Paul Segrétain - Samtgemeinde Kirchdorf

Transcrição

Paul Segrétain - Samtgemeinde Kirchdorf
Paul Segrétain
Das Leben eines Widerstandskämpfers
nach dem “seltsamen Krieg”
(c) Paul Segrétain (*12.04.1920 - g04.01.2011), Frankreich
Dieses Exemplar hat Herr Segrétain ein paar Jahre vor seinem Tod Herrn Gerhard Kropf aus
Varrel übergeben. Herr Kropf übergab das Exemplar am 04. Juli 2013 dem Archiv der Samtgemeinde Kirchdorf.
Übersetzung und Anmerkungen des Übersetzers:
2013 - 2014 - Anthony Hitchcock, Kirchdorf
Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der Samtgemeinde Kirchdorf:
2014 - Heinrich Kammacher
Fotos in Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der Samtgemeinde Kirchdorf:
2013 - Gerhard Kropf
Druck und Gestaltung des Dokuments:
2014 - Samtgemeinde Kirchdorf
Inhaltsverzeichnis
3
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis......................................................................................................... 3 Abbildungsverzeichnis ................................................................................................ 4 Anmerkungen des Übersetzers ................................................................................... 6 Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der Samtgemeinde
Kirchdorf ............................................................................................................ 7 Vorwort ........................................................................................................................ 11 Aktionen des Widerstandes....................................................................................... 16 Verhaftung!.................................................................................................................. 31 Deportation! ................................................................................................................ 44 Netzwerk CND-Castille Liste der Agenten von “Maine-Sud” ................................. 63 Gedichte von Paul Segrétain, geschrieben in Weimar zwischen August 1944
und Januar 1945 .............................................................................................. 64 Abbildungsverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 - Charta - Partnerschaftsvertrag ................................................................. 8 Abbildung 2 – Auszug aus der Sulinger Kreiszeitung vom 26.05.1988 von links:
Claude Kemp, Fritz Speckmann und Paul Segrétain bei der
Unterzeichnung. .................................................................................................. 9 Abbildung 3 - Besuch in Frankreich im Schloss Courtanvaux in Bessé-sur-Braye
im Mai 2013 anlässlich des 25-jährigen Jubiläums. ............................................ 9 Abbildung 4 - von links nach rechts: Claude Kemp, Colette Segrétain (Witwe von
Paul Segrétain), Michel Letellier, Michel Jouanneau, Heinrich Kammacher ..... 10 Abbildung 5 - Abflug von Istres ..................................................................................... 15 Abbildung 6 - Wachmannschaft einer Simoun, in Tafraoui. Paul Segrétain ist der
zweite von links. Die Simoun war eine mit einem verstellbaren Propeller
versehene Maschine, die einen Motor von Renault hatte. ................................ 15 Abbildung 7 - Ein Ausweis der FFL - Forces Francaises Libres (Streitkräfte des
Freien Frankreich) Außen- und Innenseite. ...................................................... 18 Abbildung 8 - Ausweis der Résistance-Fer (Eisenbahner-Widerstand)........................ 19 Abbildung 9 - Ein an Paul Segrétain verliehenes Diplom für seine Aktion in der
Résistance-Fer. Das Zitat vom 17. Mai 1945 ist von Général de Gaulle
unterzeichnet..................................................................................................... 20 Abbildung 10 - Ein an Paul Segrétain verliehenes Diplom, eigenhändig von
Charles de Gaulle geschrieben und unterzeichnet. .......................................... 20 Abbildung 11 - Bescheinigung von Paul Segrétain über die Aktivitäten von
Georges Buon, genannt Rissole innerhalb seiner Gruppe. ............................... 22 Abbildung 12 - Mitgliedsausweis der Bewegung “Ceux de la Résistance” ................... 23 Abbildung 13 - Mitgliedsausweis der nationalen Föderation der freiwilligen Kämpfer
in den Kriegen 1914-1918 und 1939-1945........................................................ 23 Abbildung 14 - Bescheinigung von Olivier-Jacques Courtaud, genannt Jacot über
den Einsatz von Paul Segrétain im Netzwerk CND-Castille ............................. 27 Abbildung 15 - Einer der zahlreichen Briefe von Oberst Rémy an Paul Segrétain ....... 28 Abbildung 16 - Oberst Rémy (richtiger Name Gilbert Renault) hat 1965 für Paul
Segrétain und seine Frau das Programmheft eines Gala-Abends
unterschrieben, der von den Freunden des ehemaligen WiderstandsNetzwerkes organisiert wurde, das 19 Jahre zuvor, am 19. November 1946
stattfand. Renault war einer der wichtigsten Geheimagenten des
Widerstands. ..................................................................................................... 29 Abbildung 17 - Der Ausweis vom nationalen Bund des kämpfenden Frankreich ......... 32 Abbildung 18 - Ein Gedicht von Paul Segrétain aus dem Jahre 1943 .......................... 40 Abbildung 19 - Ein Schreiben des Automobil-Club de l’Ouest vom 6. März 1944 an
Frau Segrétain über den Versand eines fünf Kilo Päckchens Lebensmittel
nach Buchenwald. Wie im ersten Weltkrieg hat der Automobil-Club de
l’Ouest die Zusammenstellung von Postsachen bzw. Essenspakete an
Gefangene und Deportierte organisiert. Das Rote Kreuz hat die Pakete
weitergeleitet. Diese Pakete kamen allerdings selten an, und noch seltener
in gutem Zustand! Paul Segrétain hat nie ein Paket erhalten. .......................... 48 Abbildung 20 - Ein Appell an einen Wünschelrutengänger, um den Aufenthaltsort
eines Deportierten herauszufinden. Etwas, worüber man heute lächeln
kann. Doch was haben Menschen nicht alles versucht, um ihre nach
Abbildungsverzeichnis
5
Deutschland verschleppten Angehörigen zu finden. In diesem Fall hat der
Radieästhesiste Paul Segrétain in Böhmen vermutet. ...................................... 49 Abbildung 21 - Weihnachten 1944. Die Gefangenen von Tisch 7 im Block 2, die
unter schrecklichem Hunger litten, haben sich, um die Moral zu verbessern,
ein reichhaltiges Menu ausgedacht. Die Illustration ist von Paul Segrétain. ..... 52 Abbildung 22 - Gleich nach der Befreiung der ersten Lager hat das Rote Kreuz
Radiosendungen ins Leben gerufen, in denen die Namenslisten von
Befreiten bekannt gegeben wurden. Zuhause hat ein Stab von Freiwilligen
diese Sendungen gehört und anschließend die Familien schriftlich
informiert. Hier handelt es sich um ein Schreiben an Mme Segrétain, das
bestätigt, dass der Name von Paul Segrétain auf eine dieser Listen
aufgeführt war. .................................................................................................. 55 Abbildung 23 - Die Heimkehr eines Deportierten hat bei manchen Angehörigen,
die lange nichts von ihren Lieben gehört hatten, die Hoffnung geweckt,
vielleicht doch Neuigkeiten zu erfahren. Dieses an Madame Segrétain
adressierte Schreiben, sowie die Briefe auf den folgenden Seiten, sind
typische Beispiele. ............................................................................................ 56 Abbildung 24 - Ein Brief von Mme Léontine Marchand aus Livry im Kreis Niévre,
seit Juni 1944 ohne Nachricht von ihrem Mann, der ebenfalls in
Buchenwald war. ............................................................................................... 56 Abbildung 25 - 11. Mai 1945. Brief einer Dame aus Angers an Mme Segrétain.
Auch hier handelt es sich um einen in Buchenwald Inhaftierten. ...................... 57 Abbildung 26 - Eine Zeichnung von Len, die in der Ausgabe der Zeitung “OuestFrance” vom 21. Januar 1965 anlässlich des Besuchs von Oberst Rémy in
Le Mans erschienen ist. Von links: Oberst Rémy, André Dugué, Paul
Segrétain und Doktor Lepart, ein Freund von André Dugué, der ihm
während der Besatzung gefälschte Bescheinigungen besorgt hat. .................. 58 Abbildung 27 - Telegramm vom 29. April 1945, das die baldige Rückkehr von Paul
Segrétain ankündigt .......................................................................................... 60 Abbildung 28 - Paul Segrétain kurz nach seiner Rückkehr. Auf dem Foto rechts
kann man im Haar gerade zwei helle Streifen ausmachen. Es sind die
Spuren von zwei parallel laufenden kahlen Streifen, die mittels einer
Haarschneidemaschine in das Haar geschnitten wurden. Der dadurch
entstandene Kamm wurde später kahl rasiert, nachdem die zwei Streifen
nachgewachsen waren, um einen Mittelstreifen zu bilden, die sog. Straße. .... 60 Abbildung 29 - Der Deportierte Nr. 43 273 vom KZ Buchenwald bei seiner
Rückkehr aus Deutschland. Das Dreieck oberhalb der Kennnummer trug
den Buchstabe “F” für die Staatsangehörigkeit. Es war rot gefärbt und
bedeutete, dass der Träger, wie bei allen Widerständlern, ein “Politischer”
war. Das Dreieck war grün für gewöhnliche Verbrecher, schwarz für sog.
Asozialen, blau für Staatenlose und violett für Zigeuner. .................................. 61 Abbildung 30 – Gedichte von Paul Segrétain, geschrieben in Weimar zwischen
August 1944 und Januar 1945 .......................................................................... 64 Abbildung 31 - Gedichte von Paul Segrétain, geschrieben in Weimar zwischen
August 1944 und Januar 1945 .......................................................................... 65 Anmerkungen des Übersetzers
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Anmerkungen des Übersetzers
Was war dieses “drôle de guerre” im Titel der Erinnerungen von Paul Segrétain? In
Deutschland hieß es “seltsamer Krieg” (englisch “phoney war”). Auch als Sitzkrieg bekannt, beschreibt es die Zeit zwischen dem 3. September 1939 (Kriegserklärung der
Briten und Franzosen) und dem 10. Mai 1940, (Beginn des deutschen Feldzuges im
Westen).
Einige Stellen wurden nicht übersetzt, z.B. Briefe, die von sehr persönlicher Natur bzw.
unleserlich sind. Dafür habe ich entsprechende Erklärungen dazu geschrieben. Die
Gedichte habe ich nur sinngemäß übersetzen können. Aus diesem Grund sind die
französischen Originale für Interessierte mit enthalten.
In den Erinnerungen von Paul Segrétain wurde das KZ Buchenwald von der 5. USArmee befreit. In der Tat waren es Panzer der 3. US-Armee, die am 11. April 1945 eintrafen.
Die vielen Quellen, die im französischen Original zitiert werden, bleiben in der Übersetzung meist unerwähnt, da diese Dokumente nicht in deutscher Sprache verfügbar sind.
Falls der/die Leser/in Wert darauf legt, mehr Hintergrund-Information zu bekommen,
sind die entsprechenden Stellen im Internet zu empfehlen.
Paul Segrétain war erst 23 Jahre alt als er verhaftet wurde. Für die wunderbaren Gedichte, die er in Fresnes (südlich von Paris), Buchenwald bzw. Weimar geschrieben
hat, muss man den Hut ziehen. Meine Lektorin, die in Frankreich ihr Abitur gemacht
und in Paris studiert hat, sagte, dass nur ein Franzose - mit seiner ausgeprägten Liebe
zu seinem Heimatland - zu solchen Werken in der Lage wäre.
Im Laufe meiner Recherchen für diese Übersetzung habe ich das Buchenwald-Archiv
angeschrieben, um eventuell zusätzliche Informationen zu bekommen, doch leider
konnte das Archiv keine weiteren Details finden.
Kirchdorf, im Februar 2014
Anthony Hitchcock
Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der Samtgemeinde Kirchdorf
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Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der
Samtgemeinde Kirchdorf
Herr Segrétain hat sich neben seinem Beruf insbesondere auch der kommunalen Tätigkeit gewidmet. So wurde er im März 1959 Ratsmitglied im Rat der Stadt Bessé-surBraye, 1965 stellvertretender Bürgermeister dieser Stadt und von Januar 1982 bis
März 1989 bekleidete er das Amt des Bürgermeisters der Stadt Bessé-sur-Braye.
Trotz seiner persönlichen schicksalhaften Erfahrungen mit dem „Nazi-Deutschland“ hat
sich Herr Segrétain seit 1984 intensiv, aktiv für die Aussöhnung mit Deutschland verwandt und sich für die Eingehung einer Partnerschaft mit der Samtgemeinde Kirchdorf
im Rat seiner Stadt eingesetzt. Herr Segrétain hatte sich dann auch für das Amt des
Vorsitzenden des Partnerschaftskomitees zur Verfügung gestellt. Aus Alters- und
Gesundheitsgründen hatte er im März 1989 bei den französischen Kommunalwahlen,
nicht erneut für das Amt des Bürgermeisters kandidiert.
Aus losen Kontakten zwischen der Stadt Bessé-sur-Braye und der Samtgemeinde
Kirchdorf, die im Jahre 1984 entstanden, entwickelten sich weitere Beziehungen zu
dieser Stadt, in die dann auch die Stadt St. Calais einbezogen wurde.
Am 03. Juli 1985 besuchte erstmals ein Vertreter der Stadt Bessé-sur-Braye, und zwar
der stellvertretene Bürgermeister Herr Le Vagueresse, die Samtgemeinde Kirchdorf.
Eine weitere Abordnung aus Bessé-sur-Braye bzw. St. Calais konnte hier in der Zeit
vom 30. Oktober bis 03. November 1985 begrüßt werden. Während dieses Besuches
gab es auch bereits Kontakte zu hiesigen Sportvereinen, die weiter vertieft wurden.
Eine offizielle Delegation aus den französischen Städten war dann vom 31. Oktober bis
03. November 1987 hier zu Gast. Anlässlich dieses Besuches wurden Gespräche über
eine Partnerschaft geführt. Die Gespräche vertiefte man während des Gegenbesuches
des Samtgemeindeausschusses in Frankreich im November 1987. Man kam überein,
im Jahre 1988 eine offizielle Partnerschaft zu besiegeln. Zum Abschluss des Partnerschaftsvertrages fuhr die Delegation der Samtgemeinde vom 20. bis 23. Mai 1988 nach
Frankreich.
Am 21. Mai 1988 wurde im Schloss Courtanvaux die Partnerschaftsurkunde zwischen
der Samtgemeinde Kirchdorf und den französischen Städten Bessé-sur-Braye, St. Calais und Cogners unterzeichnet. Bei der Unterzeichnung waren sowohl die Bürgermeister der französischen Städte Bessé-sur-Braye (Paul Segrétain), St. Calais (Claude
Kemp) und Cogners (Michel Jouanneau) als auch der Samtgemeindebürgermeister
(Fritz Speckmann) und der Samtgemeindedirektor der Samtgemeinde Kirchdorf (Armin
Tiemann) und die Bürgermeister der Mitgliedsgemeinden Bahrenborstel (Heinz Albers),
Barenburg (Heinrich Kammacher), Freistatt (Wilhelm Kolwei), Kirchdorf (August Hormann), Varrel (Fritz Speckmann) und Wehrbleck (Siegfried Witte) anwesend.
In Kirchdorf fand die Unterzeichnung am 18. Juni 1988 statt.
Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der Samtgemeinde Kirchdorf
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Abbildung 1 - Charta - Partnerschaftsvertrag
Partnerschaftsvertrag
Der Wunsch, die schon im Jahr 1984 zwischen den Einwohner unserer Gemeinden
geknüpften freundschaftlichen Bindungen weiter zu entwickeln und zu fördern, wurde
von der Erkenntnis geleitet, dass die deutsch-französische Solidarität eine der wesentlichen Voraussetzungen für ein geeintes, starkes und brüderliches Europa ist, wie auch
von der Überzeugung, dass es menschliches Glück nur in einer Welt des Friedens geben kann.
Die demokratisch gewählten Repräsentanten der Samtgemeinde Kirchdorf (Bundesrepublik Deutschland) und der Gemeinden Bessé-sur-Braye, Cogners und Saint-Calais
(Republik Frankreich) haben heute im Namen ihrer Bürger und Bürgerinnen durch die
Unterzeichnung dieses Dokumentes feierlich proklamiert.
Die Partnerschaft zwischen der Samtgemeinde Kirchdorf
und den Gemeinden Bessé-sur-Braye, Cogners, Saint-Calais
Die Unterzeichner übernehmen damit die Verpflichtung, sich in einem Geist der Achtung, der Anteilnahme und des gegenseitigen Verständnisses zu bemühen, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen zu stärken,
indem sie den gegenseitigen Austausch in den sportlichen, kulturellen, sprachlichen
und wirtschaftlichen Bereichen beleben und fördern und die mittelbaren und unmittelbaren Kontakte zwischen den Bürgern der beteiligten Gemeinden aufrechtzuerhalten.
Bürgermeister
Bessé-sur-Braye
Paul Segrétain
Bürgermeister
Cogners
Michel Jouanneau
Bürgermeister
Saint-Calais
Claude Kemp
Samtgemeindebürgermeister
Kirchdorf
Fritz Speckmann
Samtgemeindedirektor
Kirchdorf
Armin Tiemann
Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der Samtgemeinde Kirchdorf
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Abbildung 2 – Auszug aus der Sulinger Kreiszeitung vom 26.05.1988
von links: Claude Kemp, Fritz Speckmann und Paul Segrétain bei der Unterzeichnung.
Im Februar 1997 wurde Herrn Segrétain anlässlich einer Initiativverleihung aus Anlass
des „Tages der Deutschen Einheit“ in Anerkennung von Verdiensten um das Land Niedersachsen das Verdienstkreuz am Bande des Niedersächsischen Verdienstordens
verliehen.
Am 04. Januar 2011 ist Herr Segrétain leider verstorben, so dass er das 25-jährige
Jubiläum der Partnerschaft zwischen der Samtgemeinde Kirchdorf und den Gemeinden der Region Anille-Braye mit den Hauptorten St. Calais und Bessé-sur-Braye im
Jahre 2013 nicht mehr miterleben konnte.
Abbildung 3 - Besuch in Frankreich im Schloss Courtanvaux in Bessé-sur-Braye im Mai 2013
anlässlich des 25-jährigen Jubiläums.
