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Analysen und Berichte Geldpolitik
DOI: 10.1007/s10273-014-1700-z
Adalbert Winkler*
Dauerkritik an der Europäischen Zentralbank
Falsch angewendete Theorie untergräbt Vertrauen in die Geldpolitik
Die Beschlüsse der Europäischen Zentralbank vom 5. Juni 2014 sind zum Teil heftig kritisiert
worden. Damit setzt sich die überwiegend negative Bewertung an der Politik der Europäischen
Zentralbank fort, die seit langem zu beobachten ist, aber im Widerspruch zur realen
Entwicklung steht. Sie lässt sich nur durch das Festhalten an einer Theorie erklären, die falsch
angewendet wird. Die negativen Nebenwirkungen sind erheblich, weil die ungerechtfertigte
Dauerkritik das Vertrauen in die Institution Europäische Zentralbank untergräbt.
Eine Woche vor der Ratssitzung am 5. Juni 2014, auf der die
Europäische Zentralbank (EZB) weitere unkonventionelle
Maßnahmen beschloss, begann das „Wettern“1 gegen die
europäische Geldpolitik. Experten und Medien warfen der
EZB erneut vor, keine Geldpolitik, sondern Klientelpolitik
zu betreiben.2 Denn ihr primäres Ziel wäre gar nicht die Bekämpfung von Deflation – dazu seien die Maßnahmen weder geeignet noch notwendig – sondern die Konjunkturstimulierung in der Euro-Peripherie.3 Dafür würden die deutschen Sparer zahlen, weil die Zinsen noch stärker sinken,
und die Inflationsrate eventuell doch steigt. Entsprechend
negativ fiel auch das Echo nach dem Beschluss aus, mit
dem die EZB „geldpolitische Hemmungen“ fallengelassen
habe.4 Damit setzt sie ihre Politik fort, die Grenzen ihres
Mandats zu testen und gelegentlich zu überschreiten.5
*
1
2
3
4
5
Dieser Beitrag ist eine erheblich erweiterte und modifizierte Fassung
von A. Winkler: Anti-Krisenpolitik: die Europäische Zentralbank im
Kreuzfeuer der deutschen Öffentlichkeit, WISO direkt, Analysen und
Konzepte zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung
2014, http://library.fes.de/pdf-files/wiso/10818.pdf.
O-Ton Valerie Haller im ZDF heute journal vom 2.6.2014.
H.-W. Sinn: Der Steuerzahler muss mal wieder die Zeche zahlen, in:
Wirtschaftswoche vom 12.5.2014, http://www.wiwo.de/politik/europa/denkfabrik-der-steuerzahler-muss-mal-wieder-die-zeche-zahlen/9866996.html.
Vgl. T. Mayer: Keine Lockerung!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 31.5.2014, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mayers-weltwirtschaft/mayers-weltwirtschaft-keine-lockerung-12966044.html;
L. Nienhaus: Mario Draghi macht alles neu, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.5.2014, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ezbmario-draghi-macht-alles-neu-12966209.html; ders.: Noch mehr Geld
nach Südeuropa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.6.2014,
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/ezb-noch-mehr-geldnach-suedeuropa-12966718.html; J. Stark: Die EZB als Gefangene
ihrer Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.6.2014, http://
www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/juergen-stark-argumentiert-gegen-eine-zinssenkung-12968903.html.
Vgl. o.V.: EZB lässt geldpolitische Hemmungen fallen, in: Börsen-Zeitung vom 6.6.2014, S. 1.
Vgl. B. Wittkowski: Der wertlose Euro, in: Börsen-Zeitung vom
10.6.2014, http://www.presseportal.ch/de/pm/100014783/100757320/
der-wertlose-euro-kommentar-zur-europaeischen-zentralbank-vonbernd-wittkowski.
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
Die Position, dass die EZB nicht mehr geldpolitische, sondern wirtschafts- oder fiskalpolitische Aufgaben wahrnimmt, und damit ihr Mandat in grober Weise verletzt, ist
nicht neu. Vielmehr wird sie seit Jahren als Mehrheitsmeinung in der deutschen Öffentlichkeit vertreten. Im Februar
2014 erhielt sie im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sogar den höchstrichterlichen Segen.6
Anhaltende Wahrnehmung des Mandats
„Preisniveaustabilität“
Übersehen wird hierbei, dass diese Position von den Fakten nicht gedeckt wird. Dies lässt sich vergleichsweise
einfach zeigen. Denn sofern die EZB seit Jahren wirklich
Fiskal- und keine Geldpolitik betreiben würde, müsste sich
dies in einer steigenden Inflationsrate widerspiegeln. Genau damit wurde die Kritik an der Anti-Krisenpolitik der
EZB und der Vorwurf, die europäischen Währungshüter
würden gegen ihr Mandat verstoßen, bis vor kurzem auch
6
Dass die EZB-Politik in den deutschen Medien überwiegend negativ
dargestellt wird, zeigen B. Hayo, E. Neuenkirch: The German Public
and its Trust in the ECB: The Role of Knowledge and Information
Search, MAGKS Papers on Economics, Nr. 2013-47, 2014, http://
www.uni-marburg.de/fb02/makro/forschung/magkspapers/47-2013_
hayo.pdf. Eine kritische Betrachtung des OMT-Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts findet sich in A. Winkler: OMT-Urteil
des Bundesverfassungsgerichts – Beschluss zur Finanztheorie, in:
Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 155; ders.: Mario Draghi
und Helmut Schmidt – Retter, die gegen die Verfassung verstießen,
Oder: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die richtige
Finanztheorie, in: Kredit und Kapital, im Erscheinen, 2014.
Prof. Dr. Adalbert Winkler lehrt International and
Development Finance an der Frankfurt School of Finance & Management in Frankfurt am Main.
479
Analysen und Berichte Geldpolitik
Tabelle 1
EZB-Anti-Krisenpolitik – ein Überblick über die wichtigsten Maßnahmen (bis Mai 2014)
Maßnahme
in Kraft
Merkmale
Volumina
Vollzuteilungspolitik
seit Oktober 2008
unbegrenzte Refinanzierung des Bankensystems zu einem jeder Euro, mit dem das
festen Zins (begrenzt allerdings durch die vorhandenen
Bankensystem finanziert wird
Sicherheiten)
(außer LTRO)
Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (LTRO)
Ende 2011 bis Anfang 2012
Vollzuteilung mit dreijähriger Laufzeit
Zuteilung insgesamt 1019 Mrd.
