Freiräume in schrumpfenden Städten - Leibniz

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Freiräume in schrumpfenden Städten - Leibniz
Schrumpfungsprozesse bestimmen seit Ende der 1990er Jahre zunehmend die
Stadtentwicklung in den Neuen Bundesländern. Demografischer und ökonomischer
Wandel gelten als wesentliche Ursachen für einen massiven Nachfragerückgang und
erhebliche Leerstände im Wohnungsbestand. Im Zuge des Programms „Stadtumbau
Ost“ werden die ungenutzten Wohngebäude abgerissen. Sowohl in Stadtzentren
als auch in Randlagen erstrecken sich nicht mehr bebaute Areale, da sich nur für
wenige Freiflächen eine bauliche Nachnutzung findet. Freiraumplanerische Konzepte
und Maßnahmen werden möglich, aber auch notwendig für den Umgang mit den
frei gewordenen Flächen und bieten gleichzeitig Potenziale zur Verbesserung der
städtischen Umwelt- und Lebensqualität.
Die vorliegende Forschungsarbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung
Freiräume im Umgang mit räumlichen Schrumpfungsprozessen haben und wo die
Chancen und Grenzen der Freiraumplanung beim Stadtumbau liegen. Die Autorin
legt die gegenwärtigen Rahmenbedingungen der Freiraumplanung dar und setzt
sich mit Stadtmodellen, städtebaulichen Leitbildern und dem Verständnis von
Natur und Landschaft in der schrumpfenden Stadt auseinander. Am Beispiel der
Großstädte Chemnitz, Halle und Leipzig werden die Strategien, Entscheidungen und
Handlungsansätze der Freiraumplanungspraxis schrumpfender Städte analysiert. Die
Ansätze werden beschrieben und mit Blick auf ihre Eignung und Zukunftsfähigkeit für
die Gestaltung des Stadtumbauprozesses diskutiert.
Since the second half of the 1990’s, the new federal states of Germany have undergone
dramatic demographic and economic change, which, among other things, has led
to the ongoing phenomenon of shrinking cities. The work at hand deals with the
issue of what the relevance of urban green spaces is in light of the spatial shrinking
processes and where the opportunities and limitations are concerning green space
planning within urban restructuring.
Stefanie Rößler · Freiräume in schrumpfenden Städten
50
ISBN 978-3-941216-34-1
IOER_Schrift50_Umschlag_final Breite 27_5_ohne Strich.indd 1
IÖR Schriften Band 50
Stefanie Rößler
Freiräume in schrumpfenden Städten
Chancen und Grenzen der Freiraumplanung
im Stadtumbau
IÖR Schriften Band 50 · 2010
17.8.2010 09:53:51
IÖR Schriften
Herausgegeben vom
Leibniz-Institut für ökologische
Raumentwicklung
RHOMBOS-VERLAG BERLIN
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Fotonachweise:
Titelbild: Zwischenbegrünung im Leipziger Osten (Stefanie Rößler)
ISBN: 978-3-941216-34-1
IÖR Schriften Band 50 · 2010
Stefanie Rößler
Freiräume in schrumpfenden Städten
Chancen und Grenzen der
Freiraumplanung im Stadtumbau
Dissertation
zur Erlangung des akademischen Grades Doktoringenieur
an der Fakultät Architektur
der Technischen Universität Dresden
Disputation am 11. Mai 2009
Gutachter:
Prof. Hermann Kokenge,
TU Dresden, Lehr- und Forschungsgebiet
Landschaftsarchitektur
Prof. Dr. Stefan Heiland,
TU Berlin, Fachgebiet Landschaftsplanung
Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Müller,
TU Dresden, Lehrstuhl für Raumentwicklung
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Vorwort
Der Umbau schrumpfender Städte ist zu einer großen Herausforderung aktueller
Stadtentwicklung in Deutschland geworden. In diesem Stadtumbauprozess kommt der
Freiraumentwicklung eine zentrale Bedeutung zu. Die vorliegende Forschungsarbeit ist
Resultat einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Thema der Freiraumplanung im
Stadtumbau schrumpfender Städte, die ich bereits in meinem Studium der Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität Dresden begonnen habe. Während
meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am LeibnizInstitut für ökologische Raumentwicklung in Dresden konnte ich im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Umweltqualität in Städten und Regionen“ dieses Thema in
verschiedenen Forschungsprojekten und schließlich in meiner Dissertation vertiefen.
Danken möchte ich an dieser Stelle denjenigen, die mich in besonderer Weise bei der
Erstellung meiner Dissertation unterstützt haben.
Mein Dank gilt zuerst meinen Gutachtern, Herrn Prof. Hermann Kokenge, Lehr- und
Forschungsgebiet Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität Dresden,
Herrn Prof. Dr. Stefan Heiland, Fachgebiet Landschaftsplanung der Technischen Universität Berlin, und Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Müller, Lehrstuhl für Raumentwicklung an der Technischen Universität Dresden und Direktor des Leibniz-Instituts für
ökologische Raumentwicklung. Sie haben mich während des gesamten Bearbeitungszeitraums vertrauensvoll begleitet und konstruktiv unterstützt.
Das Dissertationsvorhaben wurde durch ein Promotionsstipendium der Deutschen
Bundesstiftung Umwelt (DBU) gefördert. Dies erlaubte mir eine kontinuierliche und
konzentrierte Arbeit an meiner Dissertation. Während meines Stipendiums konnte ich
im Rahmen der Doktorandenförderung am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in einem anregenden Umfeld an meiner Dissertation arbeiten. Insbesondere ermöglichte mir die Finanzierung durch das IÖR in der Abschlussphase die
zügige und erfolgreiche Fertigstellung der Arbeit. Für die Unterstützung und gute
Zusammenarbeit in angenehmer Atmosphäre möchte ich mich bei meinen Kolleginnen
und Kollegen bedanken.
Danken möchte ich ebenso meinen Interviewpartnern der Stadtverwaltungen in
Chemnitz, Halle und Leipzig, die mir im Rahmen meiner Untersuchungen für Gespräche zur Verfügung standen.
Nicht zuletzt gilt mein Dank der großen Unterstützung durch meine Familie und
Freunde.
Stefanie Rößler
Dresden, im Juni 2010
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Kurzfassung ................................................................................................ 13 Abstract ...................................................................................................... 19 A Einführung: Hintergrund und Aufbau der Arbeit ...................................... 25 1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung .................................. 26 1.1 Aktuelle Herausforderungen der Stadtentwicklung in Deutschland ............... 26 1.2 Schrumpfung als gesellschaftliches Phänomen .............................................. 28 1.3 Schrumpfende Städte.................................................................................... 31 1.3.1 Auswirkungen von Schrumpfungsprozessen auf die Stadt ..................... 36 1.3.2 Chancen der Schrumpfung ................................................................... 39 1.4 Stadtumbau und Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten ................ 39 2 Anlass und Ziel der Arbeit..................................................................................... 44 2.1 Forschungsansatz.......................................................................................... 45 2.2 Relevanz der Arbeit und Adressaten .............................................................. 47 3 Vorgehen .............................................................................................................. 48 3.1 Arbeitspaket I: Aktuelle Situation und Rahmenbedingungen der
Freiraumplanung in schrumpfenden Städten ................................................. 48 3.2 Arbeitspaket II: Theoretische Diskussion des Bedeutungswandels.................. 49 3.3 Arbeitspaket III: Empirische Untersuchung .................................................... 50 B Aktuelle Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten ........................................................................... 60 1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel .................................................... 61 1.1 Komponenten des demografischen und gesellschaftlichen Wandels .............. 63 1.1.1 Schrumpfung ........................................................................................ 64 1.1.2 Alterung ............................................................................................... 66 1.1.3 Heterogenisierung ................................................................................ 68 1.1.4 Individualisierung .................................................................................. 69 1.1.5 Vereinzelung ........................................................................................ 69 1.1.6 Pluralisierung ........................................................................................ 70 8
Inhaltsverzeichnis
1.2 Konsequenzen des demografischen und gesellschaftlichen Wandels für
die Freiraumplanung .................................................................................... 70 1.2.1 Nutzungsintensität................................................................................ 71 1.2.2 Nutzungsvielfalt ................................................................................... 72 2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse ............................. 77 2.1 Programm „Stadtumbau Ost“ ...................................................................... 78 2.1.1 Maßnahmen: Rückbau und Aufwertung ............................................... 79 2.1.2 Instrumente: Integrierte Stadtentwicklungskonzepte
und Stadtumbaukonzepte..................................................................... 81 2.1.3 Umsetzung ........................................................................................... 83 2.2 „Stadtumbau West“ .................................................................................... 90 2.3 Umsetzung des Stadtumbaus und Auswirkungen auf
die Freiraumentwicklung .............................................................................. 91 2.3.1 Rückbauverortung ................................................................................ 93 2.3.2 Nachnutzung ........................................................................................ 95 3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme........................................... 98 3.1 Nachhaltige Stadtentwicklung und Flächensparziele ..................................... 99 3.2 Flächeninanspruchnahme in schrumpfenden Städten ................................. 103 3.3 Freiflächenzuwachs in schrumpfenden Städten ........................................... 105 4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in
schrumpfenden Städten ...................................................................................... 111 4.1 Rechtliche Grundlagen der Freiraumentwicklung in Städten ....................... 111 4.1.1 Formelle Ansätze ................................................................................ 111 4.1.2 Informelle Ansätze .............................................................................. 113 4.2 Rechtliche Grundlagen des Stadtumbaus .................................................... 114 4.2.1 Allgemeines Städtebaurecht ................................................................ 115 4.2.2 Besonderes Städtebaurecht ................................................................. 117 4.2.3 Informelle Instrumente – (Integrierte) Stadtentwicklungskonzepte ...... 119 4.3 Rechtliche Möglichkeiten und Hindernisse der Freiraumentwicklung
im Stadtumbau ........................................................................................... 121 4.3.1 Eigentumsrecht ................................................................................... 122 4.3.2 Responsiver Stadtumbau .................................................................... 123 4.3.3 Freiraumplanerische Nachnutzung ...................................................... 125 9
Inhaltsverzeichnis
5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten .................................... 132 5.1 Wert öffentlicher Freiräume ........................................................................ 132 5.1.1 Bodenwertermittlung .......................................................................... 133 5.1.2 Ökonomische Leistungen von Grünflächen – Wertschöpfung ............. 135 5.2 Freiraumentwicklung im Spannungsfeld der Bodenwertentwicklung in
schrumpfenden Städten .............................................................................. 138 6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten.......................... 143 6.1 Auswirkungen der Schrumpfung auf die Kommunalhaushalte..................... 144 6.2 Finanzierung öffentlicher Freiräume ............................................................ 149 6.2.1 Nationale Städtebauförderung ............................................................ 149 6.2.2 EU-Fördermittel .................................................................................. 152 6.3 Ökonomische Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten – Grenzen kommunaler Verantwortung ................ 154 6.3.1 Auswirkung der kommunalen Finanzknappheit auf
die Freiraumplanung ........................................................................... 154 6.3.2 Veränderte Anforderungen an die Finanzierung
öffentlicher Freiräume ......................................................................... 157 7 Zusammenfassung .............................................................................................. 163 C Grundlagen und Handlungsansätze der Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten ......................................................................... 165 1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung –
zwischen Kontinuität und Neuorientierung ......................................................... 166 1.1 Leitbilder in der Stadtplanung – Begriffsverständnis .................................... 167 1.2 Freiraum in historischen städtebaulichen Leitbildern .................................... 174 1.2.1 Gartenstadt ........................................................................................ 174 1.2.2 Funktionalistische Stadt und Neues Bauen .......................................... 177 1.2.3 Gegliederte und Aufgelockerte Stadt .................................................. 180 1.2.4 Urbanität durch Dichte ....................................................................... 182 1.2.5 Hinwendung zur Innenstadt................................................................ 184 1.2.6 Nachhaltige Stadt ............................................................................... 185 1.2.7 Fazit: Relevanz historischer städtebaulicher Leitbilder für
schrumpfende Städte .......................................................................... 186 10
Inhaltsverzeichnis
1.3 Freiraum in aktuellen städtebaulichen Leitbildern........................................ 190 1.3.1 Europäische Stadt ............................................................................... 191 1.3.2 Zwischenstadt / Netzstadt / Regionalstadt / StadtLandschaft .............. 193 1.3.3 Fazit: Einflüsse des Diskurses um aktuelle städtebauliche Leitbilder
auf schrumpfende Städte .................................................................... 196 1.4 Kontinuitäten städtebaulicher Leitbilder ...................................................... 201 1.4.1 Funktionstrennung versus Funktionsmischung .................................... 201 1.4.2 Zentralität versus Dezentralisierung..................................................... 203 1.4.3 Stadt versus Land ............................................................................... 205 1.4.4 Freiraum als Gliederung versus Freiraum als Begrenzung ..................... 206 1.4.5 Kompakte versus gegliederte Stadt ..................................................... 209 1.4.6 Fazit: Kompakte Kerne in der StadtLandschaft – städtebauliches
Leitbild der Zukunft? .......................................................................... 210 1.5 Stadtmodelle für schrumpfende Städte ....................................................... 212 1.5.1 Prinzipien räumlicher Schrumpfung ..................................................... 214 1.5.2 Modelle der Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen ........ 215 1.5.3 Fazit: Systematik von Stadtmodellen in schrumpfenden Städten
und Bedeutung für die Freiraumstruktur ............................................. 218 1.6 Städtebauliche Leitbilder unter Schrumpfungsbedingungen ........................ 222 1.6.1 Leitbilder in Orientierung am Modell der Kompakten Stadt ................. 223 1.6.2 Leitbilder in Orientierung am Modell der Gegliederten Stadt ............... 225 1.6.3 Fazit: Neuorientierung städtebaulicher Leitbilder in
schrumpfenden Städten ...................................................................... 229 2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten .................. 234 2.1 Natur in der schrumpfenden Stadt .............................................................. 235 2.1.1 Naturbegriff ....................................................................................... 235 2.1.2 Stadt versus Natur .............................................................................. 237 2.1.3 Stadtnatur .......................................................................................... 239 2.1.4 Fazit: Natur in der schrumpfenden Stadt ............................................. 245 2.2 Landschaftsverständnis in schrumpfenden Städten ..................................... 247 2.2.1 Landschaftsbegriff .............................................................................. 248 2.2.2 Landschaftsbewusstsein ...................................................................... 256 2.2.3 Landschaftskonzepte .......................................................................... 259 2.2.4 Fazit: Schrumpfende Stadt als Landschaft – Auswirkungen auf die
Rolle des Freiraums ............................................................................. 265 11
Inhaltsverzeichnis
2.3 Freiraumtypologie in schrumpfenden Städten ............................................. 271 2.3.1 Urbaner Wald ..................................................................................... 272 2.3.2 Urbane Landwirtschaft ....................................................................... 275 2.3.3 Garten ................................................................................................ 277 2.3.4 Stadtwildnis ........................................................................................ 279 2.3.5 Fazit: Neue Freiraumtypen in schrumpfenden Städten......................... 282 3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau .............................. 284 3.1 Chemnitz – Freiraum im Stadtumbau .......................................................... 288 3.1.1 Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder ......................................... 288 3.1.2 Stadtumbaustrategien ......................................................................... 292 3.1.3 Strategien der Freiraumplanung .......................................................... 297 3.1.4 Freiraumplanerische Projekte .............................................................. 301 3.1.5 Bedeutung des Freiraums im Stadtumbau von Chemnitz ..................... 304 3.2 Halle (Saale) – Freiraum im Stadtumbau...................................................... 308 3.2.1 Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder ......................................... 308 3.2.2 Stadtumbaustrategien ......................................................................... 314 3.2.3 Strategien der Freiraumplanung .......................................................... 318 3.2.4 Freiraumplanerische Projekte .............................................................. 320 3.2.5 Bedeutung des Freiraums im Stadtumbau von Halle ............................ 324 3.3 Leipzig – Freiraum im Stadtumbau .............................................................. 325 3.3.1 Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder ......................................... 325 3.3.2 Stadtumbaustrategien ......................................................................... 334 3.3.3 Strategien der Freiraumplanung .......................................................... 346 3.3.4 Freiraumplanerische Projekte .............................................................. 356 3.3.5 Bedeutung des Freiraums im Stadtumbau von Leipzig ......................... 362 3.4 Zusammenfassung der empirischen Befunde ............................................... 369 3.4.1 Rolle des Freiraums in Leitbildern der Stadtplanung............................. 369 3.4.2 Rolle des Freiraums im Stadtumbau .................................................... 370 D Fazit: Bedeutung des Freiraums und der Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten ......................................................................... 372 1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte ........................................... 372 1.1 Stadtmodelle und Leitbilder schrumpfender Städte –
Auswirkungen auf die Freiraumentwicklung............................................... 373 1.2 Freiraum in der schrumpfenden Stadt –
Ausdruck eines neuen Natur- und Landschaftsverständnisses? .................... 379 12
Inhaltsverzeichnis
2 Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten................... 383 2.1 Freiraumplanerische Strategien in schrumpfenden Städten ......................... 383 2.2 Neue Freiraumtypen ................................................................................... 389 3 Chancen und Grenzen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten ............. 395 3.1 Rolle freiraumplanerischer Belange in Stadtumbaustrategien ...................... 395 3.2 Einflüsse auf die Handlungsmöglichkeiten der Freiraumplanung
im Stadtumbau ........................................................................................... 401 3.3 Grenzen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten .......................... 404 4 Ausblick ............................................................................................................. 407 4.1 Weiterer Forschungsbedarf ........................................................................ 408 4.2 Anpassungsbedarf in der Stadtumbaupraxis ............................................... 409 E Anhang ................................................................................................. 411 1 Grundlagen der empirischen Untersuchung ....................................................... 411 1.1 Auswahl der Fallbeispiele ............................................................................ 411 1.1.1 Kriterium Signifikanz und Aussagekraft (a) .......................................... 412 1.1.2 Kriterium Schrumpfende Stadt (b) ....................................................... 412 1.1.3 Kriterium Zunahme an Freiflächen durch Rückbau (c) ......................... 417 1.1.4 Kriterium Themenrelevanz (d) ............................................................. 418 1.2 Operationalisierung der Fragen und Hypothesen ........................................ 419 1.3 Durchführung der Fallstudie ....................................................................... 422 1.3.1 Dokumentenanalyse ........................................................................... 422 1.3.2 Interviews........................................................................................... 424 2 Verzeichnisse ..................................................................................................... 431 2.1 Quellen ...................................................................................................... 431 2.1.1 Literatur ............................................................................................. 431 2.1.2 Dokumente Städte.............................................................................. 461 2.1.3 Rechtsquellen ..................................................................................... 463 2.1.4 Interviews........................................................................................... 463 2.2 Abkürzungen ............................................................................................. 464 2.3 Abbildungsverzeichnis ................................................................................ 466 2.4 Tabellenverzeichnis .................................................................................... 471
Kurzfassung
Kurzfassung
Freiräume in schrumpfenden Städten: Chancen und Grenzen der
Freiraumplanung im Stadtumbau
Hintergrund
Die Entwicklung in den Neuen Bundesländern ist durch einen tief greifenden demografischen und ökonomischen Wandel geprägt. Dieser führt seit der zweiten Hälfte der
1990er Jahre zu anhaltenden Schrumpfungsprozessen in ostdeutschen Städten. Die
Dissertation konzentriert sich auf die stadträumlichen Konsequenzen, welche aus den
schrumpfungsbedingten Wandlungsprozessen und dem anhaltenden und massiven
Nachfragerückgang nach Wohn- und Gewerbebauten resultieren. Nutzungsaufgabe,
Abriss und Brachfallen von Gebäuden und Flächen bestimmen bei gleichzeitig weiterer
Flächen(neu)inanspruchnahme die Flächennutzungsstruktur der schrumpfenden Städte.
Der Stadtumbau stellt die planerische Reaktion auf diese Herausforderungen dar und
wird im Bundesprogramm „Stadtumbau Ost“ politisch forciert und finanziell gefördert.
Die Doppelstrategie zum Umgang mit den räumlichen Auswirkungen der Schrumpfungsprozesse besteht aus (1) dem Rückbau dauerhaft leer stehender Wohnungen und
damit der Konsolidierung des Wohnungsmarktes und (2) der Aufwertung der betroffenen Stadtquartiere. Die Freiraumplanung ist davon in unterschiedlicher Art und Weise betroffen: Der Abriss nicht mehr benötigter Wohn- und Gewerbebauten resultiert
zum einen in einem Zuwachs an freien Flächen, für die in der Mehrzahl keine bauliche
Nachnutzung in Frage kommt. Zum anderen besteht der Anspruch an die Freiraumplanung, Lösungen für diese Flächen zu entwickeln und gleichzeitig einen Beitrag zu
einem nachhaltigen Stadtumbau zu leisten. Freiraum- und landschaftsplanerische sowie stadtökologische Strategien stellen damit Perspektiven für die entdichteten Stadtstrukturen dar. Freiraumentwicklung bietet wichtige Handlungsoptionen für den Umgang mit den frei werdenden Flächen. Sie leistet gleichzeitig einen Beitrag zur Verbesserung der städtischen Umwelt- und Lebensqualität im Hinblick auf das Ziel, die Attraktivität schrumpfender Städte zu erhalten.
Herausforderung
Betroffene Städte entwickeln eine Vielzahl freiraum- und stadtplanerischer Strategien,
um den Herausforderungen des Stadtumbaus zu begegnen. Schrumpfungsprozesse
führen zu grundlegend veränderten Rahmenbedingungen und somit zu neuen Anforderungen an die Funktion und Gestalt, die Finanzierung städtischer Freiräume sowie
die Umsetzung der Freiraumplanung. Die neuen Aufgaben gehen mit einem Bedeutungswandel und einem neuen Verständnis der Freiräume in der Stadt einher. Insbe-
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Kurzfassung
sondere wird die Frage nach der Gestalt der frei werdenden Flächen und ihren Funktionen im künftigen Stadtgefüge an Bedeutung gewinnen.
Ausgehend von der aktuellen Situation liegen der Arbeit folgende Annahmen zu
Grunde:
‚ Schrumpfungsprozesse bewirken veränderte Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in den betroffenen Städten und führen zu einer veränderten Wahrnehmung und Bedeutung städtischer Freiräume.
‚ Neue städtebauliche Leitbilder und stadtplanerische Modelle im Rahmen des Stadtumbaus, ein verändertes Verhältnis von gebauten Stadtstrukturen und Freiraum
bzw. Landschaft führen zu einem neuen Verständnis und veränderten Aufgaben
städtischer Freiräume.
‚ Sowohl der Bedeutungswandel als auch die neuen ökonomischen, rechtlichen, planerischen und demografischen Rahmenbedingungen werden sich in veränderten
Freiraumtypen, die Gestalt und Nutzung betreffend, äußern.
‚ Rolle und Verständnis der Freiräume und der Freiraumplanung in der Stadtplanung
ändern sich vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Stadtumbaus.
Forschungsansatz und Zielstellung
In dieser Arbeit stehen die räumlichen Auswirkungen von Schrumpfung auf die gebaute Stadt im Mittelpunkt. Die Veränderungen im Stadtraum, neue Flächennutzungsmuster, geringere Dichten und ein Zuwachs nicht (mehr) bebauter Räume auf der
einen und der Anspruch eines qualitativen und nachhaltigen Stadtumbaus auf der
anderen Seite verlangen auch und vor allem nach Reaktionen der Freiraumplanung.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung Freiräume im
Umgang mit räumlichen Schrumpfungsprozessen haben und wo die Chancen und
Grenzen der Freiraumplanung im Stadtumbau liegen.
Aufbauend auf der Analyse der aktuellen Rahmenbedingungen werden deren Wirkungen auf die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten dargestellt. Der Schwerpunkt
liegt auf einer theoretischen Auseinandersetzung mit Stadtmodellen, städtebaulichen
Leitbildern und dem Verständnis von Natur und Landschaft in der Stadt als Grundlage
für freiraumplanerische Handlungsansätze. Der Umgang mit den neuen Anforderungen an die städtische Freiraumplanung wird, insbesondere im Hinblick auf einen Bedeutungswandel, im empirischen Teil durch die Untersuchung der Strategien, Entscheidungen und Handlungsansätze von drei betroffenen Städten analysiert. Das Ziel
der Arbeit ist eine Beschreibung aktuell angewendeter Ansätze der Freiraumplanung
und deren Diskussion bezüglich ihrer Eignung und Zukunftsfähigkeit.
Kurzfassung
Ergebnisse
Die Frage nach der Bedeutung von Freiräumen und Freiraumplanung im Umgang mit
stadträumlichen Schrumpfungsprozessen wird hinsichtlich (1) der Rolle des Freiraums
aus stadtstruktureller Sicht, (2) des Bewusstseins über die Handlungsmöglichkeiten und
-erfordernisse der Freiraumplanung im Stadtumbau und (3) der Akzeptanz und des
Rückgriffs auf Freiräume im Stadtumbauprozess erörtert.
Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder für schrumpfende Städte schaffen die
räumlich-strukturellen Rahmenbedingungen für die Freiraumentwicklung:
1.
In grundlegenden strukturellen Überlegungen und Leitbildern zur Umsetzung des
Stadtumbaus spiegelt sich die Bandbreite der theoretisch diskutierten Schrumpfungsprinzipien (Konzentration, Perforation) und Stadtmodelle (Kontrahierte,
Fragmentierte, Perforierte Stadt) unter Schrumpfungsbedingungen wider.
2.
Zunehmend ist die zeitgleiche bzw. parallele Anwendung bisher konkurrierender
Modelle und Leitbilder zu beobachten. Dies äußert sich auch in Mischformen bzw.
der teilräumlich parallelen Anwendung ambivalenter städtebaulicher Leitbilder mit
entsprechend unterschiedlichen Anforderungen an die Freiraumplanung.
3.
Entsprechend der angewendeten städtebaulichen Leitbilder kommen dem Freiraum im inneren und äußeren Stadtbereich unterschiedliche Aufgaben zu. Die eigentliche Herausforderung der aktuellen Freiraumplanung ist nicht die innere
Stadt, denn dort ändert sich die Rolle der Freiräume ebenso wenig wie ihre Nutzung und Gestaltung. Im Gegensatz dazu werden in der äußeren Stadt, mit deutlich sichtbaren Schrumpfungsauswirkungen, an die Freiraumplanung ganz erhebliche Verwertungsanforderungen gestellt.
4.
In einem äußeren Schrumpfungsgürtel wird das klassische Verständnis von Stadt,
aber auch von städtischem Freiraum, aufgegeben. Dies ist die Voraussetzung für
die Inwertsetzung der neuen Stadtstrukturen, die Umsetzung freiraumplanerischer
Stadtumbaustrategien und der Akzeptanz neuer Freiraumtypen. Dieser Bewusstseinswandel ist Grundlage für ein Verständnis der schrumpfenden Stadt als Chance zu einer besseren Freiraumversorgung.
Die Gestaltung und Nutzung der Freiräume in der schrumpfenden Stadt folgen dabei
eher planerischen Notwendigkeiten und ist weniger Ausdruck eines neuen Natur- und
Landschaftsverständnisses:
5.
Ein neues und umfassendes Landschaftsverständnis ist in schrumpfenden Städten
nicht zu erkennen, wohl aber die Akzeptanz ursprünglich kultur- oder naturlandschaftlicher Elemente. Dies resultiert teilräumlich durchaus in stärker landschaftlich
bzw. freiraumräumlich geprägten Stadträumen.
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Kurzfassung
6.
Freiräume werden quantitativ in der schrumpfenden Stadt eine größere Bedeutung erlangen. Die Gestaltung und Nutzung dieser Freiräume erfolgt abhängig
von den Voraussetzungen und Beweggründen in einer großen Bandbreite und
spiegelt die verschiedenen Kategorien der Stadtnatur wider.
Die Gestaltungsspielräume in schrumpfenden Städten erfordern unterschiedliche freiraumplanerische Strategien:
7.
Die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten bewegt sich zwischen notwendigen Reaktionen auf Stadtumbauerfordernisse und proaktiven Stadtumbaustrategien.
8.
In schrumpfenden Städten werden zwei grundlegende freiraumplanerische Ansätze eingesetzt. Die temporäre freiraumplanerische Nutzung ist dabei eher als attraktive Stadtumbaustrategie einzuordnen. Für tatsächlich freiraumplanerische
Strategien im Sinne dauerhaft angelegter Freiräume bestehen zahlreiche Hemmnisse – wenngleich nur dadurch die Bedeutung des Freiraums in schrumpfenden
Städten steigen kann.
9.
Die Menge und die Dimension der entstehenden Freiflächen sowie die unterschiedlichen Aufgaben potenzieller Freiräume in den einzelnen Stadtbereichen (vor
allem im Schrumpfungsgürtel) erfordern neue Freiraumtypen. Dabei wird das gesamte Spektrum möglicher Freiraumtypen (Wald, Landwirtschaft, Garten, Wildnis)
ausgeschöpft – die dauerhafte Tragfähigkeit der einzelnen Projekte bleibt abzuwarten.
10. Die bekannten Freiraumtypen können und sollen nicht gänzlich und an allen Orten der Stadt durch neue ersetzt werden. Voraussetzung für das Erreichen freiraumplanerischer Qualitäten ist der bewusste und angepasste Einsatz der gesamten Bandbreite freiraumplanerischer Möglichkeiten.
Entscheidend für die Umsetzung freiraumplanerischer Belange ist die Rolle des Freiraums in Stadtumbaustrategien:
11. Stadtumbau als Phase der Stadtentwicklung bedeutet neue Handlungsmöglichkeiten, aber auch -erfordernisse für die Freiraumentwicklung.
12. Betrachtet man die Freiraumentwicklung in dem noch relativ kurzen Stadtumbauprozess, so kann man entsprechend der jeweiligen Herausforderungen einen Verständniswandel der Freiraumplanung feststellen.
13. In den Leitzielen der Stadtplanung spielt der Freiraum eine wachsende Rolle – vor
allem in seiner Funktion als Standortfaktor, im Hinblick auf die
Wohnumfeldqualität und die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels.
Allerdings bleibt es auf dieser Ebene bei Visionen und Forderungen.
Kurzfassung
14. In vielen Bereichen der Stadtentwicklung ist ein gesteigertes Interesse an der Freiraumentwicklung festzustellen. Dies kann zum einen mit den im Stadtumbau entstehenden Handlungserfordernissen begründet werden. Zum anderen wächst das
politische und ökonomische Bewusstsein über die Bedeutung von Freiräumen als
wichtiger Standortfaktor und Wettbewerbsvorteil. Allerdings steigt damit nicht automatisch das Interesse an übergeordneten freiraumplanerischen Konzepten oder
fundierten Grundlagen der grünen Fachplanungen.
Es können verschiedene Einflüsse auf die Handlungsmöglichkeiten der Freiraumplanung im Stadtumbau und Grenzen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
ausgemacht werden:
15. Die Organisationsstrukturen der kommunalen Freiraum- und Stadtplanung und
die personelle Besetzung der Schnittstellen der Verwaltung wirken als wichtige
Faktoren bei der Durchsetzung freiraumplanerischer Belange im Stadtumbau.
16. Die Durchführung von Großereignissen, die Beteiligung an stadtumbaurelevanten
kulturellen Initiativen oder künstlerische Interventionen geben im Prozess des
Stadtumbaus Orientierung und fördern Innovationen.
17. Die Bereitschaft der Flächeneigentümer zur Umsetzung und Finanzierung freiraumplanerischer Nachnutzungsmaßnahmen hängt stark von der Qualität der angrenzenden Wohnungsbestände und deren Eigentümerstruktur ab. Das Eigentümerverhalten unterscheidet sich dabei stark zwischen Altbau- und Plattenbauquartieren.
18. Die Ausprägung der entstehenden freien Flächen wirkt sich stark auf die Wahrnehmung von Dichte und Urbanität in der schrumpfenden Stadt aus. Der durch
Gestalt und Funktion geprägte Charakter städtischer Freiräume bestimmt die
Gratwanderung zwischen Bereicherung des Stadtraums einerseits und der Wahrnehmung von Entdichtung und Niedergang andererseits.
19. Einige Rahmenbedingungen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten wirken sich durchaus restriktiv auf die Freiraumentwicklung aus. Insbesondere ökonomische Grenzen und hemmende rechtliche Regelungen kristallisieren sich als
zentrale Herausforderungen im Stadtumbau heraus. Für diese Barrieren konnten
bisher nur vereinzelt Ansätze zur Überwindung entwickelt werden.
Zusammengefasst lässt sich formulieren: Einerseits erlangt Freiraum rein quantitativ
und durch die von ihm erwarteten Lösungsansätze für die Herausforderungen der
Schrumpfung eine hohe Bedeutung. Andererseits geht damit nur teilweise eine entsprechende Bedeutung in Planungsdokumenten und -prozessen im Stadtumbau einher. Künftig sind noch große Anstrengungen nötig, um Freiraumentwicklung als
gleichberechtigte Stadtumbaustrategie langfristig und tragfähig etablieren zu können.
17
Abstract
Abstract
Green Spaces in Shrinking Cities: Opportunities and Limitations of
Green Space Planning in the Process of Urban Restructuring
Background
Since the second half of the 1990’s, the new federal states of Germany have undergone dramatic demographic and economic change, which, among other things, has
led to the ongoing phenomenon of shrinking cities. Abandonment of use, deconstruction of buildings and the increase in vacant buildings and lots as well as land use
change by concurrent suburbanisation determine the spatial structure in shrinking
cities. This thesis focuses on the spatial consequences in cities, resulting from changes
caused by shrinkage and the continuing and drastically declining demands of housing
and commerce.
Urban restructuring is a planning strategy that confronts these challenges and which is
politically supported and funded by the governmental program “Urban Renewal in
Eastern Germany” (“Stadtumbau Ost”). This is a dual strategy meant to deal with the
spatial impacts of shrinkage and consists of (1) dismantling of excess and continuous
vacant housing stock in the aim of consolidating the housing market and (2) improving
affected quarters. Green space planning is affected in different ways: On the one
hand, the demolition of surplus buildings of housing and commerce means an increase
in vacant spaces, which predominantly are not being used for building development.
On the other hand, green space planning is required in order to develop solutions for
these lots while, simultaneously, contributing to a sustainable urban development.
Strategies of urban green space planning, landscape planning and urban ecology provide perspectives for urban areas which are characterised by low structural densities.
The development of urban green spaces represents an important option for handling
vacant lots. At the same time, this contributes to the improvement in the quality of life
and environment in regard to preserving the attractiveness of shrinking cities.
Challenge
To face the challenges of urban restructuring, a large number of affected cities have
been developing a multitude of strategies concerning green spaces and urban planning. Such shrinking processes have led to a fundamentally modified framework and,
therefore, to new requirements regarding the function, design and financing of urban
green spaces as well as the implementation of green space planning. The new tasks
are accompanied by changes in the relevance and perception of urban green spaces. In
particular, questions may arise concerning the shape and the functions of the vacant
lots in the future urban fabric.
19
20
Abstract
Regarding the current situation, the thesis is based on the following suppositions:
‚ Shrinking processes are modifying the framework for green space planning in affected cities and this has led to a modified perception and relevance of urban green
spaces.
‚ New models of urban planning and modified relations between constructed and
open structures within cities have brought about a new understanding and role of
urban green spaces.
‚ Both the modified relevance and the new economic, legal, planning and demographic framework will be expressed via new types of green spaces in regard to
both design and use.
‚ The role and understanding of green spaces and green space planning within the
urban planning process will be changing against the backdrop of the challenges of
urban restructuring.
