Experimentelle Poesie in Mitteleuropa

Transcrição

Experimentelle Poesie in Mitteleuropa
Klaus Schenk / Anne Hultsch /
Alice Staškov‚ (Hg.)
Experimentelle Poesie in Mitteleuropa
Texte – Kontexte – Material – Raum
Mit zahlreichen Abbildungen
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ISBN 978-3-8471-0364-6
ISBN 978-3-8470-0364-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7370-0364-3 (V& R eLibrary)
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Abb. 1: Klaus Peter Dencker : KULTUR (2013). Zuerst gedruckt in: Calleja & Dencker, ABCdarum Redfoxpress, Dugort, Achill Island, County Mayo/Ireland 2013, o. P.; 2 weitere Fassungen
in: Klaus Peter Dencker, Visuelle Poesie II. Arbeiten bis 2015. Weitra 2015, S. 58f.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. Visualität der Texte
Klaus Peter Dencker (Ahrensburg)
Optische Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Ulrich Ernst (Wuppertal)
Experimentelle Makroästhetik. Buchkünstlerische Zyklen mit Carmina
figurata von Simias von Rhodos bis Guillaume Apollinaire . . . . . . . .
39
Jeanette Fabian (München)
»Gedichte der Stille«. Experimentelle Bildpoesie in der tschechischen
Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
II. Auditive und memoriale Dimensionen
Frieder von Ammon (Leipzig)
Musik für das 20. Jahrhundert. Ernst Jandls 13 radiophone Texte . . . . . 119
Pavel Novotný (Liberec)
»Semester des experimentellen Schaffens«. Zur tschechischen auditiven
Poesie der 1960er-Jahre im internationalen Kontext . . . . . . . . . . . . 137
Johanna Bohley (Jena)
»Kunst über Erinnerung« – Erinnerungen der Neoavantgarde . . . . . . 155
III. Begriffe und Kontexte
Oliver Ruf (Furtwangen)
Die Visualität der Klänge und das Leben der Kunst. Grenzgänge
experimenteller Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
8
Inhalt
Eva Kr‚tk‚ (Prag)
Theoretische Voraussetzungen der tschechischen visuellen Poesie der
1960er-Jahre. Einige Bespiele mit Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . 191
Alice Staškov‚ (Berlin)
Korrespondenzen der experimentellen Poesie: Prag – Stuttgart – Wien
. . 203
IV. Material, Medien, Maschinen
Gudrun Lehmann (Düsseldorf)
Poetische Sprachkonzepte aus der Kunstszene Bosnien-Herzegovinas,
Kroatiens und Serbiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Annette Gilbert (Berlin)
Texte für Læser. Neue Formen der ›Unlesbarkeit‹ in der experimentellen
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Bernhard J. Dotzler (Regensburg)
Automaten-Studien, kalauernd, oder : Der neue Minnedienst. Aber ja
doch, schon wieder…: Oswald Wieners die verbesserung von
mitteleuropa, roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
V. Raumtexte und Texträume
Anne Hultsch (Dresden)
Experimente im Ausnahmezustand. Poezja konkretna / Konkrete Poesie
in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Grazziella Predoiu (Temeswar)
»Meine Bockigkeit mich skrupulös als Sprache zu verhalten steckt und
wuchert in den Texten.« Zu den Texten Oskar Pastiors . . . . . . . . . . 307
Klaus Schenk (Dortmund)
Experimentelle Poesie und interkulturelle Schreibweisen am Beispiel von
Herta Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Vorwort
Experimentelle Schreibweisen in poetischen Texten gehören nicht nur zu den
zentralen Verfahren moderner Literatur, sondern bilden ebenso Schnittflächen
in der Literatur Mitteleuropas, die kaum mit nationalen oder geographischen
Verortungen zu fassen sind. Vor allem vor dem Hintergrund einer Öffnung der
europäischen Perspektiven kann die Vielfalt experimenteller Poesie in ihren
Kontexten und mit ihren politischen Implikationen neu überdacht werden. Ins
Blickfeld geraten dabei Spielarten der experimentellen Lyrik wie z. B. die Konkrete Poesie, aber auch die Nachwirkung anderer avantgardistischer Strömungen bis hin zu surrealistischen Schreibweisen. Im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen den Texten und ihren Kontexten, ebenso aber auch
hinsichtlich ihrer Materialität und Räumlichkeit werden im vorliegenden Band
Zugänge zu den komplexen kulturellen Verflechtungen experimenteller
Schreibweisen in Mitteleuropa geschaffen.
Die experimentelle Poesie stellt eine Erscheinung dar, die sich intensiv mit der
Problematik der literarischen Produktion und Rezeption auseinandersetzt,
dabei aber die überkommenen Konzepte radikal in Frage stellt. In einem anderen Licht erscheinen somit die Zusammenhänge von Subjekt und Material,
von Kunst und Gesellschaft. Zugleich gilt es auch, die Kontexte der experimentellen Literatur selbst zu sichten, die ihrerseits mit ihren kulturellen Implikationen spielt. In einem weiteren Schritt sollen daher historische und kulturelle Perspektiven hinsichtlich des mittel- und osteuropäischen Kulturraums
entwickelt werden. Nachgegangen wird der Frage, inwieweit es kulturelle Spezifika experimenteller Poesie gibt. Dabei soll auch bedacht werden, welche Rolle
politische Hintergründe und Situationen bei der Konzeptualisierung der experimentellen Literatur spielen und welche Intentionen dabei unterschieden
werden können. Einerseits soll daher nach regional ausgerichteten, historischen
und systematischen Konzeptualisierungen gefragt werden, um neben der
deutschsprachigen Literatur besonders auch Ausprägungen der experimentellen
Poesie in verschiedenen Ländern und Kulturen Mitteleuropas zu fokussieren, die
bislang innerhalb der deutschsprachigen Forschung nur wenig Beachtung ge-
10
Vorwort
funden haben. Andererseits soll der breite Fokus auf die mitteleuropäische experimentelle Literatur es ermöglichen, unterschiedliche Phänomene dieser
Strömung zu differenzieren.
