Der blaue Siphon

Transcrição

Der blaue Siphon
Sommersemester 2003
PS: Blau – Topik und Poetik der Farbe der Ferne(n)
Dozentin: Dr. Gabriele Rohowski
Hausarbeit
Douglas Chorpita
3. Fachsemester
Schwanheimer Straße 45
60528 Frankfurt am Main
(069) 6772-7990
[email protected]
„Ich weiß nicht, wovon Isabelle träumte“
Analyse und Interpretation von
Urs Widmers Erzählung
Der blaue Siphon
Inhalt
1. Einleitung ___________________________________________________________1
2. Formale Textanalyse____________________________________________2
2.1. Der Aufbau des Texts ____________________________________________2
2.2. Zeitreise ___________________________________________________________6
2.3. Der Erzähler _______________________________________________________8
3. Inhaltliche Analyse _____________________________________________11
3.1. Der Helm ist verschwunden ____________________________________11
3.2. Der himmlische Betrug _________________________________________14
3.3. Die versäumte Botschaft ________________________________________16
3.4. Die Farbe des wolkenlosen Himmels__________________________17
3.5. Die blinde Blume ________________________________________________19
4. Schluss ______________________________________________________________21
5. Literaturverzeichnis ___________________________________________22
1. Einleitung
Diese Arbeit diskutiert Urs Widmers Der blaue Siphon. Sie unterteilt sich in eine formale und
eine inhaltliche Analyse.
Die formale Analyse zielt darauf ab, die gegenwärtig gültige Erzähltheorie zu überprüfen.
Dementsprechend konzentriert sie sich in erster Linie auf diejenigen Textpassagen, die die
Grundlagen der Erzähltheorie hinterfragen. Natürlich kann jeder Satz eines Texts auf eine
erzähltheoretische Weise zerlegt werden. Diejenigen Stellen im Text, die sich eindeutig anhand
der Erzähltheorie erklären lassen, sind innerhalb dieser Analyse von geringerem Interesse. Die in
diesem Zusammenhang verwendeten erzähltheoretischen Fachbegriffe basieren größtenteils auf
Matias Martinez’ und Michael Scheffels Einführung in die Erzähltheorie. Die formale Analyse
unterteilt sich in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt beschäftigt sich größtenteils mit der
Zeitstruktur des Texts. Die Untersuchung der erzählten Zeit in Bezug auf intradiegetische und
metadiegetische Erzählebenen steht im Vordergrund. Ein eigener Abschnitt wird dem die
Grundsätze der Chronologie entgegenstehenden Phänomen der Zeitreise gewidmet. Mit Hilfe
Albert Einsteins wird eine naturwissenschaftliche Verfahrensweise angewandt. Der dritte
Abschnitt beschäftigt sich mit dem Erzähler und handelt die zwei verschiedenen Rollen des Ichs
ab: die des erzählenden Ichs und die des erzählten Ichs bzw. des erlebenden Ichs.
Die inhaltliche Analyse wird sich auf fünf Abschnitte beschränken:
•
Der Helm ist verschwunden
•
Der himmlische Betrug
•
Die versäumte Botschaft
•
Die Farbe des wolkenlosen Himmels
•
Die blinde Blume
Bei jedem der vier ersten Abschnitte handelt es sich um ein wesentliches Leitmotiv. Die
diesbezügliche Diskussion gewährt Einblick in den Text und ermöglicht spielerische
Spekulationen über die Rolle der Farbe Blau. Im fünften Abschnitt Die blinde Blume wird der
Zusammenhang zwischen Widmers Siphon und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen abgehandelt.
Im Schlussteil wird die Arbeit in ihren Hauptpunkten zusammengefasst.
1
2. Formale Textanalyse
2.1. Der Aufbau des Texts
Der 98-seitige fiktionale auf dem Cover als Erzählung bezeichnete Text besteht aus zwei eng
zusammenhängenden Teilen. Beide Teile werden als getrennte, titellose bzw. nur mit Zahlen
angezeigte Kapitel markiert. Der erste Teil umfasst 62 Seiten. Der zweite ist kürzer. Er besteht
aus 36 Seiten. Beide Teile werden von derselben anonymen männlichen Figur erzählt. Im ersten
Teil ist der Erzähler ein 53-jähriger Mann. Im zweiten Teil werden die Ereignisse aus der Sicht
eines Dreijährigen dargestellt. Das Außergewöhnliche daran ist, dass dieser Dreijährige die 53jährige Hauptfigur aus dem ersten Teil ist, jedoch 50 Jahre jünger. Es handelt sich bei beiden
Teilen um zwei parallele Welten. Die eine ist die Welt des Erzählers im Jahre 1941. Die andere
ist die Welt des Erzählers im Jahre 1991. In der Innenstadt von Zürich befindet sich ein Kinosaal,
eine Art Zeitmaschine, die den jungen und den älteren Erzähler ihre Welten tauschen lässt.
Der erste Teil beginnt mit einer sowohl träumerischen als auch angsterfüllten Passage; es wird
über die blaue Siphonflasche berichtet, sowie über durch Bomben zerstörte Städte. Schon im
zweiten Absatz (S. 6) teilt der Erzähler mit, dass er ins Kino geht. Es ist das Jahr 1991. Der auf
die Erzählzeit bezogene etwa vier Seiten dauernde Kinofilm handelt von einem unbestimmten
Land in Südasien. Dort geht ein junger Europäer in einer großen Stadt zu einem Wahrsager. Der
Film ist eine Binnenerzählung, das heißt eine Erzählung in einer Erzählung. Hier ist der
Erzähler der extradiegetischen Ebene auch der der intradiegetischen Ebene. Die Entstehung
einer intradiegetischen Ebene kompliziert die Analyse der Erzählzeit und der erzählten Zeit,
weil sie das vereinfachte von Günther Müller entwickelte Phänomen1 der „zweierlei Zeit“2
infrage stellt. Eine intradiegetische Ebene bedeutet dreierlei Zeit. Zunächst gibt es die Erzählzeit
bzw. die Dauer des Erzählens, die „sich im Fall eines Erzähltextes [...] einfach nach dem
Seitenumfang [...] bemisst.“3 Dann gibt es die erzählte Zeit bzw. die Dauer auf der
extradiegetischen Ebene, in diesem Fall die Anzahl von Stunden, die der Erzähler im Kinosaal
verbringt. Und zum Dritten gibt es die erzählte Zeit auf der intradiegetischen Ebene: die Anzahl
der Tage, die im filmischen Handlungsablauf in Südasien verstreichen. Das Verhältnis von
1
Müller, Günther: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1968.
Mann, Thomas: Der Zauberberg. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 3. Frankfurt am Main 1960. S.749.
3
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 3. Aufl. München 2002. S.31.
2
2
Erzählzeit und erzählter Zeit, das Erzähltempo4, kann auf verschiedenen Erzählebenen analysiert
werden. Handelt es sich bei der erzählten Zeit um drei Stunden im Kino oder um drei Tage in
Südasien? Es kommt auf die Erzählebene an. Ein Mangel an diesem Phänomen gerecht
werdenden Fachbegriffen wird erkennbar. Unabhängig von der jeweils gewählten Erzählebene
kann hier von summarischem Erzählen bzw. von einer Raffung gesprochen werden. Das
erklärt sich aus der Tatsache, dass die Dauer der Erzählzeit viel kürzer als die der sowohl
extradiegetisch als auch intradiegetisch erzählten Zeit ist. Die bereits erwähnte Vorhersage des
Wahrsagers im Film ermöglicht sogar eine metadiegetische Erzählebene. Wenn der Leser
zeitliche Anhaltspunkte über die Ereignisse dieser Vorhersage erfahren würde, könnte man sogar
von viererlei Zeit reden.
Am Ende des ersten Films verlässt der Erzähler das Kino. Er entdeckt allmählich, dass er sich im
Jahre 1941 befindet. Die zeitliche Versetzung des Erzählers in die Vergangenheit führt zu
schwierigen Fragen über die Chronologie der Erzählung. Solche komplexen Fragen verdienen
ihre eigene Untersuchung und werden im kommenden Abschnitt Zeitreise gründlich erörtert.