Research Approach and Objectives
This study focuses on the spatial impacts of shrinkage on cities. On the one hand,
there have been changes in the urban fabric, new spatial patterns, lower densities and
an increase in open spaces. On the other hand, a qualitative and sustainable form of
urban restructuring is required. These demands especially call for approaches involving
urban green space planning. The work at hand deals with the issue of what the relevance of urban green spaces is in light of the spatial shrinking processes and where the
opportunities and limitations are concerning green space planning within urban restructuring.
At the beginning of this work, the current framework on green spaces planning in
shrinking cities is described. The focus is on a theoretical discussion of urban models
and the understanding of nature and landscape within the city as a basis for green
space planning. In the empirical part of this study, strategies, decisions and actions of
three shrinking cities are analysed in order to obtain information and knowledge about
how affected cities deal with the new demands. This work aims at describing approaches towards green space planning that are currently being applied and discussing
their applicability and sustainability.
Results
The original issue of the relevance of green spaces and green space planning in relation to the spatial shrinkage in urban areas is discussed with regard to (1) the role of
green spaces within the urban structure, (2) the awareness of options and requirements of green space planning within urban restructuring and (3) the acceptance and
implementation of green spaces in the process of urban restructuring. In what follows,
the main results are summarised in the form of theses.
Abstract
Urbanistic models for shrinking cities create the spatial and structural framework for
green space development:
1.
The basic structural ideas for cities and models of urban restructuring refer to the
scope of the theoretical discussion regarding shrinking principles (concentration,
perforation) and urbanistic models for shrinking cities (“contracting city”, “fragmented city”, “perforated city”).
2.
Increasingly, a concurrent or, as the case may be, a parallel application of hitherto
competing models of urban development can be observed. This has also led to the
mixed or concurrent use of ambivalent, urbanistic models in different parts of the
city. This corresponds to different requirements for green space planning.
3.
On account of the implementation of ambivalent urbanistic models, green space
planning is currently being faced with different tasks in the inner city and the urban fringe. The relevance of green spaces in the inner city as well as their use and
shape is hardly changing. Rather, the main challenges for current green space
planning are the outer parts of cities with regard to expected answers and solutions for the obviously apparent and significant impacts of shrinkage.
4.
In the outer parts of shrinking cities, familiar sights and also urban green spaces
we are used to have been abandoned. This is the precondition for the valorisation
of the new urban structures, the acceptance of new types and categories of urban
green spaces and the implementation of urban planning which is guided by green
space development. This modified understanding is required for appreciating the
shrinking city as an opportunity for an improved provision of green spaces.
The design and use of green spaces in shrinking cities are more a reflection of practical
requirements than an expression of a new understanding of nature and landscape:
5.
A new and comprehensive appreciation of landscape in terms of defining urban
areas as landscape cannot be recognised in shrinking cities. Nevertheless, the acceptance and application of original elements of the natural and cultural landscape
result in urban structures, which are more strongly characterised by open and
green spaces.
6.
In terms of quantity, green spaces will become increasingly relevant in shrinking
cities. In regard to the different framework and motivations, a wide scope of
shape and use of these green spaces has been realised, which also refers to the
theoretical concept of several categories of urban nature.
The range of possibilities in shrinking cities call for different strategies of green space
planning:
7.
Green space planning in shrinking cities oscillates between necessary reactions to
the requirements and active strategies of urban restructuring.
21
22
Abstract
8.
Two basic approaches of green space planning are being implemented in shrinking
cities. Temporary green spaces are considered as being especially attractive approaches for urban restructuring. Real strategies of green space planning in terms
of durable green spaces have to come to terms with various restraints, although
this is necessary for improving the situation in regard to green spaces in shrinking
cities.
9.
The amount and dimensions of the emerging open spaces as well as the different
demands of potential green spaces in the several parts of the city – especially in
the outer shrinking areas – call for new types of green spaces. For this reason, the
entire spectrum of possible types of green spaces is utilised (forest, agriculture,
gardens and wilderness). Their particular durability, however, remains to be seen.
10. The familiar types of green spaces do not necessarily have to be replaced all over
the city by new ones. Successful and satisfying green space development can only
be achieved by means of the conscious and adapted use of the widespread opportunities for green space planning.
The relevance of green spaces in strategies of urban restructuring is crucial for the
concerns of green space planning:
11. Urban restructuring as a stage of urban development means new opportunities
but also new needs for green space development.
12. Despite the short duration of the process of urban restructuring, a changing understanding of green space planning can be observed, especially in regard to some
of the main challenges being faced.
13. There is a growing relevance of green spaces in the objectives of urban planning,
particularly on account of its function as a location factor, its potential for the
quality of the residential environment and efforts to adapt to climate change.
These visions, however, are rarely implemented in concrete concepts and plans.
14. Green space development increasingly is becoming more interesting for many
areas of urban development. On the one hand, this may be due to the practical
requirements of urban restructuring. On the other hand, there is a growing political and economic awareness regarding the relevance of green spaces as an important location factor and competitive advantage. However, this does not automatically equate with an increased interest in basic and comprehensive concepts of
green space planning.
Abstract
There are different factors influencing the opportunities and also limitations of green
space planning within urban restructuring:
15. The organisational structures dealing with municipal green space and urban planning and their respective personnel affect the implementation of green space
planning within urban restructuring.
16. The performance of events, the participation in cultural initiatives and the encouragement of artistic activities dealing with the topic of shrinkage may enhance innovation within the process of urban restructuring.
17. The willingness of real estate owners to create and finance green spaces on vacant
lots strongly depends on the quality of the adjacent housing estates and their
owners. The behaviour of landlords is quite different in neighbourhoods of the
older parts of cities compared to the behaviour of landlords in areas of prefabricated blocks from the socialist era.
18. The shape of the emerging open spaces is influencing the perception of density
and urbanity in the shrinking city. The characteristics of green spaces – mainly determined by shape and function – are important with regard to the perception of
enrichment or decay of the urban fabric.
19. The framework in shrinking cities may also mean constraints for green space development. In particular, economic limitations and constraining legal rules represent a central challenge within urban restructuring. These constraints were not resolved until recently.
In summary, the following statement can be made: On the one hand, the relevance of
green spaces has increased on account of the quantitative requirements and the expected solutions for certain challenges of shrinkage. On the other hand, this “newfound relevance” is just partly expressed in planning documents and processes of
urban restructuring. In the future, great effort will be required in order to establish
green space development as a widely accepted and durable strategy of urban restructuring.
23
A Einführung: Hintergrund und Aufbau der Arbeit
A
Einführung: Hintergrund und Aufbau der Arbeit
Die Auswirkungen und Herausforderungen des demografischen und ökonomischen
Wandels sind allgegenwärtig und bestimmen die öffentliche Diskussion. Seit der Jahrtausendwende wird das Phänomen schrumpfender Städte vielschichtig diskutiert und
beschäftigt verstärkt die Stadtforschung.
Was bedeutet es, wenn ostdeutsche Städte in nur 15 Jahren bis zu einem Drittel ihrer
Einwohner verlieren, wenn ein Viertel der Wohnungen einer Stadt leer stehen, wenn
Verfall, Abriss und Leere statt Bautätigkeit und Dichte das Stadtbild prägen? Neben
sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen sind es vor allem die räumlichen Konsequenzen, die Schrumpfung im Stadtraum sichtbar machen. Baulücken, Brachen, Freiflächen, Zwischennutzungen und spontanes Grün prägen das Stadtbild schrumpfender
Städte. Bieten sich daraus auch Chancen für eine lebenswerte und umweltgerechte
Stadt?
Die positiven und negativen Effekte der Schrumpfung liegen nah beieinander. Freiraumentwicklung bewegt sich in genau diesem Spannungsfeld: Einerseits gibt es für
die Menge und Dimension der frei werdenden Flächen kaum Alternativen zur bewussten oder sich von selbst einstellenden „grünen“ Entwicklung. Damit ist natürlich die
Chance einer angemessenen Freiraumversorgung im Hinblick auf soziale, ökologische
und stadtstrukturelle Belange verbunden. Andererseits ist eine Auseinandersetzung
damit erforderlich, wie viel Freiraum eine Stadt „verträgt“. Dies bezieht sich sowohl
auf die Frage der Dichte, Urbanität und Stadtstruktur als auch auf die Nachfrage durch
Nutzer und die Finanzierbarkeit und Verantwortung für die mehr werdenden Freiräume.
In dieser Arbeit stehen die räumlichen Auswirkungen von Schrumpfung auf die gebaute Stadt im Mittelpunkt. Die Veränderungen im Stadtraum, neue Flächennutzungsmuster, geringere Dichten und ein Zuwachs nicht (mehr) bebauter Räume auf der
einen und der Anspruch eines qualitativen und nachhaltigen Stadtumbaus auf der
anderen Seite verlangen auch und vor allem nach Reaktionen der Freiraumplanung.
Diese Herausforderung mag logisch erscheinen – dennoch erfährt dieses Thema nicht
die entsprechend notwendige Beachtung im professionellen Diskurs. Wenngleich die
Planungspraxis vielfältige Handlungsansätze entwickelt und umsetzt, fehlt eine theoretische Fundierung und Diskussion des Themas Freiraumentwicklung in schrumpfenden
Städten. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung
Freiräume im Umgang mit räumlichen Schrumpfungsprozessen haben und wo die
Chancen und Grenzen der Freiraumplanung im Stadtumbau liegen.
Aufbau der Arbeit
Im Teil A werden die Grundlagen und der Forschungsansatz dieser Arbeit beschrieben.
Aufbauend auf einer Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zum Thema
25
26
A Einführung: Hintergrund und Aufbau der Arbeit
schrumpfender Städte wird das Forschungsinteresse und die Relevanz des Themas
Freiraumentwicklung im Stadtumbau dargelegt (Kapitel A.1). Es folgen Anlass und
Zielstellung (Kapitel A.2) und eine Beschreibung des Vorgehens (Kapitel A.3).
Im Teil B der Arbeit werden die Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten erörtert. Die Darstellung erfolgt auf relativ breiter Ebene, da
diese Grundlagen für die Freiraumplanung explizit noch nicht existieren:
Konsequenzen des demografischen und gesellschaftlichen Wandels (Kapitel B.1); Umsetzung des Stadtumbaus und Auswirkungen auf die Freiraumentwicklung (Kapitel
B.2); Veränderungen der städtischen Flächennutzungsstruktur unter Schrumpfungsbedingungen (Kapitel B.3); Rechtliche Möglichkeiten und Hindernisse der Freiraumentwicklung im Stadtumbau (Kapitel B.4); Freiraumentwicklung im Spannungsfeld der
Bodenwertentwicklung in schrumpfenden Städten (Kapitel B.5); Ökonomische
Rahmenbedingungen (Kapitel B.6).
Im Teil C werden zunächst verschiedene theoretische Grundlagen zur Frage der Bedeutung des Freiraums in schrumpfenden Städten diskutiert. Im Kapitel C.1 wird die
Rolle von Freiraum in historischen und aktuellen städtebaulichen Leitbildern dargestellt. Darüber hinaus erfolgt die Diskussion von Stadtmodellen und städtebaulichen
Leitbildern unter Schrumpfungsbedingungen und ihren Konsequenzen für die Freiraumentwicklung. Daran anschließend wird die theoretische Diskussion zum Naturverständnis in der schrumpfenden Stadt, zu aktuellen Landschaftskonzepten und zur
Freiraumtypologie in schrumpfenden Städten erörtert (Kapitel C.2). Ausgehend von
den abgeleiteten Hypothesen werden die empirischen Befunde zur Rolle des Freiraums
in Leitbildern der Stadtplanung und zum Freiraumverständnis in schrumpfenden Städten dargestellt (Kapitel C.3).
Die Arbeit schließt im Teil D mit Aussagen zur Bedeutung von Freiräumen in schrumpfenden Städten, auf Grundlage der theoretisch abgeleiteten Hypothesen und der Beschreibung der in der Praxis angetroffenen Ansätze. Es werden freiraumplanerische
Ansätze zum Umgang mit den räumlichen Wirkungen der Schrumpfung kategorisiert.
Darüber hinaus werden allgemein gültige Aussagen zu Chancen und Grenzen der
Freiraumplanung in schrumpfenden Städten dargestellt.
1
Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
1.1
Aktuelle Herausforderungen der Stadtentwicklung in Deutschland
Die Schrumpfung von Städten und der Umgang mit den Auswirkungen dieses komplexen Prozesses ist eine zentrale Aufgabe aktueller Stadtentwicklung in Deutschland.
Der Stadtumbau als planerische Reaktion soll diese Stadtentwicklung unter anderen
Vorzeichen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung steuern. Dabei ist dieser Ansatz in
eine Reihe europäischer und nationaler Stadtentwicklungspolitiken einzuordnen, die
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
den Rahmen für die Herausforderungen der Schrumpfung und des Stadtumbaus bilden.
Die im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 verabschiedete „Leipzig
Charta zur nachhaltigen Stadt“ beinhaltet ein klares Bekenntnis zur gewachsenen
europäischen Stadt und deren nachhaltiger Entwicklung. Dies soll durch eine integrierte Stadtentwicklungspolitik gesichert werden, die neben wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Belangen vor allem auch eine hohe gestalterische, bauliche und Umweltqualität schafft. Die Forderung nach der Qualität öffentlicher Räume und der urbanen
Kulturlandschaft sowie der Beachtung ökologischer, sozialer und kultureller Aspekte,
legt die Entwicklung städtischer Grünräume als unverzichtbare Voraussetzungen einer
hohen Umwelt- und Lebensqualität nahe – wenngleich Freiraumentwicklung als explizites Handlungsfeld in diesem Zusammenhang nicht genannt wird.
Die „Leipzig-Charta“ soll im Rahmen einer „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“
umgesetzt werden. Die im Jahr 2008 gestartete und auf 10 Jahre angelegte Initiative
soll Städten dabei helfen, wirtschaftlich stark, gerecht, sozial, lebenswert und nachhaltig zu werden. Damit wird auf die Wettbewerbsfähigkeit der Städte, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die ökologische Stadterneuerung als Beitrag zur Klimaund Energiepolitik abgezielt. Die Initiative der deutschen Bundesregierung betont die
Bedeutung der Stadtentwicklung als wichtiges Handlungsfeld der Zukunft vor dem
Hintergrund der Globalisierung, des Klimawandels und des demografischen Wandels.
Im Memorandum „Auf dem Weg zu einer nationalen Stadtentwicklungspolitik“ werden die Ziele konkretisiert: Ein klares Bekenntnis zur europäischen Stadt beinhaltet
dabei auch den Willen zur Schaffung von Freiräumen. „Mehr Grün“ wird dabei als
Chance einer Aufwertung verstanden, die eine „sorgfältige Freiraumplanung“ voraussetzt, um eine „wechselseitige Korrespondenz von Stadt und Freiraum“ und weniger
„neue Stadtlandschaften“ zu erreichen (BMVBS, BBR 2007b, S. 59, 75).
Die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die Initiative für Baukultur, das Integrierte
Energie- und Klimaprogramm der Bundesregierung (BMWi, BMU 2007) und die aktuelle Biodiversitätsstrategie – um die wichtigsten nationalen Politiken zu nennen – beziehen Aspekte der städtischen Freiraumentwicklung mehr oder weniger explizit in ihre
Zielstellungen ein. In der Stellungnahme des Rates für Baukultur im deutschen Kulturrat zum „Stadtumbau als bauliche und freiräumliche Kulturleistung“ wird explizit gefordert, „visionäre Freiraumkonzepte und Freiraumtypologien zu entwickeln“, integrierte Konzepte für die Stadtentwicklung und Freiraumplanung umzusetzen sowie die
Aufwertung als Bestandteil des Stadtumbaus zu stärken (Rat für Baukultur 2007). Im
Rahmen der „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“ werden die „urbanen
Landschaften“ (neben Wildnisgebieten und Kulturlandschaften) als wichtige Gestaltungsaufgabe definiert. Die Durchgrünung und ökologische Aufwertung schafft Lebensräume, verbessert das Stadtklima und soll die Lebensbedingungen der Stadtbevölkerung verbessern (BMU 2007, S. 42).
27
28
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
All diese Ziele, Forderungen und Notwendigkeiten bedürfen der Freiraumplanung als
zentrales Handlungsfeld der Stadtentwicklung. Eine Verschiebung der Inhalte und
Prämissen der genannten Politikfelder bedeutet auch für den Freiraum eine Veränderung der Rahmenbedingungen. Die Sicherung der Frei- und Grünflächen in der Stadt
wird dabei durchaus als politische Aufgabe verstanden (Gälzer 2001, S. 51), wenngleich Freiraumplanung keinen eigenen Politikbereich besetzt (Schöbel 2003a, S. 7).
Eine zukunftsweisende Freiraumplanung muss sich daher stärker an den Zielen der
Stadtentwicklung orientieren. Schrumpfungsprozesse mit ihren spezifischen Herausforderungen an die Stadt-, aber vor allem an die Freiraumentwicklung, bieten hierfür gute
Chancen. Die Herausforderungen der Freiraumplanung des 21. Jahrhunderts sind
vielfältig: Zum einen bilden das veränderte Freizeitverhalten durch die Transformation
in eine Dienstleistungsgesellschaft, die Bedeutung des Images der Stadt und die Wahrnehmung des Standortfaktors Grün, die Verbesserung der Umweltqualität, die soziale
Polarisierung sowie die Lage der öffentlichen Haushalte gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen, auf die die Freiraumplanung reagieren muss. Zum anderen
stellen der Anspruch der europäischen, kompakten Stadt bzw. nachhaltigen Stadtentwicklung, die Suburbanisierung und die Veränderung der Landwirtschaft neue Anforderungen an die Gestalt und Funktion bestehender und neuer Freiräume sowie an
deren Realisierung (Wenzel, Schöbel 1999, S. 30 f.). Der demografische Wandel ist
dabei eine maßgebliche Prämisse der Stadtentwicklung in Deutschland. In dieser Arbeit
stehen die neuen Aufgaben, Lösungsansprüche, Rahmenbedingungen sowie Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten im Mittelpunkt.
1.2
Schrumpfung als gesellschaftliches Phänomen
Die Diskussion um die Gründe, Auswirkungen und Herausforderungen des demografischen Wandels ist auf vielen gesellschaftlichen Ebenen gegenwärtig. Die Debatte um
soziale Sicherungssysteme, Beschäftigtenzahlen und Familienpolitik prägen seit einigen
Jahren beinahe täglich die Berichterstattung in den Medien. Auch die räumliche Planung steht dabei auf allen Maßstabsebenen neuen Herausforderungen gegenüber
(Müller 2003; Doehler-Behzadi et al. 2005b). In den Neuen Bundesländern sind alle
Städte und Regionen – zumindest in Teilgebieten – von Bevölkerungsverlust und Leerstand betroffen, wobei es sich dabei um komplexe und individuelle Prozesse mit jeweils sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen handelt (BMVBW, BBR 2003a,
S. 10). Diese Schrumpfungsprozesse werden voraussichtlich weiter anhalten. Prognosen zur demografischen Entwicklung zeigen deutlich die zu erwartende Bevölkerungsabnahme. Intensität, zeitlicher Ablauf und räumliche Verteilung der Schrumpfung
lassen sich allerdings nur schwer voraussagen (Birg 2003). Auf Gesamtdeutschland
bezogen, steht neben der generellen Tendenz der Bevölkerungsabnahme, die zunehmende Alterung der Gesellschaft fest (Statistisches Bundesamt 2003b, S. 28 ff.).
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
Ursachen und Kennzeichen von Schrumpfung
Die Schrumpfung in Ostdeutschland ist ein mehrdimensionaler und zirkulärer Prozess,
der mehr als nur den Rückgang von Bevölkerungszahlen beschreibt (Gatzweiler et al.
2003, S. 564). Die „treibenden Kräfte“ der demografischen Veränderungen sind die
Auswirkungen der „postsozialistischen Transformationskrise“ (Bürkner 2001,
S. 41, 46), welche durch die spezifischen Rahmenbedingungen der früheren Stadtentwicklung in der DDR und umfassende ökonomische Globalisierungsprozesse verstärkt
werden (Liebmann, Robischon 2003, S. 7). Insofern weist Schrumpfung als „Oberflächenphänomen“ auf tiefer liegende gesellschaftliche Umbrüche hin (Bürkner 2001,
S. 52): Ursachen und Wirkungen von Schrumpfungsprozessen sind dabei teilweise in
den gleichen Phänomenen zu finden. Der aktuell angewendete Begriff der Schrumpfung beinhaltet demografische und sozio-ökonomische Größen (Fuhrich, Dosch 2005,
S. 60) und ist durch räumliche Vorgänge gekennzeichnet (Hannemann 2000, 2003):
‚ Demografische Prozesse führen zu Veränderungen in der Bevölkerungszahl und
-struktur. Folgen der rückläufigen Geburtenentwicklung sind unter anderem der
Rückgang der Bevölkerungszahl und eine Überalterung der Gesellschaft. Verschiedene Wanderungsprozesse führen zu einer unausgewogenen Verteilung von Menschen zwischen einzelnen Regionen und in der jeweiligen Stadtregion (Birg 2003).
‚ Deindustrialisierungsprozesse im ostdeutschen Wirtschaftsraum führen zu schwierigen ökonomischen Bedingungen in den betroffenen Städten. Eine Folge dieser Entwicklung ist eine zusätzliche Verschärfung der generell wachsenden Finanznot der
Kommunen (Deutscher Städtetag 2004).
‚ Mangelnde Nutzung führt zum Leerstand und dem Rückbau von Wohn- und Gewerbebauten mit dem Resultat einer Reduzierung der baulichen Dichte der Siedlungen (Müller 2003). Gleichzeitig ist eine fortschreitende Suburbanisierung und Flächeninanspruchnahme für Wohnen und Gewerbe sowie Verkehrsinfrastruktur festzustellen.
Wissenschaftlicher Diskurs
Häufig wird das Thema demografischer Wandel1 mit dem Schrumpfungsphänomen
gleichgesetzt. In dieser Arbeit liegt ein differenzierteres Verständnis zu Grunde:
Schrumpfung ist einerseits eine Facette des demografischen Wandels, insbesondere
hinsichtlich des Bevölkerungsrückgangs. Andererseits kann Schrumpfung auch als
gesellschaftliches Paradigma in einem weiteren Verständnis gesehen werden
(Kaufmann 2005). DAVY hingegen beschreibt den Begriff der Schrumpfung als populärwissenschaftliche Inszenierung zusammenhängender Phänomene – gespeist aus
demografischen und sozioökonomischen Tatsachen, staatlich gefördertem Stadtum-
1
Zum Verständnis des demografischen Wandels in dieser Arbeit siehe ausführlich Kapitel B.1.
29
30
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
und -rückbau, neuen Instrumenten, aber auch der künstlerischen Interpretation (Davy
2006, S. 77).
Im wissenschaftlichen Schrumpfungsdiskurs innerhalb der Raumforschung ist zwischen
einer urbanistischen und einer regionalplanerischen Debatte um die Zukunft ländlicher
und peripherer Räume zu unterscheiden. Dabei ist die (wissenschaftliche) Debatte im
städtischen Kontext besonders ausgeprägt, wenngleich sich die Auswirkungen von
Schrumpfung und die Handlungserfordernisse im ländlichen Raum weitaus dramatischer – weil existentieller – darstellen. In dieser Arbeit steht die „schrumpfende Stadt“
als Phänomen, Paradigma und Handlungsfeld im Zentrum. Innerhalb der
urbanistischen Debatte kann Schrumpfung definiert werden als „… hoch komplexer
und allgemein zutreffender Zusammenhang von ausbleibender generativer Nachhaltigkeit, demographischer Alterung und Abwanderung einerseits sowie den Folgen für
den Stadtraum andererseits. Dies umfasst die baulich-räumlichen, funktionalen, sozialen Infrastrukturen einer Stadt und äußert sich vor allem (aber nicht ausschließlich) in
einer zurückgehenden Nachfrage nach Wohnungen sowie in dauerhaften und wachsenden Wohnungsleerständen“ (Doehler-Behzadi 2005, S. 169).
Schrumpfung als Paradigma
Der Begriff „Schrumpfung“ kann dabei zum einen als „analytischer Begriff“, der gesellschaftliche Entwicklungen und/oder demografische Entwicklungen beschreibt und
zum anderen als „stigmatisierende Metapher“ verwendet werden (Großmann et al.
2008). Dabei liegt der Bezeichnung Schrumpfung ein „quantitatives Wachstums- und
Gleichgewichtsmodell zu Grunde“ (Keim 2001b, S. 18), wobei der Begriff nicht zwingend negativ verstanden wird oder werden muss. Denn Schrumpfung an sich ist kein
Problem – im Gegenteil: der Schrumpfung werden auch viele positive Nebenwirkungen und Chancen zugesprochen. Problematisch ist die soziale und räumliche Anpassung gesellschaftlicher und baulicher Strukturen. Diese wiederum setzt die Akzeptanz
dieser neuen Paradigmen voraus (Doehler-Behzadi et al. 2005a, S. 73 f.). Dem „Luxus
der Leere“ steht dabei gegenüber, dass es dafür keine „… Erfahrungen, aber jede
Menge praktische Hindernisse und mentale Blockaden gibt“ (Kil 2004, S. 146). Zunehmend regt sich Kritik an einer rein quantitativ über Bevölkerungszahlen geführten
Debatte: Die komplexen, teils ambivalenten Schrumpfungsphänomene erfordern eine
qualitative Betrachtung, die Schrumpfung nicht zuerst als Problem, sondern vor allem
als Paradigma oder zu gestaltende Rahmenbedingung versteht.
Aufgrund unklarer Bezugspunkte sind der objektiven Feststellung oder Betrachtung
von Schrumpfung Grenzen gesetzt: In Bezug auf welchen Zustand (Bevölkerungszahl,
Flächenausdehnung, Produktivität), welche Zeit und welchen Raum wird die Schrumpfung konstatiert? Vermutlich werden eher Hoffnungen und Sehnsüchte herangezogen,
als dass tatsächlich auf einen konkreten Zustand der Stadt zu einer anderen Zeit oder
an einem anderen Ort Bezug genommen wird (Davy 2006, S. 16). Vor dem Hinter-
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
grund der Schwierigkeit der objektiven Definition von Schrumpfung spricht DAVY von
der „leeren Stadt“ als „mentale Konstruktion des städtischen Raumes“. Dabei kann
Leere abstrakt (z. B. Arbeitslosigkeit, Defizite im Kommunalhaushalt), aber durchaus
auch konkret (z. B. Brachflächen, unbewohnte Häuser, verwaiste Plätze) wahrgenommen werden. „Die Scheu (Herv. i. Orig.) vor dem Leeren trägt mehr zur gegenwärtigen Problemsicht und Diskussion bei als verifizierbare Aussagen über ‚Schrumpfung’“
(Davy 2006, S. 19). Ob Schrumpfungsprozesse tatsächlich das „Ende der Wachstumsepoche“ (Oswalt 2005a, S. 12), das „Ende der europäischen Stadt“ (Akbar, Kremer
2005, S. 20) und einen „Paradigmenwechsel“ anzeigen, oder doch nur „Kennzeichen
industrieller Veränderungsprozesse und damit einer Epochenwende“ (Kil 2007, S. 44)
oder eine Umkehr der Vorzeichen sind, ist Gegenstand theoretischer urbanistischer
sowie gesellschaftspolitischer Debatten und mitnichten abschließend geklärt.
1.3
Schrumpfende Städte
Stadtentwicklung wird häufig als kontinuierlicher, zyklischer Prozess beschrieben, in
dem es auch Phasen der Schrumpfung und sogar des Niedergangs gibt (u. a. Reulecke
1985; Lichtenberger 1998; Berg et al. 1982, S. 24 ff.). Bei dem aktuell zu beobachtenden ostdeutschen Phänomen muss man eher von einer strukturellen als von einer
zyklischen Erscheinung ausgehen. Einige Autoren sprechen daher von anhaltenden
Disurbanisierungs- bzw. Deurbanisierungsprozessen (Herfert 2002; Hannemann 2003,
S. 21), welche nur vereinzelt durch „Reurbanisierungsinseln“ (Herfert 2002, S. 342)
unterbrochen werden.
Stadtschrumpfung als historisches Phänomen
Wachstum und Schrumpfung sind seit jeher Bestandteil der Stadtentwicklung (Albers
2005, S. 62). Dabei sind Stadtentwicklung und Wachstum erst seit der Industrialisierung untrennbar miteinander verbunden (Häußermann, Siebel 2004), wenngleich mit
der zunehmenden Verstädterung auch das gegenteilige Phänomen verstärkt auftrat.
Der Prozess, der sich vor allem durch nicht mehr rasant wachsende und später auch
zurückgehende Bevölkerungszahlen äußerte, begann in den europäischen Industrieländern und weitete sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf Nordamerika aus. Gründe
hierfür sind Wanderungsverluste und der erste demografische Übergang2. Die abnehmenden Bevölkerungszahlen äußerten sich zunächst in besseren Lebensbedingungen.
Schrumpfungsprozesse mit tatsächlich stadträumlichem Ausmaß, in Bezug auf städtische Funktionen und bauliche Strukturen, tauchen erst seit den strukturwandel- und/
oder suburbanisierungsbedingten Schrumpfungsprozessen in den mittel- und nordeng-
2
Als „demografischer Übergang“ wird ein Ansatz verstanden, der Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung mit einem Übergang von hohen zu niedrigen Geburten- und Sterberaten erklärt.
Die Industrialisierung und Verstädterung kann als eine Triebkraft des so genannten 1. Demografischen Übergangs gelten.
31
32
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
lischen Industriestädten, dem nordamerikanischen Rustbelt und dem deutschen Ruhrgebiet beginnend in den 1960er Jahren auf (Rienits 2005).
Längst sind städtische Schrumpfungsprozesse keine Ausnahmeerscheinung mehr.
Allerdings weist die Stadtschrumpfung des 20. Jahrhunderts im Vergleich zur historischen Stadtschrumpfung deutliche Unterschiede auf: Der Bevölkerungsrückgang vollzieht sich mehr oder weniger kontinuierlich über einen längeren Zeitraum, bei gleichzeitig wachsendem Wohlstand und ohne kriegerische oder äußere gewaltsame Einflüsse (ebd., S. 20).
Internationaler Schrumpfungsdiskurs
Schrumpfende Städte gibt es in der ganzen Welt und aus unterschiedlichsten Gründen,
wenngleich dieses Problem der Stadtentwicklung im internationalen Vergleich eher
untergeordnet ist (ebd., S. 20; Oswalt, Rienits 2006). Die Ursachen lassen sich in folgende Gruppen zusammenfassen: Schrumpfung aufgrund Suburbanisierung, industriellen Strukturwandels, punktuellen und einmaligen Zusammenbrüchen und politischen
Entscheidungen (Wiechmann 2006).3 Der Zusammenhang zwischen wachsendem
wirtschaftlichen Wohlstand und Rückgang der Bevölkerung wird in der weltweiten
Verteilung schrumpfender Städte deutlich. Insofern ist zu erwarten, dass dieses Phänomen trotz Megacities und rasanter Verstädterung sich als parallel ablaufende Richtung der Stadtentwicklung festigen wird (Rienits 2005, S. 33). Aktuelle Forschungen
belegen beispielsweise Stadtschrumpfung in den USA, die vor allem durch Abwanderung aus ökonomischen Gründen des Strukturwandels und aufgrund der fortschreitenden Suburbanisierung ausgelöst werden (Pallagst 2007, S. 7 ff.).
Wenn man die Bevölkerungsentwicklung global betrachtet, so gehen Prognosen davon aus, dass Europa als einzige Region großräumig durch Bevölkerungsrückgang
geprägt sein wird (Wagner 2004, S. 33).4 So müssen die Herausforderungen des demografischen Wandels auch in anderen europäischen Ländern gelöst werden. Wenn-
3
Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojektes wird eine schrumpfende Stadt definiert als
ein dicht besiedeltes städtisches Gebiet, mit mindestens 10.000 Einwohnern, welches (1) über mindestens zwei Jahre hinweg in großen Teilen Bevölkerungsrückgänge verzeichnet und (2) einen
ökonomischen Wandel durchläuft, der auch Aspekte eines Strukturwandels aufweist (Wiechmann
2006). Seit 2004 existiert eine internationale Arbeitsgruppe unter der Schirmherrschaft der Universität Berkeley, die sich dem Thema „Schrumpfende Städte in globaler Perspektive“ anhand von Erfahrungen aus Mexiko, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Südkorea und Australien widmet (Pallagst 2007, S. 4).
4
Bevölkerungszahlen in Europa und Anteile an der Gesamtweltbevölkerung:
547 Mio./21,7 %; 2003: 727 Mio./11,5 %; 2050: 664 Mio./7,2 % (Wagner 2004, S. 33).
1950:
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
gleich Bevölkerungsrückgänge in vielen Städten Europas5 (KOM 2005) und der Welt
zu verzeichnen sind – solch umfassende Schrumpfungsphänomene wie in ostdeutschen Städten sind derzeit in dieser Dynamik und Dimension nur hier zu beobachten.
So verläuft die europäische Debatte um Schrumpfung und Stadtumbau eher untergeordnet zu den großen Stadtentwicklungsprojekten, wenngleich sich auch andere Städte und Regionen mit den in Ostdeutschland besonders stark hervortretenden Problemen und Auswirkungen auseinandersetzen müssen. Die Beobachtung einer Gleichzeitigkeit von Wachstum und Schrumpfung und die Erkenntnis, dass Wachstum zumindest im europäischen Raum nur noch durch eine Verlagerung von dynamischer Entwicklung und damit Schrumpfung an anderer Stelle stattfinden kann, lässt eine künftig
steigende Bedeutung des Stadtumbaus als planerische Strategie zum Umgang mit den
Herausforderungen auch anderenorts erwarten (Kaltenbrunner 2006, S. 37).
Schrumpfung in Deutschland
Der Prozess der Schrumpfung bezüglich der demografischen Entwicklung wird für
Westdeutschland bereits seit den späten 1970er Jahren beschrieben (Göb 1977; Häußermann, Siebel 1988; Gatzweiler, Strubelt 1988, S. 193; Hoffmann-Axthelm 1993,
S. 17; Keim 2001a, S. 20 ff.). Der Beginn der deutschen Schrumpfungsdebatte der
heutigen Prägung kann mit dem Aufsatz „Die Chancen des Schrumpfens“ von HÄUßERMANN und SIEBEL von 1985 im Wochenmagazin „DIE ZEIT“ datiert werden, in
dem vor allem die Folgen des ökonomischen Strukturwandels und der Deindustrialisierung beschrieben werden. Eine tatsächliche Brisanz und die Thematisierung in der
aktuellen Durchdringung und Komplexität kann jedoch erst mit der Jahrtausendwende
ausgemacht werden (Häußermann et al. 2008, S. 203). Dabei gab es gegenüber dem
Begriff und seiner Verwendung zunächst große Vorbehalte. Die Anerkennung, Benennung und aktive Begegnung fiel in den betroffenen Städten sehr unterschiedlich aus.
Neben dem spezifischen Problemdruck spielte die politische Thematisierung mit den
Programmen „Stadtumbau Ost“ und später „Stadtumbau West“6 sowie die kulturelle
und damit inwertsetzende Annäherung7 eine große Rolle bei der Wahrnehmung und
Beschäftigung mit dem Phänomen in den einzelnen Städten (Jessen 2006, S. 35).
