Die Geschichte des JG 74 von Ulrich Mocka

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Die Geschichte des JG 74 von Ulrich Mocka
Die Geschichte des Jagdgeschwaders 74
Mit der Verlegung der
3. Staffel der Waffenschule 10 von Oldenburg
über Leipheim nach Neuburg/Donau beginnt für
das Jagdgeschwader 74
am 5. Mai 1961 die Zeitrechnung.
Ausgerüstet
mit dem Jagdflugzeug
F-86 K wird der Verband
ein Jahr später der NATO
unterstellt und die Alamrotte in
Dienst gestellt. „Alert-Maschinen“
stehen noch heute 365 Tage im
Jahr für den Ernstfall zur Verfügung. Im Mai 1964
erhält der Verband sein zweites Einsatzflugzeug,
der legendäre Starfighter F-104 G.
Der 22.11.1973 wird für das Jagdgeschwader 74
ein ganz besonderer Tag. Es erhält vom damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann
den Traditionsname „Mölders“. Wie zuvor „Richthofen“, „Boelcke“ und „Immelmann“ hat es jetzt als
vierter fliegender Verband der Luftwaffe einen
Namen, mit dem sich die Angehörigen identifizieren können. Ab da sind sie die Mölderianer,
- weltweit unter diesem Namen
bekannt und anerkannt. In unzähligen Überprüfungen durch
die NATO, national und international, bewährt und vielfach
ausgezeichnet.
Knapp ein Jahr nach der Namensgebung beginnt die Umrüstung
des JG 74 „M“ auf F-4 F Phantom.
Die Maschinen sind schnell, ro-
bust und kampfstark – bei jeder Witterung. Die
Geschwaderangehörigen sind stolz auf ihr neues
Flugzeug. Auch die Neuburger Bevölkerung freut
sich auf die Phantom, sollen sie doch nicht mehr
so „pfeifen“, wie der Starfighter. Sehr schnell
merken sie, dass auch die F-4 Lärm macht – und
nicht zu knapp. Es bilden sich aus den umliegenden Gemeinden Lärmgegner, die sich in Bürgerinitiativen zusammenschließen. Die Geschwaderführung geht in die Offensive und lädt sie zu Informationsgesprächen ein. Immer wieder gibt der
„Sound of Freedom“ Anlaß zu Gesprächen mit
den betroffenen Bürgermeistern und Bürgern.
1981 verlagert die Bundeswehr den
Tiefflug nach Goose Bay, Kanada. Die
Neuburger F-4 F sind die Ersten der
Luftwaffe, die dorthin Nonstop verlegen. Dies geht nur mit Unterstützung
amerikanischer Tankflugzeuge, die die
Phantom-Jäger sieben bis acht Mal
in der Luft mit Kraftstoff versorgen.
In diesen Tagen ist Improvisationstalent gefragt – und gutes Wetter.
Immer wieder fallen Flüge aus, weil
Anfang Mai der Schnee noch meterhoch liegt und Stürme über Labrador
toben. Die Goose Bay ist noch zugefroren, die Versorgungsschiffe, die
sehnsüchtig erwartet werden, können
ihre Häfen nicht anlaufen.
Auch in den unendlichen Weiten
Kanadas gibt es Lärmgegner: Kanadische Trapper beschweren sich über
den Fluglärm, die Karibu-Herden
würden völlig verstört umher laufen.
In den folgenden Jahren nimmt das
Jagdgeschwader 74 „Mölders“ regelmäßig an vielen weiteren Auslandskommandos und –übungen, beispielsweise in den USA, Italien oder
Spanien teil und behauptet sich mit
seinen Abfangjägern, - selbst gegen
modernere Waffensysteme – bis die
Phantom in die Jahre kommt.
Es kommt die Zeit, in der das JG 74
„M“ nicht mehr von den Amerikanern
eingeladen wird, da es kaum noch
sinnvoll erscheint, gegen die „alten
Kisten“ zu fliegen. In den USA
werden die Phantom mittlerweile als
Zieldarstellungsflugzeuge eingesetzt,
die mit modernen Raketen vom
Himmel geschossen werden.
Bis die Kampfwertsteigerung kommt
und das Flugzeug ein neues Radar
erhält, mit dem es viel früher einen
Feind auffassen kann – und es erhält
moderne Raketen mit einer höheren
Reichweite. Jetzt ist es wieder kon-
kurrenzfähig. Nur sind die Rollen jetzt
vertauscht. Aus den einstigen Jägern
werden bei der amerikanischen
Übung „Red Flagg“ Gejagte, was den
Neuburger Piloten weit weniger
gefällt.