Euro
SMP-Programm
Mai 2010 bis September
2012
begrenzter Ankauf von Staatsschuldtiteln, der durch eine
entsprechende Rückführung der Zentralbankgeldbereitstellung über das Bankensystem (Sterilisierung) begleitet
wird, so dass die Zentralbankgeldmenge unverändert
bleibt (Sterilisierung endet Juni 2014)
ausstehendes Volumen am 30.
Mai 2014: 164,5 Mrd. Euro
OMT-Programm
seit September 2012
konditionierter, unbegrenzter Ankauf von Staatsschuldtiteln mit bis zu drei Jahren Laufzeit
ausstehendes Volumen: 0 Euro,
da noch nicht angewendet
Quelle: eigene Zusammenstellung.
begründet: dass die Anti-Krisenpolitik zu Inflation, ja sogar
„massiver“ Inflation7 führen wird. Kasten 1 dokumentiert
dies anhand ausgewählter Zitate. Dieser Vorwurf war verständlich, weil er sich auf eine klare und anerkannte Theorie stützt. Danach führt eine Ausweitung der Zentralbankgeldmenge zur Inflation, weil es einen mehr oder weniger
festen Zusammenhang zwischen Zentralbankgeldmenge
und Geldmenge, sowie zwischen Geldmenge und Inflation
gibt. In den Jahren 2011/2012 wurde die Zentralbankgeldmenge als Folge der Anti-Krisenpolitik in der Tat massiv
ausgeweitet (vgl. Tabelle 1). Da das Mandat der EZB eindeutig ist, nämlich die Wahrung von Preisniveaustabilität,
definiert als Inflationsrate knapp unter 2% p.a., war es folgerichtig vor steigender Inflation zu warnen.8
Das Problem dieser Theorie ist, dass sie von der Realität widerlegt wurde. Die Inflation ist im Euroraum unter
Schwankungen um die 2%-Marke stabil geblieben (vgl.
Abbildung 1). Von Mitte 2013 bis Mitte 2014 wies sie sogar
eine klar fallende Tendenz auf. Die EZB verfehlt ihr Mandat,
Preisniveaustabilität zu gewährleisten, nicht nach oben,
sondern nach unten. EZB und Bundesbank erwarten zudem, dass sich daran bis 2016 nichts ändern wird.9
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Theorien von der Realität
verworfen werden. Dies gilt nicht nur, aber eben auch für
die Wirtschaftswissenschaften. Im konkreten Fall hat sich
die konkurrierende Theorie von Keynes10 sowie Friedman
und Schwartz11 als richtig erwiesen. Danach erzeugt in einer Finanzkrise – und genau dies war die Eurokrise – eine
Ausweitung der Zentralbankgeldmenge keine Inflation, weil
in einer Finanzkrise Haushalte, Unternehmen und Banken
mehr Zentralbankgeld, mehr Liquidität halten möchten.
Und diese zusätzliche Nachfrage entstammt nicht dem Bedürfnis, Ausgaben zu finanzieren – so wie es der deutsche
Staat zwischen 1914 und 1923 tat, als er zunächst den ersten Weltkrieg, und anschließend andere Staatsausgaben
sowie streikende Arbeiter an der Ruhr mit direkter Hilfe der
Reichsbank finanzierte –, sondern weil Zentralbankgeld als
sichere Anlageform in unsicheren Zeiten anderen Anlageformen vorgezogen wird. Eine Finanzkrise ist zum überwiegenden Teil keine Solvenz-, sondern eine Vertrauenskrise,
die sich in einer Überschussnachfrage nach Zentralbankgeld widerspiegelt.12 Deflation ist die Folge, sofern die Zentralbank nicht mit einer Ausweitung der Zentralbankgeldmenge reagiert.
EZB-Kritiker: Inflation nur aufgeschoben …
7
8
9
480
Vgl. J. Starbatty: Aus der Währungsunion wird eine Inflationsunion,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.4.2010, http://www.faz.net/
aktuell/wirtschaft/eurokrise/im-gespraech-joachim-starbatty-ausder-waehrungsunion-wird-eine-inflationsunion-1581265-p2.html; H.
Müller: Die überforderte Zentralbank – Bei der Veranstaltungsreihe
„Kölner wirtschaftspolitischer Dialog“ debattiert der Geldpolitik-Forscher Manfred Neumann mit dem Bundesbanker Jens Ulbrich über
die neue Rolle der EZB, in: Handelsblatt vom 6.11.2012, http://www.
handelsblatt.com/politik/oekonomie/nachrichten/ezb-in-der-kritikdie-ueberforderte-zentralbank/7353346.html.
Vgl. S. Homburg: Staaten sind die gefährlicheren Schuldner, in: Handelsblatt vom 18.12.2011, http://www.handelsblatt.com/finanzen/
boerse-maerkte/anlagestrategie/interview-stefan-homburg-staatensind-die-gefaehrlicheren-schuldner-seite-all/5951968-all.html.
Vgl. J. Weidmann: EZB-Maßnahmen sind „ein Weckruf“, in: BörsenZeitung vom 10.6.2014, S. 6.
Aus Sicht vieler EZB-Kritiker ist die Inflation allerdings nur
aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Denn wenn die
Finanzkrise vorbei ist, würde – so ihre Behauptung – die
EZB die Ausweitung der Zentralbankgeldmenge nicht wie-
10 Vgl. J. M. Keynes: The General Theory of Employment, Interest, and
Money, New York u.a.O. 1936.
11 Vgl. M. Friedman, A. Schwartz: Why Was Monetary Policy So Inept?,
in: M. Friedman, A. Schwartz: The Great Contraction 1929-33, Princeton 1965, S. 111-112.
12 Vgl. A. Winkler: Debatte über Griechenland verfehlt Kern von Finanzkrisen, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 5, S. 278-279.
Wirtschaftsdienst 2014 | 7
Analysen und Berichte Geldpolitik
Abbildung 1
Inflationsrate1 in der Eurozone
Abbildung 2
EZB-Bilanzsumme
%
in Mrd. Euro
4,0
3200
3,6
3000
3,2
2800
2,8
2600
2,4
2400
2,0
2200
1,6
2000
1,2
1800
0,8
1600
EZB-Definition von
Preisniveaustabilität
0,4
1400
1200
0,0
1000
-0,4
2000
2002
2004
2006
2008
2010
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2012
1
Veränderung des harmonisierten Verbraucherpreisindex gegenüber
dem Vorjahresmonat.