Mittlerweile zeigt sich eine deutliche Differenzierung der Schrumpfungsproblematik
innerhalb Deutschlands (Abbildung 1). Schrumpfung ist vor allem ein Problem ostdeut-
5
Die europäische Kommission rechnet ab 2025 mit einem Bevölkerungsrückgang. Die heute noch
leicht wachsende Bevölkerung ist dabei größtenteils auf Zuwanderung angewiesen. Entscheidender
ist auch hier die Alterung und damit der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, was
sich direkt auf die wirtschaftliche Entwicklung (Verringerung des Wirtschaftswachstums) auswirkt
(KOM 2005).
6
Ausführlicher zu den Programmen siehe Kapitel B.2.
7
Beispielsweise durch das Projekt „Schrumpfende Städte“ der Kulturstiftung des Bundes oder die
IBA Stadtumbau 2010 in Sachsen-Anhalt.
33
34
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
scher Kommunen. In Westdeutschland sind vereinzelte altindustrialisierte, strukturschwache und periphere Regionen betroffen, wenngleich Ausmaß und Dynamik der
Schrumpfungsprozesse nicht mit denen in Ostdeutschland vergleichbar sind.
Klassendefinitionen nach der
Häufigkeit der in Rangreihe
geordneten Strukturindikatoren
im untersten (<20% aller Werte)
und obersten (>20% aller Werte)
Quintil
- stark schrumpfend: 4 - 6
Indikatoren im untersten Quintil
- schrumpfend: 1 - 3 Indikatoren
im untersten Quintil
- stabil: keine Indikatoren im
untersten oder obersten Quintil
- wachsend: 1 - 3 Indikatoren im
obersten Quintil
- stark wachsend: 4 - 6
Indikatoren im obersten Quintil
Betrachtete Strukturindikatoren:
Bevölkerungsentwicklung 1997-2004
Gesamtwanderungssaldo 2002/2004
Arbeitsplatzentwicklung 1997-2004
Arbeitslosenquote 2003/2004
Realsteuerkraft 2003/2004
Kaufkraft 2004
Datenbasis: Laufende
Raumbeobachtung des BBR,
Geometrische Grundlage: BKG,
Gemeindeverbände,
31. 12. 2004
Wachsen und Schrumpfen
Stadt- und Gemeindetyp
stark schrumpfend
Großstädte
schrumpfend
Mittelstädte
stabil
Kleinstädte
wachsend
große Landgemeinden
stark wachsend
kleine Landgemeinden
Stadtregionen
Abbildung 1: Wachsende und schrumpfende Städte in Deutschland (BBR 2008, S. 10).
Ostdeutsches Spezifikum
Schrumpfung in Form von Deökonomisierung, Depopularisierung und Deurbanisierung
ist eine spezifisch ostdeutsche Ausprägung der Stadtschrumpfung (Hannemann 2003,
S. 18). Durch die „historische Singularität des Schrumpfungsprozesses in Ostdeutschland“, wird dieser schon in den osteuropäischen Ländern so nicht mehr auftreten
(Jessen 2007, S. 51; siehe auch Hannemann 2003, S. 17; Prigge 2005a, S. 47 ff.):
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
‚ Die sozialistische Stadtentwicklung war gekennzeichnet durch nahezu fehlende
Suburbanisierung, fast ausschließlich staatlichen Wohnungsbau und einen geringen
Anteil an Privateigentum. Durch eine Vernachlässigung der Altbaugebiete gab es
bereits zur Wende große Leerstände durch Unbewohnbarkeit.
‚ Die Entwicklung nach der politischen Wende 1990 war geprägt durch eine
Deökonomisierung mit nachfolgender ökonomisch bedingter Abwanderung und
geringem natürlichen Bevölkerungswachstum. Gleichzeitig gab es enorme, steuerlich begünstigte Investitionen zunächst im Miet- und Privatwohnungsbau am Stadtrand. Später folgte eine Sanierungswelle im Altbau. Durch die zusätzliche Modernisierung der Plattenbauviertel kam es zu einem Zuwachs an Wohnraum bei gleichzeitig zurückgehender Wohnungsnachfrage durch Bevölkerungsrückgänge.8
‚ Die unkritische und wenig strategische Modernisierung und aufwändige Weiterentwicklung der Plattenbaugebiete als gesellschaftliche und politische Prämisse
führte, insbesondere in den Städten, die einen sehr großen Anteil dieser Wohnungen am Gesamtwohnungsbestand haben, zu einem Ungleichgewicht am Wohnungsmarkt (Kunz 2007, S. 137).
‚ Das Stadtumbauprogramm stellt eine politisch forcierte Strategie zum Umgang mit
Leerständen und Ungleichgewichten am Wohnungsmarkt dar, welches in dieser
Dimension kein Pendant in anderen Ländern hat.
Die Schrumpfungsprozesse in Ostdeutschland sind dabei auch als Fortführung der
„Paradoxien von Wachstum und Schrumpfung in der DDR“ einzuordnen (Betker
2008). Denn auch der künstliche Ausbau von Städten in bis dahin eher strukturschwachen Regionen konnte nicht über die auch in der DDR-Zeit vorhandenen Problemregionen hinwegtäuschen. Vor allem Mittelstädte hatten mit kontinuierlichen Wanderungsverlusten zu kämpfen.9
Auch wenn man davon ausgeht, dass die schrumpfende Stadt „die räumliche Manifestation gesellschaftlicher Prozesse“ ist, bedeutet die Änderung der „Nutzung und Programmierung des städtischen Raumes“ nicht zwangsläufig auch physische Veränderungen (Oswalt 2005a, S. 13, 15). Insofern stellt der Umgang mit städtischen
Schrumpfungsprozessen in Ostdeutschland in Form (rück-)baulicher Entwicklung ein
im internationalen und auch historischen Vergleich einmaliges Vorgehen dar. Der Abbruch von (noch intakten) Gebäuden ist keine gänzlich neue Maßnahme der Stadtentwicklung – wenngleich er in der Regel nicht aufgrund von mangelnder Nachfrage
8
Schon 1990 waren ca. 400.000 Wohnungen mangels Sanierung unbewohnbar und damit leer
stehend. Durch den Neubau von 800.000 WE und Sanierung ist – trotz einem Zuwachs von Haushalten um 315.000 – der Leerstand auf ca. 1 Mio. WE im Jahr 2000 angestiegen (Häußermann,
Siebel 2004).
9
Die Stadt Leipzig hat seit dem Jahr 1930 kontinuierlich Einwohner verloren (1933: 713.000 EW,
1970: 594.000 EW, 1989: 530.000 EW (Doehler-Behzadi, Schiffers 2004, S. 32).
35
36
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
oder Leerständen erfolgte: Abbrüche wurden eingesetzt, wenn der Bestand (visionären) Neuplanungen im Weg stand oder wenn er nicht mehr den technischen, funktionalen oder sozialen Ansprüchen und dem Zeitgeist entsprach (Albers 2005, S. 62).
Übertragbarkeit der Erfahrungen
Die vielfältigen Ursachen städtischer Schrumpfungsprozesse können einzeln, aber auch
in unterschiedlichen Konstellationen auftreten. Internationale Vergleiche schrumpfender Städte10 zeigen daher sowohl Parallelen als auch fundamentale Unterschiede (Oswalt 2005a, S. 15; Prigge 2005a). Dies bedeutet, dass spezifische Handlungsansätze
zur Bewältigung der Probleme zwar Anregungen geben, aber nur bedingt übertragen
werden können (Akbar, Kremer 2005, S. 26). Dem Phänomen der Stadtschrumpfung
wird bezüglich der Erklärung und Formulierung von Handlungsstrategien aktuell in
Deutschland in Vergleich zu den anderen betroffenen europäischen Ländern sowohl
wissenschaftlich als auch planerisch und politisch die größte Aufmerksamkeit zuteil
(Cunningham-Sabot, Fol 2007, S. 23). Dabei lassen die spezifischen Bedingungen in
Ostdeutschland die Verwendung von internationalen Referenzbeispielen kaum zu:
Insbesondere die Dimension der demografischen Entwicklung lässt eine Übertragbarkeit beispielsweise der Erfahrungen in der nordenglischen Industrieregion anzweifeln
(Jessen 2007, S. 51, 59). Da im gesamten Osten Deutschlands eher von einem Strukturbruch und in schrumpfenden Regionen Westdeutschlands von einem Strukturwandel gesprochen werden muss (Häußermann, Siebel 2004), gibt es auch Grenzen der
Übertragbarkeit ostdeutscher Erfahrungen auf westdeutsche Städte (Jessen 2007,
S. 52).
1.3.1 Auswirkungen von Schrumpfungsprozessen auf die Stadt
Die gesellschaftlichen Komponenten von Schrumpfungsprozessen wirken sich auf den
unterschiedlichen städtischen Ebenen aus: „Schrumpfung ist auf der Ebene der einzelnen Stadt eine Resultante, hinter der verschiedene demographische Primärprozesse als
Komponenten stehen“ (Mäding 2003, S. 68). Ebenso vielschichtig ist das Phänomen
der schrumpfenden Stadt (Abbildung 2).
10
„Schrumpfende Städte“ (Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit der
Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, der Stiftung Bauhaus Dessau und der Zeitschrift
Archplus, Laufzeit 2002-2005): In dem Projekt „Schrumpfende Städte“ untersuchten Architekten,
Wissenschaftler und Künstler die jüngere Entwicklung von Detroit, Ivanovo, Manchester/Liverpool
und Halle/Leipzig. Das Projekt stellt die Entwicklungen in Ostdeutschland in einen internationalen
Zusammenhang und bezieht dabei unterschiedliche künstlerische, gestalterische und wissenschaftliche Disziplinen in die Suche nach Handlungsstrategien ein.
37
Gesellschaftliche Ursachen
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
Ökonomische
Ursachen
Strukturwandel
Deindustrialisierung
Rohstoffaufbrauch
SozioDemografischer
Wandel
Umweltprobleme
Politischer
Umbruch
Suburbanisierung
Geburtenrate
und/oder
Wanderungen
Naturkatastrophen
politischer
Systemwandel
Kriege
Wohnpräferenzen
Wassermangel
Ansiedlungspolitik
Immobilienmarkt
Auswirkungen auf
städtischer Ebene
Bevölkerungsrückgang
Bevölkerungs- und
Haushaltsstrukturen
Wohnungsbestand
Infrastrukturauslastung
Entdichtung
Kommunale
Finanznot
Veränderungen der
qualitativen
Wohnungsnachfrage
verringerte
Nachfrage
Effizienz und
Funktionsfähigkeit Verund
Entsorgung
Abriss von
Gebäuden
sinkende
Einnahmen
und Kostenremanenzen
Segregationsprozesse
Leerstand,
Verfall
Auslastung
von ÖPNV,
sozialer
Infrastruktur
Zunahme
freier Flächen
Wahrnehmung
von Urbanität
veränderte
Ausgabenstrukturen
Schrumpfende Städte
Abbildung 2: Ursachen von Schrumpfung und Auswirkungen auf städtischer Ebene (Eigene
Darstellung nach Fritsche et al. 2007; Wiechmann 2006; Oswalt 2005a; Häußermann, Siebel
2004; Häußermann et al. 2008, S. 206 ff.).
Die Folgen der Schrumpfungsprozesse können jeweils für die „3 Dimensionen der
Stadt“, die in vielfältigen Wechselbeziehungen stehen, beschrieben werden (Mäding
2003, S. 65): (1) „Stadt als Wirtschafts- und Lebensraum“ steht für die Gesamtheit der
ökonomischen und sozialen Prozesse in einer Stadt, (2) „politische Stadt“ bedeutet
ihre Rolle als Gebietskörperschaft und damit administrative Einheit und (3) „gebaute
Stadt“ beschreibt das räumliche Erscheinungsbild, die physischen Komponenten und
ihre Struktur. Für die räumliche Planung ergeben sich Handlungsfelder aus den erheblichen räumlich-strukturellen Veränderungen innerhalb der Städte, in den Stadtregionen
sowie in den peripheren und ländlichen Bereichen (Glock 2002; Kil et al. 2003, S. 27;
Müller 2003):
38
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
(1) Durch die Destabilisierung lokaler Ökonomien verringern sich die Einkommen der
Bevölkerung. Dies bewirkt zum einen Kaufkraftverluste, die den Einzelhandel vor Probleme stellen und zu einer Degradierung der Innenstädte führen können. Zum anderen
wird durch die Verstärkung wirtschaftlicher Ungleichheit in der Bevölkerung Segregation befördert. Im Gegenzug können informelle Ökonomien und Selbstversorgung
wachsende Bedeutung erlangen und sich als neue bürgerschaftliche Tendenz ausprägen. Versteht man Freiräume als weicher Standortfaktor und Imageträger einer Stadt,
deren Nutzung durch Aneignung und Selbstbestimmung geprägt ist, können auch
neue Aufgaben auf die städtischen Freiräume zukommen.
(2) Für die Kommunen bedeuten demografische Veränderungen im Zusammenhang
mit wirtschaftlichem Wandel eine steigende Kostenbelastung bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen, ein verringertes Steuerungspotenzial öffentlicher Akteure und eine
weiter steigende interkommunale und interregionale Konkurrenz (Rösener, Selle 2005,
S. 6). Neben dem Leerstand stehen die betroffenen Kommunen vor neuen Aufgaben
hinsichtlich der Sicherung der soziokulturellen Infrastruktur, der Gewährleistung einer
wirtschaftlichen Energieversorgung und einer technisch-hygienisch ausreichenden
Wasserver- und Abwasserentsorgung, der Unterhaltung eines wirtschaftlichen ÖPNV
sowie der Bereitstellung von Einrichtungen für den täglichen Bedarf (Einzelhandel,
Dienstleistungen) (Keim 2001a, S. 17). Wenngleich der mit dem unabdingbaren Rückbau verbundene Freiflächenzuwachs in der Regel nicht problematisiert wird, so ist
doch auch die Erhaltung und Entwicklung der „grünen Infrastruktur“ und damit das
Handlungsfeld der kommunalen Freiraumplanung betroffen.
(3) Betrachtet man die gebaute Stadt, können folgende grundsätzliche stadtstrukturelle Veränderungen beobachtet werden (Jessen 2007, S. 55 ff.):
‚ Verminderte, aber weitere Flächenexpansion: Gleichzeitig zu Schrumpfungsprozessen findet – wenn auch verlangsamt – Suburbanisierung statt. Die Entdichtung der
Städte ist dabei nicht ausschließlich mit den Phänomenen der schrumpfenden Stadt
oder schrumpfenden Gesellschaft erklärbar. Vielmehr handelt es sich oft um gleichzeitig ablaufende, teilräumliche Schrumpfungs- und Wachstumsprozesse: neue Eigenheimgebiete am Stadtrand versus leer stehende Gründerzeit- und Plattenbauwohnungen; innerstädtische Gewerbebrachen versus großflächige Industrieneuansiedlungen und Einkaufszentren; brachliegende Bahnanlagen versus neue Verkehrsinfrastrukturen für den Autoverkehr (Heinig, Weigel 2003, S. 60; Lütke Daldrup
2001b; Müller 2003).
‚ Transformation von Flächennutzungen: Entsprechend der zurückgehenden Bedarfe
fallen Industrie-, Gewerbe-, Verkehrsinfrastruktur- und letztlich Wohnstandorte
brach. Die Nachnutzungsbedarfe und -möglichkeiten dieser Flächen sind sehr unterschiedlich.
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
‚ Nutzungsextensivierung: Sinkende Nutzer- und Bebauungsdichten führen zu einer
Entdichtung der Stadtstruktur, die durch Leerstand, Baulücken und gering verdichteten Wohnungsneubau sichtbar wird.
‚ Zunahme und Ausdifferenzierung städtischer Freiflächen: Die fehlenden Nachnutzungsbedarfe und -möglichkeiten von Brachen führen zu einer deutlichen Zunahme
von Freiflächen in schrumpfenden Städten. Es stellt sich die Frage, wie diese Freiflächen künftig genutzt und aussehen werden.
‚ Funktionstrennung: Schrumpfungsprozesse bieten für bisher sehr stark funktionalräumlich getrennte Stadtgebiete Chancen zu einer neuen Durchmischung, z. B.
Neues Wohnen in Innenstadtlagen. Problematisch wird eine Entdichtung für bisher
stark gemischte Stadtteile, was die Tragfähigkeit und Akzeptanz eines kleinteiligen
Mix von Wohnen und Gewerbe betrifft.
Die Aufzählung verdeutlicht die Vielfalt der räumlichen Wirkungen der Schrumpfung
und die Breite der Handlungsfelder Die Frage nach der künftigen Funktion und Gestalt
von Freiräumen ist ein Thema der schrumpfenden Stadt.
1.3.2 Chancen der Schrumpfung
Trotz aller negativen Auswirkungen von Schrumpfungsprozessen , auf die „Stadt als
Wirtschafts- und Lebensraum“ und die „politische Stadt“, kann sich Bevölkerungsrückgang für die „gebaute Stadt“ durchaus positiv äußern (Mäding 2003, S. 68):
Durch einen nachlassenden Siedlungsdruck können Freiflächen am Stadtrand und in
der Stadt im Sinne einer „doppelten Innenentwicklung“ erhalten werden (Hüchtker et
al. 2000). Die Zunahme von Freiflächen durch Abriss bietet die Chance einer ökologischen Aufwertung sowie Möglichkeiten der Rückgabe von Flächen an die Natur
(Fuhrich 2003, S. 596). Damit kann die Wohnumfeldqualität gesteigert und eine Reduzierung von Luftverschmutzung und Lärmemissionen erreicht werden. Es wird deutlich, dass insbesondere wenn man unter „gebauter Stadt“ auch städtische Freiräume
versteht, Bevölkerungsabnahme durchaus positive Aspekte für die Stadtentwicklung
beinhaltet (Mäding 2004a, S. 152). Die ökologische Wirkung von Freiräumen in Städten ist unumstritten – eine Erhöhung des Grünflächenanteils kann damit eine höhere
Umweltqualität des Standortes Stadt bewirken.11
1.4
Stadtumbau und Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Schrumpfung äußert sich in erheblichen räumlich-strukturellen Veränderungen sowohl
innerhalb der Städte, als auch der Stadtregionen sowie der peripheren und ländlichen
Bereiche (Glock 2002; Kil et al. 2003, S. 27). In den Städten der Neuen Bundesländer
11
Demgegenüber ist Leerstand und Entdichtung durchaus mit ökologischen Problemen verbunden.
Dabei sind die Folgen von Veränderungen der Verkehrsentwicklung, von Leerstand und Infrastrukturauslastung (technische) usw. weitgehend ungeklärt (Deilmann et al. 2005).
39
40
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
resultiert die abnehmende Bevölkerungs- und Arbeitsplatzdichte in Zusammenhang
mit einer Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsfläche in einer abnehmenden Siedlungsdichte. Bevölkerungsabnahme führt aber erst dann zu Leerstand – und damit zu
räumlich wahrnehmbarer Schrumpfung, wenn die Zahl der Haushalte die Zahl der
Wohnungen unterschreitet. Insofern ist Schrumpfung nicht mit Wohnungsleerständen
und damit nicht per se mit einem Zuwachs an Freiflächen gleichzusetzen.
Zentrale Handlungsfelder des Stadtumbaus
Der durch den „… demographischen und wirtschaftlichen Strukturwandel hervorgerufene Leerstand in allen Flächenkategorien …“ (Doehler-Behzadi et al. 2005b, S. 4) und
der Umgang mit diesem „Mehr an Raum“ in der Stadt wird zur zentralen Stadtumbauaufgabe12 (Gatzweiler et al. 2003, S. 562). Für die Stadtplanung ergeben sich hier
verschiedene Aufgabenfelder: Zu nennen wären die Erfordernis der Entwicklung neuer
Stadtbilder, die notwendige Konsolidierung des Wohnungsmarktes, die Entwicklung
von Handlungsansätzen für den Umgang mit Leerstand, die Anpassung der Infrastruktur und der Umgang mit neuen Freiräumen (Doehler-Behzadi et al. 2005a, S. 74).
Als Themenfelder mit dem höchsten planerischen Handlungsbedarf werden von durch
Bevölkerungsrückgänge betroffene Kommunen der Umgang mit Brachflächen (76 %)
und die Wohnumfeldverbesserung (72 %) eingeschätzt (BBR 2005b, S. 24).13 Die
Chance zur besseren Versorgung mit Grün- und Freiflächen wird vor allem von Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern gesehen. Dabei herrscht Einvernehmen über die
Bedeutung von Freiräumen für die Neustrukturierung von Städten und ihre positiven
Auswirkungen, wenngleich Unsicherheiten bezüglich der Unterhaltungskosten bestehen (BBR 2005b, S. 26 f.). Entsprechend werden als wichtigste Handlungsfelder des
Stadtumbaus der Abriss von Wohngebäuden, die Wohnumfeldverbesserung, die Reaktivierung und Umnutzung von Brachflächen sowie die Verbesserung der Ausstattung
der Wohngebäude eingeschätzt (ebd., S. 33). Es wird deutlich, dass Freiraumentwicklung eher als Chance denn als Risiko aufgefasst wird. Die betroffenen Kommunen sind
sich der damit verbundenen Schwierigkeiten aber durchaus bewusst: Die Hälfte der am
Stadtumbau beteiligten Kommunen geben Aspekte der Nachnutzung von Brachen in
zentralen städtischen Lagen als drängendes städtebauliches Problem an (BMVBS, BBR
2007a, S. 18, 47).
Die Strategien zum Umgang mit der Leerstandsproblematik sind vor allem mit einer
Veränderung der baulichen und räumlichen Struktur sowie der Flächennutzungen in
12
Der Begriff des Stadtumbaus wird in dieser Arbeit verwendet im Sinne des Bund-LänderProgramms „Stadtumbau Ost“ (siehe Kapitel B.2).
13
Ergebnisse einer Umfrage im Rahmen des ExWoSt-Forschungsvorhabens „Stadtquartiere im Umbruch“ unter 319 Städten und Gemeinden mit (prognostiziertem) Bevölkerungsrückgang in Gesamtdeutschland.
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
der Stadt verbunden. In ostdeutschen schrumpfenden Städten werden zwei wesentliche baulich-räumliche Strategien zum Umgang mit Entleerung und freien Flächen als
Antwort auf Rückbau nicht mehr benötigter Wohnbebauung angewendet: (1) die
Etablierung neuer Wohnformen und damit Bautypen, die den Wohnpräferenzen des
Eigenheims im Grünen entsprechen und (2) „die Entdeckung von Landschaft als ein
Strukturelement der Stadt, nicht in Form einer Verlandschaftlichung der Stadt, sondern
in Form von Landschaftselementen …“ (Spiegel 2004, S. 89 f.).
Freiraumentwicklung als Antwort auf Schrumpfung
Für die Städte der Neuen Bundesländer ist zu erwarten, dass die räumlichen Veränderungen von dauerhafter Natur sein werden und daher langfristig tragfähige Konzepte
zum Umgang mit Leerstand, Abriss und Brachen entwickelt werden müssen. Im Stadtumbauprozess entstehende Flächenreserven sind dabei so aufzubereiten, dass sie ihren
Potenzialen und künftigen Nutzungen gerecht werden (BMVBW, BBR 2003a, S. 43).
Nachhaltige Siedlungsentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen bedeutet, „…
rückläufige Siedlungsdichte nicht als Verlust von Urbanität zu begreifen, sondern als
Perspektive, die Städte grüner mit mehr Freiraumqualitäten zu gestalten, […] denn
„kompakte Stadt und grüne Stadt stellen keinen Widerspruch dar“ (Fuhrich, Dosch
2005, S. 61). Die abnehmende Dichte und der Zuwachs an freien Flächen erfordern
freiraum- und landschaftsplanerische sowie stadtökologische Handlungsansätze. Denn
der notwendige und auch staatlich forcierte Stadtumbau sollte nicht ausschließlich der
Bestandsbereinigung dienen, sondern vielmehr als „… integrativer Teil der Stadtentwicklung in Gestalt einer Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität …“ definiert
werden (Häußermann 2001, S. 29). Freiraum- und Umweltqualität sind dabei als ein
Bestandteil der wesentlichen Forderung des Stadtumbaus nach mehr Wohn- und Lebensqualität zu sehen und für eine nachhaltige Stadtentwicklung unentbehrlich.
„… Der strukturelle Wandel der Städte mit der Folge umfangreicher Nutzungsentlassungen […] rückt die Freiraumplanung gegenwärtig ins Zentrum der planenden und
gestaltenden Disziplinen“ (Böhme 2007, S. 5). Auch wenn diese Aufgabe seit langem
Bestandteil der Stadtentwicklung war, so stellen sich die Herausforderungen jetzt in
viel größeren Dimensionen und unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen dar.
Sowohl die aktuelle Entwicklung als auch die verbreitete Meinung unter Experten weist
auf eine wachsende Bedeutung und ein neues Verständnis städtischer Freiräume im
Zuge der Transformation der gebauten Stadt unter Schrumpfungsbedingungen hin
(Steidle-Schwahn, Hoffmann 2005, S. 45; Becker 2003, S. 26 ff.; Doehler 2003; Giseke
2004; Pütz 2004; Giseke, Spiegel 2007, S. 12). Die Frage nach der Grünausstattung
der Stadt muss vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels betrachtet werden. Die Wahrnehmung der neuen Leerräume in schrumpfenden
Städten spielt dabei eine zentrale Rolle im Umgang damit. Dieser ist oft eine Gratwanderung zwischen den Chancen der Auflockerung, neuen Nutzungsmöglichkeiten und
41
42
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
Qualitäten einerseits und negativen Wahrnehmungen des Verlusts und des Aufgebens
andererseits (Doehler-Behzadi et al. 2005a, S. 75). Freiräume werden demnach mit
neuen und eher diffusen Aufgaben im Spannungsfeld zwischen Freiraum als „Standortmacher“ und „Zwischenlösung“ konfrontiert (Kaltenbrunner 2004, S. 641; Giseke
2002c, S. 169). In der Fachdiskussion wird aber überwiegend von einer wachsenden
Bedeutung des Freiraums als „Infrastruktur der Zukunft“ (Ganser 2001; S. 34), als
weicher Standortfaktor, als Konkurrenzmerkmal nicht nur schrumpfender Städte (Selle
1999) und als wichtiger Faktor der Lebensqualität in Städten ausgegangen. Die Frage
der Freiraumentwicklung in der schrumpfenden Stadt stellt sich auf drei Ebenen
(Giseke, Spiegel 2007, S. 263):
1. Mikroebene: Die Nutzung einzelner leer gefallener Grundstücke ist hinsichtlich der
Dauer und Funktion vermutlich nur vor dem Hintergrund des direkten Umfeldes zu
klären.
2. Mesoebene: Größere zusammenhängende Freiflächen können auf Quartiersebene
zur Freiraumvernetzung beitragen und vielfältige Angebote bereitstellen. Diese
Freiräume entsprechen noch am ehesten dem bekannten Freiraumrepertoire. Allerdings bedürfen diese Flächen einer konzeptionellen Einbindung.
3. Makroebene: Die erwartete Dimension des Rückbaus erfordert vor allem in den
Randbereichen der Städte ein neues Landschaftsverständnis und neue Herangehensweisen und Gestaltbilder.
Erfahrungen und Grenzen
Freiraumentwicklung als Reaktion auf eine Entdichtung der Stadtstruktur ist auch in
der Geschichte der Stadtentwicklung kein gänzlich neues Phänomen. Die Überlegungen zum Umgang mit den kriegszerstörten Städten nach 1945 zeigen Parallelen zu
aktuellen Konzepten des Stadtumbaus in schrumpfenden Städten: Gliederungspläne,
wie sie für Magdeburg oder Dessau erstellt wurden sowie Ansätze zur Trümmerbegrünung oder Bewaldung (Rostock) waren zum einen ein positives Signal für eine neue
Stadtentwicklung nach der Kriegszerstörung und zum anderen eine Möglichkeit, nun
neue Vorstellungen von Stadt in der Kontinuität der städtebaulichen Debatte umsetzen
zu können (Durth 1990, S. 13 ff.).
Auf aktuelle internationale Erfahrungen kann begrenzt Bezug genommen werden: Die
Stadt Youngstown14 im Nordosten der USA ist eines der wenigen nordamerikanischen
Beispiele für eine aktive Stadtplanung unter Schrumpfungsbedingungen, die bewusst
auf freiraumplanerische Strategien im Umgang mit Entdichtung, Leerständen und
Brachflächen setzt. Basierend auf der Akzeptanz einer kleineren Ausdehnung der Stadt
14
Die Stadt hat seit 1960 ca. die Hälfte ihrer damals 166.000 Einwohner verloren.
A.1 Schrumpfung als Rahmenbedingung der Stadtentwicklung
und des Anspruchs der Nachnutzung der innerstädtischen Brachflächen, soll die künftige Stadt durch ein Freiraumsystem strukturiert werden (Pallagst 2007, S. 10; City of
Youngstown 2005).
Auch die Bewältigung des Strukturwandels und damit zusammenhängender Schrumpfung im Ruhrgebiet bediente sich freiraumplanerischer Handlungsansätze. Im Rahmen
der IBA Emscher Park waren Aspekte der Landschaftsentwicklung essentieller Bestandteil der regionalen Entwicklungsstrategie (KVR et al. 1996, S. 32). Da es sich hierbei
aber eher um einen großräumigen Ansatz handelt und die Umsetzung im Rahmen der
IBA eine enorme politische und finanzielle Unterstützung bedeutet, können diese Ansätze nur bedingt auf schrumpfende Städte in Ostdeutschland übertragen werden.
Dass Freiraum, Landschaft, Stadtgrün oder freie Flächen ganz allgemein zum Bild der
schrumpfenden Stadt gehören werden, scheint unausweichlich und von einem Großteil
der Planer, und vor allem der Landschaftsarchitekten, akzeptiert (Kil 2004, S. 142;
Lütke Daldrup 2007, S. 1; Giseke 2007a). Die Freiraumentwicklung in schrumpfenden
Städten bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld: Einerseits handelt es sich um einen
„natürlichen“ Prozess und eine logische Konsequenz der Stadtschrumpfung: „Am
Ende wächst schlicht Gras über ein abgeschlossenes Kapitel [Stadt-]Geschichte“ (Kil
2007, S. 44). Anderseits soll und kann sie als bewusste Strategie des Stadtumbaus für
nachhaltige Städte betrachtet werden: „Was der Hochbau nicht mehr leisten kann, soll
nun die Landschaft richten: den Städten Orientierung und Lesbarkeit, Kontinuität und
Identität verleihen“ (Lohrberg 2002, S. 11). Die Herausforderung der Stadt- und hier
vor allem der Freiraumplanung wird sein, jenseits (hoch-)baulicher Verwertung der
Flächen, Formen stadtgesellschaftlicher Produktivität für diese neuen „Frei-Räume“ zu
finden. Denn führt die Wahrnehmung von städtischen Schrumpfungsprozessen dazu,
dass „… die Gefühle wohltuender Auflockerung und neuer Freiheiten denjenigen des
Verlustes und Verlassenseins gegenüber[stehen]“, dann kann eine Abwärtsspirale
weiterer Stadtschrumpfung folgen (Doehler-Behzadi et al. 2005a, S. 75). Die Frage ob
„bereits ein Zuviel an Landschaft [droht], nachdem sich viele Stadtbewohner lange Zeit
nach mehr Grün gesehnt haben“ ist durchaus ernst zu nehmen (Rat für Baukultur
2007). Erste Erfahrungen im Stadtumbau zeigen, dass „… der Freiraum […] hier [in
der schrumpfenden Stadt [Anm. d. Verf.] kein knappes Gut, sondern flächige Last“ ist
(Prominski, Langner 2007, S. 48).
Insbesondere für die nächste Phase des Stadtumbaus wird eine noch weiter zunehmende Bedeutung der Freiraumentwicklung erwartet (Pütz 2008, S. 29). Inwiefern
diese Forderung in der Planungspraxis tatsächlich realisiert wird und Freiraumplanung
als Planungsfeld im Stadtumbau tatsächlich eine höhere Relevanz bekommt, ist zentrale Fragestellung der hier vorliegenden Arbeit.
43
44
A.2 Anlass und Ziel der Arbeit
2
Anlass und Ziel der Arbeit
Die Problematik, die unter der Überschrift „Schrumpfende Städte“ zusammengefasst
wird, ist sehr komplex – in der vorliegenden Arbeit stehen die stadträumlichen Auswirkungen als Rahmenbedingung und Herausforderung der Freiraumentwicklung im
Vordergrund. Diese bewegt sich in schrumpfenden Städten in einem Spannungsfeld
zwischen bisher unter Wachstumsbedingungen in dem (quantitativen) Umfang unbekannten Entwicklungschancen auf der einen Seite und ebenfalls mit der Schrumpfung
zusammenhängenden schwierigen Rahmenbedingungen auf der anderen Seite. Letzteres bezieht sich vor allem auf die rechtlichen, ökonomischen und planerischen Handlungsmöglichkeiten und -hemmnisse. Dabei wird das globale Phänomen schrumpfender Städte vor dem Hintergrund der Situation in Ostdeutschland betrachtet. Wie oben
dargelegt, handelt es sich dabei um spezifische Rahmenbedingungen und Herausforderungen, welche diesen abgegrenzten Untersuchungsraum notwendig machen.
Der Begriff der Schrumpfung soll im Kontext dieser Arbeit wie folgt definiert werden:
Die räumliche Anpassung der „Gebauten Stadt“ an Schrumpfungsfolgen äußert sich in
quantitativer Hinsicht in einem Zuwachs an freien Flächen und damit potenziellen
Freiräumen. Die demografische Komponente wirkt sich in qualitativer Hinsicht auf die
Nutzung, die Funktion und die Gestalt von Freiräumen aus. Die ökonomische Komponente beeinflusst die Rahmenbedingungen für die Finanzierung und Umsetzung der
Freiraumplanung.
Die Aspekte der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten sind entsprechend
vielschichtig. In dieser Arbeit soll die Bedeutung von Freiräumen im Umgang mit den
räumlichen Auswirkungen der Stadtschrumpfung im Mittelpunkt stehen. Es stellt sich
die Frage, welche Rolle Freiräume bei der Bewältigung der räumlichen Auswirkungen
von Schrumpfungsprozessen tatsächlich spielen. In diesem Zusammenhang ist von
Interesse, welche (neu entwickelten) freiraumplanerischen Ansätze angewendet werden, um den Herausforderungen zu begegnen und ob die Freiraumplanung unter
diesen Voraussetzungen eine veränderte Bedeutung innerhalb der Stadtplanung einnimmt.
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist: Welche Bedeutung haben Freiräume im
Umgang mit den räumlichen Auswirkungen der Schrumpfung in Städten?
Dabei meint Bedeutung einerseits die Rolle, die Freiräume künftig in schrumpfenden
Stadtstrukturen spielen und andererseits die Stellung der Freiraumplanung im Umgang
mit den (stadträumlichen) Schrumpfungsprozessen. Ersteres bezieht sich auf die faktische Relevanz freiraumplanerischer Maßnahmen bei der Gestaltung und Nutzung
durch Rückbau frei werdender Flächen. Zweitens geht es um die Frage nach der Wertschätzung, die dem Freiraum in stadtplanerischen Entscheidungen, insbesondere im
Verhältnis zu anderen Belangen, beigemessen wird.