Im ersten Kapitel zur Visualität der Texte werden die Schreibweisen experimenteller Poesie im Spannungsfeld zwischen ihrer Textualität und Visualität ins
Blickfeld gerückt. Behandelt werden Konzepte der optischen bzw. visuellen
Poesie im Zusammenhang mit der Frage nach der poetischen Produktivität
sowie den Synästhesien zwischen Lesen, Sehen und Hören. Klaus Peter Dencker
plädiert in seinem Beitrag »Optische Poesie« dafür, diese Bezeichnung als einen
übergeordneten Begriff aufzufassen, um Konkrete Poesie, die ein starkes Materialbewusstsein prägt, von Visueller Poesie, die ein starkes Kontextbewusstsein kennzeichnet und von visualisierter poetischer Produktion schlechthin zu
unterscheiden. ›Optische Poesie‹ hat ihren Ursprung selbstverständlich nicht
erst im 20. Jahrhundert, wie Dencker bereits in seinem 2010 erschienenen Band
»Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen
Experimenten der Gegenwart« zeigen konnte. Einen historischen und systematischen Überblick bietet der Beitrag »Experimentelle Makroästhetik: Buchzyklen mit Carmina figurata von Simias von Rhodos bis Guillaume Apollinaire«
von Ulrich Ernst. Entworfen wird eine Typologie mit Blick auf das Verhältnis von
Buch, Bild und Text am Leitfaden von vier Kategorien in historischer Hinsicht:
Malerbuch, Künstlerbuch, Objektbuch sowie schließlich buchähnliche Skulptur.
Die Analysen von Ernst bestätigen, welch starkes historisches Legitimationsbedürfnis paradoxerweise die experimentelle Poesie im 20. Jahrhundert verspürt. Jeanette Fabian rückt in ihrem Beitrag »›Gedichte der Stille‹. Experimentelle Bildpoesie in der Tschechischen Moderne« die intermediale
Bedingtheit des Schaffens insbesondere von Jiř† Kol‚ř in den Vordergrund. In
einer historischen Sichtweise skizziert sie die Auseinandersetzung zwischen
Karel Teige und Roman Jakobson über die optische versus phonische Ausrichtung der poetistischen Dichtung der 1920er Jahre, um über filmisch inspirierte
Bildgedichte (von Karel Teige) einen Bogen zum intermedialen Schaffen Jiř†
Kol‚řs zu schlagen, das die von den Poetisten angestrebte ›Poesie für alle Sinne‹
konsequent realisiert.
Erweitert wird die visuelle Perspektive im zweiten Kapitel unter dem Gesichtspunkt Auditive und memoriale Dimensionen mit Beiträgen zu Genres von
der auditiven Poesie bis hin zum Neuen Hörspiel, die ihrerseits in der Lage sind,
eine akustische Texträumlichkeit hervorzubringen. Mit einer internationalen
Perspektive eröffnet Frieder von Ammon seinen Beitrag mit dem Titel »Musik
für das 20. Jahrhundert. Ernst Jandls 13 radiophone Texte«. In Österreich noch
kaum gewürdigt, erlebte Jandl in London am 11. 7. 1965 einen bahnbrechenden
Erfolg in der Albert Hall. Jandls Texte, die der Untersuchung zugrunde liegen,
wurden 1966 im Studio der BBC in London aufgenommen und traten dadurch in
Vorwort
11
Interaktion mit der zeitgenössischen Pop- und der Neuen Musik. Zentral erweist
sich bei den Analysen die lautliche Dimension der Texte; als für die Interpretation ausschlaggebend zeigt sich die technische Arbeit an den Aufnahmen
sowie die Neue Musik der Zeit (Berio, Stockhausen). Historische Zusammenhänge zeigt der Beitrag »›Semester des experimentellen Schaffens‹. Zur tschechischen auditiven Poesie der 1960er-Jahre im internationalen Kontext« von
Pavel Novotný auf. Als Beispiel dient ihm u. a. ein auf einer tschechischen politischen Rede basierendes Hörspiel Gerhard Rühms, das in der Außenstelle des
Tschechoslowakischen Rundfunks in Liberec aufgenommen worden ist und
neben weiteren Aufnahmen aus politischen Gründen lange Jahre unentdeckt
blieb. Johanna Bohley zeigt in ihrem Beitrag »›Kunst über Erinnerung‹ – Erinnerungen der Neoavantgarde« am Beispiel von Texten Helmut Heißenbüttels
und Vertretern des Neuen Hörspiels wie Ludwig Harig und Franz Mon eine
memoriale Dimension in experimenteller Literatur auf, in der gegenläufig zu
kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien eine brüchige Erinnerung an den
Holocaust auch formal umgesetzt wird.
