50 Jahre Jugendsprache - jannis androutsopoulos

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50 Jahre Jugendsprache - jannis androutsopoulos
JUMA 3/99 IM UNTERRICHT
Ergänzender Text zu den JUMA-Seiten 13–36
50 Jahre Jugendsprache
Sprachwissenschaftler Jannis K. Androutsopoulos über
Jugendsprache in Deutschland von den Anfängen bis heute
Identität durch Sprache
Jugendsprache, wie wir sie
kennen, entsteht in Deutschland
und international seit den 50-er
Jahren dieses Jahrhunderts.
Auch vorher gab es jugendliche
Sprechweisen wie historische
Studentensprachen im 17., 18.
und 19. Jahrhundert oder
„Pennälersprachen“ (Schülersprachen) am Anfang des
20. Jahrhunderts. Diese Vorformen der Jugendsprache benutzten jedoch nur kleine Gruppen von Jugendlichen.
Seit den 50-er Jahren bilden sich
hingegen umfassende Jugendkulturen mit ihren eigenen
Sprachschöpfungen.
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„Halbstarken-Chinesisch“ nennen die Erwachsenen in den
50-er Jahren den Sprach-Code
In dem Schuppen
kann man sicher gut
hotten!
50-er Jahre
Foto: Dieter Klein
Jugendspezifische
Ausdrücke aus den
letzten 5 Jahrzehnten: Einige davon
– die kursiv
gedruckten –
haben überlebt
und sind zu
„Dauerbrennern“
der Jugend- oder
Umgangssprache
geworden.
Die Medien verbreiten sie über
die jeweiligen Musikstile international. Die Rock’n’Roller der
50-er, Beatniks und Hippies der
60-er, Rocker und Punks in den
70-er Jahren und später die
Popper, Raver und Hip-Hopper
nutzen ihre eigenen Ausdrucksformen und Sprechweisen als
Zeichen einer Identität, mit der
sie sich von der Elterngeneration
abheben.
der Typ (junger Mann)
der Fan (Liebhaber, Anhänger)
der Schuppen
(Tanzlokal, Partykeller)
sich schaffen
(sich in etwas hineinsteigern)
hotten (tanzen, feiern)
gammeln (nichts tun)
Hallo, Mann! (Begrüßung)
super (sehr gut)
irr/irre (sehr gut)
der Hammer (unübertroffen)
der Jazz- und Rock’n’Roll-Generation. Sie bezeichnet wildes
Tanzen als „hotten“.
In späteren Jahrzehnten später
sagen Jugendliche „pogen“ oder
„abraven“ dazu.
Neue Ausdrücke
für das Land
Ein Kennzeichen jugendlicher
Sprechweisen: Es werden neue
Ausdrücke für bekannte Dinge
kreiert, z.B. für hübsche oder
hässliche Frauen und Männer,
für Freude und Erstaunen, für
Kleidung, Geld und Autos.
„Den Hof machen“ heißt in den
50-er und 60-er Jahren „ankratzen“ oder „sülzen“, später
„anmachen“ und „anbaggern“.
60-er Jahre
der Zahn (junge Frau)
die Biene (junge Frau)
die Röhren (Blue Jeans)
auf Anschaffe gehen (flirten)
die Bediene (gute Sache)
die Verlade (Misserfolg)
tschau /ciao (Verabschiedung)
in/out (angesagt/passé)
bedient (gut, grossartig)
steil (gut aussehend, elegant)
Beliebte Ausdrücke für „gut“ oder
„prima“ sind in den 50-er Jahren
„pfundig“, „wuchtig“, „spitz“,
„dufte“ und „super“. In den 60-er
Jahren werden „bedient“ und
„steil“ daraus, in den 70-er
Jahren „geil“ und „astrein“, in den
80-er Jahren „cool“ und „abgefahren“. In unserem Jahrzehnt
setzt sich „fett“ dafür durch. Die
Verstärker „tierisch“ und „mega-“
lösen „irre“ und „atom-“ ab.