Bleiben wir vorerst beim Text. Der Erzähler berichtet von seiner Ankunft in Basel im Jahre 1941
als 53-jähriger Mann. Er erzählt, Isabelle, seine Frau, sei nicht zu Hause (S.11). Er berichtet von
seiner Verzweiflung und dem Versuch, auf der Polizeiwache Hilfe zu finden. Eine Zeile später ist
er schon bei dem Beamten der Polizei. Es handelt sich hier um einen Zeitsprung (auch Ellipse
oder Aussparung genannt)5. Der Erzähler beschreibt das alte Haus (S.16), in dem er als Kind
gelebt hat. Es folgt ein Einschub über den jungen Architekten, nach dessen Plänen das Haus
gebaut worden war. Durch diese Prolepse bzw. zukunftsgewisse Vorausdeutung6 lässt der
Erzähler seine Leser am Schicksal des Architekten teilhaben. Es gibt viele weitere kurze
Einschübe, zu viele, um sie im Detail zu erwähnen. Der rettende Blitz auf dem Flachdach (S.17),
die erfolglose Straßenüberquerung der Mutter (S.24), der Mann, der Henry Millers Werk
umschreiben wollte (S.27), das Metallwarengeschäft (S.42), der Tod des Vaters (S.47f) oder
Lisettes Trinken des Lebertrans (S.49) wären einige davon. Auch in ihnen lassen sich weitere
zukunftsgewisse Vorausdeutungen erkennen. Das Metallwarengeschäft und Lisettes Lebertran
sind darüber hinaus Beispiele des iterativen Erzählens. Bei anderen kurzen Einschüben –
beispielsweise der Auseinandersetzung zwischen Land- und Stadtbaslern (S.20), der Erinnerung
4
Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. S.44.
ebd. S.42.
6
ebd. S.37.
5
3
an Lisette am Wasserturm (S.23) oder der Erinnerung an den Vater bei Mutenz (S.25) – handelt
es sich um Analepsen bzw. Rückwendungen. Die Frau auf dem Turm (S.18f, S.23, S.48) ist ein
Fall des repetitiven Erzählens. Kurze Dehnungen schieben sich ein, zum Beispiel bei der
Beschreibung der afrikanischen Holzfiguren und der Siphonflasche (S.44f). Szene bzw.
zeitdeckendes Erzählen7 gibt es an den Stellen, wo sich die Figuren in direkter Rede
unterhalten. Die bereits angesprochenen zukunftsgewissen Vorausdeutungen könnten auch als
Rückwendungen bezeichnet werden, wenn Zweifel an der Wirklichkeit einer Zeitänderung
bestehen würden. Auch wenn sich der Erzähler durch eine Zeitreise in die Vergangenheit
zurückversetzt, bleibt nicht seine Zeit dessen ungeachtet unverändert? Wie bereits angesprochen,
werden die Fragen der Zeitreise im nächsten Kapitel Erwähnung finden.
Am Ende seiner Reise in die Zeit seiner Jugend kehrt der Erzähler wieder ins Kino zurück (S.52).
Im zweiten Film, bei dem es sich erneut um eine Binnenerzählung handelt, tritt auch hier das
angesprochene Problem der dreierlei Zeit auf. Erneut stellt sich die Frage, ob zehn Minuten beim
Lesen, drei Stunden im Kino oder viele Jahre in Südasien und England vergehen. Der junge Inder
– oder vielleicht Bangladescher – geht ebenfalls ins Kino (S.55). Dieser Film innerhalb eines
Films stellt eine metadiegetische Erzählebene8 dar und führt auch in diesem Fall zum Problem
der viererlei Zeit. Am Ende von diesem Film (S.55f) versetzt sich der Inder in die Zeit seiner
Jugend. Vorstellbar, wenngleich fraglich ist die Behauptung, diese Rückkehr sei eine weitere,
bzw. ebenfalls eine metadiegetische Erzählebene. In diesem Fall wären beispielsweise die
regelmäßig
an
die
Nanny
gerichteten
unglücklichen
Vorhersagen
(S.56)
eine
Art
metametadiegetische iterative Erzählebene, die einen schwer nachvollziehbaren Fall von
fünferlei Zeit darstellen würde.
Als der Erzähler nach dem zweiten Film über Südasien das Kino verlässt, befindet er sich im
Jahre 1991 (S.57). Er geht nach Hause und spricht mit seiner Tochter über ein dreijähriges Kind
(S.59). Auch dieses Kind ist der Erzähler (jedoch vor 50 Jahren). Das von Mara über das Kind
erzählte Geschehen (S.61) könnte als eine kurze Rückwendung bezeichnet werden. Wenn man
aber in Betracht zieht, dass sich das Geschehen in einer anderen „Zeitwelt“ ereignet, ist es
vielleicht eine Art Weltsprung. Wie bereits erwähnt, werden diejenigen die Zeitreise
betreffenden Probleme auf das kommende Kapitel verschoben. Der erste, aus der Sicht des
Erwachsenen erzählte Teil der Erzählung endet mit einer ähnlichen Passage über die
7
8
Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. S.41.
ebd. S.76.
4
Siphonflasche und einen Atomangriff (S.65f). In diesem Zusammenhang berichtet der Erzähler in
einer Mischung aus Zeitformen und Modalitäten (Präsens, Präteritum, Futur, Indikativ,
Konjunktiv), was sowohl verhängnisvoll als auch prophetisch wirkt.
Wie schon erwähnt, werden im zweiten Teil der Erzählung die Ereignisse aus der Sicht des
Dreijährigen erzählt. Eines Tages bringt Lisette das Kind ins Kino (S.76). Der Film – eine
intradiegetische Erzählebene – handelt wieder vom Leben in Südasien. Im Film wird das
Selbstmordgeschehen der Frau wieder aufgenommen, welches das Kind 1941 am Wasserturm
seiner Heimatstadt erfahren hat (S.81f). Könnte es sich hierbei möglicherweise um einen
Weltsprung handeln? Martinez/Scheffel bezeichnen den Fall, in dem „mit der Trennlinie
zwischen Erzählen und Erzähltem auch die Grenze zwischen zwei Welten überschritten [wird]“9,
als narrative Metalepse. Eine Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es verschiedene Erzähler auf
verschiedenen Erzählebenen gibt. Im Fall des Selbstmordgeschehens handelt es sich jedoch um
ein und denselben Erzähler. Dementsprechend wird hier der Begriff der einfachen Metalepse
eingeführt. Die Geschichte von einem Schwan und einem Panther (S.81) – vielleicht eine weitere
Erzählebene – könnte innerhalb der einfachen Metalepse eine metadiegetische Erzählebene
eröffnet haben. Wenn das sich in Südasien ereignende Selbstmordgeschehen nicht mit dem
offenbar ähnlichen, aber sich in Basel ereignenden Selbstmordgeschehen gleichzusetzen ist,
würde es sich bei diesem Einschub einfach um eine Rückwendung handeln.
Nach dem Tod der Mutter im dritten Film (S.83) wird das Erzählen philosophisch und
stellenweise dichterisch10 (merkwürdig, denn das dreijährige Kind ist der Beobachter). Der Film
schwenkt über zu einem orphischen Märchen und kehrt erst etwa fünf Seiten später zu seinem
eigentlichen Handlungsstrang zurück. Nach dem Filmriss (S.88) gelangt der Dreijährige, der sich
jetzt im Jahre 1991 befindet, irgendwie an sein künftiges Haus, wo er auf Mara, seine zukünftige
Tochter, stößt. (S.91). Im Fotoalbum sieht er sich und seine aufgrund der Zeitreise weit
entfernten, ihm fremden Eltern (S.93). Es handelt sich in diesem Zusammenhang entweder um
eine einfache Metalepse (s.o.) oder um eine Art weltüberschreitende Rückwendung.
Schließlich geht auch er wieder ins Kino (S.98) und kehrt dadurch in jene Zeit zurück, in der
Lisette ungeduldig auf ihn wartet. Es ist wieder 1941. Der Dreijährige berichtet über seine
Zukunft und seine ungeborene Tochter, die er vor kurzem kennen gelernt hat (S.100), ein
9
Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. S.79.
ebd.10.
10
5
Umstand, den man sowohl als Rückwendung als auch zukunftsgewisse Vorausdeutung
bezeichnen könnte. Mit der Beschreibung der Siphonflasche und der Schilderung eines
Atomangriffs (S.102) endet der zweite Teil der Erzählung.
2.2. Zeitreise
Bei der Analyse der formalen Kriterien von Zeit führt eine Zeitreise zu erheblichen
Schwierigkeiten. Wenn die Zukunft schon passiert ist und die Vergangenheit noch vor uns liegt,
wie kann unter diesen spezifischen Umständen eine adäquate Analyse des Begriffs Zeit
vorgenommen werden? Soll die zeitliche Versetzung des Erzählers in die Vergangenheit als eine
Anachronie bzw. eine Rückwendung betrachtet werden? Oder wird sie als eine ununterbrochene
chronologische Ereignisfolge wahrgenommen? Es kommt darauf an. Aus der Sicht des Lesers,
der die erzählten Ereignisse zeitlich einordnen muss, ergibt sich eine Rückwendung. Aus der
Perspektive des Erzählers, der aus persönlicher Sicht chronologisch erzählt, gibt es keine
zeitliche Unterbrechung. Der Sonderfall von Zeitreise wirft schwierige philosophische und
wissenschaftliche Fragen nach der Bedeutung des Begriffs Zeit auf.
Albert Einstein hat sich mit der Problematik der Zeitreise beschäftigt. 1916 schrieb er: „Die
Gesetze der Physik müssen so beschaffen sein, daß sie in bezug auf beliebig bewegte
Bezugssysteme gelten.“11 Übersetzt in normale Sprache bedeutet dieser Satz, dass es keine
absolute Zeit gibt. Nach Einsteins Erläuterungen gibt es nur lokale Zeit bzw. Zeit in Bezug auf
einen Beobachter. Wie würde sich Einstein der Zeitreise in Urs Widmers Erzählung Der blaue
Siphon nähern? Vermutlich würde er empfehlen, den Begriff von Zeit einfach zu vermeiden. Er
würde neue Begriffe vorschlagen: Die Raum-Zeit-Welt12 ist eine Art Weltmenge. Diese
Raum-Zeit-Welt enthält alle Ereignisse. Das Raum-Zeit-Intervall13 bezeichnet sowohl den
örtlichen als auch den zeitlichen Abstand zwischen zwei Ereignissen. Einstein würde
verdeutlichen, dass es in der vorliegenden Erzählung ein eindeutiges Raum-Zeit-Intervall
zwischen der 1941 als Kind erlebten und der 1941 als Erwachsener erlebten Welt gäbe. Diese
zwei Zeitwelten dürfe man nicht als dieselbe Welt bezeichnen. Zeit könne, so die
Relativitätstheorie, an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vergehen.
11
Einstein, Albert: „Die Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie“. In: Annalen der Physik. 49. 1916.
Hoffmann, Banesh: Einsteins Ideen. Das Relativitätsprinzip und seine historischen Wurzeln. übers. Hajo Suhr.
.
Heidelberg 1997. S.145.
13
ebd. S.147.
12
6
Gleichaltrige Erzähler zum Beispiel könnten ihre jeweilige Zeit unterschiedlich schnell erleben.
Dies wäre theoretisch möglich, jedoch nicht mit der heutigen Technologie vereinbar; wir sind
noch nicht in der Lage, in einem sich der Lichtgeschwindigkeit annährenden Tempo zu reisen.
Am Ende von einer blitzschnellen jahrelangen Reise quer durch das Universum, die nur ein
Erzähler unternommen hätte, wäre der reisende Erzähler jünger als der auf der Erde verbliebene.
Leider bringt uns Einsteins Relativitätstheorie nicht viel weiter, denn sie besagt, dass die in
Widmers Der blaue Siphon dargestellte Zeitreise in die Vergangenheit technisch unmöglich ist.
Einsteins Theorie beschäftigt sich ausschließlich mit einer unterschiedlich wahrgenommenen
Zeitgeschwindigkeit.
In Widmers Erzählung handelt es sich um Fiktion und Realität. Dementsprechend hilft eine
naturwissenschaftliche Annäherung an das in ihr dargestellte Phänomen kaum. Eine fiktionale
Erzählung beschäftigt sich mit fiktiven Ereignissen. Ereignisse einer solchen Erzählung finden
nie tatsächlich statt, fanden nie statt, werden nie stattfinden. Der Leser muss in den erzählten
Ereignissen einer Erzählung eine Darstellung fiktiven Geschehens erkennen. Martinez/Scheffel
beschäftigen sich mit dieser Idee: „der Leser müsse sich in die erzählte Welt imaginativ
hineinversetzen und das Erzählte vorübergehend für real annehmen, um den Text überhaupt
verstehen zu können.“14 Dazu muss die Tatsache in Betracht gezogen werden, dass der Inhalt der
Erzählung keine Welt im normalen Sinn, sondern eine vom Leser erfundene Welt ist. Innerhalb
einer fiktionalen Erzählung kann nahezu alles passieren. Texte können absichtlich darauf
abzielen, die erzähltheoretischen Grundlagen durcheinander zu bringen. Hat Widmer darüber
nachgedacht? Erzähltheoretische Fachbegriffe wie Dauer, Anachronie, Analepse, Prolepse, usw.
sind nur bescheidene Werkzeuge, die helfen, verschiedene Texte zu vergleichen und zu
verstehen. Diese Begriffe basieren auf Zeit, so wie wir sie wirklich wahrnehmen. Texte, die die
Grundgesetze der Natur berücksichtigen, lassen erzähltheoretische Begriffe nützlich und wichtig
erscheinen. Eine wirklichkeitsnahe Erzählung fordert den Leser ohnehin auf, sich die Darstellung
einer Scheinwirklichkeit zu erdenken. Diese Darstellung muss auf seinen Erfahrungen in der
tatsächlichen Welt basieren. Im Falle einer wirklichkeitsfremden Erzählung – wie Der blaue
Siphon – wird dieses abbildende Verfahren zu einer beachtlichen Herausforderung. Der Leser
muss eine auf Wirklichkeit basierende Darstellung einer scheinbaren Unwirklichkeit erfinden. In
solchen Fällen werden erzähltheoretische Begriffe zum Erfassen eines Geschehens verwendet, für
das sie nicht geeignet sind. Sie brechen in sich zusammen.
14
Martinez/Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. S.21.
7
2.3. Der Erzähler
Am häufigsten berichtet der Erzähler von nichtsprachlichen Ereignissen des Geschehens. An
manchen Stellen gibt es aber gesprochene Figurenrede. Erzählte, indirekte, erlebte und
direkte Rede werden großzügig verwendet. Stellenweise lassen sich verschiedene Arten von
Gedankenrede erkennen. Außerdem handelt es sich oft um Nullfokalisierung bzw. eine
auktoriale Fokalisierung. Das heißt, der homodiegetische Erzähler weiß viel mehr als die
anderen Figuren. Das erklärt sich teilweise daraus, dass es sich bei dem 53-jährigen Erzähler um
einen Sonderfall handelt; der Erzähler hat anhand der Zeitreise schon die Zukunft der anderen
Figuren erlebt. Im Falle des dreijährigen Erzählers gibt es stellenweise eine interne bzw.
aktoriale Fokalisierung, weil der Erzähler aufgrund seines Alters relativ unwissend ist.
Bei der Erzählung handelt es sich um einen homo- und zugleich autodiegetischen Erzähler bzw.
einen Icherzähler als Protagonist. Während der vier Filme über Südasien leiht der Erzähler
anderen Filmschauspielern die Hauptrolle aus.
Nahezu die gesamte Erzählung wird im epischen Präteritum erzählt und stellt dadurch das
spätere Erzählen dar. Obwohl der Erzähler stellenweise über die Zukunft zu berichten scheint,
gibt es fast immer eine Zeitdifferenz zwischen Schreiben und Erleben, zwischen dem
schreibenden und dem erlebenden Ich. Das schreibende Ich berichtet über das vergangene
Geschehen, während das erlebende Ich zukünftige Ereignisse vorhersagt. Die folgende Passage
(S.7) beleuchtet die Doppelrolle des Ichs: „Ich war geblieben, ich weiß nicht warum,
wahrscheinlich, weil ich aus einer Stadt stamme, in der man das, was man bezahlt hat, zu Ende
genießt.“ Das erste Ich bezieht sich auf die Hauptfigur. Das zweite auf den Erzähler. Den Fall der
Doppelrolle des Ichs bezeichnet Dorrit Cohn als die dissonante Form15 der autodiegetischen
Erzählung. In der Passage, auf die dissonantes Erzählen zutrifft, geht es um ein sowohl späteres
als auch gegenwärtiges Erzählen. Im angeführten Zitat berichtet der schreibende Erzähler
innerhalb eines einzigen Satzes über sich als Hauptfigur im Plusquamperfekt und über sich als
Erzähler im Präsens. Bei den Kartoffelkäfern (S.24) taucht eine auf zwei Zeitebenen hinweisende
Passage auf: „Ich warf sie in den Eimer und dachte an meinen Vater, wie er in alten Zeiten, jetzt
also, auf der Straße gegangen war [...].“ Hier geht es nicht um zwei auseinander tretende
Instanzen des Ichs, sondern darum, dass sich die Hauptfigur aufgrund einer Zeitreise noch am
15
Cohn, Dorrit: Transparent Minds. Princeton 1978. S.145ff.
8
Vortag im Jahr 1991 befand, sich aber im Heute der Erzählgegenwart im Jahre 1941 wiederfindet.
Das Wort „jetzt“ bezieht sich auf das Jahr 1941 bzw. die von der Hauptfigur erlebte
Vergangenheit. Bei der Begegnung mit der zweijährigen Isabelle (S.32) lässt sich eine weitere
interessante Formulierung erkennen: „Sie war alleine, obwohl sie drei ältere Geschwister hatte
und hat [...].“ In diesem spezifischen Kontext hängen die beiden Ebenen nicht unbedingt mit
einer Zeitreise zusammen. Das Wort „hat“ bezieht sich auf die Gegenwart des erzählenden Ichs.
Der Erzähler unterbricht sein Erzählen im epischen Präteritum um zu ergänzen, dass sich seit
der Zeit des erzählten Geschehens diese Tatsache nicht verändert hat. Die Ankunft des 53-jährigen
im Jahr 1941 (S.11) gleicht dem vorigen Zitat: „Hetzte über den Platz voller Bäume und Büsche,
in dessen Nähe ich wohnte, wohne [...].“ Das Wort „wohne“ im Präsens bezieht sich hier auf das
erzählende Ich. Seltsamerweise wohnt der Erzähler im Moment des Geschehens nicht an diesem
Ort. Er täuscht sich, da er zu dieser Zeit noch nicht entdeckt hat, dass er sich im Jahr 1941
befindet.
Bei der Ankunft des 53-jährigen in seinem früheren Haus (S.22) taucht die Verwendung der
zweiten Person auf: „ich [...] musste lachen, weil ich dachte, auf den Mund gefallen bin ich nicht
mehr. Da staunst du, gell.“ Hier bezieht sich das mit der Verbform im Präsens verwendete „ich“
nicht auf das erzählende Ich, sondern auf das erlebende Ich, dessen Gedanken ohne
Anführungszeichen dargestellt werden. Das „du“ bezieht sich auf die Mutter. Es handelt sich bei
diesem Beispiel um einen autonomen Inneren Monolog. Die Verwendung der zweiten Person
ist in diesem Fall nicht mit einer differenzierten extradiegetischen Sprechsituation16
gleichzusetzen.
Auffällig ist die Häufung von unvollständigen Sätzen im gesamten Text, die ebenfalls als
autonomer Innerer Monolog zu verstehen sind, beispielsweise: (S.6) „Die Juden.“, (S.12)
„Ausweis.“, (S.17) „Nichts.“, (S.21) „Die Socken.“
Wie viele Erzähler erscheinen in dieser Erzählung? Bei dem Erzähler des ersten Kapitels und
dem des zweiten handelt es sich auf den ersten Blick um dieselbe Person. Wie steht es aber mit
dessen Lebensalter? Es stellt sich als ein Irrtum heraus zu glauben, der Erzähler bzw. das
erzählende Ich des ersten Kapitels sei 53 Jahre alt und der des zweiten Kapitels drei Jahre alt.
Wie bereits erwähnt, stellen beide Kapitel einen Fall des späteren Erzählens dar. Weder das
erzählende noch das 53-jährige erlebende noch das dreijährige erlebende Ich sind gleichzusetzen.
16
Martinez/Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. S.85.
9
Es bleibt unerwähnt, wie alt das erzählende Ich ist. Es muss älter als der 53-jährige Rückkehrer
sein, denn anhand des späteren Erzählens musste sich das ganze Abenteuer des Rückkehrers
schon ereignet haben. Ein überzeugender Beweis dafür lässt sich anhand des Texts nicht
erbringen. Es ist jedoch anzunehmen, dass das erzählende Ich des ersten Kapitels und das des
zweiten wohl gleichaltrig sind. Nachdem der dreijährige Junge zu seinen Eltern zurückgekehrt ist
(S.102), berichtet das erzählende Ich über die darauf folgenden Jahre: „Neue Tage, andere Jahre
kamen. Ich wurde größer, fiel vom Apfelbaum und trug den Arm im Gips. Der Krieg war
gegangen, der Frieden gekommen.“ In diesen drei Sätzen vergehen zehn, zwanzig, dreißig Jahre.
Vorstellbar ist, dass das erzählende Ich des zweiten Kapitels trotzdem jünger ist als das des
ersten. Dies würde bedeuten, dass sich der Erzählakt des zweiten Kapitels einige Jahre vor dem
des ersten ereignen würde. Aber auch auf diese Annahme gibt der Text keine eindeutige Antwort.
Die Behauptung, dass der Autor vom Text zu trennen sei und innerhalb einer Textanalyse
biografische Informationen keine große Bedeutung haben, ist gut begründet.17 Im Fall dieses
Texts sind jedoch Parallelen zur Biografie des Autors zu erkennen. Der Protagonist und Urs
Widmer sind beide 1938 in Basel geboren. Beide sind verheiratet. Beide haben eine Tochter.
Beide sind Schriftsteller. Beide hatten Väter, die gern schrieben. Beide wohnen in Zürich. Die
ältere Hauptfigur und Widmer sind zum Zeitpunkt der Textfassung beide 53 Jahre alt. Die
Erzählung hebt nicht Anspruch, Autobiografie zu sein. Dennoch ist erkennbar, dass sie sich,
losgelöst vom Autor, mit ähnlichen Erfahrungen wie seinen auseinander setzt.
Auf die untrennbare Einheit zwischen Kind und Mann ging Hermann Wallmann von der
Frankfurter Rundschau näher ein. In einer Poetikvorlesung habe Urs Widmer 1991 dem Dichter
die exklusive Fähigkeit zugesprochen, „jederzeit und simultan beides sein zu können, Kind und
Erwachsener“.18 Folglich kommt der ständigen Abwechslung des Erzählstils besondere
Bedeutung zu. Die Rückkehr in die Zeit der Jugend ist nicht nur durch eine Verjüngung des
erlebenden Ichs gekennzeichnet sondern auch durch eine Verjüngung des erzählenden Ichs.
Hierzu stellen sich einige Fragen: Sind das erzählende und das erlebende Ich wirklich trennbar?
Will die heutige Erzähltheorie sie trennen? Widerspricht die Erzähltheorie gelegentlich der
naiven Wahrnehmung eines Texts? Verdirbt die Erzähltheorie die Unvoreingenommenheit des
17
18
Barthes, Roland: „The Death of an Author“. In: Image-Music-Text. London 1977. S.142-148.
Wallmann, Hermann: „Novalis im Kino“. In: Frankfurter Rundschau. 24.4.1992.
10
Lesers? Solche Fragen werden interessant, wenn vom naiven Kind und vom kritischen
Erwachsenen ausgegangen wird.
3. Inhaltliche Analyse
3.1. Der Helm ist verschwunden
Die Erzählung Der blaue Siphon beschäftigt sich ausführlich mit Krieg. Sie handelt nicht
ausschließlich von Kriegsereignissen. Alltägliche Gegenstände werden mit Gewalt und Krieg
verknüpft. Helme sind überall zu finden, sogar in Südasien (S.9): „Gleich zu Beginn wurde ein
junger Mann in einem Tropenanzug – sogar der Helm fehlte nicht – von einem barfüßigen Jungen
in den Hausgang verlockt.“ Der Vater ist einer der helmbewehrten Soldaten (S.14), der erst später
(S.25) erkannt wird, als „er keinen Stahlhelm jetzt trug.“ Später nimmt sich der Erzähler das
Fahrrad seines Vaters (S.28) und hängt dessen Helm „an einen Ast des Baums“. Nachdem der
Erzähler mit dem Fahrrad zurückgekehrt ist, verschwindet der Helm wieder (S.37): „Stellte das
Rad an den japanischen Baum – der Helm war verschwunden – und ging [...] zur Haustür [...].“
Warum ist das erwähnenswert? Das Bild des Helms erscheint insgesamt fünfmal in Gedankenstrichen. Welche Gedanken lösen diese Bilder aus? Vor der Tür liegt der Helm (S.74), unter dem
der Erzähler kurz danach verschwindet (S.75): „Ich [...] setzte mir [...] den Helm auf, der so groß
war, daß ich unter ihm verschwand [...].“ Der Vater reißt (S.75) „den Helm von mir weg.“ In den
Fotos (S.94) ist der Vater der „einzige mit dem Stahlhelm auf dem Kopf“. Hat Widmers Vater oft
einen Helm getragen? Hat der Helm eine besondere Bedeutung in der Erzählung? Ist er eine
Metapher für den Vater? War Widmers Vater häufig nicht da? Hat sich Widmer aufgrund seines
Vaters selbst gering erachtet? Auf jeden Fall werden Helme häufig aufgesetzt.
Wie bereits erwähnt, haben Widmers Assoziationen sehr viel mit Gewalt und Kriegsfolgen zu
tun. Beim Donnerwetter (S.37) fallen Bomben von oben: „Hatte der Blitz sie erschlagen, oder
war das ein Schlachtfeld?“ Jimmy, der Hund, verschwindet (S.49) „in der Dunkelheit und
tauchte gleich darauf wieder auf wie ein Torpedo.“ Die junge Lisette hat Brüste (S.19), „die die
Knöpfe ihrer Kinderbluse wegzusprengen drohten.“ Die Siphonflasche nimmt Bomben, die aus
dem Himmel fallen (S.65). Die Holzfiguren aus Afrika sehen aus (S.44), „als trügen sie
Gasmasken.“ Vor dem Kino (S.50) gleichen Lisettes Haare einem „Biwakfeuer“. Die zwei
Beamten (S.50) haben Probleme „mit ihrer Strategie“. Die Kartoffelkäfer (S.24) sind „hübsche
11
Tierchen mit braunen Streifen auf den gelben Panzern.“ Die Mutter hält das Messer (S.22) „wie
eine Waffe.“ Auf dem Empire State Building (S.16) ist der Erzähler „froh über die
Stacheldrahtwehren.“ Die Kameraden fahren Fahrzeuge (S.15), „die einem Atomschlag
widerstehen können.“ Der Hund im Kino (S.52) sitzt auf dem Stuhl „wie Napoleon über dem
Schlachtfeld von Austerlitz.“
Das Verb verschwinden wird sehr oft im Text verwendet. Drei Ereignisse wurden diesbezüglich
bereits angesprochen: Der Helm (S.37), der Hund (S.49) und der Erzähler (S.75). Es gibt aber
noch andere. Der Beamte (S.12) „verschwand im Posten.“ Es gibt den Vater, (S.26) „der mitsamt
dem Eimer im Haus verschwand.“ Isabelle und ihre Mutter (S.34) „verschwanden im Haus.“ Das
Kind (S.38f) „ist verschwunden, zwei Tage spurlos verschwunden.“ Den Inder im zweiten Film
(S.55) bzw. den „verschwundenen Sohn“ hat der Vater nicht vermisst. Die Vögel (S.67)
„verschwanden im Blau.“ Die Eidechse (S.69) „verschwand wie ein Blitz“. Am Ende des Texts
bleibt der Hund, Jimmy (S.102), „verschwunden.“
Das Verschwinden wird manchmal mit anderen Worten ausgedrückt. Der Engländer sucht die
junge Inderin im Treppenlabyrinth (S.10), „ohne sie jemals wiederzufinden.“ Kurz zuvor will er
zurück zu seiner englischen Frau (S.9), „aber es war zu spät.“ Nachdem das Kind Mara besucht
hatte (S.61), „plötzlich war er weg.“ In den Reisfeldern (S.81) wären sie „weggeschwemmt
worden.“
Als spannungsreichste Passagen werden diejenigen empfunden, die sich am Ende der beiden
Kapiteln befinden. Nachdem der Erzähler nach seiner seltsamen Reise in die Zeit seiner Jugend
zu seiner Familie zurückgekehrt ist, beschäftigt ihn das Phänomen des spurlosen Verschwindens
weiter (S.65f):
Wir könnten die schwarze Bombe jetzt sehen, [..], wenn wir nach oben sähen, aber wir sehen nicht nach
oben, ich sehe meinen Freund an, an den ich mich nicht erinnere, und sage zu ihm, daß. DASS. Seither ist
sein Schatten in die Mauer meines Hauses eingebrannt. Ich bin verschwunden. Mein Freund ist
verschwunden. Meine Mutter ist verschwunden. Es gibt uns nicht mehr. Es gibt viele nicht mehr. Es wird
viele nicht mehr geben.
Auffällig ist die Beweglichkeit von sehen: „Wir könnten [...] sehen, wenn wir sähen, aber wir
sehen nicht nach oben“. Durch die Verwendung von dreierlei Verbformen (zuerst mit dem eine
Möglichkeit ausdrückenden Modalverb können im Konjunktiv, dann im Konjunktiv, und
schließlich im Präsens) lässt sich eine spannungsgeladene Situation erkennen. Das zweite
12
„DASS“ in großen Buchstaben zeigt, wie eine Person mitten in einem Satz verschwinden kann.
Der Übergang von der alten Rechtschreibung zur neuen ist auffällig: „daß. DASS.“ Müssen
stolze Erzähler erst mit einem Atomschlag umgebracht werden, um die neue Rechtschreibung zu
beherrschen? Das erzählende Ich teilt mit, dass es schon verschwunden ist. Dieser
widerspruchsvolle Satz erhellt die beängstigende Tatsache, dass der Atomschlag wohl nie
wahrgenommen wird: „Es gibt uns nicht mehr.“ Der Übergang vom Präsens „gibt“ zur Zukunft
„wird geben“ drückt die Dauerhaftigkeit des Verschwindens aus.
Nachdem das Kind zu seiner Familie zurückgekehrt ist, erscheinen wieder die ängstlichen
Vorstellungen über die Möglichkeit des Verschwindens (S.102):
Nun jedoch dachte ich, daß ein jäher Knall alles zerreißen könnte. JETZT. Sah zum Himmel empor, ins
Blau. Wenn ich einen schwarzen Punkt sähe, hätte ich nicht viel mehr Zeit. Vielleicht brennte sich mein
Schatten in die Mauer des Hauses ein. Mein Vater wäre verschwunden. Meine Mutter wäre verschwunden.
Lisette wäre verschwunden. Es gäbe sie nicht mehr. Es gibt sie nicht mehr: Vater, Mutter, Lisette, und auch
Jimmy nicht, den Hund.
Obwohl es klar ersichtlich ist, dass sich der Text mit dem Thema Krieg beschäftigt, ist es
trotzdem erwähnenswert. Der Icherzähler ist anscheinend von Kriegsereignissen tief betroffen.
Diese Ereignisse bestimmen die Wahrnehmungen des Erzählers. An der deutsch-schweizerischen
Grenze musste der Erzähler ständig Kriegsberichte und Angriffe miterlebt haben. Durch die
kriegsorientierte Charakterisierung von harmlosen Menschen und Gegenständen lässt sich der
vollständige Verlust von kindlicher Unschuld erkennen. Vielleicht hat der Erzähler einmal den
Himmel angeschaut und ihn mit großer Freude bewundert. Jetzt ist der Himmel eine Quelle von
Bomben und Zerstörung. Der Erzähler weiß, dass die einst unendlich entzückende Welt unsicher
und gefährlich ist. Die Schönheit steht jetzt in Verbindung mit beängstigenden Erinnerungen an
Gewalt und Zerstörung. In allem Guten liegt die Unsicherheit, dass es für immer verschwinden
kann.
Der Verlust des Vaters19 ist bei Widmer wiederholt Thema. Dieses Gefühl könnte aus dem
Bedauern heraus entstanden sein, den eigenen Vater kaum gekannt zu haben. Wäre der Helm eine
Metapher für Widmers Vater, ließe sich der verschwundene Helm mit etwas viel
Bedeutsamerem gleichsetzen, nämlich dem Verlust des Vaters.
19
Moser, Samuel: „Ein Anachronist unserer Zeit“. In: Süddeutsche Zeitung, 26.3.1992.
13
3.2. Der himmlische Betrug
Der blaue Siphon beschäftigt sich mit dem Betrug durch das Leben und dessen Ungerechtigkeit.
Die Welt, die wir im Text betrachten, ist unvorhersehbar und brutal. Menschen betrügen sich.
Eine betrogene Frau fällt vom Himmel, schlägt auf dem Kies auf und stirbt. Das Leben selbst
wird als der größte Betrug von allen dargestellt.
Betrügerei findet sich an manchen Stellen im Text. Die junge Britin (S.10) entdeckt ihren Mann,
während er eine junge Inderin – oder Bangladescherin – küsst:
Sie [...] schrie und zeterte und fiel in Ohnmacht und erwachte wieder unter den zärtlichen Backenstreichen
des Gatten, und endlich waren beide fähig, sich von der Frau auf die Strasse zurückführen zu lassen. Ein
letzter Kuß, einen auch für die Gattin, die dennoch wie eine Furie schaute, eine Todwunde. Dann gingen
beide davon, ihrem Schicksal entgegen, das am Ende der Straße auf sie wartete und die Frau tötete – ein
Fanatiker, der alles Britische haßte, erschoß sie –, während der Mann dann bis zu seinem Lebensende die
Stadt nicht mehr verlassen konnte und nach der Frau im Treppenlabyrinth suchte, ohne sie jemals
wiederzufinden.
Die Passage schildert die willkürliche Ungerechtigkeit des Lebens. Die in Ohnmacht gefallene
Britin, die schon tief betroffen war, muss noch einmal sehen, wie ihr Mann die junge Inderin
küsst. Gibt es einen gerechten Gott? Muss der unzuverlässige herzlose Brite seinen Hauch einer
Affäre büßen? Kurz danach wird seine entwürdigte Frau erschossen. Der Brite, der „Augen nur
für die Frau“ hatte, scheint nicht weiter betroffen zu sein. Er ergreift stattdessen die Gelegenheit,
die junge Inderin wiederzufinden. Er sucht sie, hat aber keinen Erfolg. Sie bleibt verschwunden.
Auffällig ist der Fanatiker, der alles Britische hasst. Der Erzähler – vielleicht auch Gott? – scheint
ebenfalls alles Britische zu hassen. Es wird über die radikale politische Gruppierung in Indien
berichtet (S.53), „deren Ziel es war, die Engländer aus dem Land zu bomben.“ Später wird über
den englischen Touristen erzählt (S.54), „dem Indien [...] sympathischer als das Empire war.“
Hier wird auf die Ungerechtigkeit des britischen Empires hingedeutet. Aus folgendem Grund
verdient diese Passage weitere Beachtung: „Der letzte Kuss“ und „die Todwunde“ stellen eine
Art Vorausdeutung dar. „Der Fanatiker“ als Metapher für das verhängnisvolle „Schicksal“, das
auf die Frau gewartet hatte, ist erwähnenswert. Die Art und Weise, wie dieses Ereignis mit dem
Schicksal des Fanatikers verwoben wird, betont zusätzlich wie grausam Zufall sein kann.
14
Nachdem der Erzähler in der Zeit seiner Jugend angekommen ist, behauptet er, dass ihn seine
Ehefrau Isabelle betrogen habe (S.13f) : „Ich weinte nicht mehr. [...] Ich wollte […] irgendwie so
was wie zehn Jahre lang nicht mehr zu Isabella zurückkehren oder den Liebhaber töten oder sie
verprügeln, wie noch nie ein Mann eine Frau verprügelt hat, bis sie, von blauen Flecken und
roten Striemen übersät, mir tränenüberströmt den Namen des Mannes gestände.“ Auffällig ist das
Blau. Bei den überwältigenden Gefühlen des Erzählers lässt sich eine große Ungewissheit
erkennen. In der Welt, die uns nahe gebracht wird, herrscht Ungerechtigkeit. Später fragt der
Erzähler seine Frau misstrauisch nach den Männern der Befindlichkeitsgruppe (S.62): „Wie
kommst du mit denen aus?“ Hier lässt sich Eifersucht des Erzählers erkennen. Der Vater und die
Mutter fühlen sich bestohlen, weil das Kind nicht zu finden ist (S.26ff). Seine eigene Mutter
beschuldigt den Erzähler des Mordes an dem Kind (S.41): „Meine Mutter [...] riß mich von
hinten am Hemd und schrie, ich sei ein Mörder, ein Mörder, ein Mörder“. Hier zeigt sich die
Schonungslosigkeit, die vielleicht unter den Umständen des Krieges unvermeidbar war. Die Frau,
die vom Turm in den Tod springt, wurde von einem Bauern betrogen (S.81). Die Heilige, die in
der Lage gewesen wäre, ihr zu helfen, hat „einfach nichts“ getan. An diesem Beispiel lässt sich
ein Mangel an göttlichem Mitgefühl erkennen.
Der indische Junge im dritten Film erlebt den grausamen Tod seiner Mutter (S.82). Kurz danach
erscheint eine wesentliche Passage (S.83f):
Der Junge kam zu dem Schluß, dass die sichtbare Welt ein Betrug sei. Seine Theorie wurde diese: irgend
jemand hatte ein Interesse daran, daß die Kinder – und nicht nur sie – glaubten, das Leben auf dieser Welt
sei herrlich, obwohl das nicht stimmte. Obwohl das Gegenteil der Fall war. Dieser Jemand, der vielleicht
der von der Großmutter beheulte Gott war, [...] hatte bösartig die sichtbare Welt vor seine zukünftigen
Opfer hingebaut, um sie in Sicherheit zu wiegen und später um so gewisser verschlingen zu können.
Die Übereinstimmung dieser Passage mit den bereits angesprochenen Bespielen ist eindeutig. Die
ganze Welt erscheint dem Kind als ein Betrug. Der allmächtige Gott im Himmel hat ihn betrogen.
Little Boy, die Bombe von Hiroshima, verdeutlicht den endgültigen himmlischen Betrug (S.66):
„Es gibt uns nicht mehr.“
15
3.3. Die versäumte Botschaft
Die Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern wird der von Erwachsenen entgegengestellt. Die
Tendenz von Erwachsenen, wichtige Wahrnehmungen zu übersehen, wird nachdrücklich
angezeigt. Es handelt sich oft um nicht als solche erkannte Warnungen.
Nach dem Traum von der Siphonflasche wacht der Erzähler auf (S.5): „dachte ich eine Weile
verwirrt an die Botschaft und vergaß sie dann.“ Das Problem der Wahrnehmungsfähigkeit lässt
sich ebenfalls beim ersten Film erkennen. Der Erzähler kann nicht alles (S.7) sehen, „immer nur
Teile, wie im wirklichen Leben.“ Er erläutert, dass er „von den Ereignissen immer nur ein Teil
wahrgenommen hatte“. Der den uralten Wahrsager besuchende Brite (S.9) „hatte nur Augen für
die Frau [...] und so verstand er die Botschaft nicht.“ Hätte er die Worte des Alten gehört, hätte er
vielleicht seine Ehefrau vor „ihrem Schicksal“ retten können. Bei Ankunft des Erzählers in der
Zeit seiner Jugend begegnet er seinem eigenen Vater (S.14f). Der Vater „murmelte etwas, was
ich wieder nicht verstand, und fuhr weiter.“ Der Erzähler hat seinen Vater weder erkannt noch
verstanden.20 Das eingeschränkte Wahrnehmungsvermögen des Erzählers und des Vaters wird
deutlich. Vielleicht ist der Erzähler auch enttäuscht darüber, dass sein Vater immer noch der alte
ist und Gedankenaustausch nach wie vor unmöglich ist. Nachdem der Erzähler erklärt hat, dass er
Wahrsager sei, glaubt ihm sein Vater nicht (S.43): „der Vater [...] blinzelte verständnislos.“ Der
Vorhersage über den Krieg wird auch nicht geglaubt (S.43). Die indische Nanny übersieht die
Botschaft ihres Wahrsagers (S.56). Hätte sie die Vorhersage berücksichtigt, hätte sie vielleicht ihr
Schicksal vermeiden können. Man bemerkt im Fall des dreijährigen Erzählers die Vielfalt an
hochkonzentrierten Sinneseindrücken (S.67ff). Beim Kind trifft es nicht zu, dass „von den
Ereignissen immer nur ein Teil wahrgenommen“ wird. Im Falle der betrogenen Bäuerin lässt sich
das Problem der versäumten Botschaft deutlich erkennen. Hätte die alte Heilige die Botschaft der
jungen Bäuerin ernst genommen (S.81), wäre sie wohl nicht vom Turm gesprungen. Die alte
Heilige übersieht das Weh der Frau, was zu ihrem tragischen Selbstmord führt. Im vierten Film
geht eine uralte Frau die Straße entlang (S.98): „ihr Geliebter kam ihr entgegen [...] und sie
erkannten sich nicht und gingen aneinander vorbei.“ Sie verpassen ihre letzte Chance auf Liebe.
Es stellt sich die Frage, ob der Text selber eine Botschaft beinhaltet. Würde der Leser die
Botschaft beachten? Könnte er sie erkennen? Würden er sie trotzdem ignorieren? Welches
Unglück würde sich ereignen, wenn er die Botschaft nicht wahrnehmen würden?
20
Moser: „Anachronist“.
16
3.4. Die Farbe des wolkenlosen Himmels
Die Farbe des wolkenlosen Himmels ist Blau. In Novalis’ Heinrich von Ofterdingen entdeckt
man die Zauberkraft „der blauen Blume“, das träumerische Symbol der Romantik:
Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht das ihn umgab,
war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit
voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren
breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der
köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit
unnennbarer Zärtlichkeit. 21
Es stellt sich die Frage, ob die mystische „blaue Blume“ der Romantik „gepflückt“ werden soll.
Bei der Erzählung Der blaue Siphon soll hervorgehoben werden, dass es sich bei der Farbe Blau
um eine Widerlegung dieser romantischen Schönfärberei handelt. An dieser Stelle könnte alles
Mögliche in die Bedeutung der Farbe hineininterpretiert werden. Das wäre aber weitere
Schönfärberei, genau das, was hinterfragt werden soll. Traurig mag wohl sein, dass wir nicht das
Blaue vom Himmel herunter versprechen, reden, lügen. Blauäugige Interpretationen mögen die
wesentliche Botschaft versäumen. Die hier ausgeführten Deutungsversuche basieren auf
nüchternen Beobachtungen über die Farbe Blau im Text.
Es wird die Behauptung aufgestellt, Widmers Erzählung verbindet Blau mit verschiedenen,
unerwarteten, häufig enttäuschenden Ereignissen. Das Auto (S.11) „mit blauleuchtenden
Scheinwerfern“ fährt vorbei: „Der Fahrer unsichtbar. Ich erschrak, obwohl ich noch nicht wußte,
worüber“. „Die blaue Zone“ (S.12) bezieht sich auf den Bereich, wo man das Auto nicht parken
darf. Nichts Romantisches lässt sich an einer Parkbuße erkennen. „Blaue Flecken“ (S.14) sind
schmerzhaft. „Der blaue Himmel“ (S.15) bietet den ersten positive Aspekt dieser Farbe. Die
blauen Vergissmeinnicht (S.15), die in diesem Zusammenhang erwähnt werden, fügen sich in die
Stimmung des Augenblicks ein und erinnern den Erzähler möglicherweise an ein positiv
besetztes Erlebnis. Der Erzähler befindet sich zum ersten Mal in einer Situation, in der er die
himmlische Farbe nicht vergessen möchte. Die Bäuerin trägt „Sandalen aus blauem Leder“ beim
21
Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 2001. S.11.
17
erfolgreichen Selbstmordversuch (S.18). Dieses Blau rettet sie nicht. Der Busch (S.21) „mit
kleinen blauen Beeren“ weist keine Besonderheit auf. Die misstrauische Schwiegermutter (S.34)
„in einem blauen Rock“ schenkt keine „unnennbare Zärtlichkeit“. Der „ebenfalls blaue“ Kasten
(S.46), auf dem die blaue Siphonflasche sitzt, spielt keine große Rolle. Bei dem „blaue[n]
Altarlichtlein“ (S.49) fällt nichts auf. An vielen Stellen wird die Farbe Blau mit dem Himmel
häufig verknüpft. Die Vögel (S.67) „verschwanden im Blau.“ Im Text scheint das Wort
verschwinden (s. o.) im negativen Sinn verwendet zu werden. Beim Sprühen des Nebels im
Garten (S.67f) handelt es sich um ein giftiges Blau. Bei den trostlosen Ereignissen im vierten
Film (S.85) ist das „düstere Licht“ jedoch ein „blaues Licht.“ Am Ende des Films handelt es sich
bei der Farbe um eine weitere Enttäuschung (S.88): „Mitten in seinem Blick, der auf das blaue
Wasser [...] ging, riß der Film, und ein trübes Licht erhellte das Kino. ,Aus’, rief der Operateur
[...]. ,Raus!‘ “ Kurz danach (S.89) fährt das „Polizeiauto mit sich drehenden Blaulichtern und
heulenden Sirenen“ vorbei, was erschreckend gewesen sein mag. Mara (S.91) trägt „eine blaue
Hose“, was harmlos erscheint.
Zu den brutalen Benennungen der himmlischen Farbe zählt die blaue Siphonflasche. An fast
jeder Stelle, an der die Siphonflasche erwähnt wird, lässt sich der Horror eines Atomschlags
erkennen. Der einleitende Traum (S.5) ist der erste Atomtod: „Menschengewimmel, Schreie, und
dann stand ich in einem diffusen Nichts, im All vielleicht, [...] eine Siphonflasche aus blauem
Glas.“ Später – oder früher, denn es ist jetzt 1941 – stößt der Erzähler auf die Siphonflasche bei
den Eltern (S.45): „Plötzlich sah ich sie. Mein Herz begann rasend zu schlagen. Da stand sie, die
Siphonflasche, wegen der ich die ganze Reise unternahm.“ Der Erzähler erklärt zu den Bomben
(S.45f), die, hatte er „einst gedacht, von den Himmeln und auf uns Menschen“ fallen, „jetzt hob
ich die Hand. Ich konnte sie nehmen und verschwinden lassen. Es gäbe keine Bomben mehr.“.
Die tödliche Bedrohung der Bomben möchte der Erzähler endgültig rächen. Die schon erwähnte
Passage am Ende des ersten Teils (S.65) handelt wieder von der Siphonflasche. Im zweiten Teil
nimmt der dreijährige Erzähler die jetzt anscheinend unschuldige Siphonflasche (S.75) und „als
die Mutter mir nachkam, spritzte ich sie von oben bis unten naß.“ Vielleicht ängstigt sich der
Dreijährige zu dieser Zeit noch nicht vor den Siphonröhrchen. Die repetitiv erwähnten
„Regenbogenfarbblitze“ (S.5, S.75) erinnern an einen Atomschlag. Widmers Erzählung schließt
mit einem letzten Erscheinen der tödlichen Siphonflasche (S.102):
18
Nun jedoch dachte ich, daß ein jäher Knall alles zerreißen könnte. JETZT. Sah zum Himmel empor, ins
Blau. Wenn ich einen schwarzen Punkt sähe, hätte ich nicht mehr viel Zeit. Vielleicht brennte sich mein
Schatten in die Mauer des Hauses ein. Mein Vater wäre verschwunden. Meine Mutter wäre verschwunden.
Lisette wäre verschwunden. Es gäbe sie nicht mehr. Es gibt sie nicht mehr: Vater, Mutter, Lisette, und auch
Jimmy nicht, den Hund.
Widmers Blick in den Himmel ergibt weder den „köstlichsten Geruch“ noch „die unnennbare
Zärtlichkeit“, die Heinrich wahrnimmt und empfindet, wenn er in den Himmel blickt.22 Widmers
Blau ist ein himmlisches Blau, ein unvergängliches Blau, ein brutales Blau, ein betrügerisches
Blau. Dieses Blau lässt uns „ohne Wiedergutmachung, für ewig“ (S.98) verschwinden.
3.5. Die blinde Blume
Widmers Der blauer Siphon stellt eine positive Ernüchterung von Novalis’ „blauer Blume“ dar.
Widmers Erzählung zielt darauf, die kindliche Lüge der blauen Blume zu widerlegen. Aber
warum? Warum soll nicht das Blaue vom Himmel herunter versprochen werden? Warum soll ein
fantasievolles Blau gegen ein betrügerisches Blau getauscht werden?
In Der blaue Siphon ist der Bezug auf Novalis’ Heinrich von Ofterdingen eindeutig. Die „blaue
Blume“ ist das Symbol des Strebens nach Erfüllung von Sehnsüchten, aber auch Symbol der
Entdeckung des eigenen, persönlichen Glücks und Lebenssinnes. Der gleichzeitige Blick nach
vorn und zurück ermöglicht geistige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Anbetracht
der Zukunft:
Er sah sich an der Schwelle der Ferne, in der er oft vergebens von den nahen Bergen geschaut, und die er
sich mit sonderbaren Farben ausgemalt hatte. Er war im Begriff, sich in ihre blaue Flut zu tauchen. Die
Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen
Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welche sie jetzt
reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.23
Widmers Erzähler sucht ebenfalls nach einem Lebenssinn. In seiner Vergangenheit sucht er keine
idealistische Blume, sondern die Siphonflasche. Die Erinnerungen an sie erschrecken ihn (S.45):
„Da stand sie, die Siphonflasche, wegen der ich die ganze Reise unternahm.“ Was sucht der
Erzähler in seiner Vergangenheit? Die Auflösung seiner Ängste? Nähe zu den Menschen von
damals? Eindeutig ist, dass er kein himmlisches Zuhause findet (S.36): „Was hatte es für einen
22
23
Novalis: Heinrich. S.11.
ebd. S.21.
19
Sinn, die Zeiten, die ich schon einmal hinter mich gebracht hatte, noch einmal zu durchleben.“
Der Erzähler kann seine Vergangenheit nicht ändern. Er lässt die Schriftstellerin wieder vom
Turm springen (S.20), den Vater an Lungenkrebs sterben (S.46): „Genießen Sie Ihre Zigaretten.
Irgendwas bringt uns Menschen so oder so um.“ Die utopischen Vorstellungen der Frühromantik,
die die Rückkehr zum Ursprung als die wesentliche Bedingung einer besseren Zukunft
kennzeichnen, werden in Widmers Erzählung widerlegt. Die Welt des blauen Siphons ist „ohne
Wiedergutmachung, für ewig“ (S.98). Wenn man sich in die Welt seiner Jugend versetzt, ist man
immer noch erwachsen. Die idealistische Rückkehr zum Ursprung ist außerhalb des
Verständnisses in der Romantik kaum möglich. Die Gegenwart ist das echte Zuhause (S.36): „Ich
liebte meine Gegenwart!“ In Der blaue Siphon führt die Suche nach Lebenssinn zu einer immer
weiter fortschreitenden Entfernung von der Gegenwart. Heinrichs "Trieb überall zu Hause zu
seyn"24 täuscht.
Die himmlische Farbe des Siphons erfordert Tapferkeit (S.64): „Brav schlafen!“ Sie erwartet,
dass man sich mit dem Alltäglichen beschäftigen (S.64): „Wir standen auf, stellten die Gläser in
den Ausguß und die leere Flasche zu den andern.“ Jimmy, der Hund, braucht sein Fressen (S.64).
Es wird dem Erzähler bewusst, dass er nicht „überall zu Hause“ sein kann. Trotz der
schonungslosen Botschaft erlaubt Widmers Siphon, in Glückseligkeit zu schwelgen (S.63):
„Meine gute Laune hat mich wie ein Gewitter überfallen.“ Im Fenster (S.64) gibt es „einen klaren
Himmel mit ein paar Wolken.“ Für Widmers Erzähler reicht schließlich die Wirklichkeit des
Alltags (S.64) aus: „Ich weiß nicht, wovon Isabelle träumte. Ich jedenfalls träumte von nichts.“
Der Name „Isabelle“ symbolisiert eine Art belletristische Schönfärberei. Im oben bereits
erwähnten Zitat distanziert sich der Erzähler von der Idealisierung der Realität.
Nichts ist endgültige Resignation. Man verzehrt sich vor Sehnsucht nach dem Ideal – der
Kindheit, des Ursprungs, der Blume, des Blaus. Das heftige Verlangen ist eine schwere Last. Nur
die Resignation, die Abwendung der rastlosen Sehnsucht nach dem Ideal, entschleiert das Nichts.
Das Nichts ist nicht die Idee des Nichts.25 Der Verstand kann das Nichts nicht erfassen. Wer
sucht, findet immer Etwas, nie das Nichts. Das Verlangen nach Etwas kann weder Ruhe noch
Liebe noch Glückseligkeit verschaffen.
24
25
Novalis: Heinrich.
Krishnamurti, Jiddu. Commentaries on Living. Second Series. Wheaton, Ill. 1991. S.208.
20
4. Schluss
Die moderne Erzähltheorie, die „bis heute weder eine einheitliche Begrifflichkeit noch eine
überzeugende Systematik hervorgebracht hat“26, muss ihre Schwächen einräumen. Widmers
„Zeitreise“ überfordert die Vorstellungskraft. Weder Albert Einsteins Theorie noch Eberhard
Lämmerts Sichtweise27 helfen in diesem Zusammenhang. Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt
sinnvoll ist, eine auf Wirklichkeit basierende Zeitanalyse durchzuführen, wenn ein Text ständig
gegen die Grundgesetze genau dieser Wirklichkeit verstößt. Die Behauptung, dass eine Erzählung
(oder Erzählebene) als ein eindeutiges Geschehen wahrzunehmen ist, wird in der Erzähltheorie
als Grundbedingung vorausgesetzt.28 Widmers Der blaue Siphon stellt die Annahmen dieser
Theorie in Frage.
Widmer hinterfragt die philosophische Träumerei der Romantik. Die Rückkehr in die Jugendzeit
führt in Widmers Erzählung zu keiner tieferen Einsicht. Die Zeit verrinnt. Die Welt ist
zerbrechlich. Jeder Mensch kann unvermutet verschwinden. Die Verträumten – und manchmal
auch die Nüchternen – werden betrogen. Die blaue Blume vertrocknet, denn die „Mutter, die
verkohlt auf dem Rücken lag“ (S.86), kann sie nicht wässern. Die träumerischen Heinrichs dieser
Welt, stets beschäftigt mit ihrer fantasievollen Sehnsucht, „Immer nach Hause“29 gehen zu
wollen, versäumen die Botschaft. Welche Botschaft? Wie lautet die Botschaft? Die Botschaft ist
nicht zu erfassen. Alles wird widerlegt. Elend ohne Hoffnung auf Rettung vernichtet den
blauäugigen Traum. Das Nichts wird enthüllt. Erst, wenn der Geist still und von der Suche nach
Etwas befreit ist, lässt sich Glückseligkeit erahnen.
26
Martinez/Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. S.7.
Lämmert, Eberhard. Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955.
28
Martinez/Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. S.108ff.
29
Novalis: Heinrich.
27
21
5. Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Einstein, Albert: „Die Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie“. In: Annalen der Physik.
.
49. 1916.
Krishnamurti, Jiddu: Commentaries on Living. Second Series. Wheaton, Ill. 1991.
Mann, Thomas: Der Zauberberg. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 3. Frankfurt/M. 1960.
Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 2001.
Widmer, Urs: Der blaue Siphon. Zürich 1994.
Sekundärliteratur
Allemann, Urs: „Der Riss im Vorhang oder: Ursworte, orphisch?“. In: Basler Zeitung, 27.3.1992.
Barthes, Roland: „The Death of the Author“. In: Image-Music-Text. übers. Stephen Heath.
.
London 1977.
Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. Auflage. Stuttgart 1997.
Cohn, Dorrit: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction.
.
Princeton 1978.
Hoffmann, Banesh: Einsteins Ideen. Das Relativitätsprinzip und seine historischen Wurzeln.
.
übers. Hajo Suhr. Heidelberg 1997.
Lämmert, Eberhard. Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 3. Auflage. München 2002.
Moser, Samuel: „Ein Anachronist unserer Zeit“. In: Süddeutsche Zeitung, 26.3.1992.
Müller, Günther: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1968.
Wallmann, Hermann: „Novalis im Kino“. In: Frankfurter Rundschau, 24.4.1992.
Korrektorinnen
Andrea Böhm, Denise Glasemann, Karin Wernard, Grischa Götz
22

Documentos relacionados