A.2 Anlass und Ziel der Arbeit
Freiraum wird zwar zunehmend nicht mehr nur von der Disziplin der Freiraumplanung
als ein wichtiges Handlungsfeld des Stadtumbaus erkannt, aber das Thema Freiraumentwicklung stellt nach wie vor ein eher vernachlässigtes Forschungsfeld in der
Schrumpfungsdebatte dar. Dies betrifft vor allem eine strukturierte und fundierte Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Schrumpfung auf die unterschiedlichen
freiraumplanungsrelevanten Themenfelder. Ebenso mangelt es an einer theoretischen
Untersetzung der Auswirkungen der Schrumpfung auf die Struktur und Gestalt der
Stadt (Spiegel 2004, S. 187; Doehler-Behzadi et al. 2005a, S. 78; Wiechmann 2005,
S. 3). In der fachlichen Diskussion wird der Bedarf nach stadträumlich differenzierten
Funktions- und Gestaltungskonzepten der Freiraumplanung sowie nach neuen Freiraumtypen proklamiert (Becker, Giseke 2004, Giseke 2002a, 2002b, Reuther 2002a;
Giseke 2003; Kil 2004, S. 142). Die Stadtumbaudiskussion wird bislang vor allem durch
die Darstellung praktischer Ansätze und guter Beispiele geprägt. Fachliche Expertisen
zu ausgewählten Themenfeldern unterstützen die praktische Umsetzung.15 Ein umfassender Blick auf die Bedeutung, Chancen und Grenzen der Freiraumplanung im Stadtumbau fehlt bisher. Mit dieser Arbeit soll ein Beitrag geleistet werden, diese Lücke zu
schließen.
2.1
Forschungsansatz
Die Arbeit zielt auf eine Bestandsaufnahme der Situation der Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten und die Darstellung der Handlungsansätze betroffener Städte
in Bezug auf theoretische Grundlagen der Freiraumplanung. Aufbauend auf einer
systematischen Darstellung der Schrumpfung als spezifische Rahmenbedingung der
Freiraumplanung soll der Stand der theoretischen Diskussion zur Bedeutung von Freiräumen in Städten aufgearbeitet und bezüglich der Problemstellung erörtert werden.
Es stellt sich die Frage, inwiefern die herkömmlichen, aber auch die neuen Ansätze im
Stadtumbau geeignet sind, dauerhaft die Qualität und die Funktionalität der neu entstehenden Freiräume zu gewährleisten. Die Aktualität und große praktische Relevanz
legt eine empirische Untersuchung betroffener Städte nahe. Dem Spezifikum schrumpfender ostdeutscher Städte wird dabei auch in der Beispielauswahl Rechnung getragen.
Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich der Bedeutungswandel tatsächlich
in der Praxis niederschlägt und welche Ansätze der Freiraumplanung aktuell entwickelt
15
Beispielsweise: „Zwischennutzungen und neue Freiflächen. Städtische Lebensräume der Zukunft“
(BBR 2004); „Stadtquartiere im Umbruch. Infrastruktur im Stadtumbau – Chancen für neue Freiräume“ (BBR 2006b); „Private Eigentümer im Stadtumbau.“ (BBR 2007); „Bestandssituation und
Bewirtschaftungsstrategien privater Eigentümer in den neuen Ländern und ihre Einbeziehung in
den Stadtumbau Ost“ (BMVBS, BBR 2007c); „Grundstückswertermittlung im Stadtumbau. Verkehrswertermittlung bei Schrumpfung und Leerstand“ (BMVBS, BBR 2007e); „Innovationspotentiale für Flächenentwicklung in schrumpfenden Städten am Beispiel Magdeburg“ (Davy 2006).
„Fortschritte und Hemmnisse beim Vollzug des Stadtumbaus Ost - Unternehmensumfrage.“ (IFS
2004); „Öffentlichkeitsarbeit und Bewohnerbeteiligung im Stadtumbau.“ (MSWV 2002).
45
46
A.2 Anlass und Ziel der Arbeit
und angewendet werden. Durch die Verknüpfung der theoretischen Annahmen und
der empirischen Befunde werden begrenzt allgemein gültige Aussagen zur Erklärung
der aktuellen Prozesse und Reaktionen abgeleitet. Die Beschäftigung mit ausgewählten
Erfahrungen und Ansätzen der Planungspraxis zielt auf die Formulierung der Chancen
und Grenzen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten ab.
Problem: Rolle der Freiräume in schrumpfenden Städten
Rahmenbedingungen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
Forschungsfrage: Welche Bedeutung haben Freiräume im Umgang mit den
räumlichen Auswirkungen der Schrumpfung in Städten?
Hypothesen
Reaktionen der Planungspraxis
> Rolle der Freiräume im Stadtumbau?
> Räumliche/planerische Umsetzung?
Prüfung
Beantwortung
Theoretische Ansätze zur Erklärung
der Bedeutung von Freiräumen in
schrumpfenden Städten
Ergebnis: Bedeutung von Freiräumen in schrumpfenden Städten und Chancen
und Grenzen der Freiraumplanung im Stadtumbau
Abbildung 3: Forschungsansatz (Eigene Darstellung).
Der Forschungsansatz (Abbildung 3) basiert auf folgenden Annahmen:
‚ Schrumpfungsprozesse bewirken veränderte Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in den betroffenen Städten und führen zu einer veränderten Wahrnehmung und Bedeutung städtischer Freiräume.
‚ Neue städtebauliche Leitbilder und stadtplanerische Modelle im Rahmen des Stadtumbaus, ein verändertes Verhältnis von gebauten Stadtstrukturen und Freiraum
bzw. Landschaft führen zu einem neuen Verständnis und veränderten Aufgaben
städtischer Freiräume.
‚ Sowohl der Bedeutungswandel als auch die neuen ökonomischen, rechtlichen, planerischen und demografischen Rahmenbedingungen werden sich in veränderten
Freiraumtypen, die Gestalt und Nutzung betreffend, äußern.
‚ Die Rolle der Freiräume und der Freiraumplanung im Stadtplanungsverständnis
ändern sich vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Stadtumbaus.
A.2 Anlass und Ziel der Arbeit
Es sind zwei Betrachtungsebenen notwendig, welche entsprechend auch Untersuchungsgegen-stand dieser Arbeit sein sollen: (1) Schrumpfung verändert die Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung. (2) Neuer Freiraum ist ein Resultat der räumlichen Anpassung an den Schrumpfungsprozess und unterliegt einer veränderten Wahrnehmung und neuen Bedeutung in der Stadt.
Freiräume werden in dieser Arbeit definiert als überwiegend unbebaute Flächen innerhalb der Stadtregion. Sie können natur- oder kulturlandschaftliche Relikte sein oder
bewusst als mehr oder weniger begrünte Fläche – aber überwiegend frei von Hochbauten – angelegt worden sein (u. a. Richter 1981, S. 13). Sie können nutzungs- und
gebrauchsrechtlich in öffentliche und private Freiräume unterschieden werden. Dabei
verweist schon der Begriff „Freiraum“ auf die „… Abhängigkeit zur Stadt, indem alles
nicht Bebaute als noch ‚frei’ angesehen wird, obgleich natürlich auch dieser Raum
nicht frei, sondern mit Elementen und Nutzungen belegt ist“ (Sieverts et al. 2005,
S. 98). Insofern ist Freiraum als Teil der Landschaft zu verstehen, der von Bebauung
frei ist, weil er zur Bebauung nicht benötigt wurde, im Rahmen der Bebauung besonders gestaltet wurde oder mit planerischen Mitteln gegenüber Bebauung verteidigt
wurde (Ganser 2002, S. 82). In Abgrenzung zu Freiräumen werden in dieser Arbeit
unter Freiflächen innerhalb der Flächennutzungsdynamik entstandene oder vorgehaltene Flächen verstanden, welche frei bzw. befreit von Bebauung und zunächst auch
frei von einer bestimmten oder zugeordneten Nutzung sind. Die Freiraumplanung als
Disziplin der räumlichen Planung und Fachplanung zur Stadtplanung setzt sich mit der
Realisierung, Finanzierung und Gestaltung von Freiräumen in Städten auseinander.
Ihre Handlungsfelder sind die Qualifizierung von Freiräumen, die Umweltvorsorge, der
Naturschutz und die Landschaftspflege. Durch die Anlage und Unterhaltung öffentlicher Freiräume erfüllt sie darüber hinaus einen sozialen Auftrag und leistet einen Beitrag zur Lebens- und Wohnumfeldqualität (Wenzel, Schöbel 2001).
2.2
Relevanz der Arbeit und Adressaten
Anhaltende, sich ausdehnende und sich teilräumlich differenzierende Schrumpfungsprozesse mit tief greifenden Wirkungen stellen ein zentrales Thema der Stadtplanung
und damit auch der Stadtforschung dar. Die ursächlichen Rahmenbedingungen werden sich auf absehbare Zeit nicht verändern und das Problem ist mitnichten gelöst. Im
Gegenteil: die Anzeichen mehren sich, dass Schrumpfung und ihre Folgen zunehmend
auch in Städten und Regionen Westdeutschlands und anderer europäischer Länder zu
einem Thema der Stadtplanung werden (müssen). Die anhaltend negativen Bevölkerungsprognosen sowie der zunehmende Handlungsdruck in den Kommunen, aber
auch auf Seite der Wohnungsmarktakteure, verstärken das Bewusstsein für die
Schrumpfungsproblematik. Der Stadtumbau, wie er seit dem Jahr 2001 auch politisch
forciert und im Rahmen der Städtebauförderung unterstützt wird, wird auch über das
ursprünglich als Programmzeitraum geplante Jahr 2009 hinaus ein wichtiges Instru-
47
48
A.3 Vorgehen
ment zur Bewältigung der räumlichen Wirkungen der Schrumpfung in unseren Städten
bleiben. Die räumlichen und sichtbaren Wirkungen des demografischen und ökonomischen Wandels werden die Städte auch weiterhin vor große Herausforderungen stellen.
Der Bedarf von Lösungsansätzen seitens der Planungspraxis und der städtischen Verwaltungen wurde auch im Rahmen der in der empirischen Untersuchung geführten
Gespräche deutlich. Die zunehmende Erkenntnis der Relevanz freiraumplanerischer
Lösungen und Handlungsansätze ist dabei auch im Bewusstsein anderer Akteure verankert, allerdings mangelt es noch immer an einer Integration in den Stadtumbauprozess. Durch die systematische Aufarbeitung der Auswirkungen von Schrumpfungsprozessen aus Sicht der Freiraumplanung kann die Arbeit einen Beitrag zum Verständnis
der Problemlage bei betroffenen Akteuren der Stadt- und Freiraumplanung liefern. Die
vorliegende Arbeit konzentriert sich, insbesondere im empirischen Teil, auf die spezielle
Situation in den Städten der Neuen Bundesländer Deutschlands. Die Übertragbarkeit
der Erkenntnisse auf schrumpfende Städte in einem völlig anderen Kontext ist daher
begrenzt. In der Arbeit wird nicht der Anspruch allgemeingültiger und übertragbarer
Handlungsansätze formuliert. Allerdings können die dargestellten Ansätze durchaus
Hinweise zur Bewältigung ähnlicher Probleme in anderen betroffen Städten geben.
Durch die Darstellung und Diskussion der Vielfalt von Ansätzen kann ein Bewusstsein
für die Chancen und Grenzen der Freiraumplanung bei der Bewältigung räumlicher
Schrumpfungsprozesse geschaffen werden. Gleichzeitig liefern die Ergebnisse auch
einen Beitrag zur theoretischen Diskussion um städtebauliche Modelle und Leitbilder
unter Schrumpfungsbedingungen sowie Erkenntnisse bezüglich der Relevanz landschaftstheoretischer Diskurse in der Planungspraxis.
3
Vorgehen
Die Bearbeitung der dargestellten Themenfelder erfolgt in drei Arbeitspaketen, die
folgend beschrieben werden.
3.1
Arbeitspaket I: Aktuelle Situation und Rahmenbedingungen der
Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
Der Paradigmenwechsel von einer wachsenden zu einer schrumpfenden Stadt in all
seinen Facetten wirkt sich auf den Freiraumbestand und die -entwicklung aus. Daher
ist zunächst eine Auseinandersetzung mit den Wirkungen von Schrumpfung auf die
Freiraumplanung als Rahmen setzende Bedingungen notwendig. Die Analyse und
Bewertung der spezifischen Merkmale und Komponenten der Schrumpfung hinsichtlich der Auswirkungen auf die Freiräume und die Freiraumplanung dient der Identifizierung künftiger Herausforderungen und Handlungsfelder. Dazu werden die aktuelle
Literatur, Fachexpertisen und Forschungsergebnisse zu den Rahmenbedingungen der
A.3 Vorgehen
Freiraumplanung in schrumpfenden Städten aufgearbeitet. Parallel kann durch die
Analyse der aktuellen Planungspraxis auf der Grundlage von Datenbanken, Literatur
und öffentlichen Darstellungen der Stadtumbaupraxis ein Überblick über die Situation
der Freiraumplanung und die wichtigsten Problem- und Handlungsfelder in schrumpfenden Städten erlangt werden.
Generell kann zwischen Veränderungen des Flächenangebotes (quantitativ) und qualitativer Rahmenbedingungen und Anforderungen unterschieden werden. Dabei spielen
vor allem der demografische und gesellschaftliche Wandel sowie die planerischen,
rechtlichen und ökonomischen Aspekte eine Rolle. Diese Bereiche werden zunächst
einzeln hinsichtlich ihrer Ursache, Ausprägung und Wirkung für die Freiräume bzw.
Freiraumplanung beschrieben. Die abgeleiteten Potenziale und Restriktionen definieren
die Notwendigkeiten, aber auch Möglichkeiten der Freiraumplanung.
3.2
Arbeitspaket II: Theoretische Diskussion des Bedeutungswandels
Zur Erklärung der Bedeutung und der Rolle von Freiräumen im Stadtgefüge, deren
Funktionen und Gestalt, ist eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen theoretischen Diskussion zu verschiedenen Aspekten der Freiraumplanung in Städten notwendig, um Grundaussagen zur künftigen Gestalt und Funktion von Freiräumen und des
Freiraumverständnisses zu entwickeln (Doehler-Behzadi et al. 2005a, S. 78; Dettmar
2003, S. 30): Der Zuwachs an Freiflächen ist im Zusammenhang mit ästhetischen Anforderungen, Gestaltbildern und Stadtstrukturen zu betrachten. Hinsichtlich der künftigen Rolle von Freiräumen im Stadtgefüge sind insbesondere die verwendeten Modelle
bzw. Leitbilder der Stadtentwicklung von Bedeutung (u. a. Giseke, Renker 1998,
S. 563; Reuther 2002b; Doehler-Behzadi et al. 2005a, S. 75; Dettmar, Weilacher 2003,
S. 2). Deren Wandel führt auch zu Veränderungen in der Stadt- und Freiraumstruktur,
wenn nicht sogar zu einer dominanten Rolle der Freiräume. Neue Ansichten von Landschaft und letztendlich das Naturverständnis beeinflussen die künftige Ausprägung der
Stadtstruktur und der einzelnen Freiräume: „Aus Siedlungsfläche wird Brache und
möglicherweise Landschaft und dieses Landschaftswachstum wird […] als Verlust
empfunden“ (Giseke 2007b, S. 197). Der Umgang mit dem Transformationsprozess
erfordert demnach „(natur)-ästhetische Betrachtungen“ (ebd., S. 197). Eine neue
Bedeutung und Wahrnehmung städtischer Freiräume und die veränderten Rahmenbedingungen verlangen stadträumlich differenzierte Funktions- und Gestaltungskonzepte
sowie neue Freiraumtypen.
Anhand einer Auswertung der zurückliegenden und aktuellen theoretischen Diskussion
werden Aussagen zur Bedeutung von Freiräumen in schrumpfenden Städten getroffen.
Die Auswahl der Theoriebausteine basiert auf der Analyse der Rahmenbedingungen
und der Praxisanalyse in den vorangegangenen Arbeitsschritten. Als besonders relevant stellen sich Fragen der räumlichen Verortung von Schrumpfungsprozessen, der
Leitbildentwicklung und der Nachnutzung von entstehenden Freiflächen dar. Die theo-
49
50
A.3 Vorgehen
retische Untermauerung erfolgt entsprechend mit Ansätzen zu Stadtmodellen, städtebaulichen Leitbildern, der aktuellen Landschaftsdiskussion und den Grundlagen des
Naturverständnisses in der Stadt. Dies bildet die Basis für die Formulierung von Hypothesen, die in der folgenden Fallstudie untersuchungsleitend sind. Erkenntnisse aus den
Theoriebausteinen – städtebauliche Modelle und Leitbilder sowie landschaftstheoretische Ansätze – werden auf ihre empirische Relevanz hin überprüft.
3.3
Arbeitspaket III: Empirische Untersuchung
Die formulierte Forschungsfrage zielt explizit auf eine Auseinandersetzung mit der
Planungspraxis schrumpfender Städte ab. Dabei steht im Mittelpunkt der empirischen
Untersuchung, ob und wie sich der von Seiten der Landschafts- und Freiraumplanung
geforderte bzw. erwartete Bedeutungswandel tatsächlich in der Praxis niederschlägt
und wie mit den aktuellen Herausforderungen in Bezug auf eine Neuformulierung
freiraumplanerischer Strategien, Handlungsansätze und Konzepte umgegangen wird.
Die hier zu Grunde liegende Forschungsfrage: „Welche Bedeutung haben Freiräume
im Umgang mit der räumlichen Schrumpfung von Städten?“ hat einen sowohl deskriptiven als auch explorativen Charakter: Das Ziel der empirischen Untersuchung ist herauszufinden, ob und wie sich der wachsende Anteil freier Flächen und die neuen Rahmenbedingungen der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten in einem neuen
Verständnis städtischer Freiräume in Bezug auf ihre Rolle bei der Entwicklung der
räumlichen Stadtstruktur und in neuen Handlungsansätzen widerspiegeln. Dafür steht
die Integration der Freiraumplanung und ihrer Inhalte in Leitbildprozesse, Strategieformulierungen, Konzepte und letztlich Planungsdokumente. Aufbauend auf der Auseinandersetzung mit der theoretischen Diskussion um die Landschaft, ihre Wahrnehmung und Bedeutung und deren Niederschlag in Leitbildern und Stadtmodellen steht
auch im empirischen Teil dieser Arbeit die Frage nach den Inhalten im Vordergrund.
Deren Umsetzung ist dabei natürlich immer an Diskussions- und Entscheidungsprozesse gebunden, welche nach Möglichkeit mit betrachtet werden.
Methode
Um Schrumpfung und die Reaktion der Freiraumplanung als aktuelle Erscheinungen in
ihrem realen Kontext zu untersuchen, bietet sich die Fallstudie als Methode der empirischen Sozialwissenschaften an. Sie ermöglicht eine direkte Beobachtung und die Auseinandersetzung mit im Prozess involvierten Personen (Yin 1994, S. 8, 13). Darüber
hinaus empfiehlt sich aufgrund der Verbreitung des Problems und der Vielzahl von
möglichen Herangehensweisen und Handlungsansätzen die Untersuchung mehrerer
Städte. Die empirische Erhebung wird in dieser Arbeit in Anlehnung an die Methode
der explorativen bzw. deskriptiven Fallstudie durchgeführt. Sie geht anhand mehrerer
Fallbeispiele (Untersuchungsobjekte) der Forschungsfrage nach. Die verschiedenen
theoretischen Grundlagen werden dabei als Orientierungsrahmen für die Analyse der
A.3 Vorgehen
einzelnen Beispiele angewendet. Die Fallbeispiele sind voneinander unabhängig und
repräsentieren den aus der Forschungsfrage abgeleiteten Fall. Die Auswahl ist dabei
nicht erschöpfend bzw. vollständig, sondern auf Varietät und eine angemessene
Bearbeitbarkeit ausgelegt. Dabei beruht die Auswahl auf den Ergebnissen eines zu
Beginn der Arbeit breit angelegten Überblicks über die gegenwärtige Planungspraxis,
der Passfähigkeit der Beispiele und den Möglichkeiten der Durchführbarkeit (Yin 2003,
S. 78). Im Rahmen dieser Arbeit werden drei Fallbeispiele – die Städte Chemnitz, Halle
(Saale) und Leipzig untersucht.16 Dieses Vorgehen soll dabei nicht der quantitativen
und vergleichenden Beweisführung dienen, aber – den explorativen Charakter unterstreichend – eine gewisse Vielfalt der Ansätze in Bezug auf die zu Grunde liegenden
theoretischen Annahmen und Rahmenbedingungen aufzeigen. Da nicht Vergleichbarkeit und Repräsentanz, sondern Varietät beabsichtigt ist, können zufrieden stellende
Ergebnisse erreicht werden. Die Ergebnisse können in Bezug auf die zu Grunde liegenden Annahmen durchaus generalisiert werden, um neues Wissen herauszuarbeiten,
wenngleich nicht der Anspruch der Repräsentativität erhoben wird (Yin 1994, S. 10).
Fallauswahl
Entsprechend der Forschungsfrage wird als Fall definiert: Städte mit deutlichen und
erwarteten anhaltenden Schrumpfungserscheinungen, welche sich stadträumlich auswirken und auf die mit freiraumplanerischen Strategien und/oder Maßnahmen reagiert
wird. Zur Beschreibung dieses Falls und der Auswahl der Fallbeispiele werden Kriterien
und entsprechende Indikatoren ausgewählt (siehe Tabelle E.1 im Anhang). Ausschlaggebend für die letztendliche Auswahl sind die Thematisierung freiraumplanerischer
Aspekte in Stadtentwicklungskonzepten und Leitbildern sowie die erfolgreiche Umsetzung freiraumplanerischer Projekte im Stadtumbau. Wenngleich die erkenntnisleitenden Kriterien bei der Auswahl des Falls und der Fallbeispiele im Vordergrund stehen,
werden im Hinblick auf den Erfolg der Fallstudie auch forschungspraktische Kriterien in
Erwägung gezogen: So ist die Kooperationsbereitschaft sowie die Verfügbarkeit und
Zugänglichkeit von Dokumenten Grundvoraussetzung, um Informationen zu gewinnen. In den ausgewählten Städten bestanden teilweise bereits Kontakte und Vorkenntnisse, was eine erfolgreiche Falluntersuchung erwarten ließ. Die Datenlage und
Kooperationsbereitschaft war in den Städten durchaus unterschiedlich, was sich teilweise auch im Umfang der Darstellung und der Erkenntnisdichte der empirischen Befunde der einzelnen Städte widerspiegelt.
16
Da die Fallbeispiele alle dem ausgewählten Fall entsprechen, handelt es sich nicht um eine vergleichende Mehrfachfallstudie („multiple case study“), sondern um eine Einzelfallstudie („embedded
single case study“), deren Fall durch mehrere, typische und den Fall repräsentierende Einzelbeispiele („units of analysis“) repräsentiert wird (Yin 1994, S. 38 f.).
51
52
A.3 Vorgehen
Durchführung
Die zentrale Forschungsfrage wird in einzelne Forschungsfragen gegliedert, welche in
der Funktion von Variablen in der eigentlichen Fallbeispieluntersuchung untersuchungsleitend sind. Die theoretischen Grundlagen bestimmen in der Fallstudie zum
einen das Untersuchungsspektrum und zum anderen auch die Auswertung und die
Ableitung der Ergebnisse (Yin 1994, S. 29 f.). Die untersuchungsleitenden Hypothesen
werden in Form von Kriterien zur Interpretation reflektiert. Somit wird eine „analytische Generalisierung“ erreicht, ohne zwingend statistisch repräsentativ zu sein (ebd.,
S. 30).17 Die Verknüpfung der Forschungsfragen und Hypothesen wird in einer Datenmatrix mit der entsprechenden Operationalisierung dargestellt (siehe Kapitel E.1.2
und Tabelle E.6 und Tabelle E.7 im Anhang).
Die Relevanz freiraumplanerischer Belange und Inhalte in Stadtumbau- und Stadtentwicklungskonzeptionen spiegelt sich in unterschiedlichen Planungs- und Umsetzungsmaßstäben wider. Um dies abzudecken und um ein umfassendes Bild zu erhalten, wird
hier auf Messobjekte in verschiedenen Maßstabsebenen zurückgegriffen. In dieser
Fallstudie erfolgt die Erhebung relevanter Daten vor allem durch Dokumente und Experteninterviews (siehe Kapitel E.1.3 im Anhang). Ergänzend werden Ortsbegehungen
zu realisierten Freiraum- bzw. Stadtumbauprojekten durchgeführt, um zusätzliche und
ortskonkrete Erkenntnisse zu gewinnen (Yin 2003, S. 85, 93).
Die als empirische Grundlage dienenden drei Städte Chemnitz, Halle (Saale) und
Leipzig werden folgend in drei Steckbriefen kurz und überblicksartig vorgestellt.
17
Analytische Generalisierung bedeutet nach YIN: „ […] eine im Vorfeld entwickelte Theorie wird als
Vorlage genutzt, um die empirischen Ergebnisse der Fallstudie mit ihr zu vergleichen“ (Yin 1994,
S. 31, Übers. d. Verf.).
53
A.3 Vorgehen
Chemnitz
Einwohner (30.03.2008): 242.498 / Fläche: 22.085 ha
Karte: Franziska Schoder
Kartengrundlage: TK 50-V, 2006
© Bundesamt für Kartographie und Geodäsie
Formelle Instrumente
(gesamtstädtisch)
Landschaftsplan (2000)
Flächennutzungsplan (2001)
Informelle Instrumente
(gesamtstädtisch)
Ökologische Begleitplanung zum Flächennutzungsplan (1994)
Erholungskonzeption Chemnitz 2010 (1996)
Stadtentwicklungsprogramm (INSEP) (2002)
Räumliches Handlungskonzept Wohnen (RHK W) (2004-05)
Stadtumbaukonzept Gesamtstadt Zwischenbilanz (2006)
Städtebauliches Entwicklungskonzept (SEKo) (2007-2008)
Teilstädtische Konzepte
und Instrumente
Stadtumbauschwerpunkt Innenstadt:
Uferparkkonzept (2001); Uferpark, Rahmenplan Falkeplatz (2004); Rahmenplan Innenstadt (2005)
Stadtteilkonzepte:
Hutholz-Nord (2002), Am Alten Flughafen, Helbersdorfer Hang (2006),
Schloßchemnitz (2006), Brühl-Schloßteich (2006), Lutherviertel (2006),
Reitbahnstraße/Uni (2006), Sonnenberg (2006), Markersdorf (2006)
54
A.3 Vorgehen
Chemnitz
Statistische Daten
Indikatoren BBR INKAR 2006
Wert
Bevölkerungsentwicklung 1995-2004 (%)
-14,2
Gesamtwanderungssaldo 2004 (je 1000 EW)
-2,0
Kaufkraft 2004 (€)
1313
Realsteuerkraft 2004 (€)
53
Arbeitslosenquote 2005 (%)
19,4
Arbeitsplatzentwicklung 1995-2004 (%)
-25,4
81,9
Bevölkerungsprognose 2020 (2002 = 100)
Indikatoren Bertelsmannstiftung
Wert
Bevölkerungsentwicklung 2003-2020 (%) -16,7
Medianalter 2020 (Jahre)
52,6
Arbeitsplatzzentralität 2003
1,3
Arbeitsplatzentwicklung 1998-2003 (%)
-11,9
Arbeitslosenquote 2003 (%)
21,8
Kommunale Steuereinnahmen/EW (€)
415,5
Ant. hochqual. Beschäftigter 2003 (%)
16,1
Ant. Mehrpers.-haush. m. Kind. 2003 (%)
24,1
Cluster 3: Schrumpfende und alternde
ostdeutsche Großstädte
Rückbau
Programm
Landesrückbauprogramm
Stadtumbau Ost
Gesamt
Planung
Leerstand
Zeitraum
2000 - 2002
2002-2006 (bewill.)
2002 - 2006
bis 2007
bis 2010
Rückbau
4.736 WE
6.000 WE
ca. 10.800 WE
ca. 12.400 WE
+ 8.000 WE
Schwerpunktgebiete Stadtumbau
Großwohnsiedlung Heckertgebiet:
Stadtteile Hutholz, Markersdorf, Morgenleite, Helbersdorf:
gesamt ca. 40.000 EW
Gründerzeitviertel:
Sonnenberg: ca. 12.500 EW
Schloßchemnitz: ca. 11.000 EW
Stadtumbauprojekte
Innenstadt:
Uferpark (insg. ca. 100 ha):
Konkordiapark, Brückenpark, Aue- und Moritzpark
Sonnenberg: Bunte Gärten
2007:
30.000 bis 38.000 WE
2010 – 2020:
+ ca. 14.000 WE
Verwaltungsaufbau
Dezernat V
Umweltamt
(eher technischer Umweltschutz)
Grünflächenamt (GFA)
Abteilung Planung
Stadtplanungsamt (SPA)
Abteilung Stadtökologie
(entspricht Landschafts- und
Grünordnungsplanung)
55
A.3 Vorgehen
Halle (Saale)
Einwohner (31.03.2008): 231.778 / Fläche: 13.502 ha
Karte: Franziska Schoder
Kartengrundlage: TK 50-V, 2006
© Bundesamt für Kartographie und Geodäsie
Formelle Instrumente
(gesamtstädtisch)
Flächennutzungsplan (1998)
Informelle Instrumente
(gesamtstädtisch)
Integriertes Stadtentwicklungskonzept: Gesamtstädtische Entwicklungstendenzen und Entwicklungsziele (2007)
Leitlinien für die Zukunft des städtischen Wohnens in Halle - ausgewählte
Aspekte einer komplexen Themenstellung 2000
Stadtentwicklungskonzeption Wohnen (SEKW) 2001
Beitrag zum Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ 2002
Teilstädtische Konzepte
und Instrumente
Stadtteilkonzepte:
Integriertes Stadtentwicklungskonzept: Stadtumbaugebiet Silberhöhe (2007)
Integriertes Stadtentwicklungskonzept: Stadtumbaugebiet Neustadt (2007)
Neuordnungskonzept Halle-Neustadt, Beschlussvorlage Stadtrat (2001)
56
A.3 Vorgehen
Halle (Saale)
Statistische Daten
Indikatoren BBR INKAR 2006
Wert
Bevölkerungsentwicklung 1995-2004 (%)
-15,7
Gesamtwanderungssaldo 2004 (je 1000 EW)
1,1
Kaufkraft 2004 (€)
1185
Realsteuerkraft 2004 (€)
42
Arbeitslosenquote 2005 (%)
21,5
Arbeitsplatzentwicklung 1995-2004 (%)
-28,5
Bevölkerungsprognose 2020 (2002 = 100)
82,9
Indikatoren Bertelsmannstiftung
Bevölkerungsentwicklung 2003-2020 (%)
Medianalter 2020 (Jahre)
Arbeitsplatzzentralität 2003
Arbeitsplatzentwicklung 1998-2003 (%)
Arbeitslosenquote 2003 (%)
Kommunale Steuereinnahmen/EW (€)
Ant. hochqual. Beschäftigter 2003 (%)
Ant. Mehrpers.-haush. m. Kind. 2003 (%)
Cluster 3: Schrumpfende und alternde
ostdeutsche Großstädte
Rückbau
Programm
Landesrückbauprogramm
Landesrückbauprogramm
Stadtumbau Ost
Stadtumbau Ost
Stadtumbau Ost
Gesamt
Wert
-16,7
44,1
1,2
-15,7
25,5
335,4
14,4
26,1
Leerstand
Zeitraum
2001
2002
2003
2004
2005
2001 - 2005
bis 2007
Rückbau
215 WE
172 WE
1.398 WE
2.832 WE
2.255 WE
6.870 WE
9.118 WE
Schwerpunktgebiete Stadtumbau
Großwohnsiedlungen:
Halle-Neustadt: ca. 50.000 EW
Halle-Silberhöhe: ca. 15.000 EW
Stadtumbauprojekte
Waldstadt Silberhöhe: Forstfläche und Stadtwald
Innenstadt: Stadtteilpark Thüringer Bahnhof
Halle-Neustadt: Anwohnergärten und Kurzumtriebsplantage
Stadtumbaurelevante „Großereignisse”
Referenzstandort Projekt „Shrinking Cities”
IBA Stadtumbau des Landes Sachsen-Anhalt "Balanceakt
Doppelstadt"
Bewerbung um Kulturhauptstadt Europas 2010 "Halle verändert" (2006)
ExWoSt-Projekt "Stadtquartiere im Umbruch" (2005-2007)
1200-Jahrfeier
Zeitraum
2001
2002
2003
2004
2005
2007
Leerstand
29.176 WE
30.178 WE
29.943 WE
26.065 WE
24.930 WE
23.600 WE
relativ
19 %
20 %
20 %
17 %
17 %
16 %
Verwaltungsaufbau
Geschäftsbereich II
Planen, Bauen, Straßenverkehr
Fachbereich
Grünflächen
Fachbereich Stadtentwicklung
und -planung
Ressort Stadtentwicklung
Team Grünordnung und
Landschaftsplanung
Geschäftsbereich III
Ordnung, Sicherheit, Umwelt, Sport
Fachbereich
Umwelt
57
A.3 Vorgehen
Leipzig
Einwohner (31.12.2007): 510.512 / Fläche: 29.735 ha
Karte: Franziska Schoder
Kartengrundlage: TK 50-V, 2006
© Bundesamt für Kartographie und Geodäsie
Formelle Instrumente
(gesamtstädtisch)
Flächennutzungsplan (1994, Fortschreibung aktuell)
Landschaftsplan (2001, Fortschreibung aktuell)
Informelle Instrumente
(gesamtstädtisch)
Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung (STEP W+S):
Teilplan Wohnungsbau (1997, Fortschreibung 2006); Teilplan Stadterneuerung (2000, Fortschreibung 2003, 2006); Teilplan Großsiedlungen (2002)
Stadtentwicklungsplan Zentren (1999, Fortschreibung 2008)
Stadtentwicklungsplan Gewerbliche Bauflächen (1999, Fortschreibung 2005)
Stadtentwicklungsplan Verkehr und Öffentlicher Raum (2003)
Beitrag zum Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ (2002)
Planwerk Stadtraum Leipzig (2006)
Stadtentwicklungskonzept (SEKo; 2007-2008 Erstellung)
58
A.3 Vorgehen
Leipzig
Teilstädtische Konzepte
und Instrumente
Stadtumbauschwerpunkt Leipziger Westen
Konzeptioneller Stadtteilplan Leipziger Westen (KSP West) (2005)
Stadtumbauschwerpunkt Leipziger Osten
Sanierungskonzept Neustädter Markt (1999); KSP LeO Planungshandbuch
(2001); Machbarkeitsstudie Rietzschkeband (2002); Konzeptioneller Stadtteilplan Leipziger Osten (KSP Ost) (2005)
Stadtumbauschwerpunkt Leipzig-Grünau
Stadtteilplanung (1996); Voruntersuchung Sanierungsgebiet (2002); Sanierungssatzung (2003); Projekt Alte Salzstraße (2004); Entwicklungsstrategie
2020 (2007)
Statistische Daten
Indikatoren BBR INKAR 2006
Wert
Bevölkerungsentwicklung 1995-2004 (%)
-4,5
Gesamtwanderungssaldo 2004 (je 1000 EW)
7,9
Kaufkraft 2004 (€)
1204
Realsteuerkraft 2004 (€)
56
Arbeitslosenquote 2005 (%)
23
Arbeitsplatzentwicklung 1995-2004 (%)
-17,4
Bevölkerungsprognose 2020 (2002 = 100)
93,1
Indikatoren Bertelsmannstiftung
Wert
Bevölkerungsentwicklung 2003-2020 (%)
1,8
Medianalter 2020 (Jahre)
44,3
Arbeitsplatzzentralität 2003
1,3
Arbeitsplatzentwicklung 1998-2003 (%)
-6,7
Arbeitslosenquote 2003 (%)
23,6
Kommunale Steuereinnahmen/EW (€)
474,5
Ant. hochqual. Beschäftigter 2003 (%)
17,0
Ant. Mehrpers.-haush. m. Kind. 2003 (%)
22,8
Cluster 6: Aufstrebende ostdeutsche
Großstädte mit Wachstumspotenzialen
Rückbau
Programm
Landesrückbauprogramm
Stadtumbau Ost
Stadtumbau Ost
Stadtumbau Ost
Gesamt
Zeitraum
2001/ 2002
2003
2004
2005
2001 - 2005
Rückbau
945 WE
1.183 WE
1.632 WE
2.670 WE
6.430 WE
Davon Plattenbau
750 WE
342 WE
1.371 WE
2.018 WE
4.481 WE
Davon Altbauten
195 WE
841 WE
261 WE
652 WE
1.949 WE
59
A.3 Vorgehen
Leipzig
Verwaltungsaufbau
Leerstand (Stadt Leipzig 2007)
Zeitraum
1995
2000
2002
2003
2004
2005
2006
Leerstand
38.500 WE
62.500 WE
55.000 WE
51.000 WE
50.000 WE
45.000 WE
40.000 WE
relativ
17 %
Dezernat III
Dezernat VI
Umwelt, Ordnung, Sport
Stadtentwicklung und Bau
Amt für Umweltschutz (AfU)
Amt für Stadterneuerung u.
