Jugendsprache - ISK

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Jugendsprache - ISK
Jugendsprache
Ein Indiz für Sprach- und Kulturverfall?
Lehr- und Forschungsgebiet Germanistische Sprachwissenschaft
Alexander Keus/Andreas Corr
GS
Sprachkritik und Sprachwissenschaft
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„Sprachkritik als Teil der öffentlichen
Sprachdiskussion auf der einen Seite und
linguistisch-fachwissenschaftliche Sprachforschung
auf der anderen sind zwei deutlich getrennte
Bereiche des Nachdenkens über Sprache, in denen
unterschiedliche Personengruppen auf
unterschiedlichen Foren sich der gleichen Sache mit
unterschiedlichen Fragen, Methoden und Zielen
zuwenden.“ (Dieckmann 2012: 43)
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Was ist populäre Sprachkritik?
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Einige Kennzeichen populärer bzw. laienlinguistischer
Sprachkritik sind (vgl. Griesbach 2006: 45ff.):
• Subjektive Ausrichtung, zumeist ohne empirische Belege
• Missachtung linguistischer Erkenntnisse zu Struktur und
Wandel der Sprache
• Normative Ausrichtung mit oftmals eindeutigen richtigfalsch-Urteilen
• Die Angst vor Sprachverfall und entsprechend die
Sprachpflege als Ziel
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Was ist populäre Sprachkritik?
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U.a. die folgenden Themen werden im Rahmen
populärer Sprachkritik immer wieder angeschnitten:
Anglizismengebrauch, Jugendsprache,
Rechtschreibung, grammatische Kompetenz,
computervermittelte Kommunikation, die Sprache
der Medien, Minderheitensprachen, die Rolle des
Deutschen in der internationalen Politik, uvm.
(vgl. Spitzmüller 2007; vgl. ebenso: Schneider 2007)
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Die Angst vor Sprachverfall
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„Mittelgroße Katastrophe: Eine Million sprachloser Jugendlicher
Ein alltägliches Ausnahmeerlebnis: Dönerbude oder
Kassenschlange im Supermarkt. Deutsche, türkische und aus
Rußland stammende Jugendliche reden miteinander. Ihr
gesprochenes Deutsch ist fehlerhaft. Grammatik, Lexik und
Aussprache weichen ganz erheblich von den anerkannten
Regeln ab. Zunächst möchte der Zuhörer gern glauben, Zeuge
einer sprachlichen Spielerei zu sein, doch lässt sich diese Illusion
nur kurze Zeit aufrechterhalten. Nach einigen Minuten ist die
Erkenntnis nicht mehr zu unterdrücken: Diese jungen Menschen
können kein Deutsch.“ (In: VDS Sprachnachrichten 1/2008, S. 1;
zitiert nach Neuland/Volmert 2009: 53)
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Die Angst vor Sprachverfall
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„Jugendsprache an sich ist ja etwas Erfrischendes
und Gutes. Weil sie entkrampft, weil sie Protest
ausdrücken kann, vor allem weil sie spielerischer
und sinnlicher ist als der oft abstrakte Nominalstil
wichtiger Erwachsener, die gerne etwas ‚unter
Beweis stellen‘ oder ‚Einfluss nehmen‘.
Aber vieles verrät auch eine fortschreitende
Infantilisierung des Sprechens in Richtung
‚prasseldumm‘, da nähert sich das ‚affengeile‘
Frischebad der puren ‚Top‘- und ‚Hot‘-Verblödung.“
(Schreiber 2006: 183)
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Jugendsprache: Symptom für Sprachverfall?
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Jugendsprache ist also ein Objekt der öffentlichen
Sprachkritik und wurde/wird vielfach als Symptom
für den Sprachverfall betrachtet.
„Jugendsprache war bereits ein Thema der
öffentlichen, medial vermittelten Diskussion, noch
bevor sie zum Gegenstand der
sprachwissenschaftlichen Diskussion wurde, die in
den 80er-Jahren einsetzte.“ (Neuland/Volmert
2009: 53)
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Jugendsprache: Symptom für Sprachverfall?
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Als Brennpunkte der aktuellen Kritik an der
Jugendsprache sind zu nennen:
•
•
•
•
•
„Fäkalsprache“
„Comicsprache“
„Denglisch“
„Kanaksprache“
„Verständigungsbarriere“
(vgl. Neuland/Volmert 2009: 53)
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Was ist Jugendsprache? Der Begriff
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Was ist „Jugendsprache“?