Trotz der Verbesserungen bleibt es
ein Waffensystem, dass unaufhaltsam in die Jahre kommt. Manche der
Maschinen sind älter als die Piloten,
die sie fliegen. Es treten Risse bei
den Stabilisatoren auf, Ersatzteile
gibt es kaum mehr. Auf den „Schrottplätzen“ in der amerikanischen Wüste
.
werden sie zum Teil aufgetrieben und
die Maschinen wieder flugklar gemacht. Trotzdem brauchen sie immer
mehr Pflege und Wartung. Auf eine
Flugstunde kommen mittlerweile etwa
80 Arbeitsstunden, eine Kraftanstrengung und Herausforderung für die
Technik. Jeden Tag wird bis in die
Nacht hinein geschraubt, „gezaubert“
und gesteuert Teile von flugunklaren
Maschinen ausgebaut und in andere
Flugzeugen wieder eingebaut. Wieder ist Improvisations- und Organisationstalent angesagt, der Aufwand
ist hoch.
Neue Aufgaben kommen hinzu. Auf
einmal heißt die NATO-Überprüfung
nicht mehr TAC EVAL, also die
taktische Überprüfung der Einsatzgrundsätze und Verfahren durch die
NATO, sondern das Geschwader hat
sich in einem OPEVAL zu behaupten,
also einer operationellen Überprüfung. Es verlegt in die Eiseskälte
nach Nordnorwegen, oberhalb des
Polarkreises. Es ist das Jahr 1999,
der Winter mit den Minusrekorden,
wo selbst kochendes Wasser – in
den Himmel geschleudert – als
Schnee zu Boden fällt. Die Mölderianer bilden zusammen mit den Kameraden vom Jagdbombergeschwader
Boelke ein Einsatzgeschwader und
fliegen zusammen mit dem Tornado
über fiktive Länder wie Copperland.
Den besonderen klimatischen Bedingungen begegnen die Geschwaderangehörigen mit einem besonderen
Training, welches jeder, vom kleinsten
Flieger bis hin zum Oberst durchlaufen
muß. Der Einsatz im Freien läuft oft nur
mit Gesichtsmasken, manch einer sieht
damit aus wie Anthony Hopkins im Film
„Das Schweigen der Lämmer“. Eis auf
den Taxiways, starker Seitenwind,
Möwen und durchhängende Stromkabel
über den Fjorden fordern von den Flugzeugen und ihren Besatzungen das
Letzte. Sie bestehen die Herausforderung mit Kreativität, eisernem Willen,
Professionalität und Selbstvertrauen in
die eigenen Fähigkeiten. Die Überprüfung, eingebunden in die Übung
„Battle Griffin“, wird zu einem vollen
Erfolg – trotz der „alternden“ Maschinen.
Im Februar 2004 besteht das JG 74 „M“
letztmalig diese operationelle Prüfung in
Trollenhagen, bevor es die ersten Phantom an sein Wittmunder Schwestergeschwader, das Jagdgeschwader 71
„Richthofen“, zurückgibt. Es beginnt eine
lange „Durststrecke“, in der nur noch ein
Bruchteil der Flugstunden erbracht werden kann, auf die das Geschwader vorher so stolz war.
Die Technik beginnt als erstes mit der
Umschulung ihrer Mechaniker auf das
neue Waffensystem Eurofighter. Zunächst geht es für alle nach Heide, 100
Kilometer nördlich von Hamburg auf
Englisch-Sprachausbildung.
Danach
folgt eine weitere Englisch-Ausbildung,
diesmal speziell für die technischen
Spezialbegriffe, schließlich ist die
ganze Dokumentation des neuen Flugzeuges in Englischer Sprache. Auch
die lebensälteren Techniker müssen
sich dieser Herausforderung stellen.
Als Alternative bleibt ihnen nur die Versetzung zu einem anderen Verband, was
für die Familien entweder Umzug oder
Trennung bedeutet. Danach geht es an
die Technische Schule der Luftwaffe
nach Kaufbeuren zur Ausbildung an dem
Eurofighter, den allerdings die Industrie
noch nicht geliefert hat. Im Schnitt dauert
die Ausbildung zwei Jahre, bis die Techniker in Neuburg eingesetzt werden
können. Nur, - Neuburg hat noch keinen
Eurofighter.
Aberkennung des Traditionsnamens „Mölders“
In diese Phase des Umbruchs fällt die
Namensaberkennung des Neuburger
Verbandes. Am 11.03.2005 wird das
Jagdgeschwader 74 „Mölders“ auf
Weisung des Verteidigungsministers
Peter Struck wieder in JG 74 umbenannt und darf ab sofort den Namen
„Mölders“ nicht mehr tragen. Für viele
Soldaten und zivilen Mitarbeiter, die
jahrelang unter diesem Namen wie
eine Familie waren, war es wie ein
Stich ins Herz. Die versteinerten Gesichter
beim
Geschwaderantreten
sprachen für sich, die Tränen wurden
unterdrückt, wie es ein Mann – oder
Frau – häufig machen. Still verzog man
sich auf seine Kammer oder in die
Werkstatt, um seine Ärmelbänder von
seiner Jacke zu trennen. Für viele
Kameraden ein schwarzer Tag, ein
trauriges Kapitel.