Quelle: FRED Blog: http://fredblog.stlouisfed.org/, Federal Reserve Bank
of St. Louis.
Quelle: EZB.
der rückgängig machen,13 weil es ihr nicht um Geldpolitik,
sondern darum geht, „noch mehr Geld nach Südeuropa zu
schicken“.14 Auch dieser Vorwurf wird von den Fakten widerlegt. Denn seit sich die Krisenangst gelegt hat – also
seit der Ankündigung des OMT-Programms im Juli 2012 –
ist die Zentralbankgeldmenge, die sich mehr oder weniger
parallel mit der Größe der EZB-Bilanz bewegt, deutlich gesunken (vgl. Abbildung 2).
Dabei musste die EZB das Geld gar nicht aktiv einsammeln, weil bei wachsendem Vertrauen die Nachfrage nach
Zentralbankgeld abnimmt. Haushalte, Unternehmen und
Banken kaufen wieder jene italienischen und spanischen
Staatsschuldtitel, leihen irischen und portugiesischen Banken wieder Geld, nachdem sie 2011/2012 Staatsschuldtitel
und Einlagen bei Banken an die EZB verkauft und gegen
Zentralbankgeld eingetauscht hatten. Die EZB-Bilanzsumme ist folglich wieder auf das Vorkrisenniveau gesunken.
Die Liquiditätsbereitstellung „wie in Kriegszeiten“15, wie es
der ehemalige Bundesbankpräsident Schlesinger 2012 formulierte, um vor Inflation zu warnen, konnte daher gar keinen Inflationseffekt haben. Vielmehr zeigt die Praxis, dass
das Problem nicht darin besteht, die Zentralbankgeldmenge zurückzufahren, sondern dass der Rückgang der Zentralbankgeldmenge von einem Rückgang der Inflationsrate
13 O. Issing: Inflation ist die unsozialste Politik, in: Die Welt vom
26.9.2012, http://www.welt.de/wirtschaft/article109459144/Inflationist-die-unsozialste-Politik.html.
14 Vgl. L. Nienhaus: Noch mehr Geld nach Südeuropa, a.a.O.
15 H. Schlesinger: EZB-Geldflut erinnert an die Kriegsfinanzierung,
in: Die Welt vom 10.3.2012, http://www.welt.de/wirtschaft/article13914302/EZB-Geldflut-erinnert-an-die-Kriegsfinanzierung.html.
ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
begleitet und damit das Ziel Preisniveaustabilität von unten
her verfehlt wird.16
… längst da …
Auch dieser Einwand kann die Kritiker nicht beruhigen,
denn die Inflation ist aus ihrer Sicht längst da, sie äußert
sich nur eben nicht in einem Anstieg der Güter-, sondern in
einem Anstieg der Vermögenspreise, also von Aktien oder
Immobilien. Diese Inflation, das ist spätestens 2007/2008
deutlich geworden, ist aber besonders gefährlich, weil sie
womöglich mit Finanzsysteminstabilität oder gar mit einer
Finanzkrise einhergeht. Zudem geht die Niedrigzinspolitik
zulasten der Sparer, die damit „enteignet“ werden, wie es
Sparkassenpräsident Fahrenschon vor der Ratssitzung
verlauten ließ.17
Diese Argumentation impliziert jedoch, dass Preisniveaustabilität – wie sie von der EZB definiert wird – nicht
mehr das primäre Ziel der EZB sein kann. Denn offensichtlich soll die EZB ihre Politik im Zweifelsfall nun an der Sicherung der Finanzsystemstabilität bzw. an einem positiven (Real-)Zins für Sparer ausrichten. Das ist nichts anderes als der Aufruf zum offenen Mandatsverstoß, der der
EZB in den vergangenen Jahren immer wieder vorgewor16 Darauf hat Hetzel bereits vor einem Jahr aufmerksam gemacht, indem er die EZB-Politik aus monetaristischer Sicht als zu restriktiv (!)
bewertete. Vgl. hierzu R. L. Hetzel: ECB Monetary Policy in the Recession: A New Keynesian (Old Monetarist) Critique, Federal Reserve
Bank of Richmond Working Paper, Nr. 13-07, 2013.
17 Vgl. o.V.: Enteignung! Sparkassen-Chef geißelt EZB-Zinspolitik, in:
Focus vom 4.6.2014, http://www.focus.de/finanzen/banken/vor-derezb-zsitzung-enteignung-sparkassen-chef-geisselt-europaeischezinspolitik_id_3895511.html.
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Analysen und Berichte Geldpolitik
Abbildung 3
Inflation im Deutschen Reich
%
1000
900
Inflationsrate (Lebenshaltungskosten)
800
700
600
500
400
Inflationsrate (Großhandelspreise)
300
immer expansiver werdende Geldpolitik zunächst von
Preisniveaustabilität begleitet, die dann plötzlich in eine
„Hyperinflation“20 umschlagen kann. Zur Unterstützung
dieser Position wird auf das deutsche Trauma der Hyperinflation 1923 verwiesen, als die Inflationsrate (gemessen
an den Lebenshaltungskosten) von 1,63% im Mai 1921 auf
über 750 000% im August 1923 anstieg. Es kann also offensichtlich ganz schnell gehen, wenn das Vertrauen in die
Stabilität des Geldes verlorengeht. Darauf hat auch Bundesbankpräsident Weidmann in mehreren Reden verwiesen.21
200
100
0
-100
1915
1916
1917
1918
1919
1920
1921
1922 1923
Quelle: C.-L. Holtfrerich: The German Inflation 1914-1923, Berlin, New
York 1986; eigene Berechnungen.
fen wurde. Es gibt zudem andere Politiken und Instrumente
als die Geldpolitik und den Zins, um Risiken für die Finanzsystemstabilität einzudämmen, z.B. die makroprudenzielle
Politik und ihr Instrumentenkasten. Sie öffnen ein weites
Feld für Vorschläge, entsprechende Risiken zu minimieren,
ohne das Primat der Preisniveaustabilität als geldpolitische
Zielgröße anzutasten.
Schließlich ist die These, dass der niedrige (Zentralbank-)
Zins eine Enteignung der Sparer darstellt, ökonomisch
nicht haltbar. Ökonomisch spiegelt er die extrem niedrige
Inflationsrate und das schwache bzw. Nullwachstum der
Realwirtschaft wider. Der Realzins kann nicht dauerhaft
größer als Null sein, wenn die (Grenz-)Produktivität des
eingesetzten Kapitals offensichtlich Null ist. Umgekehrt
drohen in dieser Situation bei einer aufkommenden Deflation Risiken für Finanzstabilität und Realwirtschaft, weil der
Realzins dann über das „natürliche Niveau“ steigt. Diese
Risiken der Deflation und des geldpolitischen Stillstands,
die von Irving Fischer bereits 1933 ausführlich thematisiert
wurden,18 werden von den EZB-Kritikern aber praktisch
nicht erwähnt.