Von der Verwilderung
zum Ideal
Die Einstellung der Erwachsenen
zu Wörtern und Ausdrücken der
Jugendsprache hat sich im Lauf
der Jahre wesentlich verändert.
Zunächst war die Dokumentation
von Jugendsprache nicht
sprachwissenschaftlich, sondern
sprachkritisch. Man sammelte
Wörter, um sie anzuprangern. Sie
galten als „sprachliche Verwilderung“, „emotionale Verrohung“
oder gar „Denkfaulheit“. Jugendsprache war für Erwachsene
„ruppig“ und „pöbelhaft“,
70-er Jahre
der Freak (alternativ lebender
Mensch, Fanatiker)
der Chaot (chaotischer Mensch)
der Softi (Schwächling)
flippen (spinnen, sich ausleben)
den Larry machen (angeben)
auf den Keks gehen (nerven)
null Bock (keine Lust)
geil (sehr gut)
astrein (sehr gut)
tierisch (sehr)
„klotzig“, „protzig“ und „brutal“.
Heute betrachten die meisten
Eltern, Lehrer und Wissenschaftler Jugendsprachen nüchterner:
als Ausdruck von Zugehörigkeit
und Identität unter Jugendlichen,
als wichtigen Teil der persönlichen Entwicklung und auch als
Teil sprachlichen Wandels. Die
Gesellschaft ist insgesamt pluralistischer geworden und bietet
mehr Freiräume für kulturelle und
damit sprachliche Andersartigkeit. Hinzu kommt, dass Jugend
und Jugendlichkeit zum gesellschaftlichen Ideal wurden.
Heute sprechen sogar manche
Erwachsene wie Jugendliche.
Sprachwandel
durch Jugendsprache
Jugendliche Sprechweisen sind
zu einem großen Teil modisch
und kurzlebig. Sie lösen einander
ab und bleiben häufig in der Clique oder Stadt, in der sie kreiert
wurden. Was jedoch im ganzen
Land Mode wird, hat dagegen
gute Chancen, in der gesamten
80-er Jahre
der Fascho (Faschist)
der Normalo
(Durchschnittsmensch)
öko (ökologisch)
der Zoff (Ärger)
ausrasten (die Fassung verlieren)
abchecken (klarmachen)
logo (logisch, sicher)
cool (lässig, gut)
ätzend (schlecht, unerträglich)
volle Kanne
(total, in vollem Umfang)
Gesellschaft Verbreitung zu
finden. So wurden studentensprachliche Wörter des 19. Jahrhunderts wie „flott“ oder
„Kneipe“ zum Wortgut der
deutschen Standardsprache.
Am deutlichsten sieht man den
Übergang eines Ausdrucks von
der Jugend- in die Standardsprache bei Personenbezeichnungen und sogenannten Bewertern: Das englische Wort „Freak“
war noch in den 70-er Jahren ein
exotischer Begriff; heute nennt
jeder einen Computerbegeisterten einen „Computerfreak“.
„Super“ und „das ist der Hammer“ traten erstmals in den 50-er
Jahren auf. Heute gehören diese
Begriffe zum allgemeinen Sprachgebrauch. „Cool“ und „geil“, jugendsprachliche Spezialitäten
der späten 70-er und frühen
80-er Jahre, standen im Herbst
auf Wahlkampfplakaten der Bundespartei PDS. Wer weiß, ob politische Parteien in 20 Jahren mit
dem heutigen Lieblingswort der
Jugend werben? Es lautet „fett“.
90-er Jahre
der Proll (Mensch ohne Manieren)
der Asso (asozialer Mensch)
keinen Plan haben
(keine Ahnung haben)
abgehen
(sich in etwas hineinsteigern)
Party machen (feiern)
boah ey!
(Ausruf der Überraschung)
fett (gut, riesig, großartig)
krass (gut, überwältigend)
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