Wohnungsbauförderung (ASW)
13 %
Grünflächenamt (GFA)
Stadtplanungsamt (SPA)
Abteilung Planung
Abteilung Generelle Planung
Sachgebiet Landschafts- und
Grünordnungsplanung
Schwerpunktgebiete
Stadtumbau
Großwohnsiedlung Grünau:
ca. 48.000 EW
Altbauquartiere Leipziger Osten: ca. 30.000 EW
Mischgebiet Leipziger Westen:
ca. 36.000 EW
Stadtumbauprojekte
Leipziger Osten:
Grünes Rietzschkeband (Dunkler Wald, Lichter Hain); Stadteilparks (Rabet, LeneVoigt-Park)
Leipziger Westen:
Stadtteilparks (Henriettenpark, Plagwitz); Anwohnergärten
Grünau:
Wohnfolgelandschaft Paunsdorf: Grüner Bogen
Stadtumbaurelevante
„Großereignisse“
Plagwitz als Außenstandort der EXPO 2000
Bewerbung Olympische Sommerspiele 2012 (2004)
Referenzstandort Projekt „Shrinking Cities”
Projekt LHASA – Large Housing Areas Stabilisation Action (Interreg IIIb), Grünau
als Referenzstandort
60
B Aktuelle Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
B
Aktuelle Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten
Der Paradigmenwechsel von einer wachsenden zu einer schrumpfenden Stadt in all
ihren Facetten wirkt sich auch auf den Freiraumbestand und die -entwicklung aus.
Inhalt des ersten Teils der Arbeit ist die Beschreibung der gegenwärtigen Situation der
städtischen Freiraumplanung der zu erwartenden Rahmenbedingungen in schrumpfenden Städten. Generell kann zwischen Veränderungen hinsichtlich des Flächenangebotes (quantitativ) und qualitativer Rahmenbedingungen und Anforderungen unterschieden werden. Dabei sind die Auswirkungen auf den Freiraumbestand und die
Freiraumentwicklung sowie die Bedeutung für die Freiraumplanung sehr vielschichtig.
Ziel ist es, grundlegende Veränderungen der Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung zu identifizieren. Diese können einerseits Ursachen oder Triebkräfte für einen
Bedeutungswandel der Freiräume in den Städten darstellen. Andererseits können sie
auch Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten bedeuten. In den folgenden Kapiteln sollen diese Wirkungen der Schrumpfungsprozesse auf die gebaute Stadt hinsichtlich der Freiraumentwicklung beschrieben werden. Weiterhin werden die Schrumpfungsauswirkungen auf die ökonomischen, sozialen und administrativen Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung erörtert.
Die Komponenten des demografischen und gesellschaftlichen Wandels wirken sich auf
die Freiraumnutzung und -gestaltung aus. Eine geringer werdende Bevölkerung und
Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur wirken sich auf die Nutzungsintensität
städtischer Freiräume aus. Ebenso können veränderte Anforderungen an Freiräume
festgestellt werden, die sich in einem Nutzungswandel von Freiräumen widerspiegeln.
Dies bedeutet zum einen Gestaltungsbedarf und zum anderen auch Gestaltungspotenziale für die Freiraumplanung (Kapitel B.1).
Die Gestaltungsoptionen der Freiraumplanung hängen eng mit den planerischen Reaktionen auf die räumlichen Schrumpfungsprozesse zusammen. Die Umsetzung des
Stadtumbaus, die strategische Ausrichtung, die Gestaltung des Prozesses sowie die
Planungsparadigmen beeinflussen den Stadtumbau und die daraus folgenden Spielräume der Freiraumplanung (Kapitel B.2).
Die räumlichen Wirkungen der Schrumpfung äußern sich in Veränderungen der städtischen Flächennutzungsstruktur. Diese ist durch zwei parallele Entwicklungen geprägt:
Dem Freiflächenzuwachs im Innenbereich der Städte durch Rückbau und fehlende
bauliche Nachnutzung steht eine Flächeninanspruchnahme durch weitere Suburbanisierung gegenüber (Kapitel B.3).
Die Verfügbarkeit der Flächen ist von den rechtlichen Rahmenbedingungen abhängig.
Das Städtebaurecht, das Naturschutzrecht, das Eigentums- und Baurecht und nicht
zuletzt die Regelungen zum Stadtumbau stellen, insbesondere hinsichtlich der Not-
61
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
wendigkeiten, aber auch Grenzen der Freiraumplanung, unbedingt zu beachtenden
Randbedingungen dar (Kapitel B.4).
Zentrale Stellschraube im Stadtumbau, insbesondere hinsichtlich der freiraumplanerischen Optionen, ist der Umgang mit Bodenwerten. Von essentieller Bedeutung ist die
Frage nach dem Bodenwert von Grünflächen und Freiräumen in der Stadt, vor allem in
Bezug auf die Handlungsinteressen privaten Eigentümer (Kapitel B.5).
Für die letztendliche Umsetzung freiraumplanerischer Maßnahmen stellen die ökonomischen Rahmenbedingungen wesentliche Stellschrauben dar. Die Problematik der
Finanzierung öffentlicher Freiräume in Zeiten des demografischen Wandels und
schwieriger Haushaltslagen setzt der Gestaltung des Stadtumbaus Grenzen (Kapitel B.6).
1
Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Die demografischen Faktoren stellen in Ostdeutschland den Kern der Schrumpfungsproblematik dar (Bürkner 2001, S. 44). So sind sie von besonderem Interesse im Hinblick auf die räumlichen Auswirkungen der Schrumpfung und die Rahmenbedingungen für die Freiraumentwicklung. Schrumpfung ist dabei einerseits eine Komponente
(im Sinne einer Wirkung) des demografischen Wandels. Andererseits können
Schrumpfungsprozesse (im umfassenden Sinne) den demografischen Wandel im Hinblick auf Wanderungsbewegungen auch beeinflussen und verstärken: „Die Prozesse
des demographischen (!) Wandels laufen – verursacht und verursachend – in oft enger
Verflechtung mit anderen, vor allem ökonomischen Entwicklungen ab“ (Mäding 2003,
S. 64).
In einem engen Verständnis wird demografischer Wandel18 als die Schrumpfung und
Alterung der Bevölkerung in Deutschland definiert.19 Dies sind unbestritten die wichtigsten Komponenten des demografischen Wandels – in dieser Arbeit sollen auch noch
weitere Aspekte demografischer Veränderungen betrachtet werden. Neben der quantitativen Entwicklung der Bevölkerung sind es Veränderungen der Lebensstile und
Wandlungen der Arbeits- und Lebenswelt, welche in veränderten Bedürfnissen an
Wohnen und Freiraum resultieren und zu neuen Anforderungen an die Funktion und
18
Demografie beschäftigt sich mit der Zahl und mit den Strukturmerkmalen der Bevölkerung und
deren Verteilung im Raum sowie mit den Faktoren, die für Veränderungen verantwortlich sind (BiB
2004, S. 7). Bevölkerungswissenschaft wird etwas weiter definiert: „Bevölkerung wird hier in den
Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse gestellt. Untersucht werden die vielfachen Wechselwirkungen zwischen der Bevölkerung und anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Wirtschaft, Politik,
Technik, soziale Sicherungssysteme oder Umwelt“ (ebd., S. 7).
19
Aktion „Demographischer Wandel“ als Leitprojekt der Bertelsmann
http://www.aktion 2050.de am 17.05.05; Bertelsmann Stiftung 2006
Stiftung
unter
62
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Gestalt von Freiräumen führen können. Dies ist nicht unmittelbar bzw. ausschließlich
eine Folge von Schrumpfung, stellt aber eine Veränderung der Rahmenbedingung im
Hinblick auf Stadt- und Freiraumentwicklung generell dar und soll in diesem Zusammenhang mit betrachtet werden. Dieses umfassende Verständnis wird auch unter dem
Begriff soziodemografischer Wandel subsumiert (Müller et al. 2007, S. 25 ff.): Neben
Veränderungen der Gesamtzahl und Altersstruktur werden darunter auch Veränderungen der sozialen und kulturelleren Struktur der Bevölkerung verstanden.
Die Wirkungen des demografischen Wandels werden als tiefgreifend und alle Lebensbereiche betreffend beschrieben (Frevel 2004, S. 7). Aus stadtplanerischer Sicht sind es
sowohl die veränderten quantitativen als auch qualitativen Ansprüche an das Wohnen
und damit auch an den Freiraum (Pahl-Weber 2003, S. 619), an Mobilität sowie Verund Entsorgung (Kilper, Müller 2005, S. 40), die es notwendig machen, sich mit dem
demografischen Wandel auseinanderzusetzen.
Die Folgen der demografischen Prozesse sowohl auf die Stadtentwicklung als auch auf
Umwelt und Naturschutz20 stehen dabei eher im Fokus der Forschung – eine explizite
und ausführliche Auseinandersetzung mit den Auswirkungen auf die städtische Freiraumentwicklung fehlt bisher.21 Aus Sicht der Planungspraxis gibt es unterschiedliche
Zusammenhänge zwischen der demografischen Entwicklung in einer Stadt und Aspekten der Freiraum- und Umweltplanung:
‚ Planungsentscheidungen müssen sich ändernde Nutzergruppen und -bedürfnisse
(insbesondere Kinder und Jugendliche sowie Senioren) berücksichtigen.
‚ Schrumpfungsbedingter Flächenzuwachs auf der einen Seite und zurückgehende
Einwohnerdichten auf der anderen Seite erfordern neue Flächennutzungstypen in
schrumpfenden Städten.
‚ Freiraumentwicklung kann als Steuerungsinstrument der Lebens- und Umweltqualität die Entscheidung für oder gegen (Wohn-)Standorte bzw. Städte beeinflussen,
wobei die Nutzungs- und Gestaltungsintensität auch von der demografischen Entwicklung abhängt.
20
Zu Auswirkungen des demografischen Wandels auf Belange des Naturschutzes siehe z. B. Heiland
2007; Wolf, Appel-Kummer 2005; Robinet 2007.
21
Beispielsweise benennt MÄDING dezidiert Auswirkungen demografischer Prozesse auf einzelne
Aspekte der Stadtentwicklung und der Stadtgestalt, wobei die Auswirkungen auf die Freiraumentwicklung weitestgehend unklar bleiben (Mäding 2004a, S. 154). Im Ressortbericht zu den „Herausforderungen des demographischen Wandels für die Raumentwicklung in Deutschland“
(BMVBW, BBR 2004) werden unterschiedliche Handlungsfelder, auch der Stadtentwicklung bzw.
des Städtebaus, angesprochen, explizite Hinweise auf Fragen der städtischen Freiraumplanung gibt
es nicht. In einem aktuellen Kommissionsbericht zu den Chancen der vor uns liegenden demografischen Entwicklung für die Wohnungs- und Städtepolitik wird auf Fragen der Freiraumplanung nur
in Zusammenhang mit Zwischennutzungen im Bereich der Stadtentwicklung und Immobilienwirtschaft eingegangen (DV 2007, S. 84).
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Im Folgenden werden, basierend auf der Beschreibung der Auswirkungen des demografischen Wandels (Kapitel B.1.1), die Wirkungen dieser demografischen Veränderungen auf die Freiräume bzw. die Freiraumplanung dargestellt (Kapitel B.1.2). Die
Ursachen und einzelnen Komponenten des demografischen Wandels sowie entsprechende statistische Grundlagen und Auswertungen sind für Deutschland in großem
Umfang vorhanden. An dieser Stelle wird mit Verweis auf zahlreiche Publikationen auf
eine ausführliche Darstellung verzichtet.
1.1
Komponenten des demografischen und gesellschaftlichen Wandels
Die Entwicklung der demografischen Komponenten hängt von unterschiedlichen Bestimmungsfaktoren ab. Die Bevölkerungszahl22 wird durch die Bestandsgröße, die
natürliche Entwicklung und durch Wanderungen bestimmt. Im Hinblick auf das in
dieser Arbeit zu Grunde liegende umfassende Verständnis des demografischen Wandels sollen an dieser Stelle auch die Aspekte des gesellschaftlichen Wandels beschrieben werden. Der soziale Wandel steht für einen Veränderungsprozess einer Gesellschaft, der sich auf allen Ebenen dieser widerspiegelt. Dabei lassen sich verschiedene
Grundtrends ausmachen: gesellschaftlicher Wandel durch die Ausbildung einer Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft, einer Wissens- und Bildungsgesellschaft und einer
industriellen Dienstleistungsgesellschaft; Lockerung, Pluralisierung und Mobilisierung
der Schichten, aber keine Auflösung des Gefüges; neue Formen des familiären Zusammenlebens; demografischer Wandel durch Geburtenrückgang, steigende Lebenserwartung und Alterung; Einwanderungs- und multiethnische Gesellschaft (Geißler
2002, S. 436 ff.).
MÄDING beschreibt als Teilprozesse des demografischen Wandels: Schrumpfung,
Heterogenisierung, Alterung und Vereinzelung der Bevölkerung. Alterung und Vereinzelung treffen aktuell dabei auf gesamtdeutscher Ebene zu. Die rapide Schrumpfung
von Bevölkerung ist größtenteils (noch) ein Problem ostdeutscher Städte, während die
Heterogenisierung ein schon länger bekanntes und derzeit vor allem ein westdeutsches
Phänomen ist. Zusammenfassend wird die künftige Bevölkerung: weniger, bunter und
älter (Mäding 2003, S. 63 ff.). Das zuständige Bundesministerium bzw. die Fachbehörde benennt drei zentrale Trends des demografischen Wandels: Bevölkerungsabnahme,
Alterung und Anstieg des Bevölkerungsanteils mit Migrationshintergrund (BMVBW,
BBR 2004). Neben dem ethnisch-kulturellen, ist ein anderer Aspekt der
Heterogenisierung die zunehmende Unterschiedlichkeit und Vielzahl unterschiedlicher
Lebensformen, die die Gesellschaft insgesamt heterogener erscheinen lässt.
22
Die Bevölkerungszahl ist eine wirtschaftsgeografische Größe und aus demografischer Sicht ein
Indikator, der Auswirkungen bevölkerungsrelevanter Prozesse sichtbar macht (Statistisches Bundesamt 2003a, S. 26).
63
64
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Die Abbildung 4 zeigt die einzelnen Komponenten des demografischen und gesellschaftlichen Wandels und ihre Wirkungen auf die künftige Bevölkerung.
Natürlicher Saldo
(Geburtendefizite)
abso
v
abso
relati
lut
Steigende Lebenserwartung
lut
Gesellschaftlicher
Wandel
älter
Künftige Bevölkerung
weniger
bunter
regio
nal
Demografischer
Wandel
Binnenwanderung
Vereinzelung
Individualisierung
Wandel der ArbeitsPIuralisierung und Lebenswelten
Heterogenisierung
Außenwanderung
Wanderungssaldo
Abbildung 4: Ursachen und Wirkungen des demografischen und gesellschaftlichen Wandels
(Eigene Darstellung).
1.1.1 Schrumpfung23
Eine Bevölkerung schrumpft dann, wenn die „Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten übersteigt und das Geburtendefizit nicht durch Zuwanderung kompensiert werden
kann“ (Statistisches Bundesamt 2003b, S. 26). Durch niedrige Geburtenraten kommt
es zu Sterbeüberschüssen und es gibt einen quantitativen Bevölkerungsrückgang. Die
natürliche Bevölkerungsentwicklung ist demnach gleichermaßen Ursache und Wirkung
von Schrumpfung. Parallel verändert sich dadurch – gekoppelt mit steigender Lebenserwartung – die Altersstruktur der Bevölkerung. Zusätzlich besteht die Gefahr eines
zirkulär-kumulativen Prozesses in Form einer Abwärtsspirale: Schrumpfung führt zu
Leerstand von Wohngebäuden – es droht ein Attraktivitätsverlust des Quartiers, der
sich in Segregation äußert und weitere Schrumpfung nach sich ziehen kann (Mäding
2003, S. 68).
Der Rückgang der städtischen Bevölkerung ist kein neues und ebenso kein spezifisches
ostdeutsches Problem (Bürkner 2001, S. 43). Schon früh wurde erkannt, dass
Schrumpfungsprozesse nicht rein demografischen Ursprungs sind, sondern immer im
Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen zu betrachten sind (Häußermann, Siebel 1988). In den altindustrialisierten Regionen der
früheren BRD wurden seit den 1960er Jahren Bevölkerungsverluste durch den Rück-
23
Der Begriff bezieht sich hier explizit auf die Abnahme der Bevölkerung und nicht auf das umfassende Verständnis der Stadtschrumpfung (Kapitel A.1.3).
65
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
gang von Arbeitsplätzen und den einsetzenden Strukturwandel verzeichnet
(Gatzweiler, Strubelt 1988, S. 198). Neben dem Bevölkerungsrückgang wurde auch
Alterung bereits Ende der 1980er Jahre beschrieben und damals als die künftigen Herausforderungen der Stadtentwicklung identifiziert (ebd., S. 211 f.; Birg 2003, S. 6).
Im Jahr 1948 lebten im Gebiet der damaligen DDR ca. 19 Mio. Menschen. Durch
starke Abwanderung in die BRD kam es bis zur strengen Abriegelung des Gebietes zu
einem Rückgang der Bevölkerung auf 17,1 Mio. Menschen im Jahr 1961. Im Jahr
1973 sank die Bevölkerungszahl unter 17 Mio. – verursacht vor allem durch Geburtendefizite in den 1970er Jahren. 1989 wurde diese Entwicklung durch die Massenflucht
beschleunigt und Ende 1990 lebten im Gebiet der ehemaligen DDR nur noch 16 Mio.
Einwohner.24 Heute leben in den Neuen Bundesländern noch ca. 13,5 Mio. Menschen
(Zahl ohne Berlin, Berlin: ca. 3,4 Mio. Menschen).25
Schrumpfung tritt in den ostdeutschen Kommunen fast flächendeckend auf: ca. 83 %
wiesen zwischen 2000 und 2005 Bevölkerungsverluste auf. Künftig werden sich daneben einige Wachstumsinseln (Berlin/Potsdam, Dresden, Leipzig, thüringische Städtereihe) gegen den Trend behaupten können (Herfert 2007, S. 436 ff.). Die Einwohnerentwicklung zwischen 1995 und 2004 in den kreisfreien Städten der Neuen Bundesländer ist in Abbildung 5 dargestellt.
Weimar 3.8%
Jena 1.4%
Potsdam -0.6%
Dresden -2.4%
Berlin -2.4%
Eisenach -3.1%
Erfurt -4.1%
Leipzig -4,5%
Plauen -6.4%
Wismar -9.8%
Stralsund -10.8%
Zwickau -11.0%
Magdeburg -12.0%
Rostock -12.5%
Greifswald -13.3%
Brandenburg -13.7%
Chemnitz -14,2%
Görlitz -14.6%
Gera -14.9%
Dessau -14.9%
Neubrandenburg -14.9%
Schwerin -15.3%
Halle/Saale -15,7%
Cottbus -17.3%
Suhl -18.5%
Frankfurt/Oder -19.3%
Hoyerswerda -26.9%
Abbildung 5: Bevölkerungsentwicklung in den kreisfreien Städten Ostdeutschlands 1995-2004
(Eigene Darstellung nach Daten des BBR, INKAR 2006d).
24
http://www.schader-stiftung.de/gesellschaft_wandel/420.php#grafiken am 22.04.05
25
Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden (2004); http://www.destatis.de am 22.04.05
66
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Seit dem Jahr 2003 sinkt die Bevölkerungszahl Deutschlands, da Wanderungen die
Geburtendefizite nicht mehr ausgleichen können. Die aktuelle Schrumpfungsproblematik in Deutschland wird dahin gehend verschärft, dass die Geburtendefizite nicht
mehr durch Zuwanderung – setzt man heute vorstellbare Maßstäbe der Zuwanderung
an – kompensiert werden können, bzw. in Ostdeutschland dies noch nie stattgefunden
hat. Alle 12 Varianten der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes26 zeigen, dass der Trend der Bevölkerungsentwicklung in
Deutschland auch langfristig in Richtung Schrumpfung weist. Wie stark dieser Trend
ausfallen wird, ist schwer vorhersehbar. Derzeitige Prognosen gehen von einer Bevölkerungszahl im Jahr 2050 zwischen 74 und 69 Mio. Menschen aus (Statistisches Bundesamt 2006, S. 14 f.).
Wenn die Bevölkerungsabnahme schneller abläuft als die Verkleinerung der Haushalte
bzw. der damit verbundene Anstieg der Wohnflächeninanspruchnahme pro Einwohner, verringert sich die Zahl der Haushalte und führt zu Wohnungsleerstand (Mäding
2004a, S. 152). Für Westdeutschland ist dies auch künftig nicht zu erwarten – im Gegenteil, es wird trotz Rückgang der Bevölkerungszahl von einem Anstieg der Zahl der
Privathaushalte ausgegangen. In Ostdeutschland wird sich die prognostizierte Bevölkerungsabnahme von weiteren 10 % bis 2020 durchschnittlich in einer Verringerung der
Zahl der Haushalte von 5 % äußern (Statistisches Bundesamt 2007a, S. 30 ff.).
Schrumpfung wird erst dann zum Problem für den Stadtraum und zur Herausforderung für die Freiraumplanung, wenn sich die abnehmende Bevölkerung auf das Volumen und die räumliche Verteilung der Wohnraumnachfrage27 auswirkt. Wird auf die
aus mangelnder Nachfrage resultierenden Leerstände mit Abriss reagiert, so bedeutet
das quantitativ neue Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung (Kapitel B.3).
1.1.2 Alterung
Von vielen Seiten wird das Thema Alterung als die eigentliche demografische Herausforderung betrachtet (Straubhaar 2004, S. 117): „Das Altern der Bevölkerung be-
26
„Ende 2005 lebten in Deutschland 82,4 Millionen Menschen. Unter der Annahme einer fast konstanten Geburtenhäufigkeit, eines Anstiegs der Lebenserwartung der Männer um 7,6 und der
Frauen um 6,5 Jahre und eines Wanderungssaldos von 100.000 Personen („mittlere“ Bevölkerung,
Untergrenze) wird die Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2050 auf knapp 69 Millionen zurückgehen.
Damit wird sie etwa 14 Millionen unter dem heutigen Stand liegen und das Niveau des Jahres
1950 leicht unterschreiten. Ein höherer Wanderungssaldo („mittlere“ Bevölkerung, Obergrenze)
wird für einen langsameren Rückgang sorgen: Im Jahr 2050 werden danach 74 Millionen Menschen in Deutschland leben. Die Bevölkerung wird im Zeitraum von 2005 bis 2050 also zwischen
10 % beziehungsweise 17 % zurückgehen, wenn sich die aktuelle demografische Entwicklung
nicht grundlegend ändert“ (Statistisches Bundesamt 2006, S. 15).
27
Neben der Zahl der Privathaushalte und deren Alters- und Größenstruktur wird die Wohnraumnachfrage beeinflusst von dem für Wohnen verfügbaren Einkommen und den individuellen Wohnpräferenzen. Insofern kann man die Zahl der Haushalte nicht mit der nachgefragten Wohnungszahl gleichsetzen (http://www.schader-stiftung.de am 27.03.2008).
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
schreibt den Wandel in der Altersstruktur der Bevölkerung, die beschleunigte Zunahme
des Anteils der Älteren gegenüber den Jüngeren. Es geht also nicht nur um eine Zunahme der Zahl älterer Menschen, sondern um Anteilsverschiebungen“ (BiB 2004,
S. 9). Alterung findet statt, wenn die jüngeren Altersgruppen zahlenmäßig kleiner
werden oder langsamer wachsen als die älteren. Es ist das Ergebnis langfristiger Veränderungen der Geburtenzahlen und der Sterblichkeit.28
Das „Altern der Bevölkerung“ ist ein „globaler, langsam und langfristig verlaufender
Wandel in einigen grundlegenden demografischen Verhaltensmustern“. Der Prozess
begann in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und wird sich auch im
21. Jahrhundert in allen Ländern dieser Welt in unterschiedlichem Ausmaß fortsetzen
(ebd., S. 9; Gans, Leibert 2007). Die Zahl der Einwohner unter 20 Jahren geht bereits
seit Mitte der 1970er Jahre stetig zurück und schon in den 1980er Jahren zeichneten
sich gravierende altersstrukturelle Verschiebungen und eine Überalterung der Gesellschaft ab (Gatzweiler, Strubelt 1988, S. 202): 1960 lag der Anteil der über 60-Jährigen
an der Gesellschaft bei 17 %, 2003 bei 22 % und für das Jahr 2050 wird ein Anteil
von 35-40 % prognostiziert (Münz 2003, S. 38). BIRG spricht für die Entwicklungen
bis 2050 von einer „Bevölkerungsexplosion“ der Älteren und einer „Bevölkerungsimplosion“ der Jüngeren. Im Jahr 2050 wird es so viele Menschen über 80 geben wie
unter 20 Jahren (Birg 2003, S. 11). Global betrachtet, wird sich bis 2050 der Anteil der
über 60-Jährigen Menschen29 von aktuell 10 % der Bevölkerung verdoppeln (Wagner
2004, S. 38). Dabei können ältere Menschen zwar rein statistisch zusammengefasst
werden – im Hinblick auf Bildung, Einkommen, geschlechtsspezifische Merkmale, Wertehaltungen, Interessen, Integration, Gesundheit usw. sind sie aber eine sehr heterogene Gruppe (Stiehr 2004, S. 90).30 Dies muss auch hinsichtlich der Wirkungen im
Stadtraum beachtet werden. Die Beziehungen zwischen Altersstruktur und Siedlungsstruktur sind vielfältig (BiB 2004, S. 65):
‚ Stadt-Umland-Wanderungen, insbesondere junger Familien, in Verbindung mit
fehlendem Zuzug Jüngerer führen zu einer beschleunigten Alterung der Innenstädte.
‚ Ältere Menschen sind immobiler, haben somit ein eingeschränktes Wanderpotenzial
und sind oft eng an ihre Wohnstandorte gebunden.
28
Man unterscheidet das fertilitätsgeleitete Altern der Bevölkerung – verursacht durch Geburtenrückgänge – und das mortalitätsgeleitete Altern – verursacht durch den kontinuierlichen Anstieg
der Lebenserwartung (BiB 2004, S. 9).
29
Altenquotient: Verhältnis zwischen der Zahl der über 60-Jährigen und 100 Personen in der mittleren Altersgruppe zwischen 20 und 60 Jahren.
30
Eine eindeutige Definition „alter Menschen“ gibt es nicht – sie unterscheidet sich beispielsweise
von biologischen (und damit individuellen), arbeitsmarktorientierten und anderen gesellschaftlichen
Sichtweisen.
67
68
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
‚ Ältere Menschen haben eher Wohnpräferenzen für die Innenstadt bzw. sind auf
diese angewiesen.
‚ Durch den weiter anhaltenden Trend zu Single-Haushalten und deren Wohnpräferenzen für die Innenstadt verlieren Stadt-Umland-Wanderungen an Bedeutung.
Es wird davon ausgegangen, dass Alterung zu einer flächendeckenden Erscheinung
wird. Umso mehr sind die künftigen Wohnstandortentscheidungen der alten Menschen von Bedeutung: Wenn aufgrund der besseren sozialen und Verkehrsinfrastruktur
künftig vermehrt die Innenstädte von dieser Bevölkerungsgruppe als Wohnstandort
bevorzugt werden, heißt das auch, dass entsprechende Freiraumangebote in diesen
Quartieren nachgefragt werden.
1.1.3 Heterogenisierung
Die auch künftig zu erwartende internationale Zuwanderung führt zu einer zunehmenden ethnisch-kulturellen Heterogenisierung – das heißt Verschiedenheit der Einwohner – der in Deutschland lebenden Bevölkerung (Hullen 2004, S. 15). Dies ist in
der wachsenden Heterogenität der Zuwanderer hinsichtlich der Herkunftsländer, Nationalitäten sowie ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten begründet (Mäding 2003,
S. 63).
Der Anteil von Ausländern an der Wohnbevölkerung in den Bundesländern ist regional
sehr unterschiedlich.31 So liegt der Anteil in den Neuen Bundesländern (ohne Berlin) bei
lediglich 1,9 %, während in den Alten Bundesländern etwa jeder zehnte Einwohner
Ausländer ist – wobei die Verteilung auch dort sehr unterschiedlich ist. Insgesamt leben
25 % der Ausländer in Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern (gegenüber 12 %
bei Deutschen).32 Die Zahl der ausländischen Bürger in Deutschland wird dabei nicht
nur durch Wanderungen bestimmt, sondern auch durch die Zahl der Geburten in
Deutschland (zweite und dritte Migrantengeneration), Todesfälle von Ausländern in
Deutschland sowie Einbürgerungen beeinflusst. Die Struktur der Herkunftsländer ist
heute wesentlich vielfältiger als noch zu Zeiten der so genannten „Gastarbeiterwanderungen“. Dies kann insbesondere für die Neuen Bundesländer gelten, deren ausländische Bevölkerung sich durch eine höhere Diversität auszeichnet (Kemper 2007, S. 35).
31
Da soziale und kulturelle Heterogenisierung statistisch kaum abgebildet werden kann, wird in der
Regel auf den Indikator des Ausländeranteils zurückgegriffen (Müller et al. 2007, S. 50). Wenngleich diese Methode – im Hinblick der Abbildung von Einbürgerung, in Deutschland geborener
Kinder ausländischer Eltern und Spätaussiedlern – auch kritisch gesehen wird. So ergibt sich für das
Jahr 2005 eine Differenz zwischen Ausländerstatistik (Ausländeranteil 9 %) und Mikrozensus (Bevölkerung mit Migrationshintergrund 19 %) (Kemper 2007, S. 32). Die Heterogenisierung nur über
den Ausländeranteil abbilden zu wollen, wäre somit zu kurz gegriffen. Für die Bevölkerung mit
Migrationshintergrund fehlen regionalisierte Daten, so muss auch weiterhin auf den Indikator Ausländeranteil zurückgegriffen werden. Allerdings sind auch diese Zahlen sehr unterschiedlich je nach
der erhebenden Institution (ebd., S. 32 ff.).
32
http://www.zuwanderung.de/1_statistik.html am 19.04.05
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Dementsprechend „bunter“ sind die kulturellen, ethnischen und religiösen Einflüsse
und damit auch die gelebten und vermittelten Werte und Normen.
Der Ausländeranteil in den Städten der Neuen Bundesländer ist – historisch bedingt –
vergleichsweise gering.33 Insofern ist zumindest für die nahe Zukunft zu erwarten, dass
sich der Faktor Heterogenisierung nur wenig bzw. teilräumlich in den schrumpfenden
Städten Ostdeutschlands auswirkt. Eine Folge kann verstärkte räumliche Segregation
sein. Die räumliche Ballung jeweiliger Bevölkerungsgruppen in Quartieren wirkt sich
auch auf die Nutzung des öffentlichen (Frei-) Raums aus. Verschiedene Bedürfnisse
und Verhaltensmuster benötigen teilweise auch unterschiedliche Freiraumangebote
bzw. Nutzungsmöglichkeiten.
1.1.4 Individualisierung
Die Individualisierung ist als Bestandteil und Folge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses und als Grundlage individueller Freiheit und Selbstverwirklichung zu
verstehen (BECK in Schöbel 2003b, S. 74; Nohl 2002, S. 10). Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wird unter Individualisierung der Bedeutungsverlust traditioneller
Institutionen für die Ausrichtung des Lebensverlaufs verstanden. Der Prozess geht mit
einer Deinstitutionalisierung einher, womit das individuelle Handeln selbstbestimmter
wird und weniger an den Vorgaben sozialer Institutionen (z. B. Ehe und Familie) ausgerichtet ist (BiB 2004, S. 70; vgl. auch Schneider, Spellerberg 1999, S. 77). Es entwickeln sich sehr unterschiedliche Lebensformen – als Muster des Zusammenlebens der
Bevölkerung im privaten Lebensbereich. Der Großteil der Bevölkerung lebt allerdings
nach wie vor in traditionellen Lebensformen – demnach ist zwar von Trends, aber nicht
von einer umfassenden Individualisierung auszugehen (BiB 2004, S. 72).
1.1.5 Vereinzelung
Die Zahl und Struktur der Haushalte als Folge demografischer Veränderungen wirken
sich entscheidend auf Stadtentwicklung aus (quantitativer und qualitativer Wohnungsbestand, Freiraumbedürfnisse). Die zu erwartende relative Zunahme von Ein-PersonenHaushalten wird als Vereinzelung beschrieben (Mäding 2003, S. 63). Sie ist dabei auch
als ein Resultat der Alterung und der Veränderung und Individualisierung der Lebensstile einzuschätzen. Besonders stark ist die Veränderung der Haushaltsstrukturen in den
Neuen Bundesländern ausgeprägt. Zwischen 1991 und 2005 ist der Anteil der EinPersonen-Haushalte von 27 % auf 37 % gestiegen. Bis 2020 wird ein weiterer Anstieg
auf 41 % prognostiziert (Statistisches Bundesamt 2007a, S. 28). Dies wirkt sich trotz
Schrumpfung zunächst dämpfend auf den Wohnungsleerstand aus.
33
Ausländeranteil Alte Bundesländer: 10,02 %, Neue Bundesländer: 1,94 %, mit Berlin: 4,49 %
(http://www.zuwanderung.de/1_statistik.html am 19.04.05)
69
70
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
1.1.6 Pluralisierung
Inwiefern sich Differenzierung und Individualisierung tatsächlich in einer Pluralisierung
der Lebensformen äußert, ist derzeit umstritten – denn die Anzahl der aktuellen Lebensformen ist relativ klein und schon länger bekannt. Allerdings kommt es durch eine
Enttraditionalisierung und die Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten und Lebensentwürfen zu vielfältigen Haushaltsformen und Lebensstilen (Schneider, Spellerberg
1999, S. 77). Inwieweit sich dieser Prozess weiter fortsetzt, ist allerdings nicht absehbar. Hierbei ist die Mehrheit der Lebensformen auf wenige Grundmuster beschränkt –
diversifiziert haben sich vor allem die kinderlosen privaten Lebensformen. Die kulturelle
Bedeutung von Familie, Partnerschaft und persönlichen Beziehungen ist nicht in Frage
gestellt – hingegen haben sich Monopolansprüche, Rollenansprüche und Realisierungsformen geändert (Meyer 2004, S. 72 f.).
1.2
Konsequenzen des demografischen und gesellschaftlichen Wandels für
die Freiraumplanung
Von vielen Autoren34 wird auf die Potenziale und Herausforderungen des demografischen Wandels bezüglich zu erwartender neuer Freiraumnutzungen hingewiesen:
„Angesichts ihrer Dimension und der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bieten diese Flächenpotenziale […] eine seltene Chance, vielfältige freiraumbezogene Nutzungen zu ermöglichen sowie aktuellen Nutzungsbedürfnissen nachzukommen und damit neue kreative Quellen zu erschließen“ (Profé, Plate 2004, S. 666).
Es stellt sich allerdings die Frage, ob es diese neuen Bedürfnisse wirklich gibt, wie sie
aussehen und wie sie sich auf neue und bestehende Freiräume auswirken.
Um Freiraum unabhängig von den demografischen Veränderungen und den Änderungen der Lebensstile zu einem „stabilen und vor allem übergreifenden Faktor der Stadtund Regionalplanung“ zu entwickeln (Daldrop-Weidmann 2004), müssen die einzelnen Aspekte des demografischen Wandels in Bezug auf die quantitative (Nutzungsintensität) und qualitative (Nutzungsvielfalt) Freiraumentwicklung genauer untersucht
werden. Es ist zu erwarten, dass in beiden Bereichen Veränderungen anstehen und
Anpassungen der Freiraumplanung notwendig werden (Übersicht Abbildung 6). Dabei
gilt zu beachten, dass „demografische Konstellationen […] in den allerseltensten Fällen
direkt kausal wirkend [sind]. Vielmehr stellen sie eher einen Rahmen dar, innerhalb
dessen der räumliche Niederschlag gesellschaftlicher Entwicklungen wahrgenommen
und interpretiert werden muss“ (Gatzweiler, Strubelt 1988, S. 220). Im Folgenden wird
erörtert, inwiefern sich aus dem demografischen Wandel auch veränderte qualitative
und quantitative Ansprüche, Veränderungen im Freiraumverhalten und in den Anfor-
34
Z. B.: Schmidt, Stock-Gruber 2007; Profé, Plate 2004; SenVerW Stadtentwicklung 2007
71
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
derungen der Bevölkerung an Freiräume und neue Formen der Aneignung und Nutzung ableiten lassen.
Wandel
Relevanz Freiräume
Komponenten
Demografie
Gesellschaft
Nutzungsintensität
(quantitative
Aspekte)
Nutzungsvielfalt
(qualitative
Aspekte)
Schrumpfung
++
–
Alterung
+
+
Vereinzelung
+
+
Heterogenisierung
–
++
Individualisierung
+
++
Pluralisierung
–
++
Abbildung 6: Aspekte des demografischen Wandels und Wirkungen für die Freiräume und auf
die Freiraumplanung (++ deutliche Auswirkungen; + leichte Auswirkungen; – geringe bis keine
Auswirkungen; Eigene Darstellung).
1.2.1 Nutzungsintensität
Ein Rückgang der Bevölkerung kann zu geringeren Nutzerdichten und Nutzungsintensitäten von Freiräumen führen, was wiederum zu einer Angebotsausdünnung bzw.
-konzentration führen kann. Je nach räumlicher Verteilung und Zusammensetzung der
örtlichen Bevölkerung kommt es zu geringeren Nutzerzahlen pro m² Freiraum.35 Abhängig von sich verändernden Nutzerpräferenzen kann auch eine Verschiebung der
Nutzungsintensitäten die Folge sein. Es gibt Annahmen darüber, dass die Freiraumnutzung in einigen Freiraumtypen intensiver wird. Beispielsweise kann der Raumbedarf
von Trendsportarten, aber auch der Bedarf wohnungsnaher Freiräume durch Überalterung größer werden (Steidle-Schwahn, Hoffmann 2005, S. 45; Becker 2003). Freiraumangebote, welche mit dem Ziel einer intensiven und spezifischen Nutzung geplant
und betrieben werden (z. B.: Spielplätze, Sportanlagen) und in dieser Form nur durch
entsprechend (hohe) Nutzerzahlen ökonomisch legitimiert sind, werden künftig nicht
mehr für alle Bewohner zu gleichen Bedingungen erreichbar sein. Fehlen nun zunehmend die Nutzer, werden die Legitimation und damit die Unterhaltung der Flächen
problematisch.
In diesem Zusammenhang ist das bisher üblicherweise verfolgte Ziel städtischer Grünplanung, eine gleichmäßige Versorgung mit den verschiedenen Freiraumangeboten
über das gesamte Stadtgebiet36 zu sichern, in Frage zu stellen (Giseke 2004, S. 671;
35
Statistische Angaben dazu sind nicht bekannt.
36
Zu Aspekten der Freiraumversorgung und der Richtwertproblematik siehe Kapitel B.4.1.2.
72
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Profé, Plate 2004). Im Gegensatz zu einer „nivellierenden“ – finanziell kaum noch
tragfähigen Freiraumversorgung, sollten die Qualitäten und Potenziale einer Verschiedenheit akzeptiert und genutzt werden (Schöbel 2003b, S. 91). Die Versorgung der
Bevölkerung mit Grünflächen mit speziellen Angeboten und entsprechender Ausstattung und Unterhaltungsintensität in angemessener Entfernung zum Wohnort wird
künftig nicht gleichwertig über das gesamte Stadtgebiet möglich sein. Hingegen ist zu
erwarten, dass extensiv gepflegte, naturnahe und wenig nutzungsspezifische Freiräume in vielen bisher evtl. auch unterversorgten Stadtgebieten einem breiteren Bevölkerungsanteil zugänglich sein werden, da von einem relativen Zuwachs von (potenziellen) Freiräumen ausgegangen werden kann (vgl. Kapitel B.3.3).
Die Verringerung des Nutzungsdrucks kann, insbesondere in stark und teilweise übernutzten Grünanlagen in bisher sehr dichten und unterversorgten Wohnvierteln, zu
einer Entlastung der Anlagen führen. Dies wiederum kann die notwendigen Unterhaltungsmaßnahmen (vor allem Müllbeseitigung und Reparaturen) verringern und gleichzeitig die ökologische Qualität der Anlagen verbessern. Beispielsweise können einzelne
Bereiche durch weniger Pflege (z. B. Verringerung der Mahdgänge) zu nutzungsberuhigten Zonen umgewandelt, und eine natürlichere Entwicklung initiiert werden. Der
Rückgang von Nutzerzahlen kann aber auch mit einem Verlust sozialer Kontrolle einhergehen. In solchen Freiräumen kann das individuelle Sicherheitsempfinden sinken,
und es besteht eine erhöhte Vandalismusgefahr.
1.2.2 Nutzungsvielfalt
Entsprechend der Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur und -zahl kommt es zur
Verschiebung der Bedürfnisse37 und damit der Anforderungen38 der Nutzer an das
Wohnen und die Freiräume (Nohl 2002). Es ist zu erwarten, dass sich dies auf die
Angebotsdichte spezieller Freiraumtypen auswirkt. Als Ergebnis der Differenzierung der
Lebensstile und der damit möglicherweise einhergehenden Vielfalt von Nutzungsansprüchen wird eine Pluralisierung von Landschaft und städtischer Freiräume erwartet
(Ipsen 2002, S. 51).
37
Zum Unterschied zwischen Bedürfnisse und Verhalten: Menschliches Verhalten ist in der Regel
vielfältig motiviert und so können auch unterschiedliche Bedürfnisse zu ein und demselben Verhalten führen. Genau so können aber ähnliche oder gleiche Bedürfnisse in unterschiedlichen Verhaltensweisen resultieren. Das Verhalten ist somit die „Befriedigungsmöglichkeit“ für das zu Grunde
liegende Bedürfnis. Wenn Bedürfnisse konkret werden und auf ein spezielles Verhalten abzielen,
kann man eher von Wünschen sprechen. Die Differenzierung von Bedürfnissen, Wünschen, den
eigenen Möglichkeiten bzw. Handlungsressourcen und Verhalten ist dementsprechend sehr wichtig für die Freiraumplanung (Tessin 2004, S. 61 f., 79).
38
Zum Freiraumverhalten spezieller Bevölkerungsgruppen gibt es Untersuchungen: Freiraumverhalten Jugendliche (Gohde-Ahrens 1998), Kinder/Mädchen (Fröhlich et al. 1997; Limbourg et al.
2000). In Bezug auf die Abhängigkeit des Freiraumverhaltens auf die Geschlechterzugehörigkeit
gibt es ebenfalls einige Erkenntnisse (Spitthöver 2006, S. 55).
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Die auf gruppenspezifischen Ansätzen basierende kompensatorische Infrastrukturplanung der 1970er und 80er Jahre wird – trotz sicher erreichter Verbesserungen der
Freiraumversorgung so genannter benachteiligter Gruppen (Frauen, Ältere, Kinder) –
zunehmend als Mittel der Verbesserung der Lebensbedingungen in Frage gestellt
(Tessin 2004, S. 91 ff.). Es wird davon ausgegangen, dass weniger die Schichtzugehörigkeit, als vielmehr das Alter (in Form der jeweiligen Lebensphase) (ebd., S. 80 f.;
Spitthöver 2006, S. 55) und die unterschiedlichen Lebensstile große Wirkungen auf
das Freiraumverhalten entfalten. TESSIN fordert in diesem Zusammenhang für die
Freiraumplanung eine Abkehr von den Paradigmen gesellschaftlicher Gruppen und
freiraumkultureller Milieus hin zu der Auseinandersetzung mit „konkreten Nutzungsarten, Aktivitätstypen, Geschmacksrichtungen und Trends“ (Tessin 2004, S. 93).
Unterschiedliche Lebensformen und -stile, deren Pluralisierung und Individualisierung
werden im Rahmen der Freizeitgestaltung und damit auch Freiraumnutzung ganz
besonders deutlich. Dabei ist von einer Differenzierung der Nutzergruppen und damit
-ansprüche zwischen Stadtrandgebieten und Innenstädten auszugehen. Da sich die
Nutzergruppen und ihre Bedürfnisse in einem stetigen Wandel befinden, müssen künftige Freiräume so beschaffen sein, dass sie den wechselnden Anforderungen gewachsen sind (Nohl 2002, S. 10 ff.). Insbesondere die Merkmale im Bereich Freizeit, Wohnstile und Alltagsästhetik lassen Schlüsse auf die Freiraumbedürfnisse und das Freiraumverhalten zu. So können Lebensstile auch ein bestimmtes sozialräumliches Gebiet charakterisieren und sich auf die Ortsbindung auswirken. Entsprechend kann das Lebensstilkonzept dazu geeignet sein, Nutzungsprobleme bzw. -potenziale zu identifizieren
und die Wohnumwelt im Sinne der Bewohnerbedürfnisse zu verbessern (Schneider,
Spellerberg 1999, S. 79). Eine Analyse im Zusammenhang mit Wohn- und Freiraumbedürfnissen und -verhalten ist Grundlage zukunftsfähiger (Freiraum-)Planung, wenngleich dazu fundierte Erkenntnisse fehlen.39 Inwiefern sich unterschiedliche Lebensstile
tatsächlich auf Freiraumverhalten oder freiraumrelevante Nutzungsmuster auswirken,
ist bisher noch nicht untersucht worden. Derart Untersuchungen gibt es bisher nur für
Wohnbedürfnisse (ebd.) und das Freizeitverhalten (Tessin 2004, S. 86). „Die [Herv. i.
Orig.] Freiraumansprüche gibt es nicht“ (Spitthöver 2006, S. 55). Der Freiraumbedarf
und die Ansprüche werden geprägt von der Gewohnheit eines jeden einzelnen Menschen (ebd., S. 55). Allerdings kann sich Schichtzugehörigkeit – vor allem wenn sie sich
in einem besonderen Wohnort widerspiegelt – in Verbindung mit einer ungleichmäßigen Verteilung von Grünflächen über das Stadtgebiet, durchaus auf die Möglichkeiten
der Nutzung von Freiräumen auswirken (Tessin 2004, S. 82 f.). Sozial besser gestellte
39
Zum Zusammenhang unterschiedlicher Lebensstile (Rückgriff auf Sinus-Milieus) mit dem Naturverständnis und dem Umweltverhalten im Alltagsleben siehe die Untersuchung von Brand et al. 2003.
Bezüglich der Zusammenhänge zwischen Wohnorten bzw. Wohnformen und der Zugehörigkeit zu
bestimmten Lebensstilgruppen gibt es einige Untersuchungen: z. B. Hradil 2001
(http://www.schader-stiftung.de am 21.12.2005).
73
74
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Einwohner stellen auch höhere Anforderungen an Qualität und Erreichbarkeit von
öffentlichen Freiräumen (Spitthöver 2006, S. 55).
Durch die Erhöhung der Menge der Freizeit wird von einem erhöhten Integrationsbedarf im Freizeitbereich und damit auch Freiraum ausgegangen (Brinkmann 2004,
S. 160). Die ökonomischen Möglichkeiten und Nutzungspräferenzen der jeweiligen
Bevölkerungsgruppen wirken sich auf die Freiraumnutzung aus (Pätzold 2007, S. 6).
Hinzu kommt, dass „… die Nutzungsansprüche an Freiraum in dem Maß zunehmen
werden, in dem die Mobilität und individuell verfügbare Freiräume durch die demografische und sozioökonomische Entwicklung eingeschränkt sind“ (Hoelscher 2004,
S. 114).
Die Heterogenisierung bezüglich der ethnischen Herkunft kann auch Auswirkungen
auf die Freiraumnutzungen entfalten. Allerdings gibt es dazu bisher kaum Untersuchungen und gesicherte Aussagen.40 Es gibt Beobachtungen, dass eine intensive Benutzung eines Freiraums durch ausländische Bevölkerung zur Verdrängung andere
Nutzer führen kann. Allerdings gibt es gleichermaßen alters- oder geschlechtsspezifische Segregationserscheinungen in Freiräumen. Problematisch wird dies, wenn nicht
genügend bzw. verschiedenartige Freiraumangebote im Wohnumfeld vorhanden sind
und so einigen Bevölkerungsgruppen eine Freiraumnutzung überhaupt nicht mehr
möglich ist. Entsprechend der unterschiedlichen Vorlieben und des Meidungsverhaltens einzelner Bewohner bzw. Bevölkerungsgruppen werden die einzelnen Freiräume
bzw. Teile davon genutzt oder auch gemieden. Dies kann auch mit multifunktionalen
und nutzungsoffenen öffentlichen Freiräumen nur bedingt ausgeglichen werden
(Spitthöver 2006, S. 56 ff.).
Die Alterung der Gesellschaft lässt eine verstärkte Nachfrage nach altenspezifischen
Angeboten im Freiraum erwarten. Darüber hinaus müssen vorhandene Angebote so
entwickelt werden, dass die auch von dieser Bevölkerungsgruppe gleichberechtigt
genutzt werden können. Neben altengerechten Wohn- und Infrastrukturangeboten
wird es auch darum gehen, altengerechte Freiraumlösungen entsprechend der Bedürfnisse und realen Möglichkeiten anzubieten. Bisherige „altengerechte Freiraumplanung“ geht oft von einer potenziellen Eingeschränktheit dieser Menschen aus und
unterschätzt die Potenziale, Bedürfnisse und Interessen. Ebenso heterogen wie die
Gruppe „alter Menschen“ ist, so unterschiedlich und vielfältig sind ihre Bedürfnisse an
Freizeit und Erholung und damit ihre Anforderungen an Freiräume. Insbesondere die
„jungen Alten“ zeichnen sich teilweise durch ein sehr aktives und konsumfreudiges
40
Grillen und Lagern als verbreitete Nutzung in Stadtteilparks und die Nachfrage nach
Grabelandparzellen können als spezifische Freiraumansprüche von Migranten gelten (Spitthöver
2006; Müller 2002). Es gibt bereits Beispiele für spezielle, von Migranten genutzte Freiräume: Freizeitflächenprojekt in Detmold, Herberhausen; Bunte Gärten Leipzig; Internationale Gärten Göttingen.
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
Freizeitverhalten aus. Zudem ist von einer gewissen Kontinuität des Freizeitverhaltens
auch beispielsweise nach dem Eintritt ins Rentenalter auszugehen, so lange gesundheitliche und materielle Möglichkeiten dies zulassen (Brinkmann 2004, S. 154 ff.). Zum
freiraumplanerischen Umgang mit den Alterungsprozessen liegen bereits Untersuchungen vor (beispielsweise FLL 2003; Döhner 2003). Eine konsequente Umsetzung
der Erkenntnisse ist allerdings eher die Ausnahme (Schmidt, A. 2005). Da Alterung
meist auch Vereinzelung bedeutet, kommt dem öffentlichen (Frei-)Raum verstärkt die
Bedeutung als uneingeschränkt erreichbarer und sicherer Treffpunkt, Kommunikationsund Aktivitätsort zu.
Die Fähigkeit einer aktiven Aneignung wird oft als Ideal bedürfnisgerechter – insbesondere öffentlicher – Freiräume betrachtet. Trotzdem ist es meist nur die Benutzung,
die das Verhalten in beispielsweise städtischen Parkanlagen prägt (Tessin 2004,
S. 160 ff.). Zwischen „bloßer Benutzung“ und „aktiver Aneignung“ gibt es viele Stufen – die aktivste Form wird dennoch immer nur im privaten Raum (also Privatgarten)
stattfinden. Der aktuell von vielen Planern unterstellte Bedarf nach diesen aneignungsfähigen (öffentlichen) Räumen resultiert wohl eher aus dem Mangel an Verwertungsund Gestaltungsideen für die vielen entstehenden Flächen, als aus den tatsächlichen
Verhaltenswünschen und -mustern der Bevölkerung. Insbesondere die Annahme, dass
offene und in ihrer Nutzung unklar definierte Flächen (innovatives) Freiraumverhalten
initiieren würden, muss hinterfragt werden: Räume ohne Funktionsvorgabe erschweren die Nutzung, weil sich das Verhalten von Nutzern an den jeweiligen Räumen bzw.
Situationen orientiert.41 Es besteht zudem die Gefahr „exklusiver Nutzungen“ durch
„couragierte“ Nutzer(gruppen) bzw. nicht erwünschter Nutzungen (ebd., S. 32 ff.).
Insofern sind vor allem Freiraumformen, die nicht bekannt und damit auch nicht mit
behavior settings belegt sind, für die potenziellen Nutzer zunächst schwer anzueignen
(z. B. Brachen, Abrissflächen). Wenn in Freiraumkonzepten mit bisher im städtischen
Kontext nicht bekannten bzw. mit bisher anders belegten Freiraumtypen gearbeitet
wird (z. B. Wald, Wiese), besteht die Gefahr, dass die Flächen durch fehlende Nutzungsmuster nicht angenommen werden.
In der aktuellen Diskussion um die Nachnutzung der frei werdenden Flächen werden
oft Maßnahmen wie z. B. Aufforstung, Sukzession und naturnahe Gestaltung thematisiert. Meist wird dieses „Mehr“ an Natur in der Stadt neben ökologischen Vorteilen
mit dem Wunsch nach Naturerleben verbunden und legitimiert. In Bezug auf die Nutzung dieser Freiräume ist allerdings zu beachten, dass Naturerleben in aller Regel kein
Selbstzweck ist und meist mit anderen Freiraumverhaltensweisen in Verbindung ge-
41
Dieses Phänomen wird auch als „Behavior Setting“ (BARKER 1968) oder „institutionalisiertes
Verhalten“ bezeichnet: Räume besitzen verhaltensregulierende Kräfte, die bewirken, dass die Nutzer ein angepasstes Verhalten zeigen. Dieses Verhalten ist gesellschaftlich normiert und erlernt
(Tessin 2004, S. 34 ff.).
75
76
B.1 Demografischer und gesellschaftlicher Wandel
bracht wird (Tessin 2004, S. 70 f.). Sollen diese Freiräume eine Bereicherung des vorhandenen Freiraumrepertoires sein und nicht nur dem Selbstzweck dienen – was zwar
durchaus legitim wäre, aber in den meisten Fällen wohl nicht Hintergrund der freiraumplanerischen Maßnahme ist – so müssen auch Überlegungen zur Nutzung und
Aneignungsfähigkeit dieser Freiräume einbezogen werden. Künftige Freiraumgestaltung muss sich dabei zwischen den Polen der Flexibilität und Multifunktionalität auf
der einen Seite und den Gefahren der Nicht-Gestaltung auf der anderen Seite verorten.
Die Ausdifferenzierung der Ansprüche und Nutzungen ist oft mit einer Professionalisierung, Kommerzialisierung, Privatisierung und Domestizierung verbunden. Dies kann
zur Unabhängigkeit der Nutzungen von öffentlichen Freiräumen führen. Sollte der
Bedarf nach privat nutzbarem Freiraum weiter zunehmen (Milchert 1996, S. 547),
bietet dies die Chance einer Entlastung der öffentlichen Haushalte, weil Unterhaltungsleistungen an private Akteure abgegeben werden können. Die verbreitete Wohnpräferenz des Eigenheims mit Garten kann in schrumpfenden Städten eher oder zumindest
bezüglich eines eigenen Stück Freiraums im unmittelbaren Wohnumfeld umgesetzt
werden. Demgegenüber steht allerdings eine Rückeroberung des öffentlichen Freiraums durch Trendsportarten und Events (Schöbel 2003b, S. 102 f.; Steidle-Schwahn,
Hoffmann 2005, S. 45).
Die tatsächliche Entwicklung wird zu einer, wie auch immer gearteter Vielfalt der Nutzungen, Angebote, Institutionalisierung und Aneignung in öffentlichen städtischen
Freiräumen führen. Vielleicht muss Freiraumplanung polarisierten Freiraumnutzungen,
dem Verlust institutionalisierten Verhaltens und der Gefahr von Ausgrenzung entgegen wirken. Vor diesem Hintergrund sind die Vermutungen über neue Nutzungsanforderungen und Aneignungsformen als Ansätze für die Nutzung und Gestaltung der neu
entstehenden Freiräume kritisch zu betrachten.
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
2
Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
Der politisch forcierte sowie finanziell unterstützte Stadtumbau stellt die Reaktion auf
die räumlichen Auswirkungen der Schrumpfungsprozesse in Städten dar.42 Der Stadtumbau in den Neuen Bundesländern kann auf unterschiedliche Art und Weise durchgeführt werden: Die notwendige Leerstandbeseitigung wird durch den Rückbau überflüssiger Gebäudesubstanz umgesetzt. Die nachhaltige Attraktivitätssteigerung soll
durch die Aufwertung neu entstehender, aber auch bestehender Stadträume erreicht
werden.
Der Begriff des Stadtumbaus wurde bereits in früheren Phasen der Stadtentwicklungsplanung verwendet. In Abgrenzung zur Stadterneuerung bedeuten aktuelle Ansätze
des Stadtumbaus im Sinne einer „stadtentwicklungspolitischen Reformstrategie“ (IBABüro 2005, S. 67) „… einen gesteuerten Wandel von Nutzungsstruktur und baulicher
Struktur aufgrund un-, unter- bzw. inzwischen fehlgenutzter Flächen“ (Weidner 2005,
S. 108). Vor dem Hintergrund aktueller wirtschaftlicher und demografischer Schrumpfungsprozesse wird der Stadtumbau als gesamtgesellschaftliche Aufgabe für die Steuerung und Planung der durch Schrumpfung betroffenen Handlungsfelder der Stadtentwicklung verstanden. Somit ist „er […] nicht alleine auf den baulichen Sektor beschränkt, sondern muss weiterhin u. a. die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, Fragen der sozialen und infrastrukturellen Ausstattung, die Verbesserung der
ökologischen Bilanz sowie die Gestaltung und Aufwertung der städtischen Lebensqualität insgesamt in den Prozess einbeziehen“ (ebd., S. 110).
Im Rahmen des Förderprogramms „Stadtumbau Ost“ hingegen, wird der Fokus auf
die physische Stadtstruktur deutlich: Stadtumbau wird definiert als „… räumlich gezielter Rückbau auf Dauer nicht mehr benötigter Wohnungen mit einer umfassenden
städtebaulichen Aufwertung der vom Leerstand betroffenen Stadtteile und Wohnquartiere“ (BMVBW 2001). Die Doppelstrategie aus Abriss und Aufwertung (Daab 2003)
hat weitreichende Auswirkungen auf die Freiraumentwicklung. Die Aufwertung wird
dabei als „eigentlicher Schlüsselfaktor und Potenzial für einen qualitativen Umbau der
Städte und damit auch für den Erfolg des Programms insgesamt“ eingeschätzt
(BMVBS, BBR 2006a, S. 45).
42
Das Problem des Bevölkerungsrückgangs und der wachsenden Leerstände in den ostdeutschen
Städten und Regionen führte im Februar 2000, auf Anregungen des damaligen Bundesministers für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der neuen Länder, zur Konstituierung der Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“. Auch Lehmann-Grube-Kommission (nach ihrem Vorsitzendem und ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister) genannt. Sie hatte 17 Mitglieder, darunter Vertreter von Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften, Kommunalbehörden, Mieterbund,
Stadtplaner, Wirtschaftsprüfer, Wirtschaftswissenschaftler und Rechtsanwälte. Die Kommission
forderte dringend eine Neuorientierung in der Stadtentwicklung, sonst drohe eine Fragmentierung
der Städte und Stadtregionen in prosperierende und verfallende Stadtteile (Pfeiffer et al. 2000,
S. 12).
77
78
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
Betrachtet man die Handlungsfelder des Stadtumbaus aus städtebaulicher Perspektive
werden die Handlungsmöglichkeiten zur Entwicklung von Freiräumen sowie der explizit formulierte Anspruch an die Freiraumplanung deutlich (BMVBW 2005, S. 15 f.): Die
nachhaltige städtebauliche Entwicklung oder die damit verträgliche Zwischennutzung
der freigelegten Flächen und die Renaturierung von Rückbauflächen in Randbereichen
zur Schaffung großräumiger Grüngürtel stellt ein zentrales Handlungsfeld dar. Dies
bedeutet für die Freiraumplanung unterschiedliche Handlungsoptionen, aber auch
-notwendigkeiten und Erwartungen, die an sie gestellt werden. Sie soll Lösungsansätze
für den Umgang mit den nicht baulich wieder genutzten Flächen finden. Die Frage der
Verwertung der frei werdenden Flächen spielt somit eine wichtige Rolle, allerdings war
und ist dies kein Schwerpunkt des Stadtumbaus im Sinne des Förderprogramms. Die
Ansätze zum Umgang mit Rückbau und Wiedernutzung der Flächen wirken sich unterschiedlich auf die bestehenden Freiräume, vor allem aber auf die entstehende gesamtstädtische Freiraumstruktur aus. Im Folgenden werden das Rahmen setzende Förderprogramm „Stadtumbau Ost“, seine Auswirkungen auf den Stadtraum und die Möglichkeiten der Freiraumentwicklung betrachtet.
2.1
Programm „Stadtumbau Ost“
Der Stadtumbau in den schrumpfenden ostdeutschen Städten wird vor allem durch das
Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost – für lebenswerte Städte und attraktives
Wohnen“ im Rahmen der Städtebauförderung geregelt und gefördert. Das 2001 aufgelegte Programm zur Bewältigung der Schrumpfungsprozesse und den damit zusammenhängenden städtebaulichen Funktionsverlusten hat das Ziel, die Attraktivität
ostdeutscher Städte und Gemeinden zu erhöhen und eine nachhaltige Stadtentwicklung zu fördern, und somit die Zukunftsfähigkeit dieser Städte zu stärken. Dies soll
durch die Revitalisierung der Innenstädte, der Vermeidung der Umlandzersiedelung
und die Stärkung der Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt erfolgen (BMVBS, BBR
2006a, S. 11). Der integrierte Ansatz sieht dabei vor, städtebauliche und wohnungswirtschaftliche Aspekte zu verbinden.
Neben einem Finanzierungsprogramm wurde der Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ zur
Erstellung Integrierter Stadtentwicklungskonzepte initiiert. Das Programm ist darüber
hinaus mit weiteren städtebau-, wohnungs- und investitionspolitischen Maßnahmen
der Bundesregierung verzahnt (BMVBW 2005, S. 73). Die Aufnahme in das BauGB
verdeutlicht die zentrale Stellung des Stadtumbaus als Ansatz der städtebaulichen
Entwicklung nicht nur als Förderinstrument, sondern auch als gesamtgesellschaftlich
bedeutende Aufgabe (BMVBS, BBR 2006a, S. 14; siehe Kapitel B.4.2.2).
Derzeit erfolgt eine nahezu flächendeckende Förderung in den östlichen Bundesländern. Drei Viertel der Städte mit über 10.000 EW und mit Ausnahme Potsdams alle
Mittel- und Großstädte (mehr als 50.000 EW) sind in das Programm einbezogen. Die
Entscheidung über die Förderung und deren Höhe obliegt den Ländern. Die Auswahl
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
wird dabei von der Siedlungsstruktur und den jeweiligen Länderschwerpunkten bestimmt (BMVBS, BBR 2006a, S. 22 ff.).
2.1.1 Maßnahmen: Rückbau und Aufwertung
Das Programm „Stadtumbau Ost“ soll einen Beitrag zur (1) Reduzierung des Angebotsüberhangs im Wohnungsbestand durch Umbau und Rückbau43, (2) Aufwertung
der vom Rückbau betroffenen Stadtteile sowie (3) Stärkung des innerstädtischen Altbaus und der erhaltenswerten Stadtquartiere leisten. Durch die hier gebündelten Förderinstrumente werden im Zeitraum von 2002 bis 200944 insgesamt 2,5 Mrd. € für
folgende Programmpunkte bereitgestellt, wovon der Bund ca. 1 Mrd. € aufbringt
(Bundesregierung 2001, S. 3 ff.):
‚ Zuschussprogramm für Rückbau- und Aufwertungsmaßnahmen,
‚ Zuschüsse für Wohneigentumsbildung in innerstädtischen Altbauquartieren,
‚ Erhöhung der Investitionszulage für Mietwohnungen des innerstädtischen Altbaus,
‚ Förderung von Rückbaumaßnahmen im Rahmen des KfW-Wohnraummodernisierungsprogramms und
‚ Wettbewerb zur Erstellung von Integrierten Stadtentwicklungskonzepten.
Flankierend kann das Altschuldenhilfegesetz45 angewendet werden. Unter freiraumplanerischen Gesichtspunkten spielt vor allem das Zuschussprogramm für Rückbauund Aufwertungsmaßnahmen eine Rolle. Dabei sollen die Bundesfinanzhilfen (ergänzt
durch entsprechende Komplementärmittel der Länder bzw. der Kommunen) je zur
Hälfte für Rückbau und Aufwertung eingesetzt werden.
Die jährlich aktualisierten Verwaltungsvereinbarungen zur Städtebauförderung des
Bundes und der Länder nehmen aktuelle Erfordernisse zur Ausrichtung bzw. Korrektur
des Programms auf. So wurden Neuregelungen zu den für den Rückbau zugelassenen
43
Erklärtes Ziel ist der Rückbau von 350.000 Wohnungen. Durch die Beteiligung von Kommunen im
Programm können ca. 60 % der in Ostdeutschland leer stehenden Wohnungen vom Programm
abgedeckt werden. Bis zum 31.12.2007 wurden 197.735 WE abgerissen. Zusätzlich sind durch
Landesrückbauprogramme 23.530 WE abgerissen worden (BMVBS, BBR 2007a, S. 23; BMVBS,
BBR 2008, S. 14).
44
Die Evaluierung des Programms im Jahr 2008 bezeugt die Wirksamkeit des Programms. Der politische Wille zur Fortführung des Programms bis zum Jahr 2016 ist deutlich und realistisch (difu, ifs
2008).
45
Wohnungsunternehmen mit mindestens 15 % Leerstand in ihren Beständen, die unter die Härtefallregelung des AHG von 2001 fallen, können im Falle eines Rückbaus ihrer Bestände mit 70 €/m²
entlastet werden (BMVBS, BBR 2006a, S. 15). Dies gilt auch für Altschulden, die auf im Wohnungsbestand vorhandene Altbauten umgelegt wurden. Für ca. ¾ der bisher zurückgebauten
Wohnungen wurde diese Altschuldenhilfe gewährt (Liebmann 2007, S. 131). Die Härtefallregelung
des AHG stellt somit neben den Rückbauzuschüssen den „entscheidenden Motor im Stadtumbauprozess“ dar (SAB 2007, S. 18).
79
80
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
Gebäudegruppen (Baualter) oder zur Verwendung der Fördergelder für Anpassungsmaßnahmen der technischen Infrastruktur getroffen.
Rückbau46: Der Bund beteiligt sich pauschal mit 25 bzw. 30 €/m² rückgebauter Wohnfläche (BMVBS 2007). Der Länderanteil musste zu Beginn des Programms mindestens
so viel betragen, konnte aber auch beliebig aufgestockt werden. Seit 2007 wird der
Rückbauzuschuss differenziert: Für Gebäude mit bis zu 6 Geschossen wird eine Förderquote von 50 €/m² festgelegt, darüber hinaus werden 60 €/m² gezahlt (BMVBS,
BBR 2007a, S. 12). Im Rahmen der Rückbauförderung sind auch „Aufwendungen für
die einfache Herrichtung des Grundstücks zur Wiedernutzung, dazu zählt insbesondere
die Begrünung“ zuwendungsfähig (SMI 2008, S. 140). Erhält ein Eigentümer Fördermittel für den Rückbau von Gebäuden auf seinem Grundstück, so verpflichtet er sich,
innerhalb der folgenden 10 Jahre keinen Mietwohnungsbestand auf diesem Grundstück zu errichten und die Fläche in einem verkehrssicheren Zustand zu erhalten. Dies
gilt auch wenn ein Eigentümerwechsel stattfindet.
Abbildung 7: Abriss.
Abbildung 8: Rückbau.
Aufwertung: Die Aufwertungsmittel können beispielsweise bereitgestellt werden für:
Anpassung der städtischen Infrastruktur, Verbesserung des Wohnumfeldes, Aufwertung des vorhandenen Gebäudebestandes und sonstige Bau- und Ordnungsmaßnahmen zur Unterstützung des Stadtumbaus (BMVBS, BBR 2006a, S. 45; Abbildungen 9
und 10).
46
Die Differenzierung der Begriffe geschieht häufig bezüglich der Art des Abbruchs. Rückbau ist die
Demontage des Gebäudes in seine Einzelteile, Abriss bezeichnet konventionelle Methoden mit Abrissbirne oder Sprengung. Der Begriff Rückbau ist dabei positiver besetzt und wird entsprechend
bevorzugt verwendet (Haller, Rietdorf 2003, S. 31). Hinsichtlich der städtebaulichen und freiraumplanerischen Konsequenz der Maßnahme ist die Begriffsverwendung allerdings unbedeutend (siehe
Abbildung 7, Abbildung 8).
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
Abbildung 9: Aufwertungsmaßnahme am
Wohnungsbestand in einer Plattenbausiedlung in
Stollberg/Erzgebirge.
Abbildung 10: Aufwertung einer
Abrissfläche in Leipzig-Grünau.
Der Bund legt hier eine Förderquote von einem Drittel (analog der Städtebauförderung) fest. Das zweite Drittel wird aus Mitteln des jeweiligen Bundeslandes gezahlt. Ein
weiteres Drittel sind Eigenmittel der Kommunen in Höhe von 0,5 Mrd. €. Nach der
Beantragung bzw. auch Bewilligung von Mitteln aus dem Aufwertungsteil des Programms, werden in den meisten Fällen Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen und
Wieder- bzw. Nachnutzungsmaßnahmen der Freiflächen durchgeführt. In den Programmjahren 2002 und 2003 spielte die Aufwertung des öffentlichen Raumes und des
Wohnumfeldes eine große, die Wiedernutzung der Flächen eher eine untergeordnete
Rolle (BMVBW 2005, S. 104). Teilweise wird auch die Erstellung oder Fortschreibung
der städtebaulichen Entwicklungskonzepte finanziert (BMVBS, BBR 2006a, S. 41).
2.1.2 Instrumente: Integrierte Stadtentwicklungskonzepte und Stadtumbaukonzepte
Voraussetzung für die Vergabe der Fördermittel im Rahmen des Programms ist ein
Integriertes Stadtentwicklungskonzept bzw. städtebauliches Entwicklungskonzept47
und ein durch Gemeindebeschluss abgegrenztes Fördergebiet. Die Konzepte sollen den
Stadtumbau und die Umsetzung der Programmziele steuern sowie die kontinuierliche
Beobachtung (Monitoring) der Wirkungen der Maßnahmen und der Entwicklung der
Rahmenbedingungen unterstützen (BMVBS, BBR 2006a, S. 17). Der dem Programm
vorgeschaltete Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ war ein wesentlicher Anreiz zur Erstellung der Integrierten Stadtentwicklungskonzepte.
Die Integrierten Stadtentwicklungskonzepte sollen die Stadtumbaumaßnahmen in eine
auf die Gesamtstadt ausgerichtete Strategie einbinden. Dabei geht es um die integrierte und konsensorientierte Umsetzung stadtplanerischer und wohnungswirtschaftlicher
Ziele. In den Auslobungsunterlagen zum Wettbewerb wurden detailliert die erwarteten
47
Die ursprünglich mit dem Programm eingeführte Bezeichnung „Integriertes Stadtentwicklungskonzept“ kann durch die jetzt im Gesetz verankerte Bezeichnung „Städtebauliches Entwicklungskonzept“ ersetzt werden. Dazu siehe ausführlicher Kapitel B.4.2.2.
81
82
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
Bestandteile der Stadtentwicklungskonzepte auf gesamt- und teilstädtischer Ebene
beschrieben. Dabei wurden weder explizite Forderungen zum Umgang mit den freiraumplanerischen Belangen noch zu Fragen der Nachnutzung formuliert (BMVBW
2001). Inwiefern diese Bestandteil der geforderten städtebaulichen Konzepte geworden sind, lag im Ermessen der jeweiligen Kommune.
Die Bedeutung des Instruments des Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes im gesamten Stadtumbauprozess wurde mit der Novellierung des BauGB rechtlich gestärkt.
Nach den Regelungen zum Stadtumbau im BauGB (§ 171b) sind für die Durchführung
von Stadtumbaumaßnahmen Stadtumbaugebiete auf der Grundlage eines Städtebaulichen Entwicklungskonzeptes zu beschließen. Aus der Nennung der Aufgabenbereiche im § 171a BauGB lassen sich deutliche Aufträge an die Freiraumplanung ableiten:
So sollen die Konzepte auch Aussagen zur Verbesserung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie der Umwelt und zur verträglichen Zwischennutzung oder nachhaltigen
städtebaulichen Entwicklung freigelegter Flächen machen.
Zur Umsetzung des Programms „Stadtumbau Ost“ und zur Erstellung entsprechender
städtebaulicher Entwicklungskonzepte im Sinne des § 171b BauGB haben die Länder
Richtlinien erlassen. Diese enthalten dabei keine Aussagen zum Umgang mit freiraumoder umweltplanerischen Belangen (MSWV 2001; MIR 2006; Freistaat Thüringen
2005; SMI 2005a). In den Stadtentwicklungskonzepten war bisher ein deutlicher Fokus
auf baulich-räumliche und wohnungswirtschaftliche Aspekte feststellbar. Es bleibt
abzuwarten, ob im Rahmen der notwendigen Fortschreibungen der integrierte Anspruch stärker erfüllt werden kann. Die wenig spezifischen Richtlinien der Bundesländer werden von Seiten größerer Kommunen bemängelt und durch eigene inhaltliche
Vorstellungen erweitert. Wenngleich auch kleinere Kommunen in der Lage der Erstellung dieser Konzepte sein müssen, sind inhaltliche Defizite aufgrund mangelnder Vorgaben vermutlich auch weiterhin vorprogrammiert.
In den Konzepten werden die einzelnen Quartiere der Stadtumbaugebiete nach der
Bewertung ihrer Potenziale und Probleme in Gebietskategorien unterschieden. Diese
Kategorien bilden die Grundlage für den Fördermitteleinsatz und der zielgerichteten
Durchführung der Stadtumbaumaßnahmen. Diese Kategorien werden in den Länderrichtlinien zur Erstellung der Städtebaulichen Entwicklungskonzepte vorgegeben: Konsolidierte Gebiete, konsolidierungswürdige Gebiete sowie Umstrukturierungsgebiete.
Sie können aber in den Städten bzw. auch in einzelnen Stadtteilen bedarfsabhängig
variiert werden.
Der Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ hat die Auseinandersetzung mit dem Thema
befördert und die öffentliche Diskussion angeregt, aber auch zahlreiche Handlungsschwierigkeiten im Umgang mit den anstehenden Problemen offen gelegt (BMVBW,
BBR 2003a; Winkel 2002; Bernt 2002; Daab 2003). Defizite bestanden vor allem bei
der Entwicklung städtebaulicher Leitvorstellungen, der Integration freiraumplanerischer
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
und ökologischer Belange sowie der Entwicklung von innovativen Ansätzen zur Umsetzung des Stadtumbaus und der Kooperation der betroffenen Akteure.
In der gegenwärtigen Diskussion um die Erfahrungen mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ wird die Rolle der ursprünglich als Voraussetzung für die Vergabe von Fördermitteln vorgesehenen Integrierten Stadtentwicklungskonzepte zunehmend kritisch
betrachtet. Zum einen wird von Seiten der Vergabestellen bemängelt, dass eine fundierte Bewertung der eingereichten Konzepte nicht stattfindet, da die Kompetenzen
bzw. Ressourcen nicht vorhanden sind. An dieser Stelle werden die Notwendigkeit
einer Qualifizierung der Bewilligung und eine Beratung der Antragsteller gefordert.
Zum anderen stellt sich zunehmend die Frage, ob tatsächlich integrierte Stadtentwicklungskonzepte im Rahmen des Stadtumbauprogramms entstehen können. Denn für
eine wirkliche Integration aller stadtentwicklungsrelevanten Ressorts fehlen zum einen
die Anreize und zum anderen die zeitlichen und finanziellen Spielräume (Hartig 2006).
Grundsätzlich wird das Instrument als geeignet angesehen und von der Planungspraxis
als hilfreich eingeschätzt. Allerdings ist das Spannungsfeld zwischen „verbindlichen
Verabredungen“ und „erforderlicher Flexibilität“ nicht immer leicht zu bewältigen. Vor
allem gestaltet sich die Einbeziehung privater Eigentümer schwierig (difu, ifs 2008,
S. 3). Darüber hinaus zeigen die bisher im Prozess zur Erstellung der Städtebaulichen
Entwicklungskonzepte nach § 171b BauGB gemachten Erfahrungen, dass die einzelnen
Fachbeiträge der beteiligten Ressorts der Komplexität des Themas nur eingeschränkt
gerecht werden können. So wird vermutet, dass der Mehrwert des gesamten Prozesses
eher die Diskussion als der tatsächliche Inhalt des Plans ist. Hinzu kommt ein beträchtlicher Bearbeitungs- und Abstimmungsaufwand, der befriedigend nur mit externer
Expertise oder enormen personellen Ressourcen innerhalb der Stadtverwaltungen geleistet werden kann. Dies stellt vermutlich Mittelstädte und kleinere Kommunen vor
große Herausforderungen.
2.1.3 Umsetzung
Seit der Einführung des Programms wurden bereits eine Vielzahl erfolgreiche Stadtumbaumaßnahmen durchgeführt. Gleichzeitig offenbart die Umsetzung des Förderprogramms vielschichtige Problemlagen und hat seit der Einführung vielfältige Kritik erfahren.
Fördermitteleinsatz
Die eigentliche Intention des Programms ist die hälftige Förderung von Rückbau- und
Aufwertungsmaßnahmen. Gleichzeitig ist das Programm „Stadtumbau Ost“ als lernendes Programm angelegt und somit an praktische Erfordernisse anpassbar. In der
VV Städtebauförderung von 2003 wurden die Länder ermächtigt, die Mittelaufteilung
auch zu Gunsten des Rückbaus zu verschieben, wenn dies erforderlich ist, um ein Drittel der leer stehenden Wohnungen zurückzubauen (BMVBW 2005, S. 73). Die am
83
84
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
stärksten von Leerständen betroffenen Länder Sachsen48 und Sachsen-Anhalt haben
diese Möglichkeit genutzt. Dort wurden von 2002 bis 2004 mehr als zwei Drittel und
2004 ca. 80 % der Stadtumbaumittel des Bundes nur für den Abriss bereitgestellt
(BMVBS, BBR 2006a, S. 69; Liebmann 2004, S. 58). Durchschnittlich wurden in den
Neuen Bundesländern 60 % der Mittel für Rückbau und 40 % für Aufwertung eingesetzt (BMVBS, BBR 2006a, S. 33). Seit 2008 behält sich der Bund vor zu prüfen, ob die
Verschiebung in einem anderen Programmjahr auszugleichen ist (BMVBS 2008, S. 35).
Die Entkopplung von Abriss und Aufwertung wird seit 2003 in einigen Bundesländern
noch dadurch gestützt, dass Abrissfördermittel unabhängig von Aufwertungsmaßnahmen bewilligt werden. Begründet wird dies damit, dass Aufwertungsmaßnahmen
weniger drängen und man dadurch später größere Handlungsspielräume für entsprechende Ansätze hat (Liebmann 2004, S. 58).
100
90,3
Aufwertung
Rückbau
80
69,9
in Prozent
60
50,9
49,1
44,4
40
25,5
20
19,4
15,3
6,9
2,8
0
Historische Altstadt
Innenstadtnahe DDR-Wohnungsbau
Gründerzeitliche
Stadterweiterung Bestände von 1919
(bis 1918 errichtet) bis 1948 errichtet
Sonstiges
Abbildung 11: Räumliche Schwerpunkte des Stadtumbaus (Quelle: IRS, Befragung der
Kommunen 2006; N=216, Mehrfachnennungen möglich) (BMVBS, BBR 2007a, S. 22).
Die tatsächliche Förderung von Aufwertungsmaßnahmen hängt dabei neben der teilweise vorgenommen Verschiebung der Förderanteile auch von der generellen Nachfrage der Mittel ab (Abbildung 11). Nur in Berlin und Brandenburg werden in allen
Kommunen Rückbau- und Aufwertungsmittel immer gemeinsam abgefragt. In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern gibt es zwar keine Verschiebung der Förderanteile, aber der Anteil an geförderten Aufwertungsmaßnahmen ist im Gegensatz zu Sachsen und Sachsen-Anhalt gering (BMVBW 2005, S. 103). Im Ergebnis wurden in über
60 % der Fördergebiete ausschließlich Rückbaumaßnahmen gefördert – mit steigender
48
In Sachsen wurden seit Programmbeginn bis Februar 2008 ca. 74.300 WE abgerissen. Bis 2015
sollen insgesamt 250.000 WE rückgebaut werden (Sächsische Zeitung, 03.04.08).
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
Tendenz. Der Programmteil Aufwertung hat somit vor allem in Sachsen und SachsenAnhalt einen deutlich geringeren Stellenwert (BMVBS, BBR 2006a, S. 31 f.).49
Wenngleich in der Programmbeschreibung die Doppelstrategie aus Abriss und Aufwertung formuliert wird, begünstigt das Finanzierungsprogramm in seiner Anlage und in
seiner aktuellen Anwendung den Abriss (Daab 2003, S. 125). Auch in der Zwischenevaluierung des Programms wird kritisch auf die teilweise missverstandene Grundintention des Programms hingewiesen (BMVBS, BBR 2006a, S. 69). Eine Befragung zur
Stadtumbaupraxis zeigte die Unzufriedenheit der Kommunen mit der Verschiebung
der Rückbau- zuungunsten der Aufwertungsmittel (BBR 2005b, S. 37). So wird das
Programm sowohl in der Bevölkerung als auch in der Fachöffentlichkeit vielfach als
Abrissprogramm wahrgenommen (Liebmann 2007, S. 131). Die Mittelvergabe verdeutlicht, dass das Förderprogramm „Stadtumbau Ost“ aktuell zur kurzfristigen Lösung wohnungswirtschaftlicher Probleme eingesetzt wird, und das eigentliche Ziel des
Programms einer Qualitätsverbesserung aus dem Blickfeld rückt. Denn durch reine
Abrissmaßnahmen findet in den meisten Fällen zunächst keine Qualitätsverbesserung
statt – zumal sich Abrissentscheidungen fast ausschließlich an wohnungswirtschaftlichen (Leerstand, Sanierungsstand) und evtl. noch an infrastrukturellen Kriterien (Wasserversorgung) und selten an städtebaulichen oder gar freiraumplanerischen Belangen
orientieren (Rößler et al. 2003).
So steht das Programm „Stadtumbau Ost“ in der bundesdeutschen Geschichte in
dieser Form und Konsequenz für einen einmaligen Eingriff in die Stadtentwicklung.
Dies kann als politischer Erfolg der Lobby der großen Wohnungsunternehmen und
damit gleichzeitig als Beschränkung der Wahrnehmung auf wohnungspolitische und
wohnungswirtschaftliche Aspekte der Gesamtproblematik eingeschätzt werden (Franz
2005, S. 14). Die durch die Verbindung von Rückbaumitteln und der Altschuldenentlastung entstehende Anreizwirkung für den Rückbau birgt die Gefahr eines „Aktionismus“ (Liebmann 2005, S. 10). Hinzu kommt, dass eine Wahrnehmung bzw. Bewertung der Erfolge des „Stadtumbau Ost“ meist auf die Erfolge beim Rückbau und damit
nur hinsichtlich der Abrisszahlen stattfindet. So geht die gegenwärtige Situation vor
49
Die Wohnungsleerstandsquote sank seit der Einführung des Förderprogramms von ca. 16 % auf
ca. 12 % (Liebmann 2007, S. 131). Aufgrund weiter zurückgehender Bevölkerungszahlen ist diese
zunächst im Verhältnis zum enormen Aufwand geringfügig erscheinende Verringerung des Leerstandes durchaus als Programmerfolg zu werten. Wobei die Erfolge in den Großwohnsiedlungen
weitaus größer sind, und der Leerstand in den innerstädtischen Altbauquartieren bisher nicht wesentlich gesenkt werden konnte. Die aktuelle Entwicklung der Rückbauzahlen bescheinigt dem
Stadtumbau im Sinne des Förderprogramms zunehmend Verzögerungen: Die zur Verfügung stehenden Fördermittel wurden in Sachsen seit dem Jahr 2006 nicht mehr vollständig abgerufen. Die
nachlassende Rückbautätigkeit sowie weiter rückläufige Bevölkerungszahlen lassen somit einen erneuten Anstieg der Leerstandszahlen erwarten. Insofern wird eine Beschleunigung und Erhöhung
des Rückbaus angemahnt (SAB 2007, S. 7 ff.). Dafür müssen vordringlich die privaten Eigentümer
stärker in den Stadtumbauprozess eingebunden und auch andere Programme der Städtebauförderung zum Zweck des Stadtumbaus eingesetzt werden (ebd., S. 21 f.).
85
86
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
allem zulasten der Möglichkeiten der Freiraumentwicklung auf Rückbauflächen. Ein
„Umsteuern von derzeit eher quantitativ zu qualitativ angelegten Handlungsorientierungen“ ist erforderlich (Liebmann 2004, S. 59).
Rückbauschwerpunkte
Die räumliche Schwerpunktsetzung des Rückbaus erfolgt in den Ländern recht unterschiedlich und wirkt teilweise dem eigentlichen Ziel der Stärkung der Innenstädte entgegen (Abbildung 11). Massiver Rückbau (insbesondere Flächenabriss) wird vor allem
in den Plattenbaugebieten eingesetzt (40 %). Meist hohe Leerstände, vorhandener
Sanierungsbedarf, im Vergleich zum Altbaubestand einfache Eigentumsverhältnisse,
die technische Machbarkeit, aber auch eine geringere Wertschätzung dieser Wohnungsbestände führen dazu, dass in vielen Städten die Wohnungsmarktbereinigung
größtenteils in diesem Segment umgesetzt wird. Somit wird Stadtumbau vorrangig als
Handlungsfeld für – die am stärksten vom Leerstand betroffenen – DDR-Wohngebiete
betrachtet. Für innerstädtische Altbauquartiere greifen vermutlich auch andere Programme der Städtebauförderung (BMVBS, BBR 2006a, S. 27 f.). In Zukunft soll hier
eine stärkere Forcierung auf die Innenstädte erreicht werden (ebd., S. 70).
Insbesondere in Sachsen wurden 2002 und 2003 28 % der Rückbaumaßnahmen im
innerstädtischen und 34 % im innenstadtnahen Bereich durchgeführt (ohne Angaben
über das Baualter der Rückbausubstanz) (BMVBW 2005, S. 103). Allerdings regt sich
zunehmend Widerstand50 gegen den Abriss (denkmalgeschützter) Stadtbild prägender
Altbausubstanz in den Innenstädten (BMVBS, BBR 2008, S. 34). So wurde bereits 2005
im Rahmen der jährlich vorgenommenen Neuausrichtung der Fördertatbestände in der
Verwaltungsvereinbarung festgelegt, dass der Rückbau von vor dem Jahr 1914 errichteten Gebäuden in straßenparalleler Bebauung durch das jeweilige Bundesland genehmigt werden muss. Weiterhin wurde 2006 vereinbart, dass bauordnungsrechtlich
als nicht mehr bewohnbar eingestufte Wohnungen nicht mit Fördermitteln aus dem
Programm „Stadtumbau Ost“ abgerissen werden dürfen, da das Förderziel der Leerstandreduzierung nicht erreicht würde. Ebenfalls einen Beitrag zum Erhalt historischer
Bausubstanz stellt die seit 2007 mögliche Regelung dar, bis zu 5 % der Finanzhilfen
ohne kommunalen Eigenanteil für die Sicherung von Gebäuden zu verwenden
(BMVBS, BBR 2007a, S. 11). Neben einer Veränderung der Förderbestimmungen im
Programm „Stadtumbau Ost“ wurde zum Erhalt der innerstädtischen Altbausubstanz
50
In einem offenen Brief an den sächsischen Ministerpräsidenten formulierten im Januar 2008 verschiedene Interessensverbände (Stadtforen der Städte Leipzig, Chemnitz, Freiberg; Haus & Grund,
Landesverein Sächsischer Heimatschutz, BUND für Umwelt und Naturschutz Sachsen) ihren Unmut
über die aktuelle Stadtumbaupraxis, fehlende Nachhaltigkeit und die staatlich geförderte Vernichtung denkmalgeschützter Gebäude. Es wird ein mehr an Qualitäten ausgerichteter Stadtumbau gefordert.
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
und zur Qualifizierung innerstädtischer Quartiere ein neues Programm aufgelegt.51 Die
Neuregelungen der VV Städtebauförderung 2008 sind (BMVBS 2008)52:
‚ Ausschluss der Förderung von Rückbau von vor 1919 errichteten Gebäuden in straßenparalleler Blockrandbebauung oder anderer stadtbildprägender oder denkmalgeschützter Gebäude53
‚ Sicherungsmaßnahmen an Gebäuden bis zum Baujahr 1948 können bis zu 15 %
des Finanzvolumens des Programms ausmachen (bei einer 50-prozentigen Förderung durch den Bund)
‚ Aufhebung des Förderausschlusses nicht mehr bewohnbarer Altbauten
‚ Beibehaltung der Experimentierklausel (siehe Kapitel B.6.2.1)
‚ Gewährung der Altschuldenhilfe nun auch bei Sanierung anstatt Abriss
Die Diskussion zwischen Denkmalschutz und stadtplanerischem Wille zum Erhalt der
innerstädtischen Altbauquartiere auf der einen und den notwendigen Spielräumen zum
Abriss mit Blick auf die wohnungswirtschaftliche und letztlich auch standortprägende
Situation leer stehender Häuser auf der anderen Seite wird zunehmend zum Zielkonflikt des Programms und scheint nur über Abrisszahlen kaum lösbar zu sein. Zumal
bisher nur ca. 5 % der Abrissmittel für Altbauten bewilligt wurden.54 Diese Konflikte
werden sich in Zukunft wahrscheinlich noch verstärken, da das Rückbaupotenzial in
vielen Großwohnsiedlungen durch den Verbleib sanierter Bestände, den guten Vermietungsstand und den Mangel an Ersatzwohnungen großteils ausgeschöpft ist
(Liebmann 2007, S. 134).
Die Wahl der richtigen Orte für die ohne Zweifel notwendige Reduzierung des Wohnungsbestands ist fachlich durchaus umstritten. Denkmalschutz und Infrastrukturbetreiber plädieren für einen Rückbau von außen nach innen, vornehmlich durch den
Abriss von Plattenbaubeständen. Bewohner, Wohnungsunternehmen und Banken
stellen die ökonomischen Potenziale der Bestände mit Blick auf die insgesamt notwendige Reduzierung in den Vordergrund ihrer Überlegungen. Aus stadt- und freiraumplanerischer Sicht sind derart pauschale Einschätzungen kaum möglich: Betrachtet man
z. B. das Potenzial der energetischen Erneuerung einzelner Bestände, die qualitative
und quantitative Wohnungsnachfrage oder die Notwendigkeiten der Entwicklung von
Freiräumen, ist eine eindeutige Bevorzugung des Abrisses bestimmter Wohnungsbe-
51
BMVBS: Pressemitteilung 313/2007 siehe Kapitel B.6.2.1.
52
Newsletter der Bundestransferstelle „Stadtumbau Ost“ vom 07.02.2008.
53
Auf der Grundlage einer konzeptionellen Begründung und der Genehmigung durch das BMVBS
können auch künftig Ausnahmen gemacht werden (BMVBS 2008, S. 36).
54
Etwa jede zehnte abgerissene Wohnung ist eine Altbauwohnung. Allerdings sind verlässliche statistische Aussagen über die tatsächlich Anzahl kaum möglich (BMVBS, BBR 2008, S. 23 f.).
87
88
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
stände kaum möglich. Die Vielzahl von zu berücksichtigenden Kriterien erfordert stadtund standortspezifische Entscheidungen auf der Basis detaillierter Analysen, städtebaulicher Leitbilder und der Diskussion mit allen Akteuren.
Anerkennung freiraumplanerischer Problemstellungen
Wie Tabelle 1 zeigt, bilden freiraumplanerische Maßnahmen einen Schwerpunkt im
Rahmen der Aufwertung im Programm. Wobei ein Großteil der realisierten Maßnahmen in den Innenstädten und innenstadtnahen Gebieten liegt (vor allem in Sachsen
und Thüringen). In den Stadtgebieten mit den höchsten Leerständen und damit auch
den höchsten Fördersummen für den Rückbau fließen die wenigsten Aufwertungsmittel – dies ist vor dem Hintergrund einer unsicheren langfristigen Entwicklung durchaus
nachvollziehbar (BMVBS, BBR 2006a, S. 44). Allerdings manifestiert sich so auch die
Wahrnehmung eines städtebaulichen Verfalls durch eine fehlende Gestaltung der
durch Rückbau frei werdenden Flächen. In der Evaluierung des Programms 2008 wird
konstatiert: „Trotz erster positiver Effekte besteht weiterer gesamtstädtischer Aufwertungs- und Gestaltungsbedarf in den Handlungsfeldern öffentliche Räume, Grün-,
Verkehrsflächen und Stadtbildpflege“ (difu, ifs 2008, S. 5).
Maßnahme
Nennungen (Mehrfachnennungen möglich)
Anteil in % (n=292)
Wohnumfeldverbesserung
247
85 %
Erarbeitung/Fortschreibung Stadtumbaukonzept
215
74 %
Wiedernutzung freigelegter Flächen
207
71 %
Anpassung städtischer Infrastruktur
180
62 %
Sonstige Bau- und Ordnungsmaßnahmen
155
53 %
Aufwertung des vorhandenen Gebäudebestandes
144
49 %
Wiederherstellung nicht mehr bewohnbarer
Wohnungen
70
24 %
Tabelle 1: Art der beantragten Maßnahmen im Programmteil Aufwertung 2004 (BMVBS, BBR
2006a, S. 41).
In Bezug auf die Auseinandersetzung mit freiraumplanerischen Fragestellungen sowie
der Entwicklung von landschaftsarchitektonischen Handlungsansätzen haben die Ergebnisse des Wettbewerbs „Stadtumbau Ost“ sowie erste durchgeführte Stadtumbaumaßnahmen gezeigt, dass „… grundlegende und ganzheitliche Konzepte zum
Umgang mit dem künftigen Freiraumpotenzial fehlen“ (Kasiske 2003; zu ähnlichen
Erkenntnissen kommen auch Fischer-Leonhardt 2002; BMVBW, BBR 2003a, S. 43).
Wenn die Forderungen nach einem nachhaltigen Stadtumbau Realität, und die Frei-
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
raumentwicklung integrativer Bestandteil des Stadtumbaus werden sollen, wird hier ein
großer Handlungsbedarf deutlich (Rößler 2003).
Auch im fortschreitenden Stadtumbauprozess wird die Frage nach dem Umgang mit
den frei werdenden Flächen sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht nach
wie vor unzureichend beantwortet. In Sachsen wurden die ohnehin schon mit einem
Anteil von 10 % statt 50 % an Stadtumbaumaßnahmen stark reduzierten Aufwertungsmittel in den vergangenen Jahren nur spärlich abgerufen (SAB 2007, S. 14 f.).
Dies liegt vermutlich vor allem an den Schwierigkeiten, den kommunalen Eigenanteil
von einem Drittel der Kosten aufzubringen.
Die derzeit konsequentesten Rückbauansätze auch aus freiraumplanerischer Sicht findet man an einigen Standorten der Großwohnsiedlungen. In Halle, Weißwasser und
Schwedt werden vor allem Randbereiche der Plattenbaustandorte komplett abgerissen
und die Nachnutzung als Wald vorbereitet. Hier stellt sich die Frage inwiefern solche
Maßnahmen der Attraktivitätssteigerung (im Sinne des Programmansatzes) der
schrumpfenden Städte dienlich sind und ob es tatsächlich ein Qualitätsgewinn ist, nicht
mehr nachgefragte und benötigte Wohnhäuser aus dem Stadt(rand)bild verschwinden
zu lassen und die Grenze zur umgebenden Landschaft ein Stück näher an die verbliebenen Häuser heranzuholen. Wenn Stadtumbaumittel für den „Regenerierungsansatz
einer Renaturierung“ (Liebmann 2004, S. 60) eingesetzt werden, kann man zurecht
hinterfragen, ob die Verteilung der Mittel auf tatsächlich zu erhaltende Stadtteile nicht
sinnvoller gewesen wäre, als ein Einsatz für das Aufräumen vermeintlicher stadtplanerischer Fehlentwicklungen und das Wiederherstellen von i. w. S. Natur: „Von den neu
entstehenden Grün- oder Brachflächen am Stadtrand gehen keine wirklichen Entwicklungsimpulse für die Stadtentwicklung aus. Diese müssen vielmehr durch Aufwertungsmaßnahmen in den zukunftsfähigen Stadtteilen geschaffen werden“ (BMVBS,
BBR 2006a, S. 68 f.).
Das Problem bzw. die Kritik liegt hierbei nicht grundsätzlich bei der Aufgabe von
Wohnungsstandorten oder dem Ansatz einer Renaturierung, sondern in der Wirksamkeit der Mittelvergabe. Denn es ist vielmehr die überstürzte und kurzfristige Entscheidung für einen Stadtumbau der darauf basiert, dass (1) die Wohnungsunternehmen in
den Großwohnsiedlungen zum einen schnell entscheiden müssen und zum anderen
aufgrund der relativ einfachen Eigentumsverhältnisse auch können, (2) der Erfolg des
Programms an den Abrisszahlen gemessen wird und (3) eine Steuerung des Stadtumbaus in den Händen der Banken und Wohnungsunternehmen liegt und somit dazu
führt, dass die Mittel nicht bzw. in nur geringem Umfang in die tatsächlich zu stabilisierenden Gebiete der Städte fließen. Hinterfragt man die derzeitige Fördermittelpolitik, muss man sich auch damit auseinandersetzen, was es für die Umsetzung freiraumplanerischer Maßnahmen gerade in Randbereichen bedeutet, wenn die (ohnehin)
schon reduzierten Aufwertungsmittel nun nur noch in die zu konsolidierenden Quartiere fließen. Aufforstungsmaßnahmen sind im Vergleich zu anderen freiraumplaneri-
89
90
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
schen Ansätzen kostengünstig – trotzdem müssen auch diese Gelder bereitgestellt
werden, zumal es sich meist um sehr große Flächen handelt. Der Ausgang der Diskussion bzw. die künftige Umsetzung des Stadtumbaus und vor allem des Rückbaus wird
sich auch auf die Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung auswirken. Entsprechend der Problemlage ist geplant, das Thema der Freiraumentwicklung im Rahmen
des Stadtumbaus in der Fortschreibung des Programms „Stadtumbau Ost“ über 2009
hinaus stärker zu verankern.55 Denn die gegenwärtige – durch die Ausrichtung des
Förderprogramms forcierte – Beschränkung des Stadtumbaus auf Fragen des Wohnens
reicht nicht aus, um die vielschichtigen Ansprüche an den Stadtumbau zu erfüllen
(Kaltenbrunner 2006, S. 34 f.).
2.2
„Stadtumbau West“
Im Gegensatz zum Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ wurde der „Stadtumbau West“ zunächst als Forschungsfeld innerhalb des ExWoSt-Forschungsprogramms
des BMVBS aufgelegt. In den Jahren 2002 und 2003 wurden für 11 westdeutsche
Pilotstädte insgesamt 30 Mio. € zur Verfügung gestellt, um Stadtumbaustrategien für
eine Entwicklung abseits des Wachstums zu erproben. Seit 2004 wird das Vorhaben als
Regelförderprogramm der Städtebauförderung durchgeführt. Dabei wurde das Finanzvolumen stetig erhöht und mittlerweile werden 16 Pilotstädte gefördert (BBR 2006c).
Im Jahr 2004 standen Bundesfinanzhilfen in Höhe von 40 Mio. € zur Verfügung, die
bis 2009 auf jährlich 86 Mio. € wachsen sollen (BMVBW 2005, S. 74).56
Der Ansatz, die Durchführung und die finanzielle Ausstattung des Programms unterscheiden sich grundlegend zum Programm „Stadtumbau Ost“ – wenngleich die Programmbezeichnung anderes vermuten lässt. Der Anlass des Programms ist dagegen
durchaus gleich – auch die Pilotstädte im Programm „Stadtumbau West“ sind von
demografischem Wandel, ökonomischen Problemen, militärischem Strukturwandel
und Flächennutzungsänderungen betroffen. Der Bund will sie in den notwendigen
Anpassungsprozessen zur Herstellung nachhaltiger städtebaulicher Strukturen auf der
Grundlage von städtebaulichen Entwicklungskonzepten unterstützen. Dabei sollen übertragbare Strategien zur Lösung der Stadtumbauprobleme anhand von Pilotprojekten entwickelt werden. 57
55
Hilgen, Manfred: Vortrag auf der BDLA-Tagung „Best Practice im Stadtumbau“ am 07.11.07 in
Leipzig.
56
http://www.bmvbs.de/Stadtentwicklung_-Wohnen/Stadtentwicklung-,1552/StadtumbauWest.htm am 01.04.08. In der seit 2008 rechtskräftigen VV-Städtebauförderung werden die Programmbereiche Stadtumbau Ost und West zusammengeführt. Bis auf den Rückbau (Artikel 10)
gelten dann für alle Bundesländer die gleichen Ziele und Handlungsfelder (BMVBS 2008). Die vollständige Zusammenführung der Programme „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau West“ wird
langfristig empfohlen, aber gegenwärtig noch nicht als sinnvoll eingeschätzt (difu, ifs 2008, S. 7 f.).
57
http://www.stadtumbauwest.de/index1.html am 01.04.08
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
Der Stadtumbau in Form von Rückbau und Aufwertung spielt im „Stadtumbau West“
nur als eine Facette der Maßnahmen eine Rolle – insofern können nur wenige übertragbare Ansätze gefunden werden. Einige Pilotstädte bauen nicht mehr benötigte
Wohngebäude zurück – aus Gründen der Reduzierung des Überangebotes und vor
allem auch im Hinblick auf die Qualifizierung des Wohnumfeldes (Goderbauer, Karsten
2007). Hierbei wird durchaus auch mit Zwischennutzungen und neuen Freiraumangeboten experimentiert, allerdings zeichnen sich die Projekte durch ein umfangreiches
Engagement sowie finanzielle Ressourcen aus, die in schrumpfenden ostdeutschen
Städten in der Regel nicht zur Verfügung stehen (BBR 2008).
2.3
Umsetzung des Stadtumbaus und Auswirkungen auf die
Freiraumentwicklung
Der Stadtumbau entfaltet auf verschiedenen Ebenen der Stadt, insbesondere auch
unter freiraumplanerischen Gesichtspunkten, unterschiedliche Wirkungen: Die auf
gesamtstädtischer Ebene verfolgte Stadtumbaustrategie wirkt sich auf das Gesamterscheinungsbild der Stadt, auf das Verhältnis von gebautem und offenem Raum und
auf das Verhältnis zum Umland aus. Aus freiraumplanerischer Sicht sind es Fragen der
Schaffung oder Aufwertung von Grünbeziehungen innerhalb der Stadt und im Übergang in die umgebende Landschaft. Langfristig wirksame Stadtumbauentscheidungen
müssen auch vor dem Hintergrund möglicher Renaturierungspotenziale getroffen
werden (Haller, Rietdorf 2003, S. 16). In Kapitel C.1.5 wird ausführlich auf die entstehenden Stadt- und Freiraumstrukturen eingegangen. Die konzeptionelle Konkretisierung und Umsetzung der (gesamtstädtischen) Stadtumbauziele erfolgt meist auf der
Ebene städtischer Teilgebiete. Die hier geplanten und realisierten Maßnahmen tragen
somit entscheidend zur Verwirklichung dieser großräumigen Ziele bei. Ähnlich der
Aufgaben auf der teilstädtischen Ebene (abhängig auch von der Stadtgröße) geht es in
den einzelnen Stadtquartieren um die konkrete Ausformung und Verortung freiraumplanerischer Zielstellungen in sowohl funktionaler als auch gestalterischer Hinsicht
entsprechend der Anforderungen des jeweiligen Quartiers (ebd., S. 17; siehe Kapitel
C.2.3). Stadtumbaumaßnahmen auf der Ebene der Einzelgebäude beziehen sich nahezu ausschließlich auf architektonische Fragestellungen. Freiraumplanerische Gesichtspunkte werden beispielsweise bei Fragen der Grundstücksnutzung oder der Verbindung der Gebäude mit dem Außenraum berührt.
Neben der maßstäblichen Ebene sind freiraumplanerische Entwicklungsmöglichkeiten
auch vor dem Hintergrund verschiedener Stadtstrukturtypen zu betrachten (Giseke
2007b, S. 202 ff.). Für die Zielformulierung eines räumlichen Entwicklungsmodells und
die Realisierung eines raumstrukturellen Leitbildes ist die konkrete Handlungsorientierung im städtebaulichen Kontext und somit in Bautypologien oder Stadtstrukturtypen
wichtig: In den Stadtkernen und historischen Innenstadtbereichen geht es vor allem
um eine Aufwertung der Wohn- und Nutzungsqualitäten, um diese Wohnstandorte
91
92
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
konkurrenzfähig zum Umland zu machen. Dazu gehören auch nutzergerechte Freiräume in Verbindung mit entsprechenden Wohnformen. In den Plattenbaugebieten
sind zum einen auf den Gebäudebestand bezogene Aufwertungsmaßnahmen (z. B.
Balkone, Loggien, Terrassen) und zum anderen Erweiterungen und Qualifizierungen in
den Freiräumen des Wohnumfeldes entsprechend der Bewohnerbedürfnisse möglich.
Hier können auch großflächigere Maßnahmen zur ökologischen Aufwertung umgesetzt werden.
Die beiden grundsätzlichen Stadtumbauansätze (Rückbau und Aufwertung) werden in
verschiedenen Stadträumen bzw. Stadtstrukturtypen unterschiedlich angewendet und
entfalten so auch entsprechend unterschiedliche Wirkungen (Abbildung 12).
Stadtumbauansätze
Stadtumbau in schrumpfenden Städten
Rückbau
nicht mehr benötigter Bausubstanz
dispers
Aufwertung
bestehender und neu entstehender
Stadträume
flächig
Nachnutzung
Freiflächen
Bauliche
Zwischennutzung
Zwischennutzung als
Freiraum
Dauerhafte
Freiraumnutzung
Dauerhafte
bauliche
Nutzung
Abbildung 12: Planerische Handlungsschwerpunkte und Aufgabenfelder der Freiraumplanung
im Stadtumbau in schrumpfenden Städten (Eigene Darstellung).
Vor allem der Rückbau spielt für die künftige Freiraumentwicklung eine entscheidende
Rolle. Dieser kann als flächenhafter Abriss oder als disperser Rückbau umgesetzt werden (Kapitel B.2.3.1). Dies hängt zum einen vom Problemdruck (in seiner mengenmäßigen und räumlichen Verteilung) und zum anderen von den verfolgten Leitvorstellungen der Stadtentwicklung ab. Planungs- und eigentumsrechtliche Rahmenbedingungen spielen zusätzlich eine große Rolle. Hauptaugenmerk ist hier auf die jeweiligen
freiraumplanerischen Konsequenzen hinsichtlich der Nachnutzungsanforderungen und
-bedingungen des durchgeführten Stadtumbaus zu legen. Generell kann bei der Nachnutzung leer geräumter Flächen in eine Zwischennutzung und in eine dauerhafte
Nachnutzung unterschieden werden (Kapitel B.2.3.2).
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
2.3.1 Rückbauverortung
Der auf eine Reduzierung der verfügbaren Fläche in Wohn- und Gewerbegebäuden
fokussierte Stadtumbau58 kann zum einen als ein (qualifizierender) Teilrückbau und
zum anderen als Totalrückbau bzw. Abriss realisiert werden. Der Teilrückbau erfordert
vor allem Maßnahmen für eine qualitative Aufwertung des direkten Gebäudeumfeldes.
Für die Freiraumplanung besonders relevant ist der Abriss von Bausubstanz, der eine
Auseinandersetzung mit den entstehenden Flächen in quantitativer und qualitativer
Hinsicht erfordert. Der Rückbau von Bausubstanz lässt sich grundsätzlich in zwei Varianten durchführen: (1) punktueller Rückbau und (2) flächenhafter Abriss vor allem in
Randgebieten (Haller, Rietdorf 2003, S. 31 f.). Dies hat unterschiedliche Folgen für die
freiraumplanerischen Nachnutzungsanforderungen und -bedingungen. Aus Sicht einer
effizienten technischen, aber auch sozialen Infrastruktur, wird der Rückbau an den
Siedlungsrändern und die Erhaltung mehr oder weniger kompakter Baustrukturen
angestrebt. Die Realität des Stadtumbaus ist vielerorts allerdings die Auflösung kompakter Siedlungsmassen. In einigen Fällen wird mittels Leitbildern oder städtebaulichen
Modellen (Kapitel C.1) bewusst eine teilweise Auflösung der alten Stadtstrukturen
akzeptiert und versucht zu steuern. Der bisher mit den Mitteln des Bundesprogramms
und der Länderprogramme vollzogene Rückbau wurde vor allem dispers durchgeführt.
Allerdings werden mittlerweile auch die Grenzen dieser Perforation im Hinblick auf ein
Auseinanderbrechen der städtebaulichen Struktur und den Schwierigkeiten der Infrastrukturversorgung deutlich. Daher muss die Tendenz vor allem in den randstädtischen
Großwohnsiedlungen zu eher flächenhaften Lösungen gehen (BMVBS, BBR 2006a,
S. 72).
Disperser Rückbau
Die kleinräumige Entdichtung wird vor allem in Altbau- und innerstädtischen Quartieren teilweise als bewusste Strategie der Auflockerung und der kleinräumigen Standortverbesserung, oft aber auch als einzige mögliche Handlungsoption bei kleinteiligen
Eigentumsstrukturen und inhomogenen Sanierungsständen eingesetzt. Räumliche
Situationen können strukturiert werden, und es kann Raum für bedarfsgerechte Freiraumnutzungen geschaffen werden (z. B.: Spielplätze, Parkplätze, Aufenthaltsbereiche,
Mietergärten, vergrößerte Hofbereiche; Abbildung 13). Oft handelt es sich vor dem
Hintergrund eigentumsrechtlicher Rahmenbedingungen, aber auch städtebaulicher
Entwicklungsvorstellungen, um temporäre Nutzungen mit der Option zur Bebauung.
Allerdings besteht auch die Gefahr, dass unmotivierte Freiflächen mit unklaren Nut-
58
Stadtumbau und der Umgang mit Leerstand kann über den Rückbau hinaus noch mit anderen
Mitteln verfolgt werden (z. B. Stilllegung, Zusammenlegung, Umnutzung), allerdings sollen in diesem Zusammenhang nur die flächen- und damit freiraumplanungsrelevanten Ansätze betrachtet
werden.
93
94
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
zungsvorgaben entstehen, und die städtebauliche Struktur und deren Qualitäten verloren gehen (Daab 2003, S. 126).
Der punktuelle Rückbau nach wohnungswirtschaftlichen Kriterien ohne städtebauliche
und freiraumplanerische Konzepte birgt vor allem in Plattenbaugebieten Gefahren für
die städtebauliche Struktur, Probleme in der Nachnutzung freigelegter Flächen, Probleme die Auslastung der technischen Infrastruktur betreffend und die Möglichkeit der
Schwächung bereits erfolgter Aufwertungsmaßnahmen (ebd., S. 127). In ohnehin
meist schon gut mit Freiräumen ausgestatteten Großwohnsiedlungen muss eine rein
quantitative Erweiterung des Freiraumangebotes nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Freiraumsituation beitragen (Abbildung 14). Die aus dem Grünflächenüberschuss resultierende einfache Begrünung, reduzierten Pflegemaßnahmen und unzureichenden Nutzungsangebote führen eher zu einer Wahrnehmung der Entdichtung,
Verwahrlosung und zur Auflösung des Charakters der Quartiere, ohne dass neue Vorstellungen zur künftigen stadträumlichen Gestalt dieser Siedlungen entwickelt werden.
Abbildung 13: Entdichtung
als Aufwertung im
Altbaubestand.
Abbildung 14: Entdichtung in einer Großwohnsiedlung –
zusätzliche Freiraumqualität?
Flächenhafter Abriss
Zur Umsetzung des Stadtmodells der Kontrahierten oder Kompakten Stadt (siehe Kapitel C.1.5) kann ein flächenhafter Rückbau erfolgen. Er dient dem geordneten Rückzug
aus der Fläche, insbesondere bei großen Angebotsüberhängen, infrastrukturellen Vorteilen und speziellen Nachnutzungsvorstellungen (Haller, Rietdorf 2003, S. 32 f.):
1. Ein Rückbau von den Außenbereichen her (Zwiebelschalenprinzip) ermöglicht die
Renaturierung der Übergangsbereiche zur Landschaft.
2. Eine Entdichtung von innen heraus kann der Entdichtung des gesamten Quartiers
bzw. Stadtteils dienen und bietet Standortverbesserungen in den bisher sehr dich-
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
ten Innenbereichen der Siedlungen unter Erhaltung der meist beliebten Randlagen.
Aus städtebaulicher und vor allem versorgungstechnischer Sicht ist dies allerdings
als problematisch einzuschätzen.
3. Der Komplettabriss ganzer Siedlungsteile bietet neben wohnungswirtschaftlichen
und infrastrukturellen Vorteilen die Chance, Teilbereiche zu renaturieren, Verbindungen mit der landschaftlichen Umgebung herzustellen und das Freiraumangebot
großflächig zu ergänzen. Mittel- und langfristig können potenzielle Renaturierungsbereiche vor allem in den Randgebieten zur Neuentwicklung landschaftlicher
Qualitäten definiert werden. In diesen Bereichen können auch neue Freiraumtypen
mit geringerem Pflegeaufwand und wenigen vorgegebenen Nutzungsangeboten
realisiert werden.
Diese konsequenteste Form des Rückbaus wird aktuell nur in Plattenbaugebieten in
eher wenigen Städten eingesetzt. Voraussetzungen für eine Aufgabe von Wohnstandorten sind ein klares Bekenntnis des Flächeneigentümers bzw. die Kooperation mehrerer Wohnungsunternehmen sowie eine vorausschauende Sanierungs- und Freilenkungspolitik (BMVBW, BBR 2003a, S. 35). Für die Freiraumplanung geht es hierbei
meist um die Entwicklung großräumiger und dauerhafter Nachnutzungskonzepte.
Häufig ist von einer Renaturierung (BBR 2004), das heißt der dauerhaften Herstellung
von Grünflächen bzw. Freiräumen, die Rede. Das Herstellen neuer Verbindungen zur
Landschaft, die Wiederaufforstung oder die landwirtschaftliche Nutzung der „wiedergewonnenen“ Landschaftsräume bietet stadtökologische Chancen und neue Erholungsräume für die Stadtbewohner. Dieser „Rückzug aus der Fläche“ wird auch als ein
Mittel zur Wiederherstellung kompakter Stadtstrukturen gesehen. Allerdings bedeutet
eine Verschiebung der Stadtgrenze in Richtung Stadtkern nicht automatisch eine kompaktere Siedlungsform, zumal erstens ausufernde Einfamilienhaussiedlungen und Gewerbegebiete sowie Einzelhandelszentren aus ökonomischen und rechtlichen Gründen
nicht für einen Rückbau in Frage kommen, und zweitens eine parallele Perforation der
Innenstädte nur begrenzt zu verhindern ist.
2.3.2 Nachnutzung
Insofern für die beräumten Flächen keine bauliche Nachnutzung vorgesehen ist, werden freiraumplanerische Ansätze für eine geordnete Nachnutzung der Flächen benötigt. Die aktuelle Praxis zeigt, dass zum einen dauerhafte Begrünungen oder Renaturierungen und zum anderen auch temporäre freiraumplanerische Nachnutzungen umgesetzt werden. Dabei ist die eigentlich selbstverständliche Notwendigkeit, Überlegungen
zur Nachnutzung bereits bei der Planung und Bewilligung von Rückbaumaßnahmen
anzustellen auch 2006 immer noch als Forderung formuliert (BMVBS, BBR 2006a,
S. 73). Die Wahl der Nachnutzung ist von den stadtplanerischen Entwicklungsvorstellungen sowie von planungs-, eigentumsrechtlichen und ökonomischen Randbedingungen abhängig. Dabei sind grundsätzlich Randbedingungen und Möglichkeiten in
95
96
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
(a) innerstädtischen Altbaugebieten und (b) randstädtischen Großsiedlungen zu unterscheiden.
(a) In innerstädtischen Altbaugebieten mit einer meist sehr kleinteiligen Eigentümerstruktur werden vor dem Hintergrund des Verwertungsinteresses meist privater Eigentümer, der Leitvorstellungen der „Europäischen Stadt“ (Kapitel C.1.3.1) und im Hinblick auf den Erhalt von Innenentwicklungspotenzialen oft Nachnutzungsinteressen in
der Zukunft erwartet. Um dafür auch in nächsten Jahren Flächen bereitzuhalten,
möchten viele Grundeigentümer ihre Flächen nicht dauerhaft einer öffentlichen freiraumplanerischen Nutzung zur Verfügung stellen bzw. das Baurecht für dieses Grundstück behalten. Temporäre grüne Nutzungen auf der Basis städtebaulicher Verträge
ermöglichen die Aufwertung des öffentlichen Raumes und die Bereitstellung von Freiraumangeboten, halten aber künftige Nutzungsmöglichkeiten offen (Kapitel B.4.3.3).
80
75,8
66,9
59,9
Abrissflächen in Altbaugebieten
63,1
60
in Prozent
Abrissflächen in Siedlungen des DDR-Wohnungsbaus
40
33,3
19,8
16,9 17,8
20
12,112,7
21,7
12,1
9,7
4,0
6,4
5,8
0
Abbildung 15: Nachnutzungsmaßnahmen auf Rückbauflächen. Ergebnis einer
Kommunalbefragung 2006 unter 215 Kommunen im Programm „Stadtumbau Ost“(Quelle: IRS,
Befragung der Kommunen 2006; BMVBS, BBR 2007a, S. 48).
(b) Die Wohngebiete der industriellen Bauweise zeichnen sich hingegen durch eine (in
den meisten Fällen) homogene Eigentümerstruktur aus, die eine Verlagerung von
ökonomischen Interessen der Wohnungsunternehmen auf andere Bestände ermöglicht. Die durch den Rückbau entstehenden meist großen Flächen stehen zum einen
einem geringen Nachnutzungsdruck gegenüber und bieten sich so für eine dauerhafte
freiraumplanerische Nachnutzung an. Zum anderen besteht in den meisten Gebieten
aber ein geringer Entwicklungsbedarf an neuen Freiräumen, verbunden mit äußerst
geringen finanziellen Möglichkeiten der Wohnungsunternehmen als Grundeigentümer
B.2 Stadtumbau: Planung stadträumlicher Schrumpfungsprozesse
und der öffentlichen Hand, was einer dauerhaften freiraumplanerischen Nachnutzung
entgegen steht. Eine Befragung unter den am „Stadtumbau Ost“ teilnehmenden
Kommunen durch die Bundestransferstelle im Jahr 2006 hat ergeben, dass 85 % der
Nachnutzungen der durch Rückbau entstehenden Freiflächen keine baulichen Nachnutzungen sind (Abbildung 15). Die so entstehenden und verbleibende Freiflächen
werden zu ca. 2/3 kostengünstig, z. B. in Form einer Rasenansaat begrünt (BMVBS,
BBR 2007a, S. 48).
Dauerhafte Umnutzung als freiraumplanerische Nachnutzung
Die dauerhafte freiraumplanerische Nachnutzung hat ihren Schwerpunkt in den (randstädtischen) Großwohnsiedlungen (ebd., S. 54). Dort sind durch günstige und großzügige Grundstückszuschnitte und die spezifische Eigentümerstruktur Umwidmungen
leichter als beispielsweise im Gründerzeitbestand möglich. Eine längerfristige Klärung
des Flächenstatus ist vor allem in Randbereichen von Großwohnsiedlungen sinnvoll,
auf denen nach dem Rückbau eine Wiederbewaldung erfolgt.
Trotzdem steht die dauerhafte Umnutzung von Bauland in Grünflächen dem Verwertungsinteresse der Grundeigentümer meist entgegen. Ist die Kommune an einer Umwandlung in eine Grünfläche interessiert, muss sie die Flächen aufkaufen, in einem
freiwilligen Flächentausch in Bauland tauschen oder angrenzende Grundeigentümer
zur Übernahme der Flächen bewegen. All diese Möglichkeiten sind aufgrund der mangelnden Finanzkraft der Kommunen auf der einen und überzogener Verkehrswerten
und Ertragserwartungen der Privateigentümer auf der anderen Seite nur schwer umzusetzen (Reuter 2005, S. 99). Entsprechend zeigen aktuelle Beispiele, dass auch die
angestrebte dauerhafte Nachnutzung als Grünfläche nur selten bodenordnerische
Maßnahmen erfordert bzw. nach sich zieht. Oft bleiben die Flächen als Siedlungsfläche
ausgewiesen (BBR 2004, S. 109). Trotz vielfältiger Ansätze und neuer formeller Regelungen trifft die dauerhafte Umnutzung auf vielfältige Hemmnisse (ebd., S. 112):
‚ Unklarheiten über die Neubewertung des Grundstückswertes (Aktualisierung der
Bodenrichtwerte nötig) (siehe Kapitel B.5.2)
‚ Flächen mit rechtlichen und ökonomischen Bindungen (Leitungsrechte, Altschulden,
Bindungsfristen geförderter Maßnahmen)
‚ Finanzierungsschwierigkeiten (vor allem bei Infrastrukturrückbau)
‚ Verlust an Buchwerten bei der Umwandlung von Bauland in Nicht-Bauland mit
Konsequenzen auf Kreditrahmen von Wohnungsunternehmen
Die vielfältigen Probleme und Hemmnisse der Nachnutzung vor allem von flächenmäßig größeren Rückbauflächen führen derzeit zu einer „Nichtnutzung“ der Flächen,
„… die dann mit dem Begriff Renaturierung positiv umschrieben wird“ (BMVBS, BBR
2006a, S. 73).
97
98
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Freiraumplanerische Zwischennutzung
Derzeit werden für ca. die Hälfte der im Stadtumbau frei werdenden Flächen Zwischennutzungen angestrebt (BMVBS, BBR 2007a, S. 49). Eine Zwischennutzung eines
beräumten Grundstückes kann immer dort sinnvoll sein, wo in Zukunft ein erneuter
Baubedarf erwartet wird. GSTACH spricht von „Jokerfunktionen“ freiraumplanerischer
Zwischennutzungen. Sie reichen von einer Verbesserung der Freiraumversorgung in
unterversorgten Stadtquartieren, über die Aktivierung und Inwertsetzung brachgefallener Standorte bis zur Bereitstellung von Flächen für benachteiligte Nutzergruppen
oder Nutzungsexperimente (Gstach 2006, S. 160).
Die temporäre Nachnutzung von beräumten Grundstücken ist meist nicht mit einem
Eigentümerwechsel verbunden. Diese Regelung bedeutet für den privaten Flächeneigentümer einige Vorteile:
‚ Finanzielle Unterstützung des Abrisses eines maroden und nicht mehr genutzten/benötigten Gebäudes sowie der Beräumung
‚ Entlastung bei den laufenden Kosten (z. B. Grundsteuer)
‚ Option für eine spätere Neubebauung bleibt erhalten
‚ Erhaltung des auf dem Grundstück vorhandenen Baurechts
‚ Eine zunächst temporär angelegte Nutzung schließt einen Übergang in eine dauerhafte Nutzung in der Zukunft nicht aus.
Trotz vieler informeller und innovativer Lösungsansätze für Zwischennutzungen zeigen
die Erfahrungen, dass hoheitliches Handeln, kontinuierliche Betreuung und in gewissem Umfang zur Verfügung stehende finanzielle Mittel notwendig sind, um die Projekte auch über die anstoßende Initiative hinaus zu erhalten (BBR 2004, S. 100). Dementsprechend bedarf es rechtlicher und vertraglicher Regelungen (siehe Kapitel B.4.3.3).
Ergänzend besteht die Möglichkeit zur Pacht brachliegender Flächen – allerdings wird
dies nur funktionieren, wenn der Eigentümer keine überzogenen Gewinnerwartungen
und damit Pachtpreise ansetzt (ebd., S. 102). Weiterhin sollten Zwischennutzungen
nicht als „Allheilmittel für die Quartiersentwicklung“ bewertet werden. Neben rechtlichen und finanziellen Fragen spielt auch die Bereitschaft der Bevölkerung, sich in derart Projekte einzubringen, eine wichtige Rolle (BMVBS, BBR 2007a, S. 53).
3
Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Stadtumbau in Form der Beseitigung leer stehender Wohnungen wirkt sich auf die
Flächennutzungsmuster in schrumpfenden Städten aus. Der Rückbau und das Aufgeben von Flächennutzungen ohne gewerbliche oder bauliche Nachnutzungsabsichten
führen zu einem Zuwachs freier Flächen. Trotz vielfältiger Bemühungen, diese erschlossenen Flächen als potenzielle Baugrundstücke für verdichteten Einfamilienhaus-
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
bau oder auch neue Gewerbeansiedlungen zu aktivieren, bleibt oft nur die freiraumplanerische Verwertung der Flächen. (Räumliche) Schrumpfungsprozesse werden in
Deutschland von einer weiteren Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsfläche in den
Rand- und Umlandbereichen der Städte begleitet. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, der Zielsetzung der Minderung des Flächenverbrauchs59 und der Steigerung
des Flächenrecyclings erschlossener Standorte in der Stadt stellt sich die Frage der
Nutzung und Gestaltung der frei werdenden Flächen. Der Zuwachs an Freiflächen in
den Städten stellt einerseits für einen ökologischen Umbau der Städte im Sinne einer
Verbesserung der Umweltqualität große Chancen dar und lässt zunächst eine Verbesserung der stadtökologischen Situation erwarten. Andererseits sind damit Innenentwicklungspotenziale verbunden, die im Spannungsfeld zwischen dem Schutz von Flächen im Außenbereich und dem Verlust von Flächenpotenzialen in der Stadt liegen
(Kasiske, Roeder 2004, S. I; Kaltenbrunner 2004, S. 636 f.; Heiland 2005). Der Umgang mit den Innenentwicklungspotenzialen auf der einen und der fortschreitenden
Suburbanisierung auf der anderen Seite bedarf einer Auseinandersetzung mit den
stadtplanerischen Zielen bzw. städtebaulichen Leitbildern und der Umsetzung einer
qualitativen Innenentwicklung (Kapitel B.3.1). Im Folgenden werden die Zusammenhänge der Flächennutzungsänderungen in Städten und ihrem Umland erörtert (Kapitel
B.3.2 und B.3.3).
3.1
Nachhaltige Stadtentwicklung und Flächensparziele
Ein erklärtes Ziel der „Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“ der Bundesregierung ist die
Reduzierung der Flächenneuinanspruchnahme (Bundesregierung 2002, S. 99). Dieses
Ziel soll vor allem durch den Vorrang von Innen- vor Außenentwicklung, die Bestandsentwicklung und die Wiedernutzung innerstädtischer Brachflächenpotenziale umgesetzt werden (BMVBW 2005, S. 12). Diese quantitativ und qualitativ ausgerichtete
Politik zur Steuerung der Flächeninanspruchnahme wird anhand folgender drei Ziele
konkretisiert (Bundesregierung 2002, S. 287 ff.):
‚ Die tägliche bauliche Freiflächeninanspruchnahme soll von 129 Hektar im Jahr 2000
bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag reduziert werden – so genanntes „30-ha-Ziel“.
‚ Die Innenentwicklung städtischer Bereiche genießt Vorrang – angestrebt ist ein
Verhältnis von 3:1 gegenüber einer baulichen Außenbereichsentwicklung.
59
Unter Flächenverbrauch wird der unmittelbare und dauerhafte Verlust biologisch produktiven
Bodens durch Verbauung und Versiegelung für Siedlungs- und Verkehrszwecke, aber auch für intensive Erholungsnutzungen, Deponien, Abbauflächen, Kraftwerksanlagen und ähnliches verstanden. Er bezieht sich auf nutzbare Flächen für die land- und forstwirtschaftliche Primärproduktion
(Banko et al. in Lexer 2004). Verbrauchte Flächen in diesem Sinne sind: (1) Bebaute Flächen: versiegelte und überbaute Flächen für Gebäude und Verkehr und zugehörige unversiegelte Flächen
(auch Hausgärten, Begleitgrün) und (2) Unbebaute Flächen: für Siedlungs- oder industriellgewerbliche Zwecke intensiv genutzte Flächen (auch Parkanlagen, Friedhöfe).
99
100
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
‚ Die räumliche Verteilung vom zukünftigen Wachstum der Siedlungs- und Verkehrsfläche soll in einer „dezentralen Konzentration“ erfolgen.
Flächeninanspruchnahme
Die Neuinanspruchnahme von bisher unversiegelten Freiflächen setzt sich – wenngleich leicht rückläufig – auf einem relativ hohen Niveau seit vielen Jahren fort
(Abbildung 16). Der in den letzten Jahren verzeichnete Rückgang der Flächeninanspruchnahme wird größtenteils auf die konjunkturelle Entwicklung zurückgeführt.
Allerdings wird in kleinerem Umfang auch von Erfolgen des kommunalen und regionalen Flächenmanagements und der, die Innenentwicklung unterstützenden, Städtebauförderung ausgegangen (BMVBW 2005, S. 34). Den größten Anteil am Flächenverbrauch haben dabei die ostdeutschen Städte und der ländliche Raum (Bürkner et al.
2007, S. 38).
In der Regel wird die Kenngröße Siedlungs- und Verkehrsfläche (SuV) zur Darstellung
des Flächenverbrauchs herangezogen.60 Da sie auch im Rahmen von Bautätigkeiten
entstehende bzw. erhaltene Freiräume beinhaltet und die Bestandssiedlungsfläche
einer Stadt auch die vorhandenen Freiräume mit erfasst (Bundesregierung 2002,
S. 290), ist diese Kenngröße im Rahmen dieser Arbeit nur bedingt geeignet, um Aussagen hinsichtlich eines Freiflächenzuwachses durch Rückbau zu machen.
Die Zunahme an Gebäude- und Freifläche, die bisher einen großen Anteil am Flächenverbrauch hatte, ist deutlich rückläufig (Abbildung 16).61 Hinzu kommt auch, dass
dieser Zuwachs zu fast einem Fünftel auf die Ausweitung von Grün- und Freiflächen
zurückzuführen ist (Bergmann, Dosch 2004, S. 5). Es kann davon ausgegangen werden, dass nur ca. 50 % der SuV tatsächlich versiegelt sind. Dies ist auf folgende Ursachen zurückzuführen: (1) neu angelegte Grünanlagen sind Bestandteil des Flächenverbrauchs, (2) teilweise sind naturschutzrechtliche Ausgleichsflächen Bestandteil der
Statistik und (3) der Anteil der Nutzungen mit hoher Grünausstattung nimmt zu
(BMVBW 2005, S. 35).
60
Zusätzlich wird die Summenposition „Siedlungs- und Verkehrsfläche“ aus den Kategorien Gebäude- und Freifläche, Betriebsfläche ohne Abbauland, Erholungsfläche, Verkehrsfläche und Friedhofsfläche ermittelt. Diese sehr heterogenen Nutzungsarten sind durch eine überwiegend siedlungswirtschaftliche Nutzung oder diesen Zwecken dienenden Ergänzungsfunktionen gekennzeichnet.
Es wird deutlich, dass Siedlungs- und Verkehrsfläche nicht unbedingt auch versiegelte Fläche bedeutet, und dass ein erheblicher Anteil unbebauter Flächen darunter ist (betrifft auch Kompensationsflächen im Rahmen der Eingriffsregelung). Die Nutzungsartengruppe Gebäude- und Freiflächen
umfasst Flächen mit Gebäuden und unbebaute Flächen, die den Zwecken der Gebäude untergeordnet sind (Statistisches Bundesamt 2002, Anhang 1). Zu den untergeordneten Flächen zählen:
Vorgärten, Hausgärten, Spielplätze, Stellplätze, die mit der Bebauung in Zusammenhang stehen.
Dazu zählen Flächen bis ca. 0,1 ha und unbebaute Flächen bis zum ca. 10-fachen der bebauten
Fläche.
61
Aktuelle Zahlen benennen einen täglichen Anstieg der SuV für das Jahr 2006 von 106 ha und
einen Trend von 113 ha/d (4 Jahresdurchschnitt) (Bundesregierung 2008, S. 59).
101
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Auch wenn die deutliche Zunahme an Erholungsflächen größtenteils auf statistische Effekte zurückzuführen ist und angenommen wird, dass bei konjunkturellem Aufschwung auch die Bautätigkeit wieder zunimmt, sind hier
doch Tendenzen erkennbar, dass
es insgesamt zu einer Zunahme
von Freiräumen im Siedlungsbereich kommt. Dies wird noch verstärkt durch die zunehmende Zahl
an (Gewerbe-)Brachen, die mangels Nachnutzungsdruck dauerhaft als Grünflächen entwickelt
werden.
Abbildung 16: Entwicklung des
Flächenverbrauchs.62
Innenentwicklung – Brachenrecycling
Die Entwicklung und Nachnutzung aufgegebener Flächen innerhalb der Städte wird als
wesentlicher Bestandteil der Umsetzung des Flächenschutzziels angesehen. Dabei
werden insbesondere der Bevölkerungsrückgang und die stagnierende wirtschaftliche
Entwicklung als Erfolg versprechende Rahmenbedingungen definiert (Schekahn,
Grundler 2004, S. 71). Insofern ist auch und vor allem in schrumpfenden Städten die
Innenentwicklung Hauptzielrichtung städtischer Entwicklung (Bürkner et al. 2007,
S. 54). Innenentwicklung verspricht in schrumpfenden Städten dabei den Erhalt hoher
Nutzerdichten zum effizienten Betrieb der technischen Infrastruktur, die Nachnutzung
erschlossener und bereits „verbrauchter“ Stadtbrachen als Wohn- und Gewerbestandorte und den Erhalt kurzer Wege. Gleichzeitig birgt dies aber auch die Gefahr, die in
schrumpfenden Städten wohl einmalig gebotenen Chancen einer umfassenden Freiraumentwicklung nicht nutzen zu können. Wird die Innenentwicklung als Allheilmittel
des Naturschutzes (im engeren Sinne) betrachtet, drängen sich Konflikte mit einer
stadtökologischen Sichtweise nachhaltiger Entwicklung auf (Körner 2005b, S. 87).
62
http://www.bbr.bund.de/cln_005/nn_21988/DE/ForschenBeraten/Fachpolitiken/Flaeche
Landschaft/Flaechenmonitoring/Thema__dummy/Fl_C3_A4chenerhebung_202005.html
am 13.03.2007
102
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Teilweise wird die Notwendigkeit der Nachverdichtung in Frage gestellt: „Die hoch
gelobte urbane Verdichtung ist ökologisch kontraproduktiv. Das plausible, aber ökologisch dumme Prinzip – innen verdichten, um draußen Raum zu schonen – entbehrt
jeder ökologisch nachprüfbaren Grundlage“ (Ganser 2002, S. 84; auch Hesse, Schmitz
1998, S. 448). Die ökologischen Vor- oder Nachteile einer kompakten Stadt oder des
Flächenverbrauchs sind naturwissenschaftlich kaum beleg- oder quantifizierbar. Weiterhin ist fragwürdig, nach welchen Kategorien sich das kritische Verhältnis von Siedlungsdichte und Flächenverbrauch vor dem Hintergrund stadtspezifischer Voraussetzungen bemisst (Hesse, Kaltenbrunner 2005, S. 17 ff.). Der Ansatz der qualitativen
oder doppelten Innentwicklung, welche die Belange der Freiraumsicherung und
-entwicklung in Städten als Merkmal nachhaltiger Siedlungsentwicklung und wesentlichen Bestandteil einer hohen Umwelt- und Lebensqualität sieht, hat in schrumpfenden
Städten eine ebenso hohe Bedeutung wie unter Wachstumsbedingungen (Schekahn,
Grundler 2004, S. 75).
Räumliche Ausformung des Leitbildes
Die nachhaltige Stadt als – global verbreitetes – Leitbild der Siedlungsentwicklung
basiert nicht auf einem festen räumlich-strukturellen Konzept, sondern fordert die
Entwicklung stadtspezifischer Konzepte zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsprinzipien
(Fürst et al. 1999, S. 7). Mitte der 1990er Jahre wurden folgende Leitlinien nachhaltiger städtebaulicher Strukturen definiert: Dichte, Mischung, Polyzentralität, Eindämmung der Suburbanisierung, Nachverdichtung, kurze Wege und behutsame Stadterneuerung. Diesen Leitlinien folgend werden die Leitbilder der „Dezentralen Konzentration“ und der „Kompakten Stadt“ diskutiert – ohne dass sich in der Forderung nach
einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung auf ein raumstrukturelles Modell festgelegt
wurde. Gemein ist den Ansätzen allerdings die Forderung nach ausgeglichenen Raumstrukturen, was aber nicht zwangsläufig entweder in zentralen oder in polyzentralen
Modellen Ausdruck finden muss (ebd., S. 8). Aktuell erfährt das Ziel der Nachhaltigkeit
und des Flächenschutzes seine physische Festsetzung im Leitbild der „Kompakten,
europäischen Stadt“ und dem Motto „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“
(BMVBW 2005).
Auch vor dem Hintergrund der Entwicklung nachhaltiger Stadtstrukturen im Stadtumbauprozess wird politisch deutlich der Ansatz der kompakten Stadt forciert: „Dabei
[Schwerpunkte für Rückbau- und Aufwertungsmaßnahmen, Anm. d. Verf.] verdient
das Leitbild der kompakten Stadt im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung eindeutig den Vorzug. Denn die Städte, die von innen nach außen gewachsen sind, sollten sich jetzt wieder grundsätzlich von außen nach innen entwickeln. Dies gilt vor
allem dort, wo die gewachsene städtische Struktur dies zulässt“ (BMVBW 2005,
S. 103). „Die Innenentwicklung erhält ein umso größeres Gewicht, je mehr sich eine
Stadt für eine schwierig vorhersehbare Zukunft rüsten will“ (RNE 2004, S. 12). Als
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Gefahren einer ungesteuerten Schrumpfung werden gesehen, dass sich der Rückgang
der Bevölkerung nicht automatisch in einer Minderung des Flächenverbrauchs äußert.
Weiterhin können ungesteuerte Schrumpfungsprozesse zu asymmetrischen Raumnutzungen, überdehnter Infrastruktur und damit zu mehr Flächenverbrauch pro Kopf
führen – eine Lenkung durch Stadtumbau, Stadtentwicklungskonzepte und geordneten Rückbau ist notwendig (RNE 2004, S. 6, 9).
3.2
Flächeninanspruchnahme in schrumpfenden Städten
Hinsichtlich der Wirkungen der Schrumpfung auf die Flächenneuinanspruchnahme
durch Siedlung und Verkehr werden in der Fachdiskussion zwei gegensätzliche Positionen vertreten (Heiland et al. 2005, S. 192): Zum einen gibt es die Auffassung, dass
sich trotz Bevölkerungsrückgang, rückläufiger Wohnungsnachfrage und stagnierender
wirtschaftlicher Entwicklung die Flächenneuinanspruchnahme auf hohem Niveau fortsetzt. Zum anderen wird erwartet, dass sich die Schrumpfungsprozesse auf die Flächeninanspruchnahme eindämmend auswirken.
In der fachlichen Diskussion wird aber zunehmend erkannt, dass „die Gleichung
‚Rückgang der Bevölkerung = Rückgang des Flächenverbrauchs’ […] falsch [ist]“
(Kilper, Müller 2005, S. 38; auch Zahrnt 2007, S. 11). Es wird auch vom Paradoxon der
Gleichzeitigkeