRAUM
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2011
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Junge Frau mit Sehschärfenbestimmer
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„Sehen im Traum“, Gesamtauslage von Hartmann Brilliance, Eröffnung, Neonskulptur der Gruppe Gelatin im Schaufenster links, Motive der Tapete (Lachmayer/Nobis) semitransparent
auf die Schaufensterscheiben geklebt
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SEHEN IM TRAUM
Bisweilen glaubt man im Traum genauer und
intensiver zu sehen als im Wachzustand. Auch
der Übergang vom Träumen zum Wachsein
hat, insbesondere in der Selbstbeobachtung
von KünstlerInnen, Anlass zu eingehender
Beschäftigung gegeben. Dieser „hypnagogische“ Zwischenzustand – wenn man sich noch
im Traum wähnt und gleichzeitig die Wirklichkeit des Tages ihr Realitätsprinzip einfordert
– ist dadurch charakterisiert, dass man vermeint, sich wieder in den Traum zurückziehen
zu können. Mit dem Sehen im Traum verhält es
sich wie mit überdeutlichen Vorstellungen generell, die implizieren, dass die Wahrnehmung
schwächer sei. Doch an einer „Vorstellung“
des Säulengangs von Bernini am Petersplatz
in Rom kann man die Säulen nicht zählen.
Für einen Optiker-Meisterbetrieb wie den
von Erich Hartmann in der Singerstraße in
Wien eine Installation zum Thema „Sehen
im Traum“ einzurichten, fokussiert den Inhalt
naturgemäß auf die Brille als relevantes Gesichtsaccessoire, das über die Sehkorrektur hinaus den TrägerInnen den Wunsch nach einer
zusätzlichen Individualisierung erfüllen soll.
Das Innovationspotenzial von Brillen mag
heute durch das Ausloten technologischer
Möglichkeiten marginal und in der Fülle des
Angebots unübersichtlich erscheinen – und
dennoch gibt es durch das neue Gleitsichtglas der Firma Rodenstock („Impression
freesign“) für die Qualität des Sehens eine
nahezu revolutionäre Entwicklung, welche
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„Sehen im Traum“, Fotomontage des Innenraums von Hartmann Brilliance
mit Tapetenentwurf von Herbert Lachmayer und Margit Nobis
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Tapete „Sehen im Traum“, Herbert Lachmayer und Margit Nobis
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„Sehen im Traum“, Detail, Grafik: Kai Matthiesen
Die neue Technologie fordert bei den BrillenträgerInnen jedoch nicht nur eine kreative
Deutung des erweiterten Sehfelds heraus, sondern wirkt sich auch produktiv auf
deren Einbildungskraft aus, wodurch die
„Welt im Kopf“ vor dem Panorama des Unbewussten plastischer werden mag. Dieses
„innere Sehen“ wird deutlicher manifest
– Wahrnehmung, Innovation und Fantasie rücken näher zusammen und vermischen sich
auch. So entstehen „Möglichkeitswelten“ bei
die optionalen Leistungen des Auges, als
„Pforte der Wahrnehmung“, um einen kleinen Quantensprung steigert. Bei korrekturbedürftiger Fehlsichtigkeit verhält es sich
nämlich so, dass – unter Verwendung der
üblichen Brillengläser – nur 60 Prozent der
Wahrnehmungsleistung der Augen aktiviert
werden. Mit der Erfindung der Doppelglasgläser ist nun gewährleistet, dass nicht allein
der zentrale Blick schärfer wird, sondern
vor allem die Randbereiche des Blickfelds.
Die Auswirkungen der physiologisch nachweisbaren Optimierung eines durch Sehschwäche reduzierten Blickfelds gehen über
das quantitativ Messbare deutlich hinaus,
werden doch BrillenträgerInnen mit einer unvermutet intensivierten wie geschärften Aufmerksamkeit konfrontiert, die plötzlich eine
Fülle von Deutbarem „ins Spiel bringt“. Der
Effekt muss so überzeugend bis radikal sein,
dass es einige BrillenträgerInnen schlicht
ablehnten, sich zu einem derartig brillanten
Sichtfeld verhelfen zu lassen – sie wollten es
wohl nicht mehr so genau wissen und „alles“
überdeutlich in den Blick bekommen.
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Zeichnung Ernst Mach, Visuelles Feld des linken Auges
Monitorausschnitt der Bildfolge von Herbert Lachmayer
qualitätsbewussten KundInnen, die mit einem
Produkt zugleich auch die weit verzweigten
Auswirkungen „erwerben“ – mit der Optimierung der messbaren Eigenschaften eines Geräts auch eine Bereicherung der Fantasiewelt,
jener Bühne der „möblierten Psyche“, um es
Bildfolge: Biene auf Augapfel, saugend
mit Walter Benjamin zu sagen, als Erweiterung der psychisch-seelischen Befindlichkeiten durch Anwendung desselben.
Bildfolge: Jules Verne, „Le voyage dans la lune“
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Die „Erzählende Tapete“ vermittelte eine Allegorie zwischen surrealen Traumbildern und
einer hyperrealistischen Blickschärfe, die der
Kunst und Comics entlehnt war. Indem Ernst
Mach das Sehfeld seines linken Auges im
Fauteuil liegend zeichnet, macht er sich den
Automatismus des gelernten Sehens bewusst,
das routinemäßig derartige Ausschnitte nicht
mehr segmentiert. Die Zeichnung steht für
die wissenschaftlich-philosophische Bewusstmachung des Sehvorgangs als Rekonstruktion
des Wahrnehmungsprozesses. Dies soll verdeutlichen, dass dem Philosophen des Wiener Kreises der „innere Blick“ auf der Ebene
wissenschaftlicher Deutung so wichtig war,
dass er zum Selbstexperiment schritt. Das
ganze Prozedere ist für sich genommen aber
Bildfolge: Charles Maurice de Talleyrand, kurzsichtig
auch ein Kunstwerk, und als solches wurde es
in die Tapete emblematisch aufgenommen.
Demgegenüber verweist das Foto Man Rays
vom Auge mit den langen Wimpern und den
Bildfolge: Talleyrands subjektive Wahrnehmung des Gemäldes „Ruhendes Mädchen“
(Marie-Loise O’Murphy, Mätresse Ludwigs IX.) von François Boucher
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falschen Tränen auf die Illusionierungsbereitschaft der Menschen, wobei unser Blick
auf das Auge der anderen mit emotionalen
Projektionen und Wunschfantasien überfrachtet sein mag – Man Ray führt uns so nah ans
Auge heran, dass wir die Tränen als „falsche“
erkennen können: Das mag an unserer Sehnsuchtsprojektion nichts ändern, vielleicht
sogar noch eine Intensivierung bewirken.
Dazwischen der Luftballonhase von Jeff Koons,
ein Fremdkörper allemal – und dennoch
bringt seine Anwesenheit einen Touch Popkunst ins Spiel, vielleicht malt jemand noch
eine Brille drauf. Magrittes grüne Äpfel mit
lila Karnevalsaugenlarve stehen für das blinde
Sehen von Karyatiden, die an historistischen
Hausfassaden leer auf die Straßen und Plätze
Bildfolge: Charles Maurice de Talleyrand, bebrillt
blicken – für uns ist dieses Emblem eine Natura morta, ein Vergänglichkeitssymbol: Der
Apfel verschrumpelt und verfault, die Maske
bleibt. Andy Warhol mit dem augenärztlichen
Bildfolge: Talleyrands subjektiv verbesserte Wahrnehmung des Gemäldes „Ruhendes Mädchen“
(Marie-Loise O’Murphy, Mätresse Ludwigs IX.) von François Boucher
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Monitorstele im Nachtbetrieb
geträumten Abenteuern begleitete, bis Little
Nemo nach der Überwindung großer Gefahren aufwacht – neben dem Bett auf dem
harten Boden, versteht sich. Das „Hermeneutic Wallpaper“ „Sehen im Traum“ soll dem
ambiguösen Zwischenzustand von Wachsein
und Träumen als eine semipermeable Membran begegnen, die Durchlässigkeit erzeugt:
Das Reale erscheint uns plötzlich als surreal,
Bildfolge: Brille, unter der Perücke zu befestigen
Messapparat für Sehschärfe reflektiert den
Voyeurismus des Meisters – braucht er doch
keinerlei Sehhilfe, um selbst bei „schwachen
Augen“ seine Vorstellungen immer noch in
hyperrealistischer Deutlichkeit zu sehen. Das
laufende Stelzenbett mit Little Nemo und
seinem boshaften Freund soll uns in die Welt
der Kindheitsträume führen, als uns noch die
Sicherheit der Schlafstätte selbst auf den
Marilyn Monroe als Sekretärin, bebrillt
Bildfolge: Venezianische Karnevalsbrille
und das fantasieträchtige Symbol stellt sich
als Brücke zur Wirklichkeit heraus. In die Tapete plan eingelassen war ein Monitor, über
den bizarre Bildfolgen liefen, die Neugier
erweckten: So konnte man etwa um zwei Uhr
früh immer noch vereinzelt NachtschwärmerInnen erblicken, die in Ruhe die charmante
Poesie der Bildfolgen genossen. Diese wurden
alle vier Wochen verändert: Vorweihnachtszeit, Silvester und die Zeit bis Ostern.
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So gesehen nimmt sich das Thema der Ausstellung „Sehen im Traum“ jenem bewussten
wie zugleich unbewussten Prozess an, der
über die Perfektionierung einer „Technologie
für Sehhilfe“ zu einer neuen Qualität führt:
zur Entfaltung der ganz persönlichen Subjektivität und damit des unverwechselbaren Individualismus von Wahrnehmung, Vorstellung
und Imaginationskraft, weit über das Objektivierbare anwendbarer Technologie hinaus.
Bildfolge: F. C. Gundlach, Brigitte Bauer, Op-Art-Badeanzug von Sinz,
Vouliagmeni/Griechenland, 1966
Bildfolge: Robin Rhode, From Pan’s Opticon Studies, 2009
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Bildfolge: Donald Duck, Thanksgiving-Traum
Kurator: Herbert Lachmayer
Gestaltung/Aufbau: Kathrin Oder, Margit Nobis, Silke Pfeifer
Grafik: Kai Matthiesen
Digital Media: Daniel Dobler
Hermeneutic Wallpapers: Herbert Lachmayer, Margit Nobis
KünstlerInnen: Gelatin
Ort und Institution: Hartmann Brilliance, Singerstraße 8, 1010 Wien
Dauer: 22. Oktober 2011 – 31. März 2012
Produktion: Bernhard Raftl
Kooperationen: Kunstuniversität Linz, PEEK (Programm zur Entwicklung und
Erschließung der Künste) im Rahmen des FWF – Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Hartmann Brilliance, Da Ponte Research Center
Sponsoren: Vorwerk Teppichwerke, Interactive Media Services
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