… und wird gar zur Hyperinflation
Andere Kritiker vertreten die Ketchup-Theorie der Inflation.19 So wie immer stärkeres Drücken auf die KetchupFlasche zu einem plötzlichen Entladen des Inhalts führt
(nachdem zuvor kaum ein Tropfen herauskam), wird die
18 Vgl. I. Fischer: The Debt-Deflation Theory of Great Depressions, in:
Econometrica, 1. Jg. (1933), H. 4, S. 337-357.
19 Vgl. The Economist: The ketchup theory of inflation, 2010, http://www.
economist.com/blogs/buttonwood/2010/05/inflation_and_sovereign_debt.
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Der Hinweis auf die deutsche Hyperinflation ist richtig und
wichtig. Er zeigt nämlich, dass die Ketchup-Theorie für die
jetzige Situation völlig ungeeignet ist: Bei genauerer Betrachtung erweist sich die niedrige Inflationsrate von 1,63%
im Mai 1921 nämlich als ein absoluter Ausreißer nach unten
(vgl. Abbildung 3). Zuvor hatte es bereits über viele Monate
zweistellige Inflationsraten und eine hyperinflationsartige
Entwicklung Anfang 1920 gegeben, der eine nur kurzfristige Stabilisierung folgte. Mit anderen Worten: Der Vertrauensverlust in die Reichsmark, der 1921/22 einsetzte, wurde
von einer acht Jahre andauernden Periode hoher, zum Teil
sehr hoher Inflationsraten vorbereitet. Die Ketchup-Theorie
der Inflation wird für den Fall der deutschen Hyperinflation
1923 bestätigt, weil schon sehr viel Ketchup auf dem Teller lag, die Inflationsrate also schon sehr hoch war.22 Dies
ist aber im Euroraum nie der Fall gewesen. Zum Vergleich:
In den acht Jahren vor Beginn der Anti-Krisenpolitik, der
– mit Blick auf die Eurokrise – auf den Mai 2010 angesetzt
werden kann, lag die Inflationsrate im Euroraum im Durchschnitt bei 2,02%, und erreichte mit 4,1% im Juli 2008 ihren
absoluten Höhepunkt.
Deflation? Neue Argumente gegen die AntiKrisenpolitik
Das Ausbleiben von Inflation bzw. das immer größer werdende Risiko, dass der Euroraum in eine Deflation abgleitet, hat die Kritiker aber nicht zum Überdenken ihrer Position gebracht. Im Gegenteil: Mit der gleichen Vehemenz,
mit der in den Jahren 2010 bis 2013 Inflation vorhergesagt
wurde (vgl. Kasten 1), wird nun prognostiziert, dass die
Deflationsrisiken gering sind, so dass für die EZB trotz
einer Inflationsrate, die seit mehreren Monaten um 0,7%
20 Vgl. T. Polleit: EZB-Politik „kann in Hyperinflation enden“, in: Wirtschaftswoche vom 25.4.2012, http://www.wiwo.de/politik/europa/
thorsten-polleit-ezb-politik-kann-in-hyperinflation-enden-seiteall/6527774-all.html.
21 Vgl. z.B. J. Weidmann: Wer hat die Oberhand? Das Problem der fiskalischen Dominanz, Vortrag auf der BdF-BBk-Konferenz „Macroeconomics and Finance“ 2013, http://www.bundesbank.de/Redaktion/
DE/Reden/2013/2013_05_24_weidmann.html.
22 Abgesehen davon ist die Aussage „Drückt man auf die Ketchup-Tube,
kommt viel Ketchup raus oder auch nicht.“ nicht widerlegbar.
Wirtschaftsdienst 2014 | 7
Analysen und Berichte Geldpolitik
Kasten 1
Inflationswarnungen – ausgewählte Zitate 2010 bis 2013
22. April 2010
Jürgen Starbatty: „Ich glaube, dass die Inflationsrate stark steigen wird: über 5 Prozent. Alle Erfahrungen zeigen, dass
Länder, die hoch verschuldet sind, zur Inflation neigen.“, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/im-gespraech-joachim-starbatty-aus-der-waehrungsunion-wird-eine-inflationsunion-1581265-p2.html.
11. Mai 2010
Axel Weber: „Der Ankauf von Staatsanleihen birgt erhebliche stabilitätspolitische Risiken, und daher sehe ich diesen Teil des
Beschlusses des EZB-Rats auch in dieser außerordentlichen Situation kritisch.“, Börsen-Zeitung.
25. Mai 2011
Hans-Olaf Henkel: „Eine steigende Inflation steht vor der Haustür“, http://www.wallstreet-online.de/nachricht/3156391hans-olaf-henkel-steigende-inflation-steht-vor-der-haustuer-ehemaliger-bdi-praesident-raet-verschulden-und-eine-guteimmobilien-kaufen.
30. September 2011
Gabor Steingart: „Die westlichen Staaten [...] haben die Notenpressen angeschmissen oder technisch ausgedrückt: Sie
kaufen die Staatsanleihen ihres Staates oder befreundeter Staaten auf. Wenn am Ende dadurch die Inflation steigt, so sagen
die Notenbanken und Finanzminister unter vorgehaltener Hand, sei das die sanfteste Form der Krisenbewältigung.“, Handelsblatt, http://www.gaborsteingart.com/wp-content/uploads/_handelsblatt/20110930-interview-erhardt.pdf.
18. Dezember 2011
Ist höhere Inflation in der Zukunft unvermeidlich? Stefan Homburg: „Ja. Bisher hat die EZB Staatsanleihen angekauft und
die Geldvergabe an anderer Stelle abgeschöpft. Aber wenn Italien wackelt, könnte die EZB die dann erforderlichen Anleihekäufe kaum noch sterilisieren. Und kann sie es nicht mehr, wachsen unvermeidlich die Geldbasis, die Geldmenge und
schließlich auch die Preise. Derzeit beträgt die Inflationsrate 2,8 Prozent, liegt also deutlich über dem Zielwert von 2 Prozent.
Eigentlich müsste die EZB die Zinspolitik bereits jetzt verschärfen. Wartet sie aber, bis eine Inflation von vier oder fünf Prozent erreicht ist, ist ein Gegensteuern schwierig, weil höhere Zinsen sowohl Schuldnerstaaten als auch manche Banken in
Schwierigkeiten bringen.“, http://www.handelsblatt.com/finanzen/boerse-maerkte/anlagestrategie/interview-stefan-homburg-staaten-sind-die-gefaehrlicheren-schuldner-seite-all/5951968-all.html.
23. März 2012
Jürgen Stark: Es ist historisch erwiesen, „dass jede besonders starke Expansion der Zentralbankbilanz mittelfristig zu Inflation führt“, http://www.wiwo.de/politik/deutschland/juergen-stark-ezb-provoziert-inflation/6364540.html.
10. April 2012
„Höhere Inflation ist unvermeidlich: Die Chefvolkswirte von Deutscher Bank, Dekabank und Commerzbank sind überzeugt:
Das billige Geld der Notenbanken wird zu Inflation führen. Im Interview erklären die Ökonomen, wie sich Anleger schützen
können.“, http://www.handelsblatt.com/finanzen/boerse-maerkte/anlagestrategie/chef-oekonomen-im-interview-hoehereinflation-ist-unvermeidlich/6479948.html.
25. April 2012
Thorsten Polleit: „Die EZB ist auf Inflationskurs. [...] Sie wird versuchen, die Staatsschulden wegzuinflationieren. Das kann
leicht in Hyperinflation enden.“, http://www.wiwo.de/politik/europa/thorsten-polleit-ezb-politik-kann-in-hyperinflation-enden-seite-all/6527774-all.html.
12. Juli 2012
Holger Stelzner: „Der Fluch der Inflation. Die EZB steckt in der Falle: Erhöht sie die Zinsen, gefährdet sie die Südländer. Wenn
nicht, ist unser Geld bald weniger wert. Die EZB neigt zur Inflationierung, denn sie wird von den Südländern dominiert‘, sagt
Hans-Werner Sinn“, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/schuldenkrise-der-fluch-der-inflation-11748992.html.
10. September 2012
Jürgen Starbatty: „Es gibt langfristig nur eine Ursache von Inflation – die Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbank. Aktuelle rezessive Tendenzen mögen das noch überspielen. Aber dass daraus Inflation erwächst, ist so sicher wie das
Amen in der Kirche. Mit Münzbetrug wird Draghi den Euro nicht retten können.“, http://www.handelsblatt.com/meinung/
gastbeitraege/joachim-starbatty-mario-draghi-legt-zuschauerrolle-ab/7114332.html.
26. September 2012 Otmar Issing: „Die Gefahr der Inflation droht nicht unmittelbar. Doch ich habe meine Zweifel, dass die EZB die immense
Liquidität rechtzeitig abschöpfen wird. Wenn dies nicht gelingt, werden die Preise steigen. Ich erwarte keine Hyperinflation.
Aber schon eine Geldentwertung um vier bis fünf Prozent enteignet die Sparer und schafft soziale Probleme, weil sich etwa
Rentner nicht mehr auf ihre Alterssicherung verlassen können oder gerade die Mittelschicht über die kalte Progression höhere Steuern zahlen muss.“ http://www.welt.de/wirtschaft/article109459144/Inflation-ist-die-unsozialste-Politik.html.
11. Oktober 2012
Roland Vaubel: „Ich erwarte, dass wir in den nächsten Jahren hohe Inflationsraten von um die 5 Prozent und
mehr bekommen. Denn die Zentralbankgeldmenge im Euroraum ist seit 2010 um mehr als 50 Prozent ausgeweitet worden. Ich glaube nicht, dass die EZB das rechtzeitig wieder rückgängig machen wird.“, http://www.wsj.de/article/
SB10001424127887323894704578109294155671614.html.
6. November 2012
Manfred J. M. Neumann rechnet mit einer „schleichenden Inflation mit Raten von bis zu sechs Prozent“, http://boerse.ard.
de/anlagestrategie/konjunktur/inflation-geldentwertung-hyperinflation-sachwerte100.html.
28. Dezember 2012
Jörg Krämer: „Die EZB verspricht uns knapp zwei Prozent Inflation, mittelfristig halte ich drei bis vier Prozent für wahrscheinlicher.“ [...] „Die EZB finanziert faktisch hoch verschuldete Länder. Sie ist nahe an die Politik gerückt. Es wird ihr
schwer fallen, den Wunsch vieler Länder nach einer höheren Inflation vollständig abzuwehren.“, http://www.welt.de/finanzen/article112285258/EZB-Geldschwemme-schuert-Inflationsaengste.html.
5. Juli 2013
Jürgen Stark: „Ich rechne für Deutschland in den kommenden Jahren mit bis zu vier Prozent [Inflation].“, http://www.focus.de/finanzen/boerse/finanzkrise/tid-32171/ex-ezb-chefvolkswirt-prof-stark-im-interview-die-ezb-spricht-von-krieg-4_
aid_1033038.html.
31. Juli 2013
Gabor Steingart: „Die Inflationsgefahr ist real.“, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/handelsblatt-vorstand-gabor-steingart-im-gespraech-die-algorithmischen-armleuchter-12312467-p5.html.
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Analysen und Berichte Geldpolitik
schwankt, kein Handlungsbedarf besteht. Die EZB hätte
vielmehr durch die Periode niedriger Inflation „hindurchschauen“ sollen.23 Übersehen wird dabei, dass Ende 2010/
Mitte 2011, als die Inflationsrate kurzfristig auf bis zu 3%
stieg, niemand für ein „Hindurchschauen“ durch die höhere Inflation plädierte. Vielmehr wurde die EZB aufgefordert
zu handeln, was sie auch tat und den Leitzins zweimal erhöhte.24
Ein weiteres Argument, das gegen die neue Phase der
Anti-Krisenpolitik der EZB angeführt wird, lautet, dass die
Geldpolitik wirkungslos und überfordert sei, d.h. die niedrige Inflationsrate gar nicht bekämpfen kann.25 Würde man
dieses Argument ernst nehmen, wäre die theoretische
Grundlage für die seit 40 Jahren praktizierte Rollenverteilung in der Makropolitik sowie für die Unabhängigkeit einer
Zentralbank entfallen, weil sie gerade darin besteht, dass
Geldpolitik auf die mittlere und längere Frist nichts anderes
kann als Preisniveaustabilität zu sichern.26 Bis vor kurzem,
also bis sich Deflationsgefahren im Euroraum abzeichneten, war dies auch die gemeinsame Position von Kritikern
und Befürwortern der Anti-Krisenpolitik der EZB. Richtig
ist: Unter den derzeitigen Bedingungen fällt es der Geldpolitik schwerer als vor 2008, ihr Ziel zu erreichen, weil
der monetäre Transmissionsmechanismus nur unter Einschränkungen funktioniert.27 Aus der Tatsache, dass die
Zielerreichung schwierig ist, kann jedoch nicht der Schluss
gezogen werden, diese einzustellen. Im Gegenteil: gerade
wenn es schwer ist, muss die Geldpolitik klarstellen, dass
sie ihr Ziel erreichen kann und will, um ihre Glaubwürdigkeit
zu sichern. Dies gilt für das derzeitige deflationäre Umfeld
23 Vgl. J. Stark, a.a.O.
24 Die Asymmetrie lässt sich am Beispiel von Wittkowski illustrieren. Zu Beginn des Jahres 2011, also bei einer Inflationsrate von 2,3%, sprach er
sich für Zinserhöhungen aus. Am 10.6.2014, also bei einer Inflationsrate
von 0,5%, warf er der EZB vor, „hysterisch“ ein Deflationsgespenst zu jagen. Vgl. hierzu B. Wittkowski: Kalte Enteignung, in: Börsen-Zeitung vom
28.1.2011, http://www.presseportal.de/pm/30377/1756133/boersen-zeitung-kalte-enteignung-kommentar-von-bernd-wittkowski-zum-anstiegder-deutschen-teuerung; ders.: Der wertlose Euro, a.a.O.
25 Viele EZB-Kritiker beziehen dieses Argument allerdings auf Ziele, die
die EZB ihrer Meinung nach „in Wirklichkeit“ anstrebt, also die Konjunktur bzw. Kreditvergabe in Südeuropa anzuregen oder die „Eurokrise“ zu bekämpfen. Sie negieren also, dass die EZB ihr Preisniveaustabilitätsziel seit praktisch einem Jahr nach unten verfehlt, und
definieren eine Inflationsrate von 0,7% als Preisniveaustabilität. Vgl.
hiezu J. Stark, a.a.O.
26 Vgl. M. Goodfriend: How the World Achieved Consensus on Monetary Policy, in: Journal of Economic Perspectives, 21. Jg. (2007), H. 4,
S. 47-68.
27 Interessant ist, dass dieses Argument gerade von den EZB-Kritikern
verwandt wird, um geldpolitischen Stillstand zu rechtfertigen. Dabei
waren es gerade EZB-kritische Stimmen, die in den letzten Jahren
nahezu jede Maßnahme, wie z.B. das OMT-Programm, abgelehnt hatten, die das Ziel verfolgte, einen effektiven Transmissionsmechanismus zu erhalten.
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ebenso wie es in den inflationären 1970er und 1980er Jahren gegolten hat.28
Geldpolitischer Diskurs und europapolitische Debatte
Empirie und Theorie liefern demnach eine Reihe von Gründen, den EZB-Kritikern vehement zu widersprechen. Warum findet dieser Widerspruch in der öffentlichen Debatte
so selten statt?29 Warum werden nicht folgende Fragen
gestellt: Seit Jahren wird vor Inflation gewarnt, warum ist
sie nicht eingetreten? Welche der Annahmen, die dazu
führten, Inflation zu prognostizieren, hat sich als nicht richtig herausgestellt? Und welche Implikation hat dies für die
Einschätzung des derzeitigen geldpolitischen Kurses? Ein
Grund mag darin liegen, dass Herausgeber, Chefredakteure und Journalisten, gerade aus Zeitungen und Zeitschriften, die als besonders „wirtschaftskompetent“ eingestuft
werden, seit Jahren ebenfalls Inflation vorhersagen bzw.
der EZB vorwerfen, gegen ihr Mandat zu verstoßen. Dabei
argumentieren sie oft auf der gleichen theoretischen Basis,
die Inflation als praktisch unausweichlich ansieht. Ähnlich
lässt sich für den Leserkreis formulieren: Die These, dass
„mehr Geld“ immer zu „höherer Inflation“ führt, ist nicht nur
theoriegerecht, sondern entspricht auch dem gesunden
Menschenverstand, also dem, was die Leser „glauben“.
Deshalb gibt es wenig Anlass, andere oder sich selbst zu
hinterfragen, und damit einen ersten Schritt zu tun, die Diskussion ausgewogener zu gestalten, obwohl die seit Jahren beobachtbaren Fakten zeigen, dass diese These nicht
richtig ist.30
Aber ist das denn so wichtig, dass die geldpolitische Diskussion in Deutschland so einseitig verläuft? Ist das nicht
eine Diskussion unter geldpolitischen Fachleuten, die
sonst niemand interessiert und daher keine weiteren Auswirkungen hat? Dies wäre vielleicht der Fall, wenn es weiterhin eine nationale Geldpolitik gäbe, also die D-Mark mit
der Bundesbank als geldpolitischer Instanz. Die Geldpolitik
ist aber europäisch. Und damit wird der geldtheoretische
Diskurs zum Politikum, weil oft suggeriert wird, dass diese
geldpolitische Debatte nur geführt werden muss, weil der
Euro eingeführt wurde. Wenn es noch die D-Mark und eine
Geldpolitik der Bundesbank gäbe, wäre Geldpolitik noch
Geldpolitik. Es war nicht nur, aber eben auch diese The-
28 Vgl. C. D. Romer, D. Romer: The Most Dangerous Idea in Federal Reserve History: Monetary Policy Doesn’t Matter, in: American Economic Review, 103. Jg. (2013), H. 3, S. 55-60.
29 Es gibt Ausnahmen: Vgl. z.B. G. Braunberger: Leben deutsche Ökonomen auf einem fernen Planeten? Über den Zusammenhang von
Geldbasis und Inflation, 2012, http://blogs.faz.net/fazit/2012/09/13/
leben-deutsche-oekonomen-auf-einem-anderen-planeten-558/
comment-page-2/#comments; M. Schieritz: Die Inflationslüge, München 2013.
30 Vgl. M. Gentzkow, J. M. Shapiro: Media Bias and Reputation, in: Journal of Political Economy, 114. Jg. (2006), H. 2, S. 280-316.
Wirtschaftsdienst 2014 | 7
Analysen und Berichte Geldpolitik
se, die zur Geburt der „Ökonomenpartei“31 „Alternative für
Deutschland“ beigetragen und ihr bei der Europawahl 7%
der Stimmen eingebracht hat: „Solide Währung statt EuroSchuldenwahn“ hatte sie unter anderem plakatiert.
Anti-Krisenpolitik der EZB im internationalen
Vergleich
Der Vorwurf, der geldpolitische Kurs der vergangenen Jahre sei eine Konsequenz der Währungsunion, lässt sich jedoch ebenso leicht widerlegen wie der Vorwurf, die EZB
würde nicht ihrem Mandat nachkommen. Die USA, Großbritannien, Japan, die Schweiz und Dänemark sind keine
Mitglieder des Euroraums, haben also ihre nationalen Währungen. Trotzdem sind sie von der gleichen geldpolitischen
Situation und der gleichen geldpolitischen Debatte wie im
Euroraum betroffen. Auch dort stellte die Geldpolitik Liquidität in bisher unbekanntem Ausmaß zur Verfügung. Auch
dort hat diese „Liquiditätsflut“ nicht zur Inflation geführt,
obwohl dies auch dort von geldpolitischen Kritikern behauptet wurde. Auch dort sind die Zinsen seit vielen Jahren
bei Null und in realer Rechnung negativ, so dass die Sparer
scheinbar „enteignet“ werden. Auch dort kauften und kaufen Zentralbanken in massiver Weise Staatsschuldtitel, ja
in viel stärkerem Maße als im Euroraum, bei gleichzeitiger
Debatte darüber, wie wirkungsvoll dieses Instrument ist,
um Deflation zu verhindern.
Dieses Unisono der geldpolitischen Ausrichtung und der
Debatte darüber wird von den EZB-Kritikern durchaus erwähnt. So kann es auch kaum einen Zweifel darüber geben, dass sie die Anti-Krisenpolitik der Fed oder der Bank
of England ebenso ablehnen wie die der EZB. Dies bedeutet aber, dass die europäische Geldpolitik und die Debatte
über den richtigen geldpolitischen Kurs keine europäische
Besonderheit, sondern die globale Regel darstellen. Wenn
dem aber so ist, können die Ursachen für die Anti-Krisenpolitik der EZB nicht im Euro per se, in der „Eurokrise“ oder
im wirtschaftspolitischen Fehlverhalten der Euro-Krisenländer liegen. Denn die USA und Großbritannien haben keine „Krisenstaaten“, die die Geldpolitik angeblich nötigen,
ihnen Kredit zu geben. Und weder die Fed noch die Bank
of England betreiben ihre Politik, um den „Anreiz für Reformen“ schwächen zu wollen. Sofern man ihnen vorwerfen
mag, ihr Mandat ebenfalls zu verletzen, diese Argumente
können dafür nicht verantwortlich sein.32
31 Vgl. U. van Suntum: Was will die Ökonomenpartei AfD?, Video vom
5.9.2013, http://www.youtube.com/watch?v=M0Ok4EHvbXU.
32 Umgekehrt empfehlen US-Geldpolitiker den Europäern zur Abwendung von Deflationsrisiken die gleichen Maßnahmen, die sie beschlossen haben, vgl. z.B. J. Bullard: Monetary Policy in a Low Policy
Rate Environment, OMFIF Golden Series Lecture, London, 23.5.2013,
http://research.stlouisfed.org/econ/bullard/pdf/Bullard_OMFIF_GoldenSeriesLecture23May2013Final.pdf.
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Dennoch: Man kann behaupten, die Bundesbank hätte eine ganz andere Politik gestaltet, wenn es die D-Mark
noch gäbe. Das mag sein. Aber alles spricht dafür, dass
sie dies nur um den Preis einer Aufgabe des Ziels Preisniveaustabilität, also von Deflation in Deutschland, hätte tun
können. Denn die Fed, die Bank of England und die Bank
of Japan haben Staatsschuldtitel des eigenen Landes (die
Schweizer Nationalbank über den massiven Ankauf von
Währungsreserven die Staatsschuldtitel anderer Länder)
nicht gekauft, um die Refinanzierungskosten der jeweiligen Finanzminister zu drücken, sondern um ihrem Mandat
Preisniveaustabilität erfolgreich nachzukommen. Auch die
dänische Notenbank hat negative Einlagenzinsen nicht
beschlossen, um Banken und Sparer zu strafen, sondern
um ein geldpolitisches Ziel – hier: einen festen Wechselkurs – zu erreichen, also ihrem Mandat gerecht zu werden.
Vorausgesetzt, die Bundesbank hätte sich an ihr Mandat
gehalten, und daran kann es keinen vernünftigen Zweifel
geben: Sie hätte in den letzten Jahren ebenfalls das Zinsniveau auf praktisch Null geführt und unkonventionelle Maßnahmen beschlossen.
Die Besonderheit der Eurozone besteht darin, dass sich
hier Staaten zu einer Währungsunion zusammengetan
haben, die diese Anti-Krisenpolitik gemeinsam gestalten
und vertreten müssen. Jede Form der Anti-Krisenpolitik
weist jedoch Haftungs- und Verteilungsrisiken auf, die in
„normalen Zeiten“ zumindest in dieser Form und Dimension nicht auftreten.33 Aufgrund der Konstruktion der Währungsunion aus verschiedenen Staaten werden diese in
Europa offensichtlich und in durchaus nachvollziehbarer
Weise anders bewertet als dies in einem nationalen Rahmen der Fall ist, weil sie nun zu Umverteilungen von Risiken
und – im Extremfall, z.B. dem Austritt eines Staates aus der
Währungsunion – zur Umverteilung von Kosten zwischen
den Staaten führen können. Dies lässt sich am Beispiel der
Target-Salden verdeutlichen, die als Krisensymptom unweigerlich auftreten, sofern
1. Zentralbanken dezentral strukturiert sind und entsprechend auch den Zahlungsverkehr zwischen Banken dezentral gestalten,
2. die Krise asymmetrisch, d.h. in einigen Regionen stärker
und in anderen schwächer bzw. gar nicht zu spüren ist,
33 Wie Hellwig betont, hat Geldpolitik aber immer, also auch in „normalen Zeiten“, Verteilungswirkungen. Vgl. hierzu M. Hellwig: Governments, Banks, and Monetary Policy in the Crisis, DIW Berlin, September 2013, http://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/
diw_01.c.426879.de/hellwig_omt_konferenz_2013.ppt.
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Analysen und Berichte Geldpolitik
3. die Zentralbank eine Vollzuteilungspolitik verfolgt.34
In allen funktionierenden Währungsunionen, auch solchen
mit einem Nationalstaat, wie z.B. den USA, werden diese
Risiken gesamtstaatlich abgefangen, d.h. die Regionen mit
einem Kapitalabfluss und entsprechenden Defiziten in den
Target-Salden bzw. ihrem jeweiligen Äquivalent müssen
diese Salden nur über Umbuchungen, aber nicht de facto
ausgleichen, auch wenn Sinn das Gegenteil behauptet.35
Im Falle der USA war dies gerade die Voraussetzung für
die Überwindung von Finanzkrisen, wie sie vor Gründung
der Fed 1913 regelmäßig auftraten, und die Herstellung
eines einheitlichen Zahlungsraumes.36 Für die US-Bürger
in den Überschussregionen ist dies kein Problem, weil sie
sich eben als US-Bürger und nicht als Bürger des Federal
Reserve Districts New York empfinden. So wären für die
Bundesbürger in der globalen Finanzkrise selbst dann Haftungsrisiken entstanden, die denen aus den EurosystemTarget-Salden ähneln, wenn es die D-Mark noch gegeben
hätte.37 Denn als z.B. die Hypo Real Estate in Schieflage
geriet, stellte ihr die Bundesbank Liquidität in erheblichem
Umfang zur Verfügung, ohne dass es dafür einen entsprechenden Parlamentsbeschluss gab.
Dass die Anti-Krisenpolitik der EZB internationalen Standards folgt, heißt nicht, dass man nicht gegen den Euro
sein kann. Man kann durchaus die Haftungsrisiken und
Verteilungswirkungen, die durch die Anti-Krisenpolitik in
Europa entstanden sind, ablehnen, sei es, weil man diese
beim Abschluss des Maastrichter Vertrages nicht gesehen
hat oder weil man schon damals davor warnte, aber nicht
34 Vgl. P. Cour-Thimann: Target Balances and the Crisis in the Euro Area,
in: CESifo Forum, Special Issue, 4/13, http://www.cesifo-group.de/
de/ifoHome/publications/journals/CESifo-Forum.html.
35 Vgl. H.-W. Sinn: Die Target-Falle, München 2012.
36 Vgl. J. A. James, J. McAndrews, D. Weimann, F. Weimann: Banking
Panics, the ‘Derangement’ of the Domestic Exchanges, and the Origins of Central Banking in the United States, 1893 to 1914. Paper
presented at the Workshop on Monetary and Financial History, Atlanta, 24.-27.6.2013, http://www.frbatlanta.org/documents/news/
conferences/13monetary_financial_history/James-McAndrews-Weiman.pdf; B. Eichengreen, A. J. Mehl, L. Chitu, G. Richardson: Mutual
Assistance between Federal Reserve Banks, 1913-1960 as Prolegomena to the TARGET2 Debate, NBER Working Paper #20267, Cambridge MA 2014.
37 Vgl. A. Winkler: Der lender of last resort vor Gericht, Frankfurt School
Working paper, Nr. 206, 2013, http://www.frankfurt-school.de/clicnetclm/fileDownload.do?goid=000000561660AB4.
gehört wurde. Man kann auch der Meinung sein, dass der
Euro ökonomisch von Nachteil ist, weil er ein Anpassungsinstrument, den Wechselkurs, abschafft, das in Europa
offensichtlich weiter gebraucht wird. Aber angesichts der
Tatsache, dass die EZB-Anti-Krisenpolitik in ihrer Grundausrichtung mit jener anderer westlicher Zentralbanken
übereinstimmt, ist zwischen Pro und Contra Euro und Pro
und Contra Anti-Krisenpolitik der EZB strikt zu unterscheiden. Denn nur weil die EZB Geldpolitik unter den gegebenen europäischen Bedingungen durchführt, handelt es
sich noch lange nicht um Klientel-, sondern immer noch
um Geldpolitik.
Fazit
Ein abschließendes Wort zur Inflation: Es wäre falsch, diese Ausführungen dahingehend zu interpretieren, die EZB
würde schon immer richtig liegen, so dass die Inflationsgefahr quasi automatisch gebannt ist. Das ist nicht der Fall.
Es kann immer zu geldpolitischen Fehlentscheidungen
kommen, die die Inflation in der mittleren Frist über die Zielmarke von 2% drücken. Dazu kann – im Nachhinein – auch
die Entscheidung zählen, die am 5. Juni 2014 getroffen
wurde. Dann wird genauso kritisch zu überprüfen sein wie
heute, ob die EZB alle ihre Mittel einsetzt, um die Inflation
wieder zurückzuführen. Technisch ist sie dazu jederzeit in
der Lage, z.B. über Zinserhöhungen oder eine Anhebung
des Mindestreservesatzes.
Falls sie die Instrumente nicht einsetzt, liegt es also am
geldpolitischen Willen. In den 15 Jahren ihres Bestehens
hat die EZB aber gezeigt, dass sie diesen Willen hat: Die
durchschnittliche Inflationsrate liegt bei 1,99%, also genau
beim Zielwert. Es bleibt natürlich jedem unbenommen zu
glauben, dass dies in der Zukunft nicht mehr der Fall sein
wird. Angesichts der kritischen Haltung gegenüber der
Anti-Krisenpolitik der EZB ist es auch nicht verwunderlich, wenn immer mehr Mitbürger dies glauben. Allerdings:
Diese Kritik beruht zu großen Teilen darauf, dass eine spezielle Geldtheorie falsch angewendet wurde. Deshalb hat
die einseitige geldpolitische Diskussion – selbst wenn dies
nicht so gewollt ist – Wirkungen, die über den geldtheoretischen Kern weit hinausgehen: Sie zerstört das Vertrauen in
die europäische Institution EZB und damit in ein Herzstück
der europäischen Integration.
Title: The Subject of Relentless Criticism: How a Wrongly Applied Monetary Theory Undermines Confidence in the ECB
Abstract: Abstract: The ECB’s decision in favour of additional unconventional monetary policy measures has been severely criticised
by German economists, experts and the media. This is consistent with the relentless criticism that the ECB has been subject to over
recent years, even though the facts clearly show that the ECB has been living up to its mandate. The prevalence reflects adherence to a
monetary theory that is wrongly applied. The collateral damage of this misapplication is huge as the permanent and unjustified criticism
undermines confidence in the ECB and hence a key element of European integration.
JEL Classification: E51, E52, E58
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Wirtschaftsdienst 2014 | 7