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Was ist Jugendsprache? Der Begriff
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Ist „Jugendsprache“ wirklich
DIE Sprache DER Jugend?
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Was ist Jugendsprache? Der Begriff
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Jugendsprache = Mythos
1. Es gibt nicht die (eine) Jugendsprache.
2. Es gibt nicht die Jugendsprache (im Gegensatz
zur Erwachsenensprache).
3. Es gibt nicht die Jugendsprache, sondern das
Sprechen von Jugendlichen.
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Was ist Jugendsprache? Der Begriff
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„Die ‚Jugendsprache‘ ist eine vor allem in der
mündlichen Rede manifeste Varietät (Sprechweise,
verbaler Stil) des Deutschen. In geringem Maße
kann sie auch in schriftlichen Texten (z.B. Briefen)
vorkommen, wenn sie authentisch zwischen
Jugendlichen ausgetauscht werden; häufig wird sie
heute in der Werbesprache kopiert. [...] Hier
handelt es sich um simulierte, nicht authentische
Vorkommen.“ (Dittmar/Bahlo 2008: 264)
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Was ist Jugendsprache? Der Begriff
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„Anders als dialektale [...] Varietäten, die langfristig
und meist generationenübergreifend an
landschaftliche Räume [...] gebunden sind, ist die
Jugendsprache (oder der Juventulekt) eine
generationsspezifische Übergangsvarietät, die den
biologisch bedingten Aufbruch der Jugendlichen
zum Erwachsenenstatuts in der Suche nach
individueller und sozialer Identität in der
Altersspanne zwischen 10 und 30 sprachlich und
kommunikativ zum Ausdruck bringt.“
(Dittmar/Bahlo 2008: 265)
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Was ist Jugendsprache? Der Begriff
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Die (überregionalen) Gemeinsamkeiten des
jugendsprachlichen Reportoires bezeichnet
Androutsopoulos als „[…] sekundäre Varietät [...], die in der
sekundären Sozialisation erworben, in der alltäglichen
informellen Kommunikation im sozialen Alter der Jugend
habituell verwendet und als solche identifiziert wird. Sie
wird auf Basis einer areal und sozial verschiedenen
Primärvarietät realisiert und besteht aus einer
Konfiguration aus morphosyntaktischen, lexikalischen und
pragmatischen Merkmalen.“ (Androutsopoulos 1998a: 592)
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Methoden der Jugendsprachforschung
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Wie kann man die Sprechweisen Jugendlicher untersuchen?
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Methoden der Jugendsprachforschung
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Methoden der Jugendsprachforschung
(vgl. Neuland 2008: 47-50)
• Fragebogenmethoden
• Interviews und gelenkte Gespräche
• Teilnehmende Beobachtung und Korpusanalysen
Welche Vor- bzw. Nachteile bringen die
verschiedenen Ansätze mit sich?
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Was ist Jugendsprache? Merkmale
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Was sind Merkmale jugendsprachlicher Sprechweisen?
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Was ist Jugendsprache? Eigenschaften
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Gruppen- und Situationsübergreifende Kennzeichen der
jugendlichen Sprechstile:
•
•
•
•
Kreativität
Spontanität
Direktheit
Flexibilität
Jugendliche selbst sehen ihren Sprechstil nicht als Abgrenzung
zu den Erwachsenen an, sondern eher als Freiraum für
sprachliche Innovation und den lockeren Sprachgebrauch. (vgl.
Augstein 1998)
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Was ist Jugendsprache? Eigenschaften
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Eine Besonderheit der sekundären Varietät Jugendsprache:
Das Prinzip der Unabgeschlossenheit
„Die Entwicklung [der Jugendsprache] richtet sich auf die
Übernahme der Erwachsenensprache, die jedoch durch
identitätsstiftendes Experimentieren gleichzeitig
unterschwellig verändert wird.“ (Androutsopoulos 1998a:
592f.)
 Paradoxon
lexikalische Beispiele
geil (<macht Spaß>)
krank (<nicht in Ordnung>)
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Was ist Jugendsprache? Eigenschaften
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Beispiel A: Wertadjektive
„Mit ihnen können die Jugendlichen ihre Gefühlslage offenbar
angemessen ausdrücken.“ (Dittmar/Bahlo 2008: 265)
• Modewörter: abgespaced, chillig, stressig, nervig, gefrustet,
gedisst, krass, hammermäßig, saumäßig, megamäßig (Suffix
‚mäßig‘)
• Metaphern: ätzend, giftig
Wertadjektive finden sich an unterschiedlichen syntaktischen
Positionen im Satz:
• adverbial: Nun bleibt mal chillig.
• prädikativ: Die Karre ist aber voll geil.
• attributiv: Das volle Ruhrpottfeeling.
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Was ist Jugendsprache? Eigenschaften
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Beispiel B: Bricolage (franz. ‚basteln‘)
= spielerische Bastelei mit verschiedenen Sprechstilen
Die Jugendlichen verknüpfen, insbesondere wenn sie untereinander
in einer engeren Beziehung stehen (Peer-group), verschiedene
Sprechstile. Dabei greifen sie auf unterschiedliche kulturelle
Ressourcen zurück (Filme, Serien, Werbung, Musik, Sport) und
bringen diese verändert in die Kommunikation ein. (vgl. Schlobinski
1993: 112)
 verfremdete Zitation: De- und Rekontextualisierung
(vgl. Neuland 1987: 68f.)
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Diskussion
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Macht die Jugend unsere Sprache
kaputt?
Ist die deutsche Sprache tatsächlich vom
Aussterben bedroht?
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Fazit: Jugendsprache und Sprachverfall/-wandel
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„[Linguistische] Untersuchungen zum Thema
Jugendsprache [...] stimmen generell darin überein,
dass sich der Sprachgebrauch im sozialen Alter der
Jugend von dem Sprachgebrauch anderer
Altersgruppen sowie von der Standardvarietät der
jeweiligen Einzelsprache in der einen oder anderen
Weise unterscheidet.“ (Androutsopoulos 1998b: 1)
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Fazit: Jugendsprache und Sprachverfall/-wandel
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„Aus sprachwissenschaftlicher Sicht gibt es für diese
Vermutungen, dass jugendlicher Sprachgebrauch v.
a. zu den Verursachern gehört, keine gesicherten
Befunde. [...] Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass in
einer Gesellschaft, dessen Wertesystem durch einen
Prestigefaktor ‚Jugendlichkeit‘ geprägt ist, vielerorts
Impulse aus jugendkulturellen Sprechregistern und
Kommunikationsformen aufgenommen werden.“
(vgl. Neuland/Volmert 2009: 60)
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Literatur
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Androutsopoulos, Jannis (1998a): Deutsche Jugendsprache. Frankfurt.
Androutsopoulos, Jannis (1998b): Forschungsperspektiven auf Jugendsprache: ein integrativer Überblick. In: Jugendsprache –
langue des jeunes – youth language. Soziolinguistische und linguistische Perspektiven. Hrsg. von Jannis Androutsopoulos
und Arno Scholz. Frankfurt, S.1-34.
Augstein, Susanne (1998): Funktionen von Jugendsprache. Tübingen.
Dieckmann, Walther (2012): Wege und Abwege der Sprachkritik. Bremen.
Dittmar, Norbert/Bahlo, Nils (2008): Jugendsprache. In: Die Sprache Deutsch. Hrsg. von Heidemarie Anderlik und Katja Kaiser
(Deutsches Historisches Museum). Dresden, S.264-268.
Griesbach, Thorsten (2006): Unwort und laienlinguistische Wortkritik. Zur Erforschung des sprachkritischen Denkens in
Deutschland. Aachen.
Neuland, Eva (1987): Spiegelungen und Gegenspiegelungen. Anregungen für eine zukünftige Jugendsprachforschung. In:
Zeitschrift für Germanistische Linguistik 15, S.58-82.
Neuland, Eva (2008): Jugendsprache. Eine Einführung. Tübingen, Basel.
Neuland, Eva/Volmert, Johannes (2009): ächz – würg – grins: Sprechen Jugendliche eine andere Sprache? In: Der
Deutschunterricht 5, S.53-61.
Meinunger, André (2008): Sick of Sick. Ein Streifzug durch die Sprache als Antwort auf den »Zwiebelfisch«. Berlin.
Schlobinski, Peter/Kohl, Gaby/Ludwigt, Irmgard (1993): Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit. Opladen.
Schlobinski, Peter (2002): Jugendsprache und Jugendkultur. In: Politik und Zeitgeschichte B5, S.14-19.
Schneider, Jan Georg (2007): Sprache als kranker Organismus – Linguistische Anmerkungen zum Spiegel-Titel "Rettet dem
Deutsch!". In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 3/1, S.1-23.
Schreiber, Mathias (2006): Deutsch for sale. In: Der Spiegel 40, S.182-198.
Spitzmüller, Jürgen (2007): Sprache und Identität. Warum die Anglizismen die Gemüter erhitzen. In: Muttersprache 3, S.185-198.
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