Beiträge zu theoretischen Aspekten, aber auch zu internationalen Verflechtungen der experimentellen Poesie werden im dritten Kapitel unter den Gesichtspunkten Begriffe und Kontexte zusammengefasst. Oliver Ruf zeigt in seinem Beitrag »Die Visualität der Klänge und das Leben der Kunst. Grenzgänge
experimenteller Ästhetik« Zusammenhänge zwischen der visuellen und der
akustischen Dimension experimenteller Texte auf, um vor diesem Hintergrund
Aspekte des ›Experimentellen‹ zu diskutieren, in denen sich Avantgardismen
mit Spirituellem verbinden. Anvisiert wird eine experimentelle Ästhetik, die
ausgehend von Wassily Kandinsky und Hugo Ball ihre Begrifflichkeit neu akzentuiert. Die »Theoretischen Voraussetzungen der tschechischen visuellen
Poesie der 1960er Jahre« stellt Eva Kr‚tk‚ systematisch unter Verwendung bislang unveröffentlichter bzw. von ihr selbst erschlossener Materialien dar, um
Begriffsbestimmungen vorzunehmen und eine Typologie der Visuellen Poesie
zu entwerfen. Alice Staškov‚ untersucht in ihrem Beitrag »Korrespondenzen der
experimentellen Poesie: Prag – Stuttgart – Wien« anhand von unveröffentlichten internationalen Briefwechseln aus Prager Archiven, wie sich die Begrifflichkeit der Prager experimentellen Dichter konstituierte. Die rationalistische
Programmatik der tschechischen und mährischen Künstlerinnen und Künstler
resultierte gerade erst aus dem Dialog mit den für sie zum Teil überraschenden
Vorerwartungen der überwiegend westlichen Partner.
Die Aspekte Material, Medien, Maschinen werden im vierten Kapitel unter
sehr unterschiedlichen Voraussetzungen thematisiert. Von der Materialität und
Medialität experimenteller Verfahren, die Kriegstraumata verarbeiten, bis hin
zur imaginären Maschinerie von Automaten in Texten von Oswald Wiener. Der
Beitrag »Poetische Sprachkonzepte aus der Kunstszene Bosnien-Herzegovinas,
12
Vorwort
Kroatiens und Serbiens« von Gudrun Lehmann lenkt das Augenmerk zum einen
auf die explizit politische Bedingtheit experimenteller Poetiken und ihrer alternativen Präsentationsformen im südosteuropäischen Nachkriegs- und Krisenraum, zum anderen wird am Beispiel des Werkes von Maja Bajević gezeigt,
wie dem alltäglichen Umgang mit Materialien (z. B. Sticken, Waschen) poetisches Potential innewohnen kann. In ihrem Beitrag »Texte für Læser. Neue
Formen der ›Unlesbarkeit‹ in der experimentellen Literatur« stellt Annette Gilbert die in maschinenlesbarem Bar- oder QR-Code verfassten Arbeiten des
österreichischen Künstlers Josef Linschingers an der Grenze zwischen konkreter
Poesie und konkreter Kunst vor. Untersucht wird die Herausforderung, die die
doppelte Adressierung dieser Arbeiten an den Menschen und an optische Lesegeräte für die ›Lektüre‹ bereithält. In seinem Beitrag »Automaten-Studien,
kalauernd, oder : Der neue Minnedienst. Aber ja doch, schon wieder …: Oswald
Wieners die verbesserung von mitteleuropa, roman« gibt Bernhard J. Dotzler
Einblicke in die elementaren Operationen der Sprache, wie sie die Voraussetzung für eine kybernetische Automatik bilden. Oswald Wieners AutomatenPoesie kann verstanden werden als Experiment, das die Zusammenhänge zwischen Kybernetik und Sprache in unterschiedlichen Genres thematisiert.
Der letzte Schwerpunkt des Bandes widmet sich im fünften Kapitel unter dem
Titel Raumtexte und Texträume den Zusammenhängen zwischen der Materialität der Texte und ihren Raumkonzeptionen. Dabei stehen spatiale Aspekte im
Mittelpunkt, die zugleich die räumliche Komponente des Textes betonen, sei es
durch konkretistische Rauminstallationen oder aber auch durch Verfahren der
Anagrammatik und der Collage, die ihrerseits räumliche Lesbarkeiten entwickeln. Anne Hultsch sichtet in ihrem Beitrag »Experimente im Ausnahmezustand. Poezja konkretna / Konkrete Poesie in Polen« das Schaffen und die Entwicklung des namhaften polnischen Künstlers Stanisław Drûżdż, der mit seinen
›Begriffsgestalten‹ auch international gesehen wohl am konsequentesten die
Möglichkeiten der Konkreten Poesie auslotet und diese durch ihre Reduktion,
ihre Überführung in die Dreidimensionalität, ihre Serialisierung und Aktivierung ihres musikalischen Potentials weiterentwickelt, wie es die experimentelle
Oper »Od Do« von Tadeusz Sudnik nach Drûżdżs gleichnamigem Werk zeigt.
Mit dem Zitat von Oskar Pastior, »›Meine Bockigkeit, mich skrupulös als
Sprache zu verhalten, steckt und wuchert in den Texten‹«, leitet Grazziella
Predoiu ihren Beitrag »Zu den Texten Oskar Pastiors« ein. Den Fokus legt
Predoiu auf das Changieren der experimentellen Poetik Pastiors zwischen gesellschaftlich-politischer und persönlicher Stellungnahme sowie zwischen verschiedenen Sprachen. Andererseits kündigt sich bereits im Werk von Pastior
durch anagrammatische Verfahren eine Texträumlichkeit an, wie sie konstitutiv
für experimentelle Verfahren ist. In seinem Beitrag »Experimentelle Poesie und
interkulturelle Schreibweisen am Beispiel von Herta Müller« zeigt Klaus Schenk,
Vorwort
13
wie experimentelle Verfahren im Umgang mit ihrem Material eine Texträumlichkeit entwickeln, die multiple Lesbarkeiten entfacht. Die kombinatorische
Poetik Herta Müllers wird dabei begleitet von einer mit surrealen Schnitten
arbeitenden Collagetechnik, wodurch sich serielle Reihen eröffnen, die die
Möglichkeit der Zuschreibung von Bedeutung in sich überlagernden Bewegungen vervielfältigen.
Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus dem von Prof. Dr. Klaus Schenk
(Technische Universität Dortmund) in Zusammenarbeit mit PD Dr. Anne
Hultsch (Technische Universität Dresden) und Dr. Alice Staškov‚ (Freie Universität Berlin) organisierten Kolloquium »Experimentelle Poesie in Mitteleuropa«, das vom 10. bis 12. Oktober 2013 in Hünfeld in der Rhön stattfand.
Mareike Garrecht und Natalie Salmen sei für die Mitarbeit an der Redaktion des
Bandes gedankt. Ein Register zu den in den Beiträgen genannten Autorinnen
und Autoren sowie zu anderen Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Geschichte beschließt den Band.
I. Visualität der Texte
Klaus Peter Dencker (Ahrensburg)
Optische Poesie1
Eine Bitte um Nachsicht – ich bin ein Verfasser Visueller Poesie und kein Wissenschaftler. Die Beschäftigung mit der Geschichte und den Formen der Optischen Poesie sollte mich vor dem Fehler bewahren, längst Ausprobiertes neu zu
produzieren, vor allem aber einigermaßen Klarheit über die eigene Arbeit und
ihre mögliche Weiterentwicklung zu gewinnen.
Als ich Ende der 1960er-Jahre das regelrechte Schreiben von Poesie aufgab,
um experimentellere Formen zu versuchen, gab es bereits die Konkrete Poesie,
die ich zwar kannte, die mir aber in ihrer Konsequenz hinsichtlich der Behandlung des Sprachmaterials zu hermetisch und unsinnlich war. Da es damals
im deutschsprachigen Bereich den synonymen Gebrauch der Begriffe Konkrete
Poesie und Visuelle Poesie für identische Formen gab, versuchte ich eine Abgrenzung der Visuellen Poesie von Konkreter Poesie (und damit auch meine
Arbeit) zu definieren und entwarf Visualisierungsformen, die eigenen Gesetzen
folgten – z. B. in der Symbiose (nicht gegenseitige Spiegelung oder Illustration)
von Formen der bildenden Kunst und der Literatur in einem Gebilde (Karel Teige
folgend), in der Einbeziehung der Medien z. B. Fotografie und Film, und in der
Forderung (im Sinne Umberto Ecos Offener Form) nach einem sogenannten
Koautor –, die über die Konkrete Poesie hinausgingen. Nach mehreren kleinen
Publikationen dazu erschien 1972 in der DuMont-Dokumentenreihe die Anthologie Text-Bilder. Visuelle Poesie international. Von der Antike bis zur Gegenwart, die eine Abgrenzung begründete, verbunden mit aufgefundenen historischen Linien und Vorformen der Visuellen Poesie.
Erst 2010 konnte eine schon immer geplante umfassendere, längst überfällige
Darstellung der internationalen Geschichte von den Anfängen der Schriftent1 Zuerst vorgetragen am 16. 6. 2011 in der Weserburg/Bremen zur Buchvorstellung: Dencker,
Klaus Peter : Optische Poesie. Berlin, New York 2011. Erweitert für den Vortrag am 26. 10. 2012
im MACBA, Museu d’Art Contemporani de Barcelona, zur Tagung Jornades Internacionals de
Poesia Experimental: poÀtiques, cr†tica i recepciû. Für den Vortrag in Hünfeld anlässlich des
Kolloquiums ›Experimentelle Poesie in Mitteleuropa‹ am 11. 10. 2013 überarbeitet und hier
für den Druck mit Anmerkungen versehen.
18
Klaus Peter Dencker
Abb. 1: Cor Blok (1970), in: Cor Blok:? Wat is er mis met de concrete poÚzie?, in: De Groene
Amsterdammer. Amsterdam 19. 12. 1970, S. 9. Bericht über eine der ersten umfangreichen
Ausstellungen »klankteksten? konkrete poÚzie? visuele teksten?« im Stedelijk Museum Amsterdam 1970, wo schon im Titel der Ausstellung die Trennung von Konkreter und Visueller
Poesie erfolgte.
wicklung bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart vorgelegt werden.
Diese Publikation, Optische Poesie, sollte das 1972 Vorgestellte erweitern und
zugleich einer Beschreibung und Begriffsbestimmung von Visueller Poesie –
sowie übergreifend Optischer Poesie – näherkommen, die damals höchstens im
Ansatz möglich waren. Mir war bewusst, dass bei der sehr heterogenen künstlerischen Ausdrucksform, deren historische weltweite Entwicklung aus zahlreichen divergierenden Quellen sich als extrem vielfältig darstellt, eine erschöpfende und abschließende Darstellung kaum möglich sein wird, zumal eine
ins fachliche Detail gehende Untersuchung in allen fremdsprachlichen Literaturen den jeweiligen Spezialisten vorbehalten sein muss. Die inzwischen gesammelten praktischen und theoretischen Erfahrungen und die Einsicht in eine
Fülle von Publikationen in den letzten 40 Jahren waren aber geeignet, eine
historisch und typologisch geordnete Materialübersicht anzubieten sowie vorsichtig Linien und Zusammenhänge zu skizzieren, die zur weiteren Beschäftigung und Präzisierung anregen könnten. Ich versuchte den Blick zu öffnen für
die durch die Geschichte der Medien und Medienkommunikation verursachten
Paradigmenwechsel, für das gewandelte Selbstverständnis von Künstler und
Kunstwerk, von Poet und Poesie, für die Verlagerung vom Bild in der Poesie über
das Bild der Poesie zur Poesie über die Poesie, also vom poetischen Bild über die
Visualisierung der Poesie bis zur Metapoesie,2 für die zunehmende Lingualisierung des Bildes und Ikonisierung des Textes.3
2 Schmidt, Siegfried J.: Glanz und Elend der Konkreten Kunst, in: Philosophie Konzept Re-
Optische Poesie
19
Dabei erfolgte die Annäherung an die im Mittelpunkt stehende Konkrete und
Visuelle Poesie – als zwei Ausdrucksformen der Optischen Poesie (OP) nach
1945 – über die mannigfachen Visualisierungsformen der Akustischen Poesie
(AP), Musikalischen Grafik (MuG) und Kinetischen Poesie (KiP), nicht nur um
zu zeigen, dass einerseits alle Zwischenbereiche der traditionellen Kunstsparten
ähnlichen historischen Bedingungen folgend verwandte Strukturen entfalten,
sondern um auch andererseits deutlich zu machen, dass selbst bei starken formalen Ähnlichkeiten der Blick für ganz eigenständige Ausdrucksformen nicht
verstellt werden darf, die gerade nicht unter einem und demselben Begriff zu
subsumieren sind (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Klaus Peter Dencker (2004), in: Dencker, Optische Poesie, S. 42.
Der erste – mir bekannte – Versuch, eine Art Systematik zur Visualisierung von
Schriftsprache, Wörtern und Text zu entwerfen, stammt von dem Kunsthistoriker und ehemaligen Verlagsbuchhändler des Verlagshauses Breitkopf & Härtel
und Vorsteher des Deutschen Buchgewerbevereins in Leipzig Ludwig Volkmann
(1870–1947). Obwohl Volkmann den ästhetischen Vorstellungen der Jahrhunzeption. Dokumentation des 11. Erfurter Kolloquiums, hg. v. Forum Konkrete Kunst e. V.
Erfurt 2004, S. 26–30, hier S. 29.
3 Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln 1987, S. 10 u. 15.
20
Klaus Peter Dencker
dertwende folgend4 1903 noch über die »Grenzen der Künste« schrieb, dass »die
einzelnen Kunstgattungen in engem Zusammenwirken allerdings eine gewisse
innere Rücksichtnahme aufeinander sich auferlegen müssen […] sich selbst
dort zwar geistig beeinflussen, niemals aber vermischen«,5 befasste er sich 1930
in seiner Publikation Bild und Schrift6 mit eben dieser Vermischung von Literatur und bildender Kunst erstaunlich fortschrittlich. Das – wie er es nennt –
»Programm eines ungeschriebenen Buches« über das Verhältnis von Schrift und
Bild erwähnt bereits ein fast vollständiges Formenspektrum der historischen
Linien, die zur Entwicklung Optischer Textformen beigetragen haben.
Abb. 3: Ludwig Volkmann (1930), in: Volkmann, Bild und Schrift, S. 12.
4 Volkmann promovierte bei Heinrich Wölfflin in München über : Bildliche Darstellungen zu
Dantes Divina Commedia bis zum Ausgang der Renaissance (Leipzig 1892).
5 Volkmann, Ludwig: Grenzen der Künste. Auch eine Stillehre. Dresden 1903, S. 9. Auch 1924
schrieb er zwar noch in: ders.: Grundfragen der Kunstbetrachtung. Die Erziehung zum Sehen.
Naturprodukt und Kunstwerk. Grenzen der Künste. Leipzig 1925, S. 173f.: »Die Kunst teilt
sich in Künste, die fest und naturgemäß gegeneinander abgegrenzt sind […]. Betreffs der
Grenzen zwischen Malerei und Poesie hat Lessing in seinem Laokoon diese Grundgedanken,
trotz mancher unbestrittener Mängel im besonderen, für alle Zeiten klassisch formuliert«.
Dann heißt es allerdings: »Und eine Klärung dieser Frage ist um so notwendiger, als heute
mehr denn je interessante Versuche und Ansätze gemacht werden, die Grenzen der Künste zu
verwischen oder zu verleugnen, andererseits aber tatsächlich allerlei neue Wirkungen und
Ausdrucksweisen gefunden werden.«
6 Volkmann, Ludwig: Bild und Schrift. Das Programm eines ungeschriebenen Buches, in: Buch
und Schrift 4/1930, S. 9–18.
Optische Poesie
21
Der von mir verwendete Begriff Optische Poesie und seine Bedeutung leitet sich
aus dem griechischen optij^ her. Es ist eine Poesie, die etwas sichtbar macht im
doppelten Sinne: eine Poesie, die nicht nur zu lesen, sondern auch zu sehen ist,
zugleich aber auch eine Poesie, die etwas sichtbar, einsichtig, auf etwas aufmerksam macht. Den Begriff7 gab es schon in verschiedenen Kontexten, z. B. bei
Oskar Fischinger8 um 1920, der Optical Poetry für seine Malerei (z. B. als Titel
eines Deckfarbenbildes/Gouache [1936] u. eines Ölgemäldes [1941]) und als
Titel für einen seiner Kurzfilme (1937) benutzte, oder in einer Rezension zu
Renoirs Film Frühstück im Grünen (1961)9 und schließlich als ›Optische Sprache‹ für Beispiele Optischer Poesie, zusammengestellt von Karl Riha und Conrad
Wiedemann 1963 im Diskus10.
Optische Poesie als eine Art Dachbegriff umfasst alle Bereiche, in denen es sich
um visualisierte poetische Produktionen handelt. Zu ihnen gehören neben den
grafischen Notationen der Akustischen Poesie und den figurativen Treatments
des modernen Hörspiels, den poetischen Notationen der Musikalischen Grafik,
den grafischen Vorlagen der kinetischen Poesie und schließlich der Visuellen
Poesie auch in Teilbereichen die Konkrete Poesie, poetische Formen der Skripturalen Malerei ebenso wie die historischen Formen der Figuren-, Gitter- und
Labyrinthgedichte oder Formen des Rebus, der Ars Combinatoria, Enigmatik,
Allegorik, Hieroglyphik, Emblematik und die diversen Formen von Bildgeschichten (vom Spruchband bis zur Sprechblase), Bild-Texten (z. B. Figurae)
und Text-Bildern (z. B. Graffiti). Diesen Produktionen im Printbereich schließen
sich die im technischen und elektronischen Medienbereich an (z. B. Text-FotoCollagen, Film-, TV- und Video-Poetry, Copy-Art, BTX-Art, Holopoetry), die
Mail-Art, Correspondence-Art (z. B. Telegrafie-, Telefax-, E-Mail-Art) sowie die
Formen der Poesie im Rahmen von Kunst im öffentlichen Raum des 20. und
21. Jahrhunderts.
Damit nicht erfasst sind Optische Textformen, die nicht der Poesie zuzurechnen sind, wie z. B. Kalligrafien, Kunstschriften und Bildalphabete, Formen
der Werbung oder ganz allgemein figurale Textflächen, die insbesondere mit der
Erfindung des Buchdrucks und dem beginnenden Spiel mit dem Satzspiegel zum
7 Ernst, Ulrich: Die Entwicklung der optischen Poesie in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Ein
literarhistorisches Forschungsdesiderat, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 26/
1976, S. 379–385; und ders.: Optische Dichtung aus der Sicht der Gattungs- und Medientheorie, in: Ernst, Ulrich / Sowinski, Bernhard (Hg.): Architectura Poetica. Festschrift für
Johannes Rathofer. Köln 1990, S. 401–418. Vgl. auch Beetz, Manfred: In der Rolle des Betrachters, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 24/1980, S. 419–451, der von
»Optischen Bildertexten« spricht.
8 Dillmann, Martina: Optische Poesie. Oskar Fischinger. Leben und Werk, in: Kinematograph
9/1993, S. 9.
9 In: Der Spiegel (11)/1961, S. 91–93; S. 93 wird von »Optischer Lyrik« gesprochen.
10 In: DISKUS 10/1963, S. 13.
22
Klaus Peter Dencker
üblichen Repertoire der Buchgestaltung gehörten. Allerdings ist auch in letzterem Fall zu berücksichtigen, dass das an sich schon visuelle Kommunikationssystem Sprache bedeutsam vom Schriftbild geprägt wird. Denn Typografie,
Satzspiegel, Format, Papierfarbe, Buchgestaltung usw. sind schon bei einem
normalen Text(buch)-druck Elemente, die über das visuelle Aufnahmevermögen unwillkürlich das Lesen eines Textes, eines Schriftbildes also, steuern und
somit auch inhaltlich Einfluss nehmen können.
So ergibt sich für die Optische Poesie ein vielseitiges Ausdrucksspektrum,
dessen einzelne Formenelemente sich auch in historischen Entwicklungslinien
auffinden lassen, z. B. in denen des Figurengedichts von der griechischen Bukolik über die Pegnitz-Schäfer des Barock und Apollinaires Calligrammes bis zu
Claus Bremers Figurentexten; oder denen des Comics, von den sprechenden
Bildern der griechischen Vasenmalerei im 5. Jh. v. Chr. angefangen über die
frühchristliche Spruchbandentwicklung und die Geschichte der Flugblätter, der
Bilder-Zyklen und Bilderbogen bis zu den Cartoons im 19. Jh. und den japanischen Mangas der Gegenwart.
In diesen historischen Entwicklungslinien zeigt sich eine immer wieder neu
ausprobierte Symbiose von Bild und Text, deren Ursprung eigentlich schon in
der Schriftentwicklung selbst zu suchen ist. Denn Schrift ist nicht nur eine
sinnvoll geordnete Reihung von bekannten Buchstaben, nicht nur ein Hilfsmittel, um etwas mitzuteilen, Schrift ist auch grafisches Ereignis. In ihm zeigt
sich eine individuelle Geste des Schreibenden, und diese Geste ist zusammen mit
dem ästhetischen Gebilde des Geschriebenen und seinem Inhalt ein bedeutungsvolles künstlerisches Ausdrucksmittel. Und zwar Schrift nicht nur als
Schriftkunst, also Kalligrafie, sondern vor allem Schrift als eigenständige (Zeichen-)Kunst. Denn neben der kalligrafischen Behandlung der Alphabete sowie
anderer Schriftsysteme (wie z. B. Blindenschrift, Morsealphabet oder diversen
Geheimschriften) gibt es auch jene, von Künstlern mit ihren persönlichen
Handschriften erfundenen und von fremden Schriftzeichen angeregten Ausdrucksmöglichkeiten, wie sie z. B. bei Wassily Kandinsky, Max Ernst oder Paul
Klee zu finden sind.
Beide Möglichkeiten des künstlerischen Umgangs mit der Schrift spiegeln
sich in den ursprünglichen Wortbedeutungen, genauer gesagt: in den zwei Bedeutungen schreiben und malen für ein und dasselbe Wort: etwa für ein Zeichen
im Chinesischen (xiĕ = schreiben und zeichnen, abbilden) oder für ein Wort im
Altägyptischen (s š und ś p h r). Das gilt auch für das lateinische scribere oder
das griechische graphein. Im Ägyptischen gibt es zudem für das Wort tjt die zwei
Bedeutungen Bild- und Schriftzeichen.
Ein Befund11 also, der die alte Frage nach der wesensmäßigen Identität oder
11 Hugo Ball notiert am 13. 6. 1916 in den Dada Fragmenten, in: ders.: Die Flucht aus der Zeit.
Optische Poesie
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Nichtidentität, bzw. den Grenzbestimmungen von Malen und Schreiben aufwirft. Ist das abbildende Malen schon ein Schreiben oder das Schreiben ein noch
abbildendes Malen? Wie eng ist das Verhältnis von Bild und Text, Malerei und
Poesie? Fragen, die die ut pictura poesis-Diskussion über Jahrhunderte lebendig
hielten.
Und schließlich macht schon der aller erste Beginn der Schriftentwicklung auf
Bildhaftes, auf den Wechsel von der Ikonographie zur Ideographie aufmerksam,
deren Geschichte – bis auf einige, bis heute unerschlossene Schriftsysteme auf
Kreta, in Mexiko oder Pakistan – insoweit belegbar erforscht ist, als sich nach der
bisher gebräuchlichsten Auffassung eine historische Linie darstellen lässt: von
den Felsbildern vor mehr als 50.000 Jahren und der Bilderschrift in China
(Vogel- und Insektenschrift) über die Hieroglyphen der Ägypter, Azteken und
Mayas (mit dem Bild als Symbol) bis zu den Piktogrammen der Keilschrift in
Mesopotamien und bis zur Wertung der Bildzeichen (in Anlehnung an die
Hieroglyphen) als Buchstaben durch die kanaanäischen Semiten auf der Halbinsel Sinai, sowie die weitere Entwicklung durch die Phönizier, die die Bildzeichen durch einfache geometrische Formen ersetzten, so dass mit der Übernahme dieses Schriftsystems spätestens im 8. Jh. v. Chr. durch die Griechen und
ihrer Einfügung der bisher in allen Schriften fehlenden Vokale erst der Wechsel
vom Bildalphabet zum Lautalphabet erfolgte.
Optik bzw. die Bezeichnung optisch in Verbindung mit Formen jedweder
künstlerischen Produktion ist spätestens seit dem Aufkommen der technischen
Bildmedien Fotografie und Film und programmatisch seit dem Futurismus und
Dadaismus nachzuweisen, explizit z. B. bei El Lissitzky 1923, als er eine »neue
Optik des Buchraumes« und für die Texte forderte,12 oder bei Bertolt Brecht, der
im Berliner Börsen-Courier 1925 von einer »Umgruppierung nach dem optischen Gesichtspunkt« im Hinblick auf eine »neue Optik in der Literatur« berichtete.13 Programmatisch noch eindeutiger äußerte sich Karel Teige, der zur
Definition seines Poetismus davon spricht, »mit optischen Formen zu dichten.
Mit an der Fahnensprache gebildeten optischen Worten«14 und später (im Juni
München, Leipzig 1927, S. 93: »Das Wort und das Bild sind eins. Malerei und Poesie gehören
zusammen. Christus ist Bild und Wort. Das Wort und das Bild überkreuzen sich.« Vgl. auch
Klee, Paul: Das bildnerische Denken, hg. v. Jürgen Spiller. Basel 1990, S. 17: »Schrift und Bild,
das heißt Schreiben und Bilden, sind wurzelhaft eins.« Vgl. auch Walser, Robert: Aus dem
Bleistiftgebiet, Mikrogramme 1926/27, hg. v. Bernhard Echte u. Werner Morlang. Frankfurt
am Main 1990, S. 410: »Schreiben, Schriftstellern scheint mir vom Zeichnen abzustammen.«
Vgl. auch Kroehl, Heinz (Hg.): The Art of Writing. Bilder werden geschrieben. Heidelberg
2011, bes. S. 219.
12 Lissitzky, El: Ökonomie des Ausdrucks – Optik statt Phonetik, in: Merz 4/1923, S. 47.
13 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke, Bd. 18. Frankfurt am Main 1973, S. 24.
14 Teige, Karel: Poetismus [Mai 1924], in: Host 3(9–10)/Juli 1924, S. 197–204, dt.: Teige, Karel:
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Klaus Peter Dencker
1928): »Wir haben die allmähliche Loslösung der Poesie von der Literatur verfolgt, und gleichzeitig damit eine größere Optisierung der Poesie bis zur Fusion
mit der Malerei in ein Bildgedicht.«15 Im Rückblick stellte Raoul Hausmann fest:
»Es wurde bereits damals [1919] erkannt, dass das gesteigerte Bedürfnis der Zeit
nach dem Bild, also der Verdoppelung eines Textes durch die optische Illustration, nicht durch einfaches Nebeneinander, sondern nur durch eine auf
sprachgedankliche Grundlage zurückgreifende optische Konstruktion zu lösen
war.«16 Gelegentlich gibt es dann später bei den Autoren der Konkreten und
Visuellen Poesie eine begriffliche Nähe, wenn z. B. Carlfriedrich Claus notiert,
dass seine Blätter : »sowohl als optische systeme wahrgenommen, vom blick
erfasst, wie jedoch auch in der zeit entfaltet, als sprachliche information gelesen
werden.«17
Vor allem seit den 1920er-Jahren entstanden international neue Formen der
Optischen Poesie (und damit neue Begriffe), wie Apollinaires Lyrisme Visuel
(seit 1913), Tzaras PoÀme Visuel (1916), Poezo-Painting (1920) von Mykhailo
Semenko, das Bildgedicht von Teige (auch bei Kurt Schwitters, Gesetztes Bildgedicht [1922]), Visuelle Dichtung (1923) bei Lissitzky, Poesiographie (1923) von
Władysław Strzemiński sowie Pictopoezie (1924) von Victor Brauner und Ilarie
Voronca – Formen, die von den Autoren der 1950er-/1960er-Jahre z. T. wiederentdeckt und die in vielen Ländern besonders im Umkreis des Entstehens
und der Verwendung des Begriffs Konkrete Poesie bzw. Concrete Poetry um
weitere Bezeichnungen ergänzt wurden: u. a. als Lettrisme, Hypergraphique und
Spatialisme (Frankreich), Semantic Poetry (England), Signalismus (Jugoslawien/Serbien), Visuelle Poesie, Textbilder und Sehtexte (deutschsprachiger Raum),
Optick¦ b‚sně (Tschechoslowakei), Pattern Poetry, Visual Poetry, Pictorial Poetry, Speaking Pictures und Imagening Language (USA), Poesia Visuale und
Poesia Visiva (Italien), Poems Visuales (Spanien/Lateinamerika), Shishi/Shikakushi und Plastic Poem (Japan). Viele dieser Begriffe bezeichnen nicht immer
Identisches (selbst bei formalen Ähnlichkeiten), und dies nicht nur wegen der
unterschiedlichen Herkunftsländer und Sprachzustände, sondern nicht zuletzt
wegen ihrer Prägung durch oft individuelle Programmatiken einzelner Poeten.