Anmerkungen des Samtgemeindebürgermeisters der Samtgemeinde Kirchdorf
Abbildung 4 - von links nach rechts: Claude Kemp, Colette Segrétain (Witwe von Paul
Segrétain), Michel Letellier, Michel Jouanneau, Heinrich Kammacher
Kirchdorf, im März 2014
Samtgemeindebürgermeister
Heinrich Kammacher
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Vorwort
11
Vorwort
P
aul-Joseph-Désiré Segrétain wurde am 12. April 1920 in Laval (Kreis Mayenne)
geboren. Er ist etwa zehn Jahre alt, als er nach Le Mans kommt, wohin sein
Vater, ein Eisenbahner, versetzt wurde. Nach dem Schulabschluss beginnt er
eine Lehre im Zentrum Auguste Piron, einer Niederlassung der französischen
Eisenbahn (SNCF). Mit seinem Gesellenbrief in der Tasche wird er 1937 zum
stellvertretenden Chef einer Instandsetzungs-Abteilung ernannt, verantwortlich
für die Wartung von Lokomotiven.
Von der Fliegerei begeistert (damals existierte in Frankreich eine große Kampagne für
die Luftfahrt, von Pierre Cot ins Leben gerufen und von einem Abgeordneten, Sadi
Lecointe, unterstützt) nimmt er Flugunterricht und erhält seinen Pilotenschein. Dann
bricht der Krieg aus. Im November 1939 meldet sich Paul Segrétain beim Wehramt IV
der Region von Le Mans, wo er sich freiwillig für die Dauer des Krieges bei der 131.
Staffel-Caen für eine Ausbildung als Kampfpilot verpflichtet.
Er wird zur Fliegerschule in Le Mans versetzt, dann nach Evreux und anschließend
zum Luftstützpunkt 125 nach Istres, wo er seinen Flugschein als Militärpilot erhält. Aber
die Ereignisse überstürzen sich und Luftstützpunkt 125 muss sich zurückziehen, zunächst nach Senia und dann nach Tafraoui (Kreis Oran1)in Algerien. Dann kam der
Waffenstillstand, die brutale Niederlage von Frankreich hinderte ihn daran, am Krieg
teilzunehmen. Mit Ausnahme von einigen wenigen Maschinen, die nach Gibraltar geflohen waren, wurden alle Flugzeuge von der Waffenstillstands-Kommission entwaffnet. Paul Segrétain wurde nach Istres in Frankreich zurückversetzt und im September
1940 demobilisiert.
Er kehrt nach Le Mans zurück, zur Instandsetzungs-Abteilung für Lokomotiven. Frustriert über den verlorenen Krieg, versucht er durch Widerstand gegen die NaziBesetzung sich wieder zu fangen. Also wird er sehr schnell im Netz des
Eisenbahnerwiderstandes aktiv, wo er sich an Sabotage-Akten beteiligt (zum Beispiel
Sand in die Achsenantriebe von Loks füllen).
Im März 1942 wird er in Le Mans von einem alten Freund aus der Fliegerei, Jacques
Basset, angesprochen. Er ist Mitglied im Netzwerk CND Castille2, das von dem berühmten Oberst Rémy (sein wirklicher Name war Gilbert Renault) gegründet wurde.
Jacques Basset bittet Paul Segrétain, einen Nachrichtendienst in der Region um Le
Mans zu organisieren. So wird der junge Eisenbahner, unter dem Decknamen Dekobra
II und der Kenn-Nummer 89 126, Mitglied der CND Castille. Er wird für die gesamte
Region Maine-Sud (ehemalige Provinz in der heutigen Region Pays de la Loire) verantwortlich, während sein Kamerad, Robert Gérard3, die Region Nord übernimmt und
1
2
Algerien war damals französisch, Oran war ein Kreis (Departement)
CND = Confrérerie Notre Dame. Der Name dieses Netzwerkes wurde von Oberst Rémy gewählt, um die
tiefe Bruderschaft unter den Mitgliedern herauszustellen. Die Bruderschaft hat später den Namen Castille
hinzugefügt, um die Ermittlungen der Deutschen zu erschweren. Man sollte dabei nicht vergessen, dass
Gilbert Renault, zusammen mit seinem jüngeren Bruder - der 1940 an Bord eines Fischkutters nach London entkommen ist, um unter General de Gaulle zu dienen - eines der ältesten Netzwerke im “freien
Frankreich” gegründet hat.
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Paul Segrétain und Robert Gérard waren zusammen Lehrlinge bei der Bahn und haben zusammen das
Fliegen gelernt.
Vorwort
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Dekroba I wird. Aufgrund seines Einsatzes im FFC wird Paul Segrétain als Agent P2
Leiter eines Kommandos unter der Kenn-Nummer 84 176.4
Er rekrutiert zehn Voll- und Teilzeit Agenten, die es ihm ermöglichen, seine Aktivitäten
bis Chateau-du-Loir, Laval, Angers, Tours und sogar bis Nantes (dank eines Polizisten)
auszubreiten. Nach Erhalt seiner Anweisungen von Jacques Basset und vor allem von
Henry Boris, seinem ehemaligen Chef bei der Fliegerschule in Evreux, konnte Paul
Segrétain sich an die Arbeit machen. Jeden Monat übergibt er umfassende Berichte
über die von den Besatzern genutzten Wohnungen, Räumlichkeiten, Schulen und Kasernen sowie Fabriken, die für die Deutschen arbeiteten - egal in welchem Bereich(aber vor allem in Luftfahrt Angelegenheiten wie die Firma Carrel et Foucher in Le
Mans) an seinen Verbindungsagenten. Er interessiert sich auch für das Telefonnetz,
gibt die Position von Schaltzentralen weiter, hält alle Bewegungen an Flugplätzen fest,
sowie die Ergebnisse der Bombardierungen der Alliierten. Des Weiteren informiert er
seine Vorgesetzten über die Anzahl und Art der Bewegungen der auf seinem Gebiet
stationierten deutschen Truppen.
Abgesehen vom Straßenverkehr kümmert er sich als Mitglied im Bahn-Widerstand
auch um die Aktivitäten der Eisenbahn, vor allem das Lokomotiv-Zentrum in Le Mans.
Er fertigt Pläne über die Funktion und Lage von Leitungen und Trafostationen des zwischen Paris und Le Mans befindlichen Stromnetzes an. Er informiert ebenfalls über die
Lage der für die Dampfloks benötigten Wassertürme. Er redigiert spezielle Berichte
über laufende Transporteinsätze des Feindes, und schafft es sogar, die Pläne zu bekommen. Die Kenntnisse über größere Truppenbewegungen sind für die Alliierten von
unschätzbarem Wert und ermöglichen es, die deutsche Strategie festzustellen. Und
schließlich konnten diese Informationen für die Auswahl von Luftangriffen genutzt werden.
Anfang 1943 wurde Paul Segrétain von Olivier Courtaud - Deckname “Jacot” angesprochen. Courtaud war verantwortlich für die Organisation des Funkverkehrs und Paul
Segrétain sorgte dafür, dass die von Paris geschmuggelten Geheimsender in der Gepäckaufbewahrung von Le Mans versteckt wurden. Die Sender waren für diese Region
gedacht, da das Netzwerk entschieden hatte, in Le Mans eine Funkverbindung einzurichten. “Dekobra II” ist begeistert, endlich aktiver und mit weniger Papierkrieg befasst
zu sein. Er nimmt die Geheimsender an sich und versteckt sie an einem sicheren Ort,
bei dem Bauer Noel Crosnier (Deckname “Boulet“) am Hof “la petite Normandie” in
Saint Saturnin. Sie wurden später von Edouard Fauchard (“Poulet“) und Robert André
(“Poussain“) benutzt. Doch bald muss “Dekobra II” zu seiner Hauptaufgabe zurück,
nämlich dem Nachrichtendienst. Dies erforderte eine Menge an “Sekretariatsarbeit”,
die nicht immer einfach zu bewältigen war. Durch die Hilfe, die er einigen Fahnenflüchtigen gibt (er besorgt vom Netzwerk gelieferte, gefälschte Papiere und aus dem Büro
des Bürgermeisteramts von Allones Lebensmittelmarken), kann er unmittelbare Erfolge
verbuchen.
In Dezember 1942 wird er von der CND-Castille gebeten, eine Kampf- und Nachrichteneinheit zu organisieren, um eine spätere Landung der Alliierten zu unterstützen.
Diese Aufgabe beinhaltete, unter anderem, die Suche nach geeignetem Gelände für
Fallschirmtruppen, Flugzeug-Landeplätzen und Zufluchtsstätten, um sowohl Personen
als auch Material zu verstecken.
4
FFC = Forces francaises combattantes. Das “freie Frankreich” wurde in Juli 1942 zum “kämpfenden
Frankreich” umbenannt und war sowohl für Frankreich intern als auch extern zuständig.
Vorwort
13
Am 7. November 1943 wird Paul Segrétain, zusammen mit anderen Mitgliedern des
Netzwerkes durch “Tilden“5 verraten, in eine Falle der Gestapo beim Sender
“Fauchard” gelockt und verhaftet. Er wird zunächst in Le Mans, Rue des Fontaines
(heute Rue des Victimes-du-Nazisme) gefoltert und ins Gefängnis Vert-Galant gebracht. Er wird anschließend nach Fresnes überstellt, um weitere schwere Verhöre in
Paris, Rue des Saussaies, zu erleben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Compiègne
wird er im Januar 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald überführt. Er muss bis
zu seiner Befreiung am 11 April 1945 bei einem Arbeitskommando in einer Waffenfabrik (der Gustloff Weimar) Schwerstarbeit leisten. Bei seiner Befreiung wiegt er nur
50kg.
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich nimmt Paul Segrétain seine Arbeit bei der
SNCF wieder auf, kündigt jedoch 1947, obwohl er als Abteilungsleiter in Chateau-duLoir ernannt worden war. Ein Jahr später gründet er, mit Robert Gérard (von dem er
sich später trennt) in Bessé-sur-Braye eine Schlosserei für allgemeine Metall- und
Schweißarbeiten.
Gleichzeitig beteiligt er sich an der Entwicklung des Luftfahrtvereins “Ailes de Maine”,
obwohl er als ungeeignet eingestuft war, ein Flugzeug zu führen.
Er wurde auf der Liste von Jean Dufournier zum Abgeordneten der Stadt Bessé gewählt, wurde dann stellvertretender Bürgermeister und von 1982 bis 1989 Bürgermeister. Paul Segrétain war auch von 1988 bis 1994 als Schiedsmann tätig. 1987 hat er das
internationale Partnerschafts-Komitee der Anille und der Braye gegründet und wurde
Mitbegründer der Städtepartnerschaft mit der Gemeinde Kirchdorf in Niedersachsen.
Durch seine Freundschaft mit Michel-Benoit Coffi (Bürgermeister der Stadt Anyama)
unterhielt er auch Verbindungen zur Elfenbeinküste.
Er hatte auch zahlreiche Urkunden erhalten, die seinen Einsatz während der Besatzung dokumentieren: freiwilliger Widerstandskämpfer, Agent der FFL, Mitglied der
FFC, Kämpfer 39 - 45, deportierter Widerständler und Kriegsversehrter. Er hat das
Diplom “Eisenbahner-Widerstand”, wie auch die Medaille des freien Frankreichs bekommen. Er hat ebenfalls die Medaille des Widerstands, das Croix de Guerre mit Palme und purpurnen Stern bekommen und nicht zuletzt wurde er Kommandeur de la
Légion d´honneur.
Ich habe Paul Segrétain in 1994 bei einer Ausstellung über den zweiten Weltkrieg, die
ich im Rathaus der Stadt La Flèche organisiert habe, kennen gelernt. Er ist ein äußerst
bescheidener Mann und er hat sehr lange gezögert, bis er bereit war, mit seinen Erinnerungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Er sagte einmal “Wenn man sieht, wie diese
Zeit bei der jungen Generation in Vergessenheit gerät, fragt man sich, warum man gekämpft hat.” Und auch “Wird das überhaupt jemanden interessieren?”
Doch. Es ist mehr als interessant. Es ist eine unverzichtbare Pflicht, über die damaligen Ereignisse für diejenigen, die die dunklen Jahre der Besatzung nicht erlebt haben,
Zeugnis abzulegen. Und was das Vergessen angeht: wie schmerzhaft muss es für die
damaligen Beteiligten gewesen sein, zu sehen, wie sie ihre Jugend geopfert haben.
Folgendes Gedicht, “das Klagelied des Partisans” sagt darüber alles:
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Um das Auffinden der Sender durch die Deutschen zu erschweren, wurden in den Geräten die FrequenzKristalle oft gewechselt und dann nach England weiter geleitet. Diese Aufgabe wurde von “Jacot” wahrgenommen. Als “Jacot” geschnappt wurde, übernahm “Tilden” die Nachfolge und war dadurch bestens platziert, um alles über den Funkverkehr zu wissen.
Vorwort
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Der Wind weht über die Gräber
Die Freiheit kehrt zurück
Man vergisst uns
Wir verschwinden in den Schatten.
Müssen wir die Taten der Widerstandskämpfer als Zeitverschwendung betrachten? Mit
Sicherheit nicht! Ohne die Tausende von “Paul Segrétain” wären wir vielleicht noch
heute ein besetztes Land. Doch wir leben in einem freien Land, etwas, das heute auf
unserem Planeten nicht immer selbstverständlich ist.
Aus diesem Grund bin ich mehr als glücklich, dass der damalige Verantwortliche des
Netzwerks CND-Castille am Ende bereit war, über diese Zeit zu sprechen, und ich bin
stolz darauf, dass er mich ausgewählt hat, seine Aussagen zu präsentieren. Zum
Schluss möchte ich darauf aufmerksam machen, dass Oberst Rémy, sowohl in den
Briefen, die er persönlich an ihn gerichtet hat, als auch in zwei seiner monumentalen
Werke „Mémoires d‘un agent secret de la France libre“ (“Erinnerungen eines Geheimagenten des freien Frankreichs”), „Comment meurt un réseau, Volumen IV“ (“Wie stirbt
ein Netzwerk” Band IV) und „Une Affaire de trahison, Band V“ (“Eine Affäre von Verrat”
Band V) Paul Segrétain gewürdigt hat.
Daniel Potron
Präsident der Gruppe Bewusstsein
der Region Fléchois
Vorwort
Abbildung 5 - Abflug von Istres
Abbildung 6 - Wachmannschaft einer Simoun, in Tafraoui. Paul Segrétain ist der zweite von
links. Die Simoun war eine mit einem verstellbaren Propeller versehene Maschine, die einen
Motor von Renault hatte.
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Aktionen des Widerstandes
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Aktionen des Widerstandes
ach dem Ende des “seltsamen Krieges” und dem Waffenstillstand von Petain,
endete mit meiner Demobilisierung in 1940 und Rückkehr aus Algerien die
Zeit meines freiwilligen Dienstes, der 1939 begonnen hatte. Da ich meine Berufsausbildung bei der SNCF (der französischen Bahn) in Le Mans gemacht
hatte, habe ich auch dort meine Arbeit als stellvertretender technischer Leiter
der Instandsetzungsabteilung für Dampf- und Elektrolokomotiven wieder aufgenommen.
N
Ab dem Monat Oktober gab es mehrere Gelegenheiten, dem Besatzer zu zeigen, dass
seine Anwesenheit in unserem Land unerwünscht war. Verschiedene Kontakte mit
anderen Eisenbahnern wie Lambert, Blateau, Lerouvillois, Beaulaton, Francois,
Daviron und vielen anderen (diese Gruppe wurde unter dem Namen “Résistance-Fer” “Eisenbahner-Widerstand” - bekannt) haben es möglich gemacht, an die in der Werkstatt befindlichen Lokomotiven Sabotage-Akte durchzuführen. Das rollende Material
hat dadurch oft genug den Dienst verweigert und fügte dem Feind größeren Schaden
zu.
Obwohl verboten, die Anweisungen vom englischen Radio haben sehr viel dazu beigetragen, unseren Widerstandsgeist zu verstärken. Der Buchstabe “V” (englisch Victory =
Sieg) und das lothringische Kreuz waren nach unserem “Besuch” überall an den Häuserwänden zu sehen. Mit der Fahrradklingel haben wir die ersten Noten der fünften
Sinfonie von Beethoven, die als Vorspann von Radiosendungen aus England dienten,
gespielt. Und dann waren da noch die winzigen Pfeile, die die Helme der deutschen
Soldaten trafen, als sie nichts ahnend auf dem Marktplatz von Pontlieue unterwegs
waren. Diese Provokationen führten manchmal zu einer Verfolgungsjagd, doch dank
unserer Ortskenntnisse ist es uns immer gelungen, den Soldaten zu entkommen.
Diese erste Phase meines Widerstandes war wohl nicht sehr von Bedeutung, doch es
war schwierig, ohne die Anweisungen einer guten Organisation mit Verbindungen zu
und Befehlen von einem “freien Frankreich” eine vollwertige Gruppe zu gründen. Der
Versuch, mittels einer alten, von Hand betriebenen Rollenkopiermaschine, Flugblätter
heimlich zu verteilen war weit davon entfernt, meinen Wunsch zu erfüllen, den Besatzer zu bekämpfen.
1941, während der Arbeit, hat ein junger Schlosser zufällig erwähnt, eine Gruppe versprengter Soldaten in der Nähe von Connerré entdeckt zu haben. Er sagte, er hätte
gesehen, wie sie ihre Waffen in der Scheune eines Hauses nicht weit vom Bahnübergang der Linie Mamers - Saint Calais versteckt hätten. Es hat nicht lange gedauert und
als Angler verkleidet machten wir6 einen kleinen Ausflug nach Connerré, wo wir nach
einem kurzen Marsch entlang der Bahnlinie das Versteck fanden. Nachdem wir den
Boden der Scheune abgenommen hatten, fanden wir eine Maschinenpistole, einige
Gewehre und Munition. Diese verschwanden dann in unseren Anglerfutteralen, bzw.
unseren Brotbeuteln. Nach unserer Rückkehr wurden die Waffen unter der Holzdecke
der Schlosserschule von Maroc verstaut und dienten als Unterrichts- und Übungsmaterial für unsere neu formierte Kommandoeinheit. Die Übungen fanden nach Feierabend
in den Gruben der Lokschuppen statt.
Als ich nach der Arbeit in März 1942 auf dem Heimweg war, wurde ich von meiner
Frau informiert, dass ein Fliegerkamerad namens Jacques Basset aus Bernay mit mir
reden wollte und am selben Abend um 19 Uhr ein Treffen an der Promenade der
6
Paul Segrétain wurde damals von zwei Kameraden begleitet.
Aktionen des Widerstandes
17
Jacobins wünschte. Ein anderer Kamerad aus dem gleichen Pilotenlehrgang, Robert
Gérard, würde auch dabei sein. Da Jacques öfter bei uns zuhause war, kam mir dieses
ungewöhnliche Treffen seltsam vor. Warum die Heimlichtuerei?
Wir kannten Jacques Basset aus unserer Ausbildungszeit als Jagdpiloten des Jahrgangs D in Istres in 1940. Dieser kleine Mann kam auf uns zu, gab uns die Hand und
sagte: “Ich kenne euch gut. Wir haben uns bereits 1940 zusammen zum Kriegsdienst
gemeldet und ich weiß, dass Ihr die Deutschen nicht gerade liebt. Habt Ihr Lust, wieder
in den Dienst einzutreten und für ein freies Frankreich unter dem Befehl von Charles
de Gaulle zu kämpfen?”
Ich war begeistert! Es war mein größter Wunsch. Auf diese Gelegenheit habe ich seit
der “Armistice Petain” gewartet.
“Was muss ich tun?”
“Ab sofort gibst du mir alle Informationen über die Deutschen. Für dich heiße ich ab
jetzt Schupo. Sprich nie wieder von Basset.”
“Warum Schupo?”
“Ich weiß nicht, es ist der Name, den man mir gegeben hat.7 Ihr Beide, ihr seid jetzt die
Cobras, in Erinnerung an Istres8 und für mich die deux (zwei) Cobras oder Dekroba
nach dem Autor:9 Ich komme noch mal vorbei.”
Jacques erklärt uns, dass unser Gebiet von Henry Boris, unserem alten Fluglehrer aus
Evreux, befehligt wird. Wir benutzten nur seine Decknamen - SVP, Martin, danach Beaumont.10
Dekobra P wurde schnell Dekobra II 11 und musste alsbald mit der Arbeit anfangen.
Einfach gesagt! Es gibt so viel zu erzählen, dass ich nicht weiß, wo ich beginnen soll.
Ich, der von organisierter Sabotage und vom Aufstand träumte fand, dass es keine
kriegswichtige Aufgabe war, nur Papier zu schieben.
7
Oberst Rémy hat diesen Deckname ausgesucht, eine Abkürzung für Schutzpolizei.
Wenn Jacques Basset nicht mehr wusste, warum man ihn damals Schupo genannt hat, so konnte Paul
Segrétain später auch nicht erklären, warum man ihn “Cobra” nannte.
9
Dekobra: so hieß Maurice Tessier, geboren in Paris in 1885. Er hat das kosmopolitische Leben mit viel
Humor und Fantasie in seinen erfolgreichen Romanen “la Madonne des Sleepings” (erschienen 1925)
und “Sérénade au Bourreau” (1928) beschrieben.
10
Wenn es stimmt, was die Zeitung “Ouest France” in seiner Ausgabe vom 21. Januar 1965 geschrieben
hat so wurde dieser Deckname ausgesucht, weil der Betroffene anfangs in Beaumont-le-Roger gearbeitet hat, wo der Feind einen Fliegerhorst hatte. Den Namen SVP hat er bekommen für sein pfiffiges
Talent. Henri Boris wurde Ende 1941 Chef des Landkreises (departement) Eure: Jacques Basset war
einer seiner Stellvertreter.
11
Robert Gérard, Dekobra G wurde dann Dekobra I.
8
Aktionen des Widerstandes
Abbildung 7 - Ein Ausweis der FFL - Forces Francaises Libres (Streitkräfte des Freien Frankreich) Außen- und Innenseite.
18
Aktionen des Widerstandes
Abbildung 8 - Ausweis der Résistance-Fer (Eisenbahner-Widerstand).
19
Aktionen des Widerstandes
20
Abbildung 9 - Ein an Paul Segrétain verliehenes Diplom für seine Aktion in der Résistance-Fer.
Das Zitat vom 17. Mai 1945 ist von Général de Gaulle unterzeichnet.
„Die Eisenbahner-Widerständler haben mit Mut, Hartnäckigkeit und Disziplin, und trotz aller
Risiken während der Besatzung für Frankreich und seine Freiheit gekämpft. Ihre Taten haben
den Besatzern viel Schaden zugefügt. Auf der militärischen Seite haben sie für die Bemühungen der Alliierten, mit Nachrichten über Sabotageakten und Truppenbewegungen, einen wichtigen Beitrag geleistet. Nach den Landungen haben sie mit von langer Hand geplanten Störaktionen die Arbeit der Eisenbahn völlig durcheinander gebracht. Dadurch haben sie den Bahnverkehr zum Teil lahm gelegt und sicherlich auch dazu beigetragen, die Niederlage der Deutschen
zu beschleunigen.“
Abbildung 10 - Ein an Paul Segrétain verliehenes Diplom, eigenhändig von Charles de Gaulle
geschrieben und unterzeichnet.
Aktionen des Widerstandes
21
Die Deutschen sind überall. Sie haben alles besetzt, alles genommen. Das brauchte
man den Briten nicht erzählen! Ich fand, es wäre nützlich, eine Waffe zu haben, doch
Schupo hat uns davor gewarnt, den Besatzer zu provozieren. Also fing ich als erstes
an, die Namen von mutmaßlichen Kollaborateuren weiter zu geben. Das war der Inhalt
meines ersten Berichts. Auch wenn mir das nicht viel einbrachte, so konnte ich wenigstens meine Verachtung vor denjenigen, die den Deutschen dienten, zum Ausdruck
bringen.
Da war eine Dame (die Frau von Robert Gérard), die für den Fotografen Saunier arbeitet, der einen von den Deutschen häufig besuchten Laden hatte. Durch sie hatte ich die
Möglichkeit, an die Probeabdrucke zu kommen. Manche Fotos halfen, zusammen mit
den Ergebnissen der alliierten Bombenangriffe, ein vollständiges Gesamtbild abzugeben.
Im April hat Jacques ein Treffen im Hause seiner Eltern in Bernay, im Landkreis Eure
organisiert. Dies schien mir leichtsinnig zu sein, doch er hatte mehr Erfahrung als ich
und wusste wohl, wo Gefahr lag. Leider machte ich später die traurige Erfahrung, dass
ich mit meinen Befürchtungen recht hatte. Es gab mehrere Verhaftungen, weil man für
einen kurzen Moment die einfachsten Sicherheitsregeln vergessen hatte. Die Deutschen waren überall.
Schupo organisiert ein Treffen mit unserem Gebietschef. Mit einem wie ihm an der
Spitze haben wir die Gewissheit, dass unsere Arbeit nützlich ist. Er gibt uns sehr genaue vorgefertigte Fragebögen, die unsere Recherchen erleichtern werden und hat
mich beauftragt, die Region südlich von Le Mans12 zu organisieren und auch Funker zu
finden. Danach würde er sich mit dem Chef vom Funkdienst in Verbindung setzen.
Zurück in le Mans war es nicht schwer, einen Arbeitsplan auszuarbeiten. Mit Hilfe der
Agenten der SNCF war es mir möglich, detaillierte Angaben über die Aktivitäten der
Bahn sowie Truppenbewegungen, Luftabwehreinrichtungen oder genaue Pläne des
Rangierbahnhofs weiter zu geben. Dazu kamen genaue Angaben über die Lokschuppen und über die Trafostationen für die Stromversorgung der Bahnlinie Paris - le Mans.
Auf meine Bitte hin bemühten sich meine Eisenbahn-Kameraden, die auch gegen die
Naziherrschaft im Lande sind, weitere Agenten anzuwerben. Sie gaben mir ihre Decknamen allerdings aus Sicherheitsgründen nur mündlich. Ich erfuhr später, dass derjenige, der Rissole genannt wurde und der mir half, meine Berichte zu schreiben, Georges Buon hieß. Er wurde später durch seinen Vater, André, ersetzt und ging über Spanien und Nordafrika nach England, um dort aktiv im Krieg zu dienen.
Raymond Beaulaton, genannt Félix I kümmerte sich um die Verbindung zu Félix II nach
Chateau-du-Loir, ohne zu erwähnen, dass es sich um seinen Bruder Maurice handelte.
Nach meiner Rückkehr aus der Haft in 1945 traf ich Jules von Angers, mit wirklichem
Namen Bernard Francois, ein alter Schulkamerad, sowie Grincheux, der Maurice
Daviron hieß.
12
Paul Segrétain wurde der Leiter der Region Maine-Sud während Robert Gérard (Dekobra I) für MaineNord zuständig war. Beide hatten die gleichen Aufgaben und Verantwortungen.
Aktionen des Widerstandes
22
Abbildung 11 - Bescheinigung von Paul Segrétain über die Aktivitäten von Georges Buon, genannt Rissole innerhalb seiner Gruppe.
Aktionen des Widerstandes
23
Abbildung 12 - Mitgliedsausweis der Bewegung “Ceux de la Résistance”
Abbildung 13 - Mitgliedsausweis der nationalen Föderation der freiwilligen Kämpfer in den Kriegen 1914-1918 und 1939-1945.
Aktionen des Widerstandes
24
Joseph Montépin aus Laval13 hieß Boulanger.14 Was die anderen betraf, wie Philippe
aus Tours oder Chevalier aus Le Mans, musste ich lange warten, um deren richtigen
Namen zu erfahren. Ich habe sie erst bei der Lektüre der Erinnerungen von Oberst
Rémy, Chef des Widerstands-Netzwerkes CND-Castille entdeckt.
Für den “Piloten im Ruhestand” der ich bin, ist es automatisch, dass ich mich um die
Erfassung der hiesigen Aktivitäten der deutschen Fliegerei kümmere, wie Landeplätze,
Flugabwehr oder Betankungsstellen.
Die Informationen, die wir über den Eisenbahnverkehr lieferten hatten großen Einfluss
auf die Genauigkeit der Luftangriffe der Alliierten. Unsere Berichte zeigten genau die
Ergebnisse, sowie die Wirksamkeit der Angriffe der Alliierten auf Lokomotiven, bzw.
Konvois. Nach meiner Rückkehr aus Deutschland hat der Verantwortliche für den
Funkverkehr in unserer Region mir die Genauigkeit der Berichte, die er nach London
weitergeleitet hat, bestätigt.
Am 4. März 1943, als ich in der Lokomotivwerkstatt von Le Mans beschäftigt war, raste
im Tiefflug eine Staffel britischer Mosquito15 Kampf-Flugzeuge die Sarthe entlang in
Richtung Arnage. Da wurden in mir meine Pilotenreflexe geweckt und ich verstand,
was sie vorhatten. Ich warnte alle meiner Agenten, sich flach auf den Boden in der Nähe der Sportanlagen zu legen oder sich in die Werkstattgruben zu werfen. Einige Sekunden später hagelte es Bomben auf die Werkstätten und andere Einrichtungen. Der
Werkstattleiter sowie der Gebietsleiter der SNCF haben sich kurze Zeit später bei mir
für mein positives Handeln bedankt. Kunststück! Die Pläne der Werkstatt waren Teil
einer meiner Berichte und haben wahrscheinlich geholfen, die Angriffspläne zu gestalten.16
Im Dezember 1942 wurde Martin in Bernay durch Gaumont ersetzt, da wir erfahren
haben, dass er von der Gestapo unter seinem anderen Decknamen Beaumont verhaftet wurde. Da er zur gleichen Zeit von der deutschen Polizei gesucht wurde, entkam
unser Freund Basset nach England. Doch bevor er verschwand, und um die Kontakte
zwischen le Mans und Bernay zu gewährleisten hat er den neuen Verbindungsagenten, Gabriel Vallée genannt Lys17 vorgestellt. Danach (inzwischen ist es Januar 1943),
hat er uns Olivier Courtaud, Deckname Jacot als Verantwortlichen für den Funkverkehr
im CND-Netzwerk präsentiert.18
Jacot schickte mir zwei Karten damit ich eine Anzahl Koffer, die er im Bahnhof von Le
Mans abgestellt hat, von der Gepäckaufbewahrung abholen sollte. Der Inhalt dieser
Koffer waren Funksender und anderes Material, welches ich an einen sicheren Ort
bringen sollte. Einmal im Bahnhof angekommen erfuhr ich leicht beunruhigt, dass es
sich in Wirklichkeit um drei Koffer handelte, doch ich hatte nur zwei Karten. Dank der
13
Boulanger war die Verbindung für Versorgung und Verpflegung.
Paul Segrétains eigene Frau war die Verbindung zu Boulanger.
15
Ein Bomber, der mit 1047 anderen Maschinen der Royal Air Force seinen ersten Einsatz bei dem Angriff
auf Köln am 31. Mai 1942 hatte.
16
In einem Brief vom 7. April hat der Chef der Abteilung für rollendes Material folgendes geschrieben, “Ihr
Gebietsleiter hat mich über Ihre Taten am 4. März sowie Ihre Selbstlosigkeit informiert. Ich bin immer
wieder angenehm überrascht über das Pflichtbewusstsein der Eisenbahner von denen Sie ein leuchtendes Beispiel sind. Ich danke Ihnen.”
17
Gabriel Vallée war einer der aktivsten Weggefährten und Stellvertreter von Gaumont.
18
Oberst Rémy schreibt, “Jacot bittet Dekobra I, eine Funkverbindungsstelle in Le Mans zu organisieren.
Dekobra I richtet diese Bitte an seinen Schwiegervater, einen ehemaligen Marinefunker namens
Edouard Fauchard aus, da er wusste, dass dieser heiß darauf war, dienlich zu sein. Fauchard stimmte
sofort zu“.
14
Aktionen des Widerstandes
25
völlig unerwarteten Komplizenschaft des Bahnbediensteten konnte ich den dritten Koffer nach dem Öffnen ohne Probleme in Empfang nehmen. Die Funkteile waren nämlich
inmitten von Päckchen englischen Tabaks versteckt. So kam der gute Mann der Bahn
in den Besitz von einem eher seltenen Produkt.
Also packte ich die Ladung mehr oder weniger sicher auf mein Fahrrad und fuhr los.
Glücklicherweise war es gerade Mittagszeit und es war kaum jemand unterwegs. So
radelte ich, von Rissole begleitet, quer durch Le Mans. Ein Bauer, Noel Crosnier,
Deckname Boulet, holte bei Georges die Koffer ab und brachte sie zu sich nach Hause
in Saint Saturnin, wo sie in Sicherheit waren.
Diese praktische Arbeit war mir viel lieber als Monatsberichte zu schreiben, deren
Nützlichkeit ich nicht immer sehen konnte. Leider kam dann ein Befehl, der mir verbot,
mich mit dem Radio zu beschäftigen: also, zurück zum Schreibtischdienst!
In September 1943 bekamen wir den Befehl von Gaumont, Kampfeinheiten und einen
Nachrichtendienst einzurichten. Diese neuen Maßnahmen wurden bei seiner Durchreise in Frankreich vom Oberst Passy im März 43 eingeführt19 Diese neuen, mit Waffen
und Funksendern ausgestatteten Einheiten sollten so lange “schlafen” bis zum Tag X,
um gleichzeitig mit den Landungen der Alliierten einen nationalen Aufstand zu organisieren. Wir dachten sofort an den Hof von Boulet, wo viel Material gelagert werden
könnte. Leider wurde Gaumont in Dezember 43 verhaftet (er hieß mit vollem Namen
Gaston-Noel Follope) und wurde im Februar 44 erschossen.
Anfang Oktober 1943 organisierte Lys wie jeden Monat, mittels eine Postkarte an eine
Frau Leuillieux aus Le Mans adressiert, ein Treffen. Diese wusste natürlich nicht, von
wem die Karte stammte und brachte sie zu M. und Mme Cabaret, Inhaber eines Cafés
und Lebensmittelladens.
Begleitet von Brottier,20 einem Agenten von Gérard, warteten wir in der Nähe des
Bahnhofs, wo er einen Umschlag von Lys erhielt. Er trennte sich dann von uns, da wir
weiter zu einem geheimen Ort mussten. Wir gingen zur Henri-Delagenière-Straße Nr.
34, wo uns ein Raum in einem Gebäude, das Mme Blanche Leuillieux21 gehörte, zur
Verfügung stand. Diese gute alte Rentnerin empfängt uns mit offenen Armen und bittet
uns, ins Wohnzimmer zu kommen. Sie wurde soeben über Radio Algieren informiert,
dass die Streitkräfte des freien Frankreichs Bastia (Korsika) eingenommen hatten. Zu
Feier des Tages öffnete sie eine Flasche 89er Samos. Mein Gott! war das ein verdammt guter Wein! Kurz darauf gingen wir. Und wie überrascht war ich, als ich am
Abend auf BBC hörte, dass die Neuigkeit wohl falsch war! Falls die herzensgute Frau
Leuillieux es mitbekommen hat, hat sie der Flasche sicher nachgetrauert!
19
Oberst Passy hieß in Wirklichkeit André Dewavrin und hat 1942 in London das BRCA (Bureau Central
de Renseignement et Action = Zentrales Büro für Nachrichtendienst und Aktion), dass die Arbeit aller
Widerstandsorganisationen sowohl in Nordafrika als auch in Frankreich koordinieren sollte, gegründet.
20
Daniel Brottier war der Deckname von Georges Dugué.
21
Mme Leuillieux wohnte im Nachbarhaus Nr. 36. Haus Nr. 34, dass nicht bewohnt war, gehörte ihr auch.
Aktionen des Widerstandes
26
Robert Gérard
(Dekobra I)
deportiert
Edouard Fauchard
((Poulet)
während der Deportation gestorben
Georges Dugué
(Brottier)
deportiert
Marie-Thérèse
Dugué
verhaftet
René André
(Poussin)
deportiert
Noel Crosnier
(Boulet)
Mme Leuillieux
damals 72 Jahre alt
Nr. 34 und 36
Rue Henri-Delagenière
Aktionen des Widerstandes
27
Abbildung 14 - Bescheinigung von Olivier-Jacques Courtaud, genannt Jacot über den Einsatz
von Paul Segrétain im Netzwerk CND-Castille
Aktionen des Widerstandes
Abbildung 15 - Einer der zahlreichen Briefe von Oberst Rémy an Paul Segrétain
28
Aktionen des Widerstandes
29
Abbildung 16 - Oberst Rémy (richtiger Name Gilbert Renault) hat 1965 für Paul Segrétain und
seine Frau das Programmheft eines Gala-Abends unterschrieben, der von den Freunden des
ehemaligen Widerstands-Netzwerkes organisiert wurde, das 19 Jahre zuvor, am 19. November
1946 stattfand. Renault war einer der wichtigsten Geheimagenten des Widerstands.
Aktionen des Widerstandes
30
Einer unserer M7-Funksender war in ihrem Haus versteckt. Später habe ich erfahren,
dass ein weiterer Sender bei Albert Richard, Deckname Le Docteur in 33 rue d’Eichtal,
untergebracht war. Der dritte Sender war im Gegensatz zu den zwei anderen ein mobiles Gerät und in einem Café rue des Mûriers versteckt.22
Ich machte mir Sorgen weil Lys, der wohl eine Vorahnung hatte, mir gesagt hat, “falls
sie mich erwischen, bin ich nicht sicher, ob ich die Folter aushalten kann. Da würde ich
vorher lieber meinem Leben ein Ende machen.” In der Tat: er wurde im November verhaftet und beging im Gefängnis Selbstmord.
Die Aufgabe des Geheimagenten begeisterte mich nicht wirklich. Abgesehen von den
Treffen mit den Verbindungsleuten oder mit meinen eigenen Agenten hatte ich das
Gefühl, im öffentlichen Dienst für eine Verwaltung mit unbekanntem Chef Papierarbeit
und Überstunden zu machen. Aus diesem Grunde habe ich im Rahmen meiner Möglichkeiten beschlossen, einigen Leuten in Le Mans, wie Fahnenflüchtigen, entkommenen Zwangsarbeitern, oder Menschen, die sonst wegen der Besatzung Schwierigkeiten
hatten, heimlich zu helfen. Ich besorgte gefälschte Papiere und Lebensmittelkarten, die
einer meiner Agenten im Rathaus von Allonnes, einer kleinen Gemeinde in der Nähe
von Le Mans, geklaut hat. Der Bilderrahmen, der als Versteck für diese Dokumente
diente, hat sie während meiner Gefangenschaft geschützt.
22
Das heißt, nicht weit vom Haus Edouard Fauchards, unserem Funker.
Verhaftung!
31
Verhaftung!
A
nfang November 1943 kam ein neuer für die Verbindung mit der Zentrale aus
Paris23 gesandten Agent namens Alain Drion, genannt Voisin, um uns zu erzählen, dass sich die Lage in unserem Netzwerk verschlechtert. Er sagte uns,
dass wenn wir im BBC eine Warnung hören, die von einem Sturm oder einem
Gewitter im Westen spricht, wir sofort das Weite suchen müssen.
Am 2., 3., 4., und 5. November warte ich. Lys ist verspätet, die Post für Oktober
bleibt hinter der doppelten Wand eines Bilderrahmens, der in der Küche hing, versteckt. Ich war beunruhigt.
7. November; ein Sonntag wie immer! Heute Vormittag soll ich mit Robert Gérard nach
Maule24 fahren, um bei Boulet Material für die Bildung eines Nachrichtendienst und
einer Kampfeinheit zu organisieren. “Nicht zu spät zurückkommen; um 11 Uhr kommt
die Ente in den Backofen”, sagte meine Frau. Leider werde ich sie erst sechzehn Monate später wieder sehen.
Ich gehe in die Rue du Miroir, um Robert abzuholen. Er sagt zu mir, “Lasst uns bei
meinem Schwiegervater, (Edouard Fauchard, verantwortlich für den Funkverkehr in Le
Mans) vorbeischauen. Er soll uns weitere Informationen über das geben, was wir am
Tage der Landungen tun müssen.”
23
Oberst Rémy schreibt: “die aus Paris kommenden Agenten sind für den Kontakt zwischen den Funkern
aus Le Mans und der Netzwerk-Zentrale zuständig. Sie bringen verschlüsselte Telegramme, die wir
nach London weitergeben sollen, zu Poulet und Poussin, unseren beiden Funker in Le Mans.”
24
Ein großer Hof in Saint Saturnin wo Boulet wohnte.
Verhaftung!
Abbildung 17 - Der Ausweis vom nationalen Bund des kämpfenden Frankreich
32
Verhaftung!
33
Nach unserer Ankunft in der Rue des Mûriers steigt Robert von seinem Rad und klingelt an der Tür seines Schwiegervaters. Ein Unbekannter öffnet und fragt uns, zu wem
wir denn möchten.
“Ich möchte Mr. Fauchard sprechen”, sagt Robert.
“Warten Sie einen Moment. Ich werde schauen, ob er Sie empfangen kann.”
Wir glauben, dass Poulet am Funkgerät tätig ist und der Mann an der Tür einer seiner
Agenten ist. Nach kurzer Zeit öffnet sich die Tür wieder.
“Bitte meine Herren, treten Sie ein.”
Leicht neugierig, aber ohne Misstrauen stelle ich die Fahrräder an der Hauswand ab
und gehe Robert, der bereits im Hausflur steht, hinterher. Ein anderer Unbekannter,
der hinter der Haustür steht, macht diese sofort zu und sagt etwas zu dem Mann, der
geöffnet hat, auf Deutsch. Beide hatten eine Hand in der Manteltasche. Wir haben verstanden!
Totales Chaos im Haus; ein dritter Deutscher stöbert in den Schränken herum. Eine
regelrechte Hausdurchsuchung und wie die Anfänger sind wir in die Falle getappt. Frage an Robert:
“Was wollen Sie hier?”
“Ich wollte meinem Schwiegervater vorschlagen, mit uns aufs Land zu kommen, um
Lebensmittel zu besorgen.”
“Ach so. Mr. Fauchard ist Ihr Schwiegervater? Das werden wir gleich sehen.”
Auf Verlangen des ersten Mannes kommt Mme Fauchard aus dem ersten Stock, wo
sie festgehalten wurde, um uns zu identifizieren. Ihr bestürztes Gesicht sagt alles über
das Drama.
“Dieser Herr ist sehr wohl mein Schwiegersohn. Was wollen Sie von ihm? Er hat nichts
getan.” “Das werden wir später feststellen. Gehen Sie wieder nach oben! Und Sie beide; hier entlang!” Wir werden in die Küche gebracht und dort einer Durchsuchung unterzogen, die sich gewaschen hat! “Ihre Papiere! Keine Waffen? Gut. Warten Sie hier!”
Warten auf was, dachte ich. Doch ich würde es bald erfahren.
Kurz vor Mittag hören wir, wie mehrere Autos vor dem Haus halten, danach Fußstapfen und Stimmen im Korridor. Von Gestapomännern umgeben, kommt Fauchard in das
Zimmer, wo man uns bewacht. Sie werden über uns informiert und beginnen, uns erneut zu durchsuchen und fragen uns, was wir dort zu suchen hätten.
Ein große Blonder im beigen Mantel und kurzem Haarschnitt, der ausgezeichnet französisch spricht, fischt ein Heft aus der Tasche von Robert, wirft ein Auge drauf und
ohne Warnung schlägt ihm mit einem aus seiner Manteltasche geholten Schlagring ins
Gesicht. Das Blut spritzt überall und der Deutsche legt geschwind Dekobra I die Handschellen an.
Es klingelt wieder an der Tür. Der Typ, der Französisch spricht, öffnet. Mein Herz
stockt. Wer wird jetzt in die Falle tappen? Aber es war nur der Nachbar, der wegen
einer Reparatur seines Fotoapparats zu Fauchard wollte. Auch er wird festgehalten.
Verhaftung!
34
Trotz der tragischen Situation müssten wir doch lächeln, als der Nachbar die Polizisten,
die immer noch in den Schränken herumwühlten, immer wieder fragte, “Meine Herren,
sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe?”25
Mit quietschenden Bremsen hält ein Auto vor dem Haus und fährt sofort wieder los.
Dreimal klopft es an der Tür. Einer unserer Bewacher öffnet. Ein halbes Dutzend Gestalten, Maschinenpistolen unter dem Arm, stürzen herein und schieben einen mir unbekannten Mann vor sich her. Erst viel später erfahre ich, dass es sich um René André, genannt Poussin,26 den zweiten Funker in unserem Gebiet, handelt.
Dann kommt der große Blonde, schaut auf den Revers unserer Jacken, findet die Piloten-Abzeichen und brüllt, “Sieh mal einer an. Das sind die zwei Flieger, die wir suchen!”
Ein kurzes Gespräch zwischen unseren Bewachern und der Gruppe, die gerade gekommen war, führt zu einem weiteren Verhör. Zwei von ihnen stürzen sich auf uns
während die anderen sich im Haus verteilen. Einer davon scheint der Chef zu sein und
setzt den beiden Funkern mit technischen Fragen zu.
Robert wiederholt seine Aussage, dass wir unseren üblichen Sonntagsausflug zwecks
Lebensmittelsuche machen wollten, doch die Deutschen scheinen bereits ihre feste
Meinung zu haben. Ich wurde wieder peinlich genau durchsucht, vor allem wurden
meine Papiere, besonders diejenigen, die von der Reichsbahn in deutscher Sprache
verfasst waren, genauestens unter die Lupe genommen.
Natürlich tue ich so als ob ich vom Radio keine Ahnung hätte, vom Klavier, wie meine
Bewacher es nennen. Ich antworte,
“Wir wollten nur Lebensmittel besorgen, das hat Ihnen mein Kamerad bereits gesagt.”
Sofort ein Schlag, dass mir Hören und Sehen vergehen, aber ich bleibe stur. Sie schicken mich in die Küche zurück, während die anderen ins Esszimmer geschleppt wer-
25
26
Nach Historia Nr. 27, 1972 nutzte die erst siebenzehnjährige Thérese Fauchard diese Gelegenheit,
einige Zuckerwürfel in die Tasche ihres Schwagers zu schieben. Robert steckte ein Stück in den Mund
und fing gerade an zu lutschen, als einer der Polizisten dies bemerkte. “Halt! Er will sich vergiften!” Er
holt Robert das Stück Zucker aus dem Mund, berührt es mit der Zunge und knurrt, “komischer Geschmack. Das müssen wir analysieren lassen!”
In der Nacht vom 5. auf den 6. November brachte die Frau von René André ein kleines Mädchen zur
Welt. Am 7. November wollte René, der die Klinik erst in den frühen Morgenstunden verlassen hat,
seine Freunde die gute Nachricht berichten und einen Strauß Blumen kaufen. Als er seine Haustür öffnete, wurde er von zwei bewaffneten Deutschen empfangen, die ihm sagten, sie hätten seinen Chef,
Edouard Fauchard, verhaftet. Die Deutschen wussten, dass die Gruppe über drei Funksender verfügte,
da sie bereits einen bei Fauchard gefunden hatten. Um den Versteck der beiden anderen Sender herauszubekommen wird René zusammengeschlagen. Um Le Docteur zu retten, der den anderen Sender
hatte, versuchte René André einen kleinen amerikanischen Kurzwellenempfänger den Deutschen als
Sender unterzujubeln, doch die Polizisten ließen sich nicht täuschen, wurden aber halbwegs überzeugt
als René sagte, “Der Sender funktioniert sehr schlecht und ich habe ihn aussortiert, aber ich kann Ihnen einen anderen geben”. Er führt sie in die 34 Rue Henri-Delagenière, zu dem unbewohntem Haus
(wir erinnern uns) wo in der Tat der andere Sender war. Die Szene wurde im Buch “Une Affaire de
Trahison” wie folgt beschrieben; Wir halten vor 34 rue Henri-Delagenière an. Sie nehmen mir die
Handschellen ab. Ich klingele, aber - natürlich - niemand öffnet. Wir müssen uns beeilen. Ich sage, wir
können es nebenan versuchen. Bevor sie die Zeit haben, darauf zu antworten, klingele ich an die Tür
von Nr. 36. Es ist Mme Leuillieux, die öffnet. Sie kennt mich und als sie die Männer neben mir sieht,
versteht sie sofort und reagiert gelassen. “Madame, bitte entschuldigen Sie mich, aber ich habe mein
Elektriker-Werkzeug im Haus nebenan vergessen. Ich möchte es holen, aber es ist niemand da.” “Kein
Problem. Wir können über den Hinterhof hinein.” Wir gehen hinein und finden eine Verbindungstür zu
Nr. 34. Wir steigen zum Dachboden hinauf, nehmen das Gerät und kommen wieder herunter, wo Mme
Leuillieux ganz in Ruhe auf uns wartet. Ich bedanke mich, die Polizisten verabschieden sich und wir
gehen hinaus. Ein großer Seufzer der Erleichterung! Ich hatte echt Angst um die alte Dame.
Verhaftung!
35
den. Es war wohl gegen Mittag als der Freund vom Fauchard das Haus verlassen darf.
Ich frage den Boche, der mich bewacht und dabei ist, die Küche auf den Kopf zu stellen, ob ich auch gehen darf. Er zuckt nur mit den Schultern.
Der Blonde (ich bin sicher, er ist entweder Franzose oder Belgier) kommt auf mich zu,
bindet mir mit einem Stück Draht die Hände fest und treibt mich mit den anderen in
einen weiteren Raum. Ein Stuhl wird heran geschoben. Ich kann den Draht millimeterweise hin und her bewegen, um die Krämpfe etwas zu lindern. Jeder von uns27 ist in
eine Ecke des Zimmers durch Möbelstücke von den anderen isoliert, damit wir nicht
miteinander kommunizieren können. In der Zwischenzeit sitzen die Boches in der Küche und essen. Der Keller und die Speisekammer des armen Fauchard mussten dafür
herhalten!
Viel später dürfen wir dann über die Denunziationen, die zu unseren Verhaftungen geführt haben, miteinander reden.
Der unheimliche Bernard Fallot, französischer Agent für die deutsche Gegenspionage,
bekannt auch unter dem Decknamen Moreau, hat fälschlicherweise behauptet, dass es
Alain Drion (unser Voisin) war, der nach seiner Verhaftung am 5. November unsere
Verbindung zur Zentrale in Paris verraten hat. Warum dann hat der Bericht von Robert
Bacqué, genannt Tilden, bereits am 4. November davon gesprochen? Er war der wirkliche Verräter, der für die vielen Verhaftungen verantwortlich war.28
Nach dem Essen, so gegen 14 Uhr nehmen die Boches meine Kameraden mit. Dann
bin ich dran. Ich werde in ein Citroen gesteckt und durch die wegen des ToussaintFestes (Allerheiligen) verstopften Straßen in die rue des Fontaines 92 gebracht, Sitz
der Gestapo in Le Mans.
Unsere Funker sind nicht da, aber ich finde Robert Gérard und eine unbekannte Frau
sowie einen weiteren Mann, den ich ebenfalls nicht gleich erkannte. Es war unser
Brottier, einer von Gérards Agenten, der einen Bart hat wachsen lassen, um nicht erkannt zu werden.29
27
Robert Gérard, Edouard Fauchard, René André und Paul Segrétain.
Es ist in der Tat Tilden, Chef vom Funkdienst des CND-Netzwerkes und Nachfolger von Jacot, der die
Leute von Le Mans verraten hat. Ein von ihm eigenhändig verfasster Bericht, im Archiv des SD in der
Avenue Foch entdeckt, lässt überhaupt keinen Zweifel daran, dass er der Verräter war. Tilden hat wohl
einige Ohrfeigen vom belgischen Spion Georges Delfanne (genannt Masuy) bekommen, wurde aber
nach Aussage des Stellvertreters von Masuy, des Franzosen Bernard Fallot, nicht gefoltert. Masuy
wurde nach der Befreiung zum Tode verurteilt. Oberst Rémy hat in der bereits zitierten Historia zum
Thema Tilden erklärt, “Vielleicht hätte auch ich unter Androhung von Folter aufgegeben und anschließend einen “Bericht” geschrieben. Ich glaube jedoch, dass ich nicht so weit gegangen wäre wie er und
so viel preisgegeben hätte. Sobald er damit fertig war, fingen die Verhaftungen an. Sie waren so zahlreich, dass binnen kürzester Zeit das Netzwerk total zerschlagen wurde.” Der Gründer des CNDNetzwerks hat dieses Thema ausgiebig in seinem Werk Une Affaire de Trahison behandelt. “Ohne,
dass er in irgendeiner Weise misshandelt oder gefoltert wurde, hat er alles, was er wusste preisgegeben. Er hat sogar zugestimmt, vor einigen Kameraden die Rolle eines entkommenen Häftlings zu spielen. Er hat verschlüsselte Nachrichten mit der geheimen “Unterschrift” des Netzwerks nach London geschickt. Dadurch konnte er glaubhaft machen, dass die Mitteilungen freiwillig und ohne Zwang verfasst
wurden. Dabei war der Inhalt der Mitteilungen von den Deutschen diktiert.”
29
Genau wie Poulet (Fauchard) und Poussin (André) arbeitete Brottier (Georges Dugué) bei der Mutuelle
Générale Francaise (die französische Krankenkasse). Dekobra I (Gérard) wollte Gaumont (Foloppe)
als Ersatz für Schupo (Basset). Aber Schupo hielt Gaumont als Nachrichtenagent für besser geeignet
und zog es vor, Lys (Vallée) als Verbindungsmann zwischen Le Mans und Bernay einzusetzen.
28
Verhaftung!
36
Wie in der Rue des Mûriers müssen wir kniend warten. Ein Typ vom SD, Waffe in der
Hand, bewacht uns. Bei der kleinsten Bewegung brüllt er. Im Radio laufen die neuesten Schlager.
Noch eine Ausweiskontrolle und dann fängt das nächste Verhör an. Einer nach dem
anderen, angefangen mit Robert und Brottier, werden wir in den ersten Stock zum Büro
des Gestapochefs gebracht. Der Deutsche, der uns holt, spricht die Namen, bzw.
Decknamen der Gefangenen aus, wahrscheinlich in der Hoffnung, durch einen Überraschungseffekt ein Geständnis zu bekommen.
Mit dem Gesicht zur Wand überlege ich. Ich habe aber kein anderes Alibi als diese
Geschichte, Lebensmittel holen zu wollen. Sie haben doch nichts gegen mich in der
Hand also werde ich alles leugnen. In meinem Kopf sage ich mir, dass mit diesen Affen
alles möglich ist. Vielleicht komme ich noch davon. Jetzt bin ich dran. Die Treppe hinauf, der Soldat stößt mich in einen großen Raum. Vor mir steht ein Riese mit einem
Schlägergesicht und rasierten Kopf und einem Totschläger in der Hand.
Er stürzt sich auf mich und zwingt mich mit Tritten in die Nieren und einem Schlag auf
den Rücken in die Knie. Ein anderer Soldat übersetzt in schlechtem Französisch: “Name, Beruf, Adresse, usw.” Ein Schreiber macht Notizen während der große “Onkel” mit
dem Killergesicht in eine Akte schaut.
Ich bin noch soweit klar, dass ich einen Blick auf diese Akte werfen kann. Ich sehe dort
vertraute Namen wie Basset, Lys, Gaumont, Jacot. Es ist offensichtlich, dass sie eine
ganze Menge schon wissen. Aber wer hat da geredet, frage ich mich?
Eine Stimme wie ein Reibeisen ruft mich in die Gegenwart zurück. Der Soldat übersetzt: “der Chef sagt, es wäre besser für dich wenn du jetzt auspackst, weil er sowieso
schon alles weiß.” Ich wiederhole meine kleine Geschichte, die Stück für Stück vom
Soldaten übersetzt wird. Nicht schlecht diese Pausen, da kann man nachdenken. Aber
auf einmal wird der Große wütend und schreit wie wild herum. Ich verstehe kein Wort.
Als ich langsam beginne, etwas zu kapieren, holt er seinen Schlagstock raus und brüllt
mit Schaum auf den Lippen, “Pââle!, Pââle!” (Parle = Rede!!). Das ist das einzige französische Wort, das er während des Verhörs sagt.
“Ich weiß nichts.” Also stößt er mich gegen die Wand, dreht mich um und traktiert mich
mit Schlägen in den Nieren und in den Rücken bis ich das Gefühl habe, dass es
brennt. Mit den Händen auf dem Rücken versuche ich, die stechenden Schmerzen
auszuhalten. Doch meine Nerven liegen blank, und vielleicht mehr durch List als durch
Schmerzen fange ich an, laut zu stöhnen. Das Monster, langsam außer Atem, hört auf
mich zu schlagen, allerdings nicht lange, dann geht es wieder von vorne los.
Ich leugne grundsätzlich alles, was der “Große” mir vorwirft, aber ich merke, wenn er
vom Funkverkehr und Dekobra spricht, dass er verdammt gut informiert ist. Allerdings
scheint er nicht zu wissen wer ich bin, weil er mich ständig danach fragt. In erster Linie
will er von mir die Bestätigung über das haben, was er schon weiß.
Nach einer Weile und einer weiteren Abreibung nach “Art des Hauses”, die er perfekt
beherrscht, werde ich wieder nach unten gebracht, wo das laute Radio noch schmerzhafter ist. Mehrmals werden meine Kameraden geholt, ich bin ebenfalls öfter an der
Reihe. Inzwischen, um nicht mehr so brutal gegen die Wand geworfen zu werden, drehe ich mich für die Tracht Prügel freiwillig um. Am Ende einer dieser “Sitzungen” und
bevor ich nach unten gebracht werde, beginnt der Übersetzer ganz ungezwungen mit
mir über Sport, Studienzeit, und ähnliches zu diskutieren. Aber ich weiß, was er vor
hat!
Verhaftung!
37
“Warum hast du das gemacht? Du bist nicht dumm und wir wissen schon alles. Warum
setzt du dich dem Zorn des Chefs aus, da wirst du für nichts und wieder nichts geschlagen. Ich habe den anderen zugehört, sie haben alle gestanden. Mach das gleiche
und man wird dich in Ruhe lassen.”
Stück für Stück erzähle ich Einzelheiten über unseren Ausflug zwecks Versorgung mit
Lebensmitteln, die mir im Übrigen jetzt fehlen. Ich bin unschuldig, aber der Chef besteht darauf, mich festzuhalten. Er zuckt mit den Schultern und hört sofort auf, den
Mitleidigen zu spielen.
Dann eine letzter Sitzung; ich habe Bammel:
“Der Chef will wissen, ob du jetzt reden willst.”
“Ich weiß nicht, was Ihr wollt.”
Wie bei allen Verhören, Schaum im Mund, ab gegen die Wand, der Knüppel.
“Der Chef sagt, du bist zu blöd. Dein Kamerad hat schon gestanden, dass ihr zusammen arbeitet.”
“Ja sicher! Wir arbeiten bei der Bahn zusammen.”
“Der Chef sagt, du bist auch ein Spion.”
“Das ist nicht wahr. Er kann tun und lassen, was er will. Ich weiß nicht warum er mich
in die Geschichte verwickelt.”
“Der Chef sagt, also gut. Ich werde ihn kommen lassen.”
Gérard, mein Chef, kommt und bestätigt unter Schläge die Aussage des Deutschen.
Auf einmal fühle ich mich schwach und ich könnte heulen. Ich mache Robert keinen
Vorwurf. Er hat auch gelitten und egal, die Boches hätten mich sowieso nicht gehen
lassen.
Die Wache nimmt ihn wieder mit und der “Killer” grinst ganz hämisch und brüllt, “Rede!
Rede!” Trotz meiner Erschöpfung, möchte ich ihm ins Gesicht spucken.
“Der Chef hat gefragt, wer dein Chef ist?”
“de Gaulle.”
“Der Chef hat gesagt, du willst ihn verarschen! Dein Chef in Frankreich?”
“ Ich kenne ihn nicht.”
“Der Chef hat gefragt, wie bist du rekrutiert worden?”
“Durch einen Kumpel vom Regiment, der nach London gegangen ist.”
Ich habe mit diese Aussage nichts riskiert, weil Basset wirklich in England ist.
“Der Chef hat gefragt, wie hast du deine Nachrichten weiter gegeben?”
“Durch einen Verbindungsagent, den ich nicht kannte, und der mir von Basset vor seiner Abreise vorgestellt wurde.”
Verhaftung!
38
“Der Chef hat gefragt wie hast du gewusst, dass er kommt?”
“Er hat eine verschlüsselte Postkarte geschickt.”
Auf diese Weise konnten sie mich nicht mehr fragen wann oder wo das nächste Treffen stattfindet.
“Woher kam er?”
“Manchmal Paris, manchmal Rouen.”
“Welche Art von Nachrichten hast du geschickt?”
“Was meine Arbeit betrifft. Anzahl von Beschäftigten, Lokomotiven in der Reparatur
und Kollaborateure in meinem Viertel.”
“Ach so! Naja, du kennst die Regel. Du bist ein Spion. Du wirst erschossen.”
“Ich bin kein Spion! Ich bin in Frankreich und ich arbeite für die Franzosen!”
Das Verhör geht weiter. Ich kann antworten, in dem ich von den Namen spreche, die in
der Akte stehen. Ich erwähne Basset als der, der mir die Leute vorgestellt hat. Er hat
breite Schulter, der gute Basset. Er ist ja weit weg, zum Glück!
Der “Killer” bohrt aber nicht mehr nach; er weiß schon Bescheid über die Dinge, die ich
erwähnt habe. Was er will sind andere Geständnisse und lässt sich von meinem kleinen Spiel nicht in die Irre führen. Für ihn bin ich nur ein ganz kleiner Fisch, eine Nebenfigur.
Der Draht um meine Handgelenke wird entfernt und durch Handschellen ersetzt. Es ist
18 Uhr. Man schiebt mich in den Citroen wo ich die unbekannte Frau von vorher wieder
sehe. Sie ist Mme Dugué die Frau von Brottier.30 Über den Place des Jacobins werden
wir ins Gefängnis Vert-Galant gebracht. Der Anblick der vielen Menschen, die sich auf
dem Marktplatz tummeln, und von unserer Lage nicht mal etwas ahnen, wird für immer
in meinem Gedächtnis bleiben.
Wir werden voneinander getrennt und eingesperrt. Ich befinde mich in einer Zelle mit
anderen französischen Gefangenen, die aus verschiedenen Gründen verhaftet wurden.
Im Anfang sind sie alle recht misstrauisch, doch nach einigen Fragen von meinen Mitgefangenen, die über meine zerrissene Kleidung und meinen schwarz gefärbten Rücken staunten, ging es wieder.
Es mangelt nicht an Dreck und Flöhen. Die Wände sind von zahlreichen Graffitis beschmiert. Ich sehe auch die Striche, die als Kalender gedient haben, auch ein von einem “Politischen” geritztes Kreuz, bevor er abgeholt wurde.
Die Komplizenschaft von gewissen Zellengenossen macht es möglich, an meine Familie einen Brief zu schicken, um zu erfahren, ob es zuhause eine Durchsuchung gegeben hat. Ein Päckchen mit Kleidung kommt und ich kann endlich die alten Fetzen ausziehen. Ich entdecke eine kleine aber beruhigende Nachricht, in spezieller Tinte auf
dem Begleitschein gedruckt. Eine einfache Wärmequelle wie die Glühlampe in der Zelle, und der Text erscheint.
30
Sie wurde verhaftet als die Deutschen in ihr Haus eindrangen und ihren Mann verhörten. Sie war dabei,
kompromittierende Papiere zu verbrennen.
Verhaftung!
39
Bald darf ich auch an die Luft, im Gänsemarsch um den Innenhof, ohne allerdings mit
Robert oder Georges reden zu können.
Am Morgen des 29. November werden Robert, Georges, seine Frau und ich, sowie ein
in der Nähe von Le Mans aufgegriffener und in Zivil gekleideter amerikanischer Pilot
von fünf Schupos aus dem Gefängnis geholt. Aneinander gefesselt und von einer Eskorte begleitet, machen wir uns zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Für die Ortsansässigen, die wir unterwegs begegnen, sind wir sicherlich Terroristen. Unter Bewachung
geht es dann nach Paris.
In Montparnasse angekommen versuchen sie, uns so unauffällig wie möglich aus dem
Bahnhof zu bekommen. Der Schaffner, mit einem anderen Reisenden beschäftigt, bemerkt zu spät, dass wir ohne unsere Fahrkarten stempeln zu lassen, draußen sind. Als
Antwort auf seinen Aufruf zeigen wir unsere Handschellen. Diese Geste und der Blick
der Polizisten verursachen eine unerwartete verbale Reaktion des Mannes, “Ach du
Scheiße!”
Ein Auto wartet auf uns und bringt uns zur Avenue Foch. Vor dem Gebäude stehen wir
uns die Beine in den Bauch, dann geht es weiter nach Fresnes. Es ist schon dunkel.
Der deutsche Wachmann sammelt alle unsere Papiere, Gürtel, Schnursenkel und andere Sachen, die wir bei uns haben, ein. Dann ab durch die Kellergänge in die für uns
vorgesehenen Zellen.
Ich bin in Nr. 245, nicht weit von der Zelle von Robert, im 2. Stock einer der langen
Galerien im Block 3.
Verhaftung!
Abbildung 18 - Ein Gedicht von Paul Segrétain aus dem Jahre 1943
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Verhaftung!
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Finstere Träumerei (Sombre Réverie)
Es ist an dich meine Liebe,
Jeder Moment, jeden Tag,
Dass mein Herz so schwer,
Denkt und träumt immer.
Es ist an dich jede Nacht,
In langer Schlaflosigkeit,
Mit meinen Sorgen allein,
Die ich auch denke.
Wann der Körper so müde,
Mich schlafen lässt,
Ist es von dir meine Liebe,
Von der ich träume.
Warum bin ich eingeschlossen,
Weit von dir meiner Liebe?
Wer hat uns getrennt,
Meine Geliebte?
Ich glaubte an das Schicksal,
Unseres geliebten Frankreich,
Welcher Böse hat gewollt,
Dass wir so leiden?
Ich wollte opfern,
Die Liebe zur Heimat,
Kann man mir vorwerfen,
Mein Land zu viel zu lieben?
Ach, ich bin kein Held,
Ich habe keine Angst vor Tod,
Aber dich verlieren, ist zu viel,
Ich glaubte ohne dich zu verlassen,
Meine Pflicht zu tun. Irre!
Dieser Irrtum hat mich geworfen,
In den Rachen der Wölfe,
Es sind Dämonen,
Hass in den Augen, die
Suchen das Böse, tun es
Für die Liebe zu ihrem Gott.
Diese Männer sind verdammt,
Und sie säen den Tod,
In einigen Jahren wird,
Nichts mehr von ihnen bleiben!
Ich sollte nicht weinen,
Ich habe nachgedacht,
Wenn ich meine Pflicht tue,
Nichts wird vergessen,
Du, Frau, du wirst weinen,
Aber Frankreich wird leben,
Ein ewiges Frankreich,
Jung, sauber und schön,
Gott schützt mich vor dem Tod,
Ich werde viele lange Tage,
Mit dir verbringen, die ich liebe,
Du meine einzige Liebe.
Von Paul Segrétain
in Fresnes geschrieben, Dezember 1943
Verhaftung!
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Am Anfang teile ich diesen kleinen Raum mit Maurice Hewitt, einem in Paris verhafteten Geiger.31 Wenn wir uns unterhalten, vermeiden wir, über die Gründe unserer Verhaftung zu reden, vor allem dann, wenn in den ersten Tagen Unbekannte in die Zellen
verlegt werden, die viel zu viel über ihren eigenen Widerstand sprechen.
Unsere Alltagsbeschäftigung ist wie folgt; Toilette, Aufräumen, Putzen sowie Polieren
des Parkettbodens, Zentimeterweise mit einem aus kleinen Stücken hergestellten Besenstiel, der hinterher als Schachspiel dient. Der wöchentliche Ausgang besteht aus
einigen Schritten auf dem kleinen Innenhof.
Trotz des Risikos gelingt es uns von Zelle zu Zelle zu kommunizieren. Das ist wirklich
gut für unsere Moral. Die Übertragung von Nachrichten wird mit vereinfachten MorseZeichen gemacht, entweder auf die Wände der Nachbarzelle, oder durch die senkrechten Belüftungsrohre in die oberen bzw. unteren Zellen. Am Abend werden die Gespräche über das Oberlicht von einem Block zum anderen geführt. Hin und wieder hören
wir von draußen das Gebrüll eines deutschen Soldaten. Der Lärm von Schritten im
Gang stoppt sofort die Sendungen von “Radio Fresnes”, wo Neuigkeiten beispielsweise von einem neuen Gefangenen bzw. nach einem Verhör ausgetauscht werden.
Andere Neuigkeiten beschaffen wir uns durch die äußerst sparsame Benutzung von
Seiten aus Zeitungen, die eigentlich für die Toiletten gedacht sind. Diese wandern
dann von Zelle zu Zelle.
Eine gewisse Beunruhigung erfahren wir jeden Morgen, wenn es an die Zellentüren
laut klopft, gefolgt vom Ruf “Tribunal!” und “Raus!” Bin ich heute etwa dran?
Von Zeit zu Zeit kommt ein Essenspaket oder ein Päckchen von meinen Eltern oder
meiner Kusine Yvonne de Fontenay, das uns über den größten Hunger hilft. Ich bin
überglücklich, wenn ich trotz der vielen Kontrollen gelegentlich eine im Hemdkragen
vernähte oder im doppelten Boden eines Rillette-Topfes (eine in der Region um Le
Mans beliebte aus Schweinefleisch bzw. Entenfleisch hergestellte Streichwurst) versteckte Nachricht finde.
Die Dusche? Ein Rennen gegen die Zeit, nackt und in einer Kolonne in Richtung bewachtem Duschraum, schnell unter den Wasserstrahl und ebenso schnell wieder zurück in die Zelle. Die, die nicht schnell genug kapieren, werden angezogen geduscht.
Abends, bevor wir uns schlafen legen liest mein Zellenkumpel, Maurice Hewitt, etwas
aus seiner Bibel.
Am 14. Januar werde ich zum ersten Mal in die Rue des Saussaies, in die 5. Etage
gebracht. Im Gefangenentransporter glaube ich Robert zu erkennen. Ich bin in einem
Abteil mit einer Frau. Auf dem Rückweg bemerke ich zu meinem Entsetzen, dass die
Frau am ganzen Körper die Anzeichen von Folter trägt. Nicht nur das. Sie ist am halbnackten Oberkörper und im Gesicht mit Verbrennungen von Zigaretten gezeichnet. Still
und steif sitzt sie da wie gelähmt, vor Angst paralysiert.
Im Laufe des Verhörs versuchen sie, aus mir zusätzliche Informationen zu bekommen.
Die deutsche Polizei hat eine neue Akte, viel umfangreicher als die in der Rue des
Fontaines in Le Mans. Diese Akte beschreibt und analysiert die Bewegungen und Ein31
Maurice Hewitt gehörte dem Netzwerk “Hercule-Buckmaster” an. Er hat ein Streichquartett sowie ein
bekanntes Kammerorchester gegründet, die seinen Namen trugen. Er war Professor an der Musikhochschule in Paris. Er war auch einer der Gründer des FNDLR, ein nationaler Bund für Deportierten
und internierte Widerständler.
Verhaftung!
43
sätze von etlichen “Decknamen”, die ich gar nicht kenne. Leider sind hier die Verhörmethoden die klassischen von der Gestapo angewandten Verfahren, die für ihre Gewalt und Abscheulichkeiten bekannt sind.
Die einzige Schlussfolgerung des Übersetzers ist: “Du hast viel Glück. Vor einigen Monaten hätten wir dich an die Wand gestellt, aber wie brauchen dich für unsere Kriegsmaschine. Du wirst nach Deutschland gehen.” Keine weiteren Einzelheiten.
Eine Unterschrift auf ein Dokument und abends geht es zurück nach Fresnes.
Deportation!
44
Deportation!
A
m 19. Januar laufe ich mit den wenigen Sachen, die mir noch geblieben sind,
hinter dem Wachposten her. Ich werde im Erdgeschoss in eine Zelle geführt,
die bereits zehn andere Gefangene beherbergt. Es sind sowohl Kameraden
aus unserem Netzwerk, wie auch Fremde, die am gleichen Tag wie ich verhaftet wurden. Die Nacht haben wir mit Erinnerungen verbracht, aber auch Fragen
über unsere unsichere Zukunft gestellt.
Am Morgen des 20. Januars werden wir mit Polizeibussen zum Gare du Nord gebracht, dann per Zug weiter zum Lager Royallieu in Compiègne.
Der Aufenthalt im Lager war nur von kurzer Dauer, wurde aber von uns allen wegen
des freien Auslaufs auf einem großen Innenhof und der Möglichkeit, miteinander frei zu
reden, geschätzt. Es war aufmunternd für Leute, die gerade aus einem Gefängnis kamen. Es war auch ein Trost, die Kameraden von der CND-Castille nach diesem unvergesslichen November 1943 wieder zu sehen.
Am 21. Januar beginnt der Appell zum Abtransport.32
Viele von uns träumen von der Flucht und verbergen alles, was wir bei den Durchsuchungen haben verstecken können. Danach werden wir in einem kleinen Zwischenlager zusammengepfercht. Am Samstag, den 22. Januar, gegen 5 Uhr, bekommen wir
die Verpflegung für eine lange Reise: ein Brot, ein wenig Käse und Wurst.
Gegen 8 Uhr, von Soldaten bewacht, marschieren wir in Richtung eines Güterzuges,
der uns im Bahnhof von Compiègne erwartet.
Obwohl die Straßen leer sind, bewegen sich hier und dort die Fenstervorhänge. Offensichtlich verstehen die Bewohner unsere missliche Lage. Und dann werden wir mit
Gewehrkolben in die üblichen, für den Tiertransport vorgesehenen Güterwaggons getrieben. Normalerweise werden 40 Menschen oder 8 Pferde untergebracht. Bis die SSSoldaten die Türen schließen, sind wir 120 Personen in einem Waggon. Es ist ungefähr 10 Uhr, als sich der Zug in Bewegung setzt. Aufrecht und aneinander gedrückt,
beginnt eine Höllenqual. Durch den Schweiß und andere Gerüche wird es unmöglich,
die Luft zu atmen. Für einige ist es ein wahrhaftiger Albtraum. Wir bemerken, dass die
Dachluken mit Stacheldraht geschützt sind. Es gelingt uns trotzdem, sie zu öffnen, um
das Innere des Waggons zu belüften. Allerdings müssen wir sie bei jedem Aufenthalt
schließen, um ein Massaker zu vermeiden.
Wir stellen fest, dass die Insassen des Waggons nicht alle Widerstandskämpfer sind.
Es sind auch gewöhnliche Kriminelle dabei, die wegen Vergehen wie Schwarzmarkthandel, Diebstahl oder Zuhälterei verurteilt wurden.
Die Stimmung ist umso schlechter, nachdem die “Boches” uns gewarnt haben, “Wenn
nur einer von euch versucht zu fliehen, werden drei andere erschossen!” Die ganze
32
Kurz vor seinem Abtransport gelingt es Paul Segrétain, mit Hilfe eines Freundes, eine Nachricht an
seine Eltern bzw. seine Frau zu schicken. Auch wenn die natürliche Bescheidenheit des Verantwortlichen der Region Maine-Süd der CND-Castille darunter leidet, so ist es hier erlaubt, etwas daraus zu zitieren: “Sollte die Glocke eines Tages für mich läuten, ist es in der Gewissheit, dass ich meine Pflicht
getan habe. Trotz Kummer und Trauer könnt Ihr sagen, dass euer Sohn ein Franzose war.” Und an
seine Frau: “Du kannst mit erhobenem Kopf und ohne Scham durchs Leben gehen. Andere werden
mich rächen….. Ich habe keine Angst vor dem Tod….”
Deportation!
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Strecke durch Frankreich müssen wir feststellen, dass sie Recht haben. Jeder Versuch
zu fliehen, wird mit immer mehr Erschießungen beantwortet. Es wird auf die Dachluken
gezielt. Gleichzeitig brüllen die SS-Soldaten, dass sie die Messer abgeben sollen,
sonst wird in die Menge geschossen.
Nach einem nächtlichen Fluchtversuch mehrerer Gefangenen hält der Zug an. Scheinwerfer suchen die Gegend ab. Das Rattern von Maschinengewehrfeuer, dann wird der
Waggon der Flüchtigen anvisiert. Die, die noch im Waggon sind, müssen sich ausziehen. Dann werden sie auf die Strecke geworfen und anschließend auf die anderen
Waggons verteilt.
Durst macht sich schnell bemerkbar. “Wasser! Wasser!” Die Temperatur im Inneren
des Waggons wird immer schlimmer. Allmählich beginnen manche Gefangenen, zu
fantasieren, können sich nicht mehr beherrschen. Die Zeit vergeht nur langsam und bei
jedem Aufenthalt ist die Antwort auf unsere Bedürfnisse einfach: “Sollt Ihr doch alle
verrecken!”
Einige von uns, Kumpel aus der CND, halten sich in der Nähe einer der Dachluken auf,
wo es uns gelingt, etwas Kondenswasser vom Dach des Wagens zu sammeln. Dadurch sind wir nicht gezwungen, wie andere, den eigenen Urin zu trinken.
Die Disziplin vom Anfang der Reise, d.h. die eine Hälfte der Insassen im Turnus stehend, die andere Hälfte sitzend und umgekehrt, ist seit langem vergessen. Da wird
geschubst, geschoben und getreten. Wir probieren ein neues System, nämlich alle
aufrecht stehend und mit gespreizten Beinen in eine Richtung zu schauen. Hat aber
auch nicht funktioniert. Diejenigen, die das Bewusstsein verlieren, werden schnell zu
Tode getrampelt!
Erst am Morgen des 23. Januar können wir im Bahnhof von Trèves endlich aussteigen.
Trotz der Drängelei können wir etwas Wasser trinken und bekommen eine Graupensuppe zu essen. Das Durcheinander unter uns wird von den Soldaten mit Schlägen
bestraft.
Wir sind gerade wieder in den Waggon eingestiegen, als die Tür plötzlich von einem
SS-Mann aufgerissen wird und zwanzig halbnackte neue Gefangene herein geschoben
werden. Sie erzählen uns, dass einige ihrer Mitgefangenen geflohen waren. Jetzt sind
wir 140!
Die Stunden vergehen und wir werden langsam verrückt. Um die Moral zu verbessern,
beginnt unsere kleine Gruppe, die Marseillaise zu singen, allerdings unter lauten Protesten derjenigen, die Repressalien befürchten.
Die Nacht findet uns in einer Umgebung, die zum Himmel stinkt, da der einzige Aborteimer bereits voll ist. Sobald der Eimer beginnt überzulaufen, entsteht ein entsetzlicher
Gestank, der bei Einigen Wahnsinn hervorruft. Schreie, Beschimpfungen und mehr. Es
ist die Hölle für diejenigen, die fallen wie auch für die, die noch stehen können.
Es ist der 24. Januar. Um 10 Uhr fährt der Zug durch den Bahnhof von Weimar und
hält an. Dann klettert der Zug einen steilen Hang hinauf und hält vor einer riesigen
Baustelle, wo eine Armee von kahl rasierten Männern in bizarr gestreiften Kleidern
durcheinander rennt.
Nach der schrecklichen Fahrt sind wir fast glücklich, dass wir lebend angekommen
sind. Als sich die Tür öffnet, glauben wir, dass wir aussteigen und wie in Compiègne
ein wenig auf- und abgehen können. Irrtum! Keine Zeit, unsere Sachen zu suchen.
Deportation!
46
Hunde werden in den Waggons losgelassen und zwingen uns, schnell auf den Bahnsteig herunter zu springen. Es regnet Schläge und wir müssen rennen, auch die, die
nackt sind. Manch armer Schlucker, während der Fahrt wahnsinnig geworden, wird auf
der Stelle erschossen. Die bei einem Fluchtversuch verletzten Männer werden in Decken gewickelt und von ihren Kameraden getragen. Die in den Waggons verbliebenen
Toten werden einfach auf den Bahndamm geworfen.
Da haben wir nun eine Ahnung von dem, was uns in den kommenden Monaten erwartet, im Lande der Nazis, das die Wiege einer neuen Zivilisation sein soll.
Die Straße, die zum Lager führt, ist schön und wir erfahren, dass der Ort Buchenwald
heißt, ein auf einer Anhöhe errichtetes KZ. Die Straße hinauf wurde unter Gewaltanwendung von Gefangenen der SS gebaut, und wurde von uns “die Blutstraße” genannt.
In der Nähe des Lagereingangs ist eine SS-Kaserne und an einer Straßenkreuzung ein
hölzerner Wegweiser. Links sind drei uniformierte Soldaten, rechts ein Ziviler, ein
Priester und ein Mönch, begleitet von einem mit einem Gummiknüppel bewaffneten
Schupo. Es ist fast 15 Uhr als wir erschöpft, geschunden und schmutzig den Eingang
durchschreiten. Am Gitter der Spruch: “Jedem das Seine”. Wir werden in ein großes
Gebäude geführt, wo wir mehrere Stunden eingesperrt ausharren müssen.
Nach einer Weile werden wir durch eine Reihe von Räumen geführt. Im ersten Raum
müssen wir uns komplett ausziehen und alle Wertsachen wie Uhren, Ringe, usw. abgeben. Andere, die offenbar verdächtig schienen, werden auf eine Stehleiter gestellt,
wo gewisse Körperteile, die als Versteck dienen könnten, noch eingehender untersucht
werden.
Im nächsten Raum warten kahlköpfige Gefangene, um uns von Kopf bis Fuß zu rasieren. Unkenntlich gemacht geht’s dann in einen weiteren Raum, wo wir in eine riesige,
mit einer nach Formalin riechenden und schwarz gefärbten Flüssigkeit gefüllte Badewanne geworfen werden. So werden alle noch Überlebenden desinfiziert. Anschließend geht’s unter das kochend heiße Wasser in den Duschräumen. Abgetrocknet werden wir vom Vordermann mit einem Handtuch, das nicht allzu oft gewechselt wird.
Später wird der Kopf geschoren, mal an beiden Seiten, mal in der Mitte. Dadurch sind
wir immer als Häftlinge erkennbar.
Nach dem Duschen geht es nach oben in eine Art Kleiderkammer. Von anderen Gefangenen bewacht, müssen wir uns schnell anziehen, ohne die Möglichkeit zu haben,
etwas Passendes auszusuchen. Keine Schuhe, dafür bekommen wir Holzpantinen, ein
zufällig gefundenes kleines Stück Stoff dient als Strümpfe; das Ganze wird mit einer
gestreiften Mütze vervollständigt.
Es geht wieder nach unten, in ein Büro, wo sich jeder identifizieren muss. Im Austausch bekommen wir ein Stück weißen Stoff, in meinem Fall mit der Nr. 43 273 darauf. Statt eines Namens, bin ich jetzt nur eine Nummer. Man gibt mir als Franzose
noch ein Dreieck aus Stoff, in Rot mit dem Buchstaben “F”. Ich gehöre zu den politischen Häftlingen, obwohl ich in Wirklichkeit ein Gaullist bin.33
Wir kommen in Block 62 im “kleinen Lager”, von anderen Quarantäneblock genannt.
Alle Überlebenden aus unserem Zug sind hier untergebracht. Jede Box besteht aus
33
Durch die Farbe des Stoffdreiecks wussten die SS-Leute immer, zu welcher Kategorie die Deportierten
gehörten: Rot für “Politische”, Grün für gewöhnliche Verbrecher, Schwarz für Asoziale, Blau für Staatenlose und Violett für Zigeuner.
Deportation!
47
vier Etagen. Auf jede Ebene sind zwei Gruppen zu je sechs Personen. Kein Platz für
Berührungsängste für über 800 Häftlinge, die so eng aneinander gedrängt schlafen
müssen, dass jeder nur einen 35cm breiten Platz hat.
Für uns alle beginnt eine unwahrscheinliche Existenz, mit den endlosen Appellen und
der Schinderei, sowohl im Lager als auch außerhalb. Wir teilen unsere Schlafplätze mit
hunderten von Flöhen, die verhindern, dass wir nachts schlafen können. Gegen 4 Uhr
morgens kriegen wir eine Art Kräutertee, scheußlich, aber wenigstens heiß, den wir
sehr schnell trinken müssen. Bei den zahllosen Insassen ist es fast eine Heldentat, in
den so genannten Waschraum zu kommen. Das WC besteht aus einem langen, von
einer kleinen Mauer abgegrenzten Graben, gerade genug Platz für die Notdurft von
etwa 100 Häftlingen. Punkt 5 Uhr ist es Zeit für den Ersten, vom Blockältesten und seinen Helfershelfern, den Kapos,34 geführten Appell. Irgendwann am Tag gibt es dann
ein Stück Brot und einen Klecks Margarine.
Wir müssen sehr schnell die Befehle unserer Wächter verstehen lernen, wie “Mütze
auf!” oder “Mütze ab!” oder wenn wir uns aufreihen. Das Zählen der Anwesenden wird
von einem SS-Mann vorgenommen, die Anzahl der Männer in jeder Kolonne muss auf
Deutsch von einem Häftling aus der ersten Reihe angegeben werden.
Die etwa 750 Insassen unserer Baracke, die für höchstens 120 gedacht war, haben
schnell kapiert, zu welchem Leben sie verurteilt sind. Sobald der Ruf, “Zu fünf!” “Zu
fünf!” ertönt, müssen wir uns in 5er-Reihen aufstellen, um durch das Lager zu marschieren. Das Öffnen des Tors wird oft von Blasmusik wie im Zirkus begleitet, und
dann geht es in den Wald oder zum Steinbruch. Dort müssen wir auf den Schultern die
Holzscheite oder Steinblöcke tragen. Stockschläge sind eine ständige Begleitung, es
muss immer schneller gehen. Und auf dem Rückweg sollen wir trotz Müdigkeit und
Kälte in perfekt aufgestellten Reihen gehen.
“Arbeitsdienst im Garten!” Eine Gelegenheit Gemüse zu klauen und gleich zu verspeisen? Welche Enttäuschung! Es geht um die Entleerung und Abtransport der Exkremente aus den riesigen Klärgruben, eine Arbeit, die zu zweit auf der kleinen Mauer
neben der Grube verrichtet wird. In eine Höhe von drei Meter über den Graben lassen
wir einen Eimer hinunter und füllen damit ein 30-Liter Holzfass. Unter den Augen der
SS tragen wir das Fass zum Garten. Keine Pausen und immer “schnell, schnell!” Im
Laufschritt geht es manchmal und dass jemand in die Grube hineinfällt, geschieht nicht
selten.
Die tägliche Arbeit findet in verschiedenen Kommandos statt, immer von Kapos, bzw.
einem Vorarbeiter geleitet. Die meisten sind Deutsche oder Polen, die uns unter häufiger Gewaltanwendung traktieren.
Ich erinnere mich an eine Arbeit, die zum Ziel hatte, eine Fabrik in der Nähe des
Hauptlagers auszurüsten. War es Gustloff, oder Mibau oder Siemens? Die Schinderei
bestand darin, mittels Seile und unter den Schlägen der Kapos, große Maschinen wie
Fräser, Drehbänke und Bohrmaschinen zu ziehen.
Um diese Jahreszeit gab es auch Schnee, viel Schnee, in dem wir mal unser Holzschuhe verloren. Die Rückkehr von der Arbeit wird am Eingang von dem kleinen Orchester begleitet, durch den wir in Fünferreihen marschieren müssen.
34
Der Kapo hatte die Aufgabe, seine Kameraden innerhalb und außerhalb des Lagers zu befehligen. Im
allgemein waren die Kapos auch Deportierte, aber sie waren meistens gewöhnliche Verbrecher. Sie
machten den politisch oder rassistisch Verfolgten das Leben zur Hölle.
Deportation!
48
Abbildung 19 - Ein Schreiben des Automobil-Club de l’Ouest vom 6. März 1944 an Frau
Segrétain über den Versand eines fünf Kilo Päckchens Lebensmittel nach Buchenwald.
Wie im ersten Weltkrieg hat der Automobil-Club de l’Ouest die Zusammenstellung von Postsachen bzw. Essenspakete an Gefangene und Deportierte organisiert. Das Rote Kreuz hat die
Pakete weitergeleitet.
Diese Pakete kamen allerdings selten an, und noch seltener in gutem Zustand! Paul Segrétain
hat nie ein Paket erhalten.
Deportation!
49
Abbildung 20 - Ein Appell an einen Wünschelrutengänger, um den Aufenthaltsort eines Deportierten herauszufinden. Etwas, worüber man heute lächeln kann. Doch was haben Menschen
nicht alles versucht, um ihre nach Deutschland verschleppten Angehörigen zu finden. In diesem
Fall hat der Radieästhesiste Paul Segrétain in Böhmen vermutet.
Deportation!
50
Der Tag geht mit dem Abendappell zu Ende, eine endlose und unvergessliche Vorstellung, die Stunden dauert. Verschiedene Vorgesetzte, wie der Blockchef, Unterchef,
Arbeitschef und andere Chefs sind für die Gruppen verantwortlich. Die Häftlinge müssen in tadellosen Reihen stehen.
Ich passe immer auf, dass ich nicht in der vordersten Reihe bin, da ich sonst die Anzahl der Männer in meiner Kolonne angeben muss, und zwar auf Deutsch. Es passiert,
dass die Zahlen bis zu 20-mal wiederholt werden müssen. Die Gesamtzahl muss nicht
nur Kranke und Verstorbene berücksichtigen, sondern muss auch mit denen des SSMannes übereinstimmen. Diese tägliche Rechnerei wird mit der Zeit immer lästiger.
Eines Morgens, im Block und in 5er-Reihen aufgestellt, werden wir von fünf mit einer
riesigen Spritze ausgestatten Mithäftlingen geimpft. Die Nadel wird überhaupt nicht
ausgewechselt. Nackt und auf einer Bank sitzend müssen wir diese Impfungen öfter
über uns ergehen lassen, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wozu sie gut sind.
Wir haben sehr schnell kapiert, dass Typen wie Blockältester Lagerältester, Sturmscharführer, Kapo usw. über uns das Recht auf Leben und Tod haben, auch wenn (mit
Ausnahme des Sturmscharführers) sie ebenfalls Häftlinge sind. Sie tragen alle das
grüne Dreieck, sind also gewöhnliche Verbrecher und von allen gefürchtet.
Irgendwann kam auch eine Delegation aus Frankreich nach Thüringen und versicherte
den Familien daheim, dass die Lebensbedingungen im KZ Buchenwald mit denen in
Kriegsgefangenenlagern in Frankreich vergleichbar wären, d.h. einwandfrei. Sie fügte
hinzu, “es ist notwendig, Kleidung, Unterwäsche, Schuhe und Regenmantel usw. für
Neuankömmlinge zu schicken, obwohl sie Lageruniform bekommen. Der Name des
Häftlings soll eingenäht werden bevor wir die Sachen verschicken.” Ein Urteil über das
rote Kreuz erübrigt sich hier, oder?
Von einem Kommando zum anderen kursieren Informationen, dass unsere derzeitige
Lage provisorisch ist. Sie stammen von verschiedenen Quellen, sowohl unbekannte als
auch unkontrollierbare. Ich habe seit Februar gewisse Kenntnisse, da ich zu einem SSMann im Zivil gerufen und nach meinem Beruf gefragt wurde.
Wir dürfen an unsere Familien schreiben, in Deutsch und unter der Voraussetzung,
dass wir nur gutes berichten und um Lebensmittel bitten. Ich hatte gehört, dass man im
Lager Schach spielen, Musik machen oder lesen kann. Ich kam gar nicht dazu, weil ich
Mitte Februar, zusammen mit etwa 50 anderen Häftlingen, zum Lager des Weimarer
Gustloffwerks gebracht wurde, um in der Fritz-Saukel-Fabrik zu arbeiten.
Ich finde ein am Rande der Fabrik gelegenes kleines Lager vor, das sich noch im Aufbau befindet. Ich werde Block 2 gleich neben dem Haupteingang zugeteilt. Es ist nur
notdürftig eingerichtet, aber wenigstens sauber. Hier sind noch keine Flöhe in den Etagenbetten. Jeder Schlafplatz ist für zwei Häftlinge gedacht, doch durch die Schichtarbeit in verschiedenen Kolonnen ist meistens sechs Tage in der Woche ein Platz frei.
Schnell werden wir im Gustloffwerk, einem Waffenhersteller, tätig. In der Werkstatt, in
die ich von SS-Männer geführt werde, stehen eine Drehbank und eine Fräsmaschine.
Ich habe das Glück, dass ich mich mit diesen Maschinen auskenne. Dadurch ist der
12-Stündentag für mich weniger anstrengend als für andere Deportierte.
Einige Wochen lang kommen Kriegsgefangene aus einem Lager in unsere Nähe, um
bei uns zu arbeiten. Ab und zu lassen sie absichtlich ein Stück Brot bei den Maschinen
liegen und spenden einige tröstende Worte. Im Gegensatz dazu stellen wir fest, dass
Deportation!
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die Insassen eines benachbarten Zwangsarbeiterlagers nichts von uns wissen wollen,
sie halten uns für Ganoven und gehen an uns vorbei, ohne uns anzuschauen.
Trotz Anwesenheit eines Meisters und Kontrollen durch die SS, ist es möglich, unerkannt die Maschinen zu verstellen und zum stehen zu bringen. So können wir ein wenig passiven Widerstand leisten. Damit sind die Fertigungszahlen weit von den Sollwerten entfernt.
Der Anschluss einer elektrischen Leitung an die Spannungs-Versorgung der Fräsmaschine gibt mir die Möglichkeit, diskret etwas Gemüse, Salat, Löwenzahn oder eine
Suppe aus Brennnessel zu kochen. Der Hunger fängt an, ein ernstes Problem zu sein.
Wie bei anderen auch, Probleme bei der Arbeit führen oft zu Schlägen, Ohrfeigen oder
einem Tritt in den Hintern. Einmal müsste ich unter den Augen der SS mit einem Teelöffel den Ölwechsel an meiner Maschine machen.
Nach 12 Stunden Arbeit im Gustloffwerk kamen oft zusätzliche Aufgaben dazu, wie der
Transport von Ziegelsteinen, Dielen und anderen Materialien für den Bau neuer Blocks
im Lager.
Bei Fliegeralarm werden wir, von Wachen begleitet, außerhalb des Lagers in der Nähe
des Weimarer Bahnhofs, evakuiert. So konnte ich eines Tages einen Luftangriff auf
eine deutsche Fahrzeugkolonne aus nächster Nähe erleben, während wir auf dem Boden liegend von der SS bewacht werden. Keine Möglichkeit, den englischen oder amerikanischen Piloten zu applaudieren, obwohl mir warm ums Herz wird, bei dem Gedanken, dass unsere Befreiung vielleicht nicht allzu weit entfernt ist.
Manchmal sorgt das Verhalten von Mitinsassen für Aufsehen! Ich denke an ein verschwundenes Brot, das nach dem Wiegen auf einen Tisch gelegt worden war. Der
Dieb hat viel riskiert!
Aber im Allgemeinen regiert doch die Geschlossenheit, auch wenn ich meinem Freund
Robert einen gewissen Egoismus unterstelle. Ich habe ihn nämlich dabei beobachtet,
als er eines der seltenen aus der Heimat geschickten Esspakete versteckte.
Noch eine Anekdote, die über den Hunger im Lager Bände spricht. Ein deutscher Lieferant, wahrscheinlich ein Bauer, kommt mit seinem Hund in das Lager und geht mit
seiner Karre in Richtung Küche. Als er das Gebäude verlässt, ruft er seinen Hund, aber
weit und breit war kein Hund zu sehen. Unmöglich, ihn wieder zu finden. In wenigen
Minuten wurde das Tier zu Wurst verarbeitet!
Nach einigen Monaten hat die Angst vor den von Flöhen verursachten Krankheiten zu
einer Evakuieren des Blocks und einer anschließenden Desinfizierung geführt. Wir
mussten Stundenlang entweder nackt draußen im Regen oder nachts in der arktischen
Kälte stehen. Da geht die Zeit aber wirklich nur langsam vorbei.
Weihnachten 1944 war für die Kameraden am Tisch 7 ein unvergessliches Fest. Jeder
von uns hat sich einen Teil des Menus ausgedacht, mit regionalen französischen Gerichten und erlesenen Weinen. Es half, uns über die übliche dünne Steckrübensuppe
hinweg zu kommen. Wir haben öfter unsere Kenntnisse über Kochrezepte von zu Hause ausgetauscht.
Deportation!
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Abbildung 21 - Weihnachten 1944. Die Gefangenen von Tisch 7 im Block 2, die unter schrecklichem Hunger litten, haben sich, um die Moral zu verbessern, ein reichhaltiges Menu ausgedacht. Die Illustration ist von Paul Segrétain.
Deportation!
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Mit den Luftangriffen vom 9. Februar 1945 wurde unser tägliches Leben völlig durcheinander gebracht. Es gab mehr als 150 Tote und schwere Schäden. Die Fabrikgebäude
wurden dem Erdboden gleich gemacht. Unser Lager hat einen Teil von der Umzäunung verloren. Zusammen mit einigen Russen gelingt es mir, mich gleich zu Beginn
des Angriffs in einem Graben zu verstecken, um danach das Weite zu suchen. Ich bitte
einige zufällig getroffene Zwangsarbeiter, mir zivile Kleidung zu überlassen, damit niemand meine gestreiften Sachen sieht. Leider verweigern sie es, ebenso meine Bitte,
sie könnten mich in ihrem Lager unterbringen. Danach stellen sich diese Männer am
kaputten Zaun als Wache auf.
Bei meiner Rückkehr ins Lager schaffe ich es, meinem bei dem Angriff verletzten
Freund Gégene Gripon, genannt Aramis, vor einer tödlichen Spritze durch die SS zu
retten. Sie wollen alle Verwundeten einfach loswerden. Ich verberge ihn in eine Ecke
des Lazaretts, damit er die Befreiung am 11. April erleben kann. Da war ich für ihn
mehr als ein Bruder. Die Leichen werden vor dem Eingang aufgestapelt, um später im
Krematorium verbrannt zu werden.
In der Stadt Weimar lagen mehrere nicht explodierte Bomben, und Kommandos von 5
oder 6 Häftlinge hatten die unangenehme Aufgabe, sie auszugraben. Ich melde mich
freiwillig dafür, in der Hoffnung, fliehen zu können, aber wir werden zu eng bewacht.
Allerdings sind sie weit genug weg, dass wir uns Zeit für die Arbeit nehmen können.
Obwohl wir bis zum Schluss keine Probleme hatten, waren auch für uns auch keinerlei
Vorteile zu haben. Aber: die Risiken. Die hatten wir!
Als nächstes dürfen wir im Gustloffwerk35 aufräumen, Holzstücke aufsammeln und zum
Abtransport in Eisenbahnwaggons schleppen. Unsere Blocks sind zu sehr beschädigt
und wir müssen in ein neues Lager ziehen, viel größer, aber mehrere Kilometer vom
alten Lager entfernt. Wir sind es wieder, die nach einem langen Arbeitstag das alte
Lager abbauen dürfen!
Aufgrund von Luftangriffen müssen wir oft genug dieses neue Lager räumen und - unter strenger Bewachung, versteht sich - uns in die nächst gelegenen Felder langlegen.
Der Vorbeiflug von Kampfflugzeugen und der Lärm der explodierenden Bomben heben
unsere Moral.
Dieses grauenvolle Leben, von vielen Kameraden in ihren Erinnerungen erwähnt, hat
mich dazu gebracht, ebenfalls einige Gedanken zu Papier zu bringen. Nach meiner
Rückkehr habe ich diese persönlichen Notizen weggeworfen, die ich von Zeit zu Zeit in
der Fabrik geschrieben und in der Maschine versteckt habe. Ich hatte keine Lust, irgendetwas zu bezeugen. Der Kampf war für uns alle das Gleiche und das Ziel war es,
diese Erniedrigungen zu vergessen. Ein Wunder hat mir geholfen, dem Tag der Befreiung bei halbwegs guter Gesundheit und mit ungebrochener Moral entgegen zu sehen,
und von Gerüchten gestützt, etwa durch Gespräche mit deutschen Arbeitern oder
heimlich empfangene Radionachrichten.
Am 3. April, bekommen wir ganz plötzlich Befehl, unsere Sachen zusammen zu suchen, wobei manche der russischen oder polnischen Häftlinge sich sofort in die Küche
stürzen, um Reste von Lebensmitteln aus den Vorratsbehältern zu holen. Der nachfolgende Appell bringt die Gewissheit, dass die alliierten Truppen im Anmarsch sind. Ein
Zug bringt uns am 4. April zurück zum Hauptlager in Buchenwald. Unser Kommando
wird in ein verdrecktes Gebäude zusammen eingezwängt, wo es nur so von Menschen
wimmelt. Es war so wenig Platz, dass manche Insassen sogar am Boden unter den
35
1956 wurde auf dem Werksgelände ein Denkmal für die Deportierten aufgestellt.
Deportation!
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Etagenbetten liegen müssen. Während der Nacht werden wir von allem Hab und Gut,
dass wir nicht vorher in unsere Kleidung verstecken konnten, beraubt. Am nächsten
Morgen ziehen wir ins Hauptlager. Ich finde mich im ersten Stock eines festen Gebäudes (ich glaube, es war die Nr. 40) wieder. Es sind nur wenige Franzosen unter uns.
An den folgenden Tagen bestätigen sich die Meldungen, wonach die vorrückenden
Amerikaner die SS durcheinander bringen. Früh morgens bemerken wir Häftlingskommandos, wie sie nackte Leichen wegtragen. Sie sind aus dem Anbau von bestimmten
Blocks herausgeholt worden, um dann wohl zum Krematorium gebracht zu werden.
Während der häufigen, strengst bewachten Appellen sehen wir einen langen Zug von
Deportierten mit dem Judenstern auf der Kleidung. Sie kamen von außerhalb und zogen an uns vorbei. Später werden alle dieser Bewegungen von Ankömmlingen oder
Abreisenden als die berüchtigten “Todesmärsche.” bekannt. Wir haben die Befürchtung, dass auch wir weggebracht werden. Der Anblick von Menschengruppen am Ausgang des Lagers bedeutet das Todesurteil für viele, ein Gemetzel, ein Blutbad nach
langem Leiden. Wir sind ungefähr 23.000, davon 2900 Franzosen.36 Vergebens suche
ich nach Schuhen und Unterwäsche, da ich das Gefühl habe, dass sie unentbehrlich
werden. Alliierte Maschinen überfliegen oft unser Lager und wir glauben, dass ihnen
unsere missliche Lage bekannt sein muss.
Zwischen dem 6. und 7. April, stürzen sich die SS auf unser Gebäude, um uns zu vertreiben. Als sie im Erdgeschoss des Blocks eindringen, nutze ich den Vorteil - ich bin
im ersten Stock - und springe aus einem der hinteren Fenster und laufe zu einem anderen Block. Ich treffe einen französischen Schupo, der mich im Block 31/34 Unterschlupf bietet, wo die meisten Insassen Franzosen sind. Dort bin ich in Sicherheit bis
die Befreiung kommt.
Am 9. April hören wir das Grollen im Westen und nehmen an, dass es Kanonen sind,
die die baldige Ankunft der Amerikaner ankündigen. Dieser Umstand beschleunigt allerdings die Evakuierung des Lagers. Die Warnungen über den Lautsprechern sind von
den Befehlen der SS begleitet, uns zum Appellplatz zu begeben. Die Mehrheit der Gefangenen gehorcht nicht, aber etwa 400 von uns werden mit Gewalt evakuiert.
Der Ablauf des Mittwoch 11. April 1945, also dem Tag unserer Befreiung, hat zu zahlreichen widersprüchlichen Zeugenaussagen von den in verschiedenen Gebäuden untergebrachten Kameraden geführt. Gleich am Anfang gibt es Alarm und die unterschiedlichsten Befehle ertönen. Diese Befehle kommen über den Lautsprechern in
Deutsch, eine Sprache die ich aus guten Gründen nie lernen wollte. Bald sagt mir ein
Kamerad, der die Sprache konnte, dass es verboten ist, von einem Gebäude zum anderen zu laufen. Eine gewisse Stille scheint über das gesamte Lager zu liegen. Nichts
bewegt sich.
Ich bin auf den Knien im Flügel des Blocks. Ich blicke auf die Allee, die in der Nähe
eines am Waldrand befindlichen Wachturms liegt. Ich sehe wie sich die ukrainischen
oder SS-Soldaten, manche haben ihre Hunden noch dabei, in Richtung Wald entfernen. Auf einmal springt der Soldat im Wachturm herunter und läuft den anderen hinterher. Es ist etwa 14 oder 15 Uhr. Das Knattern von Gewehren und die Detonationen in
der Ferne sind wahrscheinlich der Grund für ihre Flucht. Es gibt sicherlich alliierte
Truppenbewegungen zwischen Erfurt und Weimar, aber die Geräusche sind zu weit
weg, um ein Gegenangriff der SS zu sein, auch wenn einige im Lager dies behaupten.
36
Die meisten Berichte sprechen von 21.000 bis 22.000 Überlebenden zu diesem Zeitpunkt.
Deportation!
55
Gegen 15.30 erfahren wir, dass zwei amerikanische Panzer in der Nähe sind, wir können sie aber nicht sehen.37 Man sagt mir, dass einige Deportierten nach dem Bombenangriff in August 1944 wohlweißlich Waffen besorgt und versteckt haben. Sie sind gekommen, um sie zu holen und an andere Kameraden zu verteilen, um sich gegen die
SS zu verteidigen, falls diese nach deren Flucht aus ihren Kasernen und Wachtürmen
einen Gegenangriff starten sollten. Unten im kleinen Lager, nahe dem Lazarett, konnte
man einige GI’s sehen, wie sie am Stacheldrahtzaun entlang marschieren. Eine weiße
Fahne wird gehisst.
Es ist erst 16 Uhr als wir “amtlich” erfahren, dass die amerikanischen Panzerfahrzeuge
bereits durchgefahren sind und unsere “berühmten Kommandos” alle wichtigen Stellen
besetzen. Angeblich jagen sie SS-Leute, die noch in der Gegend sind, eine Version,
die von einigen Personen bestätigt wird, aber von anderen widersprochen. Was mich
betrifft, bin ich nie heimlich angesprochen worden, mich diesen “Befreiern” anzuschließen; vielleicht weil ich der Freie Frankreich-Bewegung angehörte. Es wurde später
gesagt, dass die deportierten Widerstandskämpfer der BCRA bei diesen Aktionen absichtlich vergessen wurden.
Abbildung 22 - Gleich nach der Befreiung der ersten Lager hat das Rote Kreuz Radiosendungen ins Leben gerufen, in denen die Namenslisten von Befreiten bekannt gegeben wurden.
Zuhause hat ein Stab von Freiwilligen diese Sendungen gehört und anschließend die Familien
schriftlich informiert. Hier handelt es sich um ein Schreiben an Mme Segrétain, das bestätigt,
dass der Name von Paul Segrétain auf eine dieser Listen aufgeführt war.
37
Paul Segrétain hat das, was geschehen war, erst später und unvollständig erfahren. Tatsächlich stieß
eine Spitze der 5. US Armee ins Tal unterhalb der Ettersberger Anhöhe gegen 11.00 vor. Um 13.30
tauchten die ersten zwei Panzer aus Richtung Hochstedt kommend auf, wenige Meter vom Lager. Um
14.00 nahm ein Dutzend anderer Panzer hinter den Schweineställen der SS Stellung. Um 14.10 erreichten vier weitere aus Westen kommende Panzer den Haupteingang des Lagers. Die außerhalb des
Lagers liegenden Gebäude der SS wurden gleichzeitig besetzt. Allerdings ist zu bemerken, dass es
zahlreiche Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Ablaufs der Befreiung von Buchenwald gab.
Deportation!
56
Abbildung 23 - Die Heimkehr eines Deportierten hat bei manchen Angehörigen, die lange nichts
von ihren Lieben gehört hatten, die Hoffnung geweckt, vielleicht doch Neuigkeiten zu erfahren.
Dieses an Madame Segrétain adressierte Schreiben, sowie die Briefe auf den folgenden Seiten,
sind typische Beispiele.
Abbildung 24 - Ein Brief von Mme Léontine Marchand aus Livry im Kreis Niévre, seit Juni 1944
ohne Nachricht von ihrem Mann, der ebenfalls in Buchenwald war.
Deportation!
57
Abbildung 25 - 11. Mai 1945. Brief einer Dame aus Angers an Mme Segrétain. Auch hier handelt es sich um einen in Buchenwald Inhaftierten.
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Abbildung 26 - Eine Zeichnung von Len, die in der Ausgabe der Zeitung “Ouest-France” vom
21. Januar 1965 anlässlich des Besuchs von Oberst Rémy in Le Mans erschienen ist. Von links:
Oberst Rémy, André Dugué, Paul Segrétain und Doktor Lepart, ein Freund von André Dugué,
der ihm während der Besatzung gefälschte Bescheinigungen besorgt hat.
Deportation!
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In ihren Werken meinen die Herren Christian Bernadac, Christian Pineau, Eugène
Kogon und Doktor Odic, dass die weiße Fahne gegen 16 Uhr gehisst wurde. Pierre
Sudreau weist die These eines von den Kommunisten vorbereiteten Aufstands, der zur
Befreiung des Lagers geführt hätte, zurück.38 Sicher ist auf jeden Fall eine Tatsache:
ohne die Anwesenheit der in der Nähe anrückenden amerikanischen 5. Armee, wäre
der Aufstand gescheitert.
Trotz Hunger und Schwäche, die jede Anstrengung mühsam machen, gehe ich ein
paar Tage später mit einem Kamerad in die Stadt Weimar, um ein Fahrzeug für die
Rückreise nach Frankreich zu finden. Wir passieren die stark beschädigte Umzäunung
des Lagers und laufen Richtung Gustloffwerke. Die Leichen der in den Todesmärschen
erschossenen Deportierten liegen noch überall am Straßenrand.
Problemlos kommen wir durch den Haupteingang des Werks, wo ich aus dem Boden
meiner Fräsmaschine einige bei der Arbeit geschriebene Notizen herausholen kann,
die ich nach dem Bombenangriff habe verstecken können. Schreiben, träumen: es war
eine Art und Weise, meine Traurigkeit zu vergessen.
Wir laufen zu einem nahen, bereits geräumten Lager für Zwangsarbeiter. In der Küche
finden wir am Boden eines großen Kochkessels noch Reste von Fett, das wir gleich
verschlingen. Danach machen wir uns in Richtung Stadtmitte auf den Weg. Amerikanische Fahrzeuge fahren an uns vorbei. Die Einwohner von Weimar zeigen keine Reaktion, als sie uns erblicken.
Wir finden eine Garage, gehen hinein und sehen einige verlassene Autos. Sie haben
alle keine Batterien und Sprit ist auch nicht drin. Auf einmal reagieren unsere Gedärme, wegen des zuvor aufgenommenen Fetts. Gut, dass die Reparaturgrube in der Nähe ist! Aber die Erleichterung ist nur von kurzer Dauer und wir können nicht wieder
aufstehen. Wir bleiben also sitzen bis die G.I.s (oder MP), sicherlich von den Nachbarn
verständigt, uns abholen und zum Lager zurück bringen.
Wir erfahren, dass in unserer Abwesenheit gewisse Tiere aus dem angrenzenden
Tierpark zwecks Verbesserung der üblichen Nahrung geschlachtet wurden. Zu unserem Leidwesen erfahren wir auch, dass während wir in der Stadt waren, die Verantwortlichen vom CND uns gesucht haben, da sie uns per Flugzeug ausfliegen wollten.
Ein paar Tage später sehen wir in der Nähe des Eingangs einige von Franzosen gelenkte Fahrzeuge der 3. Kompanie eines gewissen 1. Regimentes aus der Bretagne.
Es gelingt mir, in das Krematorium zu kommen und ich laufe durch die Räume. Entlang
der Mauer stapeln sich in vier Meter Höhe die Leichen. In einer Ecke befindet sich eine
Falltür wo die “Toten und fast Toten” hinein geworfen wurden, um dann verbrannt zu
werden. Neben einer Reihe von Öfen steht eine “falsche Dusche”, wo, so hat man mir
erklärt, Verurteilte erschossen wurden. Etwas weiter steht das Labor, wo tödliche Versuche durchgeführt wurden. Das Zahngold wurde wieder verwertet.
Am 16. April wurde die Bevölkerung von Weimar von den Amerikanern zusammen
gerufen, damit sie sehen konnten, was im KZ alles geschehen war.
38
Die politischen Streitigkeiten nach Kriegsende haben leider zu einer Verzerrung der Wirklichkeit geführt.
Kein Historiker kann heute die aktive Rolle, die die Kommunisten bei der Befreiung von Buchenwald
gespielt haben, verneinen. Es gibt etliche Zeugen, die dies bestätigen. Es ist auch sicher, dass die
kommunistischen Deportierten nur Gleichgesinnte rekrutiert haben, um für den Tag “X” vorbereitet zu
sein.
Deportation!
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Abbildung 27 - Telegramm vom 29. April 1945, das die baldige Rückkehr von Paul Segrétain
ankündigt
Abbildung 28 - Paul Segrétain kurz nach seiner Rückkehr. Auf dem Foto rechts kann man im
Haar gerade zwei helle Streifen ausmachen. Es sind die Spuren von zwei parallel laufenden
kahlen Streifen, die mittels einer Haarschneidemaschine in das Haar geschnitten wurden. Der
dadurch entstandene Kamm wurde später kahl rasiert, nachdem die zwei Streifen nachgewachsen waren, um einen Mittelstreifen zu bilden, die sog. Straße.
Deportation!
61
Abbildung 29 - Der Deportierte Nr. 43 273 vom KZ Buchenwald bei seiner Rückkehr aus
Deutschland. Das Dreieck oberhalb der Kennnummer trug den Buchstabe “F” für die Staatsangehörigkeit. Es war rot gefärbt und bedeutete, dass der Träger, wie bei allen Widerständlern,
ein “Politischer” war. Das Dreieck war grün für gewöhnliche Verbrecher, schwarz für sog. Asozialen, blau für Staatenlose und violett für Zigeuner.
Deportation!
62
Alle Deportierten kommen noch einmal am Appellplatz zusammen, wo der international
bekannte “Schwur von Buchenwald”, verlesen wird.39 Anschließend werden wir nach
Eisenach gefahren wo wir vor einem Hotel, dessen Name mir entfallen ist, anhalten.
Wir richten uns in den prächtigen Doppelzimmern wie Touristen ein. Die Mahlzeiten
sind sehr willkommen. Neugierig wie wir sind, haben wir im Keller auch Champagner
gefunden.
Nach einem kurzen Aufenthalt im Hotel werden wir zu einer anderen Gemeinde gefahren. Dort werden wir provisorisch in eine Gaststätte untergebracht und warten, bis der
Zug kommt, der uns endlich in die Heimat bringt.
Gesundheitlich geht es nicht sehr gut. Mein einziges Medikament ist eine Art Holzkohlepulver, das ich beim Essen einnehme. Eines Abends, eine große Überraschung. Ein
Armee-Fahrzeug hält vor der Tür und ich erkenne den Fahrer wieder. Es ist der Sohn
unseres Metzgers in Le Mans, Mr. Sergent. Er ist so liebenswürdig und lädt mich zum
Essen in die Stadt ein. Wir verbringen den Abend bei einer deutschen Frau, die, obwohl durch unsere Anwesenheit leicht beunruhigt, uns freundlich bedient hat.
Im Zug fahren wir, von einem amerikanischen Soldaten begleitet, Richtung Heimat.
Kurz vor der Rheinüberquerung verbringen wir die Nacht in einer deutschen Kaserne.
Da bekommen wir ärztliche Behandlung und werden gründlich desinfiziert. Dann geht’s
ab, Richtung Paris.
Nach unserer Ankunft im Gare de l’Est werden wir zum Hotel Lutétia gebracht. Nach
einer Dusche und einer erneuten Desinfizierung wird unsere Akte als Deportierte des
Widerstands mit größter Sorgfalt erstellt.
Es ist bereits Ende April. In den Straßen von Paris versucht jeder von uns so freundlich
wie möglich die Fragen einer neugierigen Bevölkerung zu beantworten. Dann laufe ich
allein zum Gare Montparnasse. Anfang Mai und ein Personenzug bringt mich nach Le
Mans, wo es eine Explosion der Freude für die ganze Familie gibt, die mich nach der
Benachrichtigung meiner Befreiung durch das rote Kreuz sehnsuchtsvoll erwartet.
39
In einem am Vorabend verfassten Brief schreibt Paul Segrétain: “Die körperlichen Schmerzen sind
schnell vergessen, aber die seelischen Verletzungen bleiben für immer eingraviert, als Lektion sowohl
für diejenigen, die das nicht gesehen haben, als auch für ihre Kinder.
Der Schwur von Buchenwald:
“Wir stellen den Kampf erst ein, wenn der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig.”
Nach dem Verlesen erhoben die Häftlinge ihre Arme und sprachen, “wir schwören.”
Netzwerk CND-Castille
Liste der Agenten von “Maine-Sud”
63
Netzwerk CND-Castille
Liste der Agenten von “Maine-Sud”
Vor und Zuname
Deckname
Rang
Verantwortlich
Kenn-Nr.
Paul Segrétain
Dekobra II
P2
Maine-Sud
89126
Maurice Daviron
Grincheux
P2
Le Mans - Nantes
89664
Raymond Beaulaton
Félix I
P2
Le Mans
89665
Maurice Beaulaton40
Félix II
P2
Château du Loir
89665
Félix Péan
Philippe
41
Tours - Le Mans
89667
Bernard Francois
Jules
P2
Angers - Le Mans
89666
Georges Buon
Rissole
P2
Le Mans
89663
André Buon42
Rissole
P2
Le Mans
89663
Joseph Montépin43
Boulanger
P2
Laval
89447
Henri Lerouvillois
Chevalier
44
Le Mans
Noel Crosnier
Boulet
45
Le Mans
46
Le Mans
Jacques Touzeau
47
40
Bruder von Raymond
Gelegentlich tätig.
42
Vater von Georges, im Februar 1943 gefluchtet, um Zwangsarbeit zu entkommen.
43
Joseph Montépin spielte eine entscheidende Rolle beim Einmarsch der Amerikaner in Laval. Er lief
ihnen entgegen und zeigte ihnen, wo die deutschen Truppen waren, um die Luft- und Bodenangriffe so
zu steuern, dass die Stadt nicht zerstört wurde. Während der Besatzung hat er, durch ein von ihm
selbst geführtes Netzwerk dem zukünftigen Sänger, dem 9-jährigen Sacha Distel geholfen, sich nach
der Razzia von Vél’d’Hiv* zu verstecken.
44
Hilfsagent.
45
Quartiermacher; für das Versteck von Waffen usw. verantwortlich.
46
Quartiermacher; für das Versteck von Waffen usw. verantwortlich.
41
47
Anmerkung: Vél’d’Hiv, Vélodrome d’Hiver (etwa übersetzt mit Wintervelodrom); genannt nach einem der
Sammelpunkte in Paris, wo am 16. und 17. Juli 1942 die Massenverhaftung von fast 13.000 Juden, unter ihnen über 4.000 Kinder, stattfand. Jedoch konnten sich mehr als 10.000 Juden retten, da sie von
Polizeibeamten gewarnt worden waren. An der Stelle, wo bis 1959 das Radstadion (Vélodrome) stand,
wurde 1995 eine Gedenkplakette eingeweiht.
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
64
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
Abbildung 30 – Gedichte von Paul Segrétain, geschrieben in Weimar zwischen August 1944
und Januar 1945
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
65
Abbildung 31 - Gedichte von Paul Segrétain, geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und
Januar 1945
Paul Segrétain hat diese Gedichte auf altes Papier geschrieben und sie dann in der
Werkzeugmaschine versteckt, die er immer bediente. Er hat sie nach seiner Befreiung
wieder gesucht. Die Maschine wurde bei dem Bombenangriff vom Februar 1945 nicht
zerstört.
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
66
Ein Traum hat Flügel (Sur les Ailes du Rêve)
Die Nacht scheint lang und der Lärm der Maschinen
Ist monoton und ich bin jetzt weit von der Fabrik,
Ich sehe mich im Leben, in der Freude der Rückkehr,
Ich laufe zum Haus um meine Liebe zu sehen.
Meine Zuflucht bist Du. Es ist da oh süßer Traum,
Wo du mich aus der tiefsten Hölle holst,
Wenn ich an deine Tür klopfe, die Stimme die ich höre,
Scheint in meinem Herz wie ein Lied zu sein.
Du läufst mir entgegen, ich halte dich in meinen Armen,
Meine Augen suchen deine. Alles Unheil verschwindet.
Dein süßes Gesicht strahlt vor Glück.
Nach und nach erobert das Verlangen unsere Herzen,
Eine sanfte Hingabe und in der Liebe,
Sind vergessen die Schmerzen der Abwesenheit.
Auf einmal ist das Leben weniger schön,
Ein Teufel flüstert “sie ist nicht treu!”
Ich sollte es nicht, aber der Zweifel kommt,
Weil ich viel Unrecht und sie nur Treue,
Ohne Freunde, ohne Geld: hart ein Leben alleine,
Sie sieht nicht das Schlechte, das besorgt Satan.
Ich stehe auf und ich verjage das Schicksal,
Da nur der Tod uns trennen kann.
Nur ein Eifersüchtiger weiß von Misstrauen,
Aber du meine geliebte Frau, du hast meine Liebe.
Weimar, August 1944
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
67
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
68
Schwarzseherei (Pessimisme)
Gute Nachrichten! Das Leben wird besser,
Doch dann verschwindet das Neue aus den Herzen.
Die Seele hat nur Erinnerungen als Trost,
Von besseren Tagen von denen man träumt.
Und heute ist das Leben umso grausamer,
Weil die Freiheit uns leicht berührt hat.
Wir hatten gehofft, vom Stacheldraht zu fliehen,
Um in unser Frankreich, im Paradies zu leben.
Aber wir sind noch hier. Für wie lange noch?
Der Floh, der mich beißt glaubt: für immer!
Alles was wir vermissen ist so weit weg,
Wie ein richtiges Bett mit weißen Laken,
Gutes Essen von einem richtigen Teller,
Ein Glass Wein (bloß kein Wasser),
In einen Spiegel schauen und die Haare machen,
Etwas nicht Zerrissenes zum Anziehen,
Und nach der Rückkehr von der Fabrik,
Die Geliebte wiederfinden, die mich tröstet.
Das alles habe ich gesehen, aber es ist weit weg,
Ein schnelles Ende sehe ich kaum,
Ein Glück, dass ein Nichts unsere Hoffnung weckt,
Und morgen verschwinden die schwarzen Gedanken.
Weimar, Oktober 1944
Erinnerungen (Souvenirs)
Liebste, erinnerst du dich an einen Ball, ein Sonntag,
Wo du aus Koketterie mich eifersüchtig gemacht?
Du hast mit einem “Anderen” getanzt und du wolltest
Mich hänseln, ein bisschen ärgern.
Auf dein Platz habe ich eine Blume gelegt,
Eine blaue Blume, Zeichen meiner Hoffnung,
Ich wollte dich wiedersehen und dich
Von “ihm” befreien, dich wieder erobern.
Dein Herz hat, ich glaube es, meine Liebe geahnt,
Und deine Augen sagten “ich liebe dich.”
Ein Schwur fürs Leben, für die Ewigkeit,
Weil ein Ring aus Gold uns für immer einigt.
Weimar, Gustloffwerk, Oktober 1944
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
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Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
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Die Küchenschabe (Cafard)
Ich will nicht sterben, allein in diesem Gefängnis,
Da ich glaube diesen Schritt zu schwer.
Wenn eine freundliche Hand mir hilft, zu gehen,
Eine geliebte Hand, die Hand meiner Gefährtin.
Meine Seele braucht ein letztes Gebet,
Und ich fürchte, wenn sie wegfliegt
Dass mein Körper in Rauch und Asche vergeht,
Ohne Adieu, kein letztes Wort. Nein!
Wenn das Schicksal mich in eine andere Welt ruft,
Bevor ich gehe, wünsche ich mit dir lange Tage,
Voll mit Glück und Erinnerungen.
Bevor die Engel oder Dämonen sich einmischen,
Wenn du glaubst, die Zeit sei zu lang,
Und des Wartens müde, vergisst du mich,
Ich flehe dich an, sei gnädig, da ich schon verschied,
Zeig mir ein wenig Barmherzigkeit.
Der Herrgott verzeiht dir wenn du lügst,
Aber lass mich noch an deine Liebe glauben,
Weil ein Herz von nur zwanzig Jahre leidet und
ist schwer wenn vor dem Tod die Eifersucht nagt.
Weimar, Gustloffwerk, November 1944
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
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Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
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Festtage (Jours de Fêtes)
Die Festtage zum Jahresende, wie ich euch verfluche,
Die Erinnerungen zünden die Flamme wieder an,
Die Schmerzen der Abwesenheit wühlen in meine Seele,
Traumbild meiner Liebe, Traumbild von Paradies.
Weihnacht zuhause, alle singen zu Weihnachten,
Weihnacht im Überfluss, zauberhaftes Weihnachten,
Weihnacht meiner Kindheit, rätselhafter Heiligenschein,
Weihnacht von gestern, die Familie zusammengekommen,
In Freude, ein Vergnügen. Ah! Was für gesegnete Stunden.
Die Überraschung der Geliebten, sie war so stolz darüber,
Ich fand sie am Morgen neben dem Kamin,
Wie hat sie es gewusst, mein geheimer Wunsch?
Nach dem Weihnachtsmann ein neues Jahr,
Man wünscht sich Glück und ein schöneres Leben.
Aber hier, in dieser Hölle, wozu die Wünsche?
Weil zu der Zeit wo alle sich umarmen und sagen
“Alles Gute zum neuen Jahr“, an diesem Festtag,
Träume ich von deiner Liebe, die Tränen in den Augen,
Ich kann nicht in dein Gesicht sehen wenn du erwachst,
Um dir einen Kuss zu geben, den Ersten des Jahres.
Ich ziehe mich auf meine ekelige Liege zurück,
Ich denke an all das und mein Herz ist ganz groß,
Weil er auch an die hunderten von Helden denkt,
Die fern der Heimat für Friede auf Erden gestorben,
Traumbild rot von Blut, Traumbild von Schmerz,
Und die Wünsche gehen weiter, auch die Liebe und das Leben,
Nur mein Herz sieht den Hass, mein Gott ist er schwer,
Festtage zum Jahresende, wie ich euch verfluche!
Weimar-Buchenwald, Januar 1945.
Gedichte von Paul Segrétain,
geschrieben in Weimar zwischen August 1944 und Januar 1945
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