Doch die Bundeswehr mit seinen
Soldaten ist Teil der Gesellschaft und
ist dem Primat der Politik unterworfen.
Die Zeiten „Staat im Staate“ zu sein,
sind, - Gott sei Dank -, lange vorbei.
Für die Neuen, sprich die neu zuversetzten Soldaten des JG 74, ist
Mölders kaum noch ein Begriff. Sie
verbinden mit dem Namen nicht mehr
sehr viel. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet in die Zukunft, was auch richtig
ist. Die Bundeswehr ist eine moderne
Armee mit einer eigenen Geschichte.
Trotzdem muß man aus dem Vergangenen lernen - für die Zukunft.
Nicht zuletzt deshalb wird die Möldersvereinigung ihre Heimat behalten.
Der neue, alte Namen: „JG 74“
Und die Zukunft trägt nun den Namen
der Vergangenheit: Jagdgeschwader
74, wie das Geschwader von 1961 bis
1973 bereits hieß. Ein neues Kapitel
Geschwadergeschichte wird aufgeschlagen. Alles ist im Umbruch. Die
Veränderungen merkt man auf Schritt
und Tritt. Überall wird gebaut. In Vorbereitung auf den Eurofighter werden
alte Gebäude modernisiert, es wird
eine neue Flugzeugwerft gebaut, ein
völlig neuer Flugsimulator entsteht, das
ASTA-Gebäude, und das Liegeplatzgebäude der Fliegenden Gruppe. An
allen Ecken und Enden wird gebaut,
trotz laufendem Flugbetrieb. Immer
wieder kommt es zu Begegnungen
rollender Flugzeuge und Baustellenfahrzeugen. Nicht immer ist klar, wer
die Vorfahrt hat. Zum Glück bleiben
Unfälle aus. Anfang 2006 werden technische Staffeln zusammengelegt und
erhalten neue Namen, das Personal,
dass jahrelang zusammen gearbeitet
hat, findet sich nun in einer neuen Um-
Jeder richtet jetzt seinen Blick nach
vorne. Jeder, jung wie alt, wird sich
den kommenden Herausforderungen
stellen. Der Eurofighter wird zum „Generationenprojekt“. International wird
man gefragt sein wie noch nie, sich vor
Einladungen der Nationen nicht retten
gebung mit neuen Kameradinnen und
Kameraden wieder. Und mehr und
mehr spürt man, wie die alte Zeit
schwindet, wie sie die Zukunft an den
Rand drängt – bis zum 12.06.2008,
dem Tag, an dem der letzte PhantomJäger Neuburg verlässt. Zwei Jahre
lang führte man erfolgreich am Neuburger NATO-Flugplatz einen Mischflugbetrieb mit Phantom und Eurofighter durch. Eine besondere Herausforderung für die Techniker und Einsatzplaner. Mit dem offiziellen Verlassen der letzten Neuburger Phantom
an diesem denkwürdigen 12. Juni 2008
ist man jetzt im ersten Einsatzverband
mit einem der modernsten Kampfflugzeuge der Welt, dem Eurofighter.
Ihn sieht man bereits seit 25.07.06
über Neuburg fliegen, als vier Exemplare feierlich an das Jagdgeschwader
74 übergeben wurden.
Es war ein großer Tag für das
Geschwader, - die Trauer verflogen, die Zukunft gefeiert.
können. Jeder will gegen den Eurofighter fliegen. Ein gutes Training für
die Piloten, - ein wichtiger Schritt zum
Zusammenwachsen von alt und jung,
von Tradition und Zukunft, auf den
Weg in eine eigene, neue Identität.
Im Herbst 2009 nimmt das Jagdgeschwader 74 das Band seiner weltweiten Einsätze wieder auf, zunächst
mit dem Air Policing im Baltikum,
sprich der NATO-Luftraum-Überwachung über Estland, Litauen und Lettland. Anfang 2010 werden mehrere
Eurofighter zur Konsolidierung des
Ausbildungsflugbetriebes nach Laage
abgestellt. Trotzdem kann das Jagdgeschwader 74 im Mai 2010 mit einem
Teil seiner Eurofighter erstmalig zum
AMRAAM-Schießen (Luft-/Luftrakete)
nach Schottland verlegen.
Das Jagdgeschwader 74 mit seinen Frauen und Männern
ist im 21sten Jahrhundert angekommen.
Neuburg/Donau, den 15.07.2010
Ulrich Mocka