Liquidierung der ›Kunst‹. Analysen, Manifeste. Frankfurt am Main 1968, S. 44–52, hier
S. 48f.
15 Teige, Karel: Manifest poetismu, in: ReD. Revue svazu modern† kultury / Revue internationale illustr¦e de l’activit¦ contemporaine, hg. v. Künstlergruppe Devĕtsil 1(9)/1928,
S. 317–336, dt. in: Teige, Liquidierung der ›Kunst‹, S. 70–111, hier S. 102; vgl. auch Srp, Karel:
Optische Worte. Poetismus und Bildgedichte, in: B‡rgus, Vladim†r : Tschechische Avantgarde-Fotografie 1918–1948. Stuttgart 1999, S. 56–62.
16 Hausmann, Raoul: Typografie 1932, in: ders.: Retrospektive. Hannover 1981, S. 58f.
17 Claus, Carlfriedrich: Erwachen am Augenblick. Sprachblätter. Karl-Marx-Stadt 1990, S. 128.
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Für den deutschsprachigen Bereich haben sich zwei Begriffe als dominant
erwiesen: Konkrete Poesie und Visuelle Poesie.
Die wohl früheste Bezeichnung Konkrete Poesie taucht bei Ernest Francisco
Fenollosa 1907/08 auf.18 Fenollosa stellt dar, in welcher Weise die Reduktion auf
ein chinesisches Zeichen »das Konkrete der Natur« ohne grammatikalisches und
abstrahierendes Netzwerk auszudrücken vermag, wie unvermittelt und präzise
das ideographische Element der Zeichen »zu einem prächtigen Aufblitzen
konkreter Poesie« verhilft. Die Bezeichnung »konkreter Dichter« findet sich
zuerst 1949 bei Max Bense,19 der T. S. Eliot als den »Typus des konkreten
Dichters und abstrakten Denkers« bezeichnete und Eliots Vorstellung von einer
»absoluten Dichtung« zitierte: »Dichtung zu schreiben, die wesenhaft Dichtung
wäre, ohne doch poetisch zu sein, Dichtung, die hüllenlos dastünd gleichsam in
ihrem Knochengerüst.« Allerdings ist das, was Konkrete Dichtung sein könnte,
bereits in den Publikationen von Kandinsky Über das Geistige in der Kunst
(1911) und Über die Formfrage (1912) fast zeitgleich mit den italienischen Futuristen und russischen Formalisten – und nicht zu vergessen: nach den visionären »Wortkunst«-Überlegungen (seit 1898) von Arno Holz – beschrieben
worden, worauf Ezra Pound schon in seinem Beitrag Vortizismus. Das Programm
der Moderne (1914) hinwies. Explizit finden sich die Bezeichnungen konkrete
Dichtung und konkrete Gedichte dann 1951 bei Hans Arp20 – und dies alles noch
vor den drei wichtigsten programmatischen Schriften zur Konkreten Poesie von
Öyvind Fahlström,21 Eugen Gomringer22 und der brasilianischen NoigandresGruppe: Augusto de Campos / D¦cio Pignatari / Haroldo de Campos.23
18 Fenollosa, Ernest Francisco: The Chinese Written Character as a Medium for Poetry, Ed. Ezra
Pound, in: Little Review 6(5)/Sept. 1919, S. 62–64; 6(6)/Okt. 1919, S. 57–64; 6(7)/Nov. 1919,
S. 55–60; 6(8)/Dez. 1919, S. 68–72. Reprint, leicht verändert: An Essay on the Chinese
Written Character by Ernest Fenollosa, in: Instigations. New York 1920 und London 1936. Dt.
mit einem Vorwort v. Eugen Gomringer : Fenollosa, Ernest: Das chinesische Schriftzeichen
als poetisches Medium. Starnberg 1972, S. 20.
19 Bense, Max: Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik. II. Mathematik in der Kunst.
Hamburg 1949, S. 51f.
20 Arp, Hans: Der Dichter Kandinsky, in: Bill, Max (Hg.): Wassily Kandinsky. Paris 1951, S. 147,
abgedr. in: Wingler, Hans Maria (Hg.): Wie sie einander sahen. Moderne Maler im Urteil
ihrer Gefährten. München 1961, S. 89.
21 Fahlström, Öyvind: Hätila ragulpr pa fatskliaben [1953], in: Bord dikter 1952–1955.
Stockholm 1966, S. 57ff., dt.: Manifest für konkrete Poesie, in: Text Buchstabe Bild. Ausstellungskatalog Helmhaus. Zürich 1970, S. XVIIff.
22 Gomringer, Eugen: vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung
[1954], in: Bense, Max (Hg.): Augenblick 1(2)/1955, S. 14–16.
23 Campos, Augusto de / Pignatari, D¦cio / Campos, Haroldo de: Teoria da Poesia Concreta.
Textos Cr†ticos e Manifestos 1950–1960. EdiÅþes Invenżo. S¼o Paulo 1965; eine Zusammenfassung der beiden Manifeste: poesia concreta: un manifesto von Augusto de Campos,
in: ad – arquitetura e decoracao 20/Nov.–Dez. 1956 sowie in Campos de, Augusto u. Haroldo / Pignatari, D¦cio: plano-pilûto para poesia concreta [1958], in: Noigandres (4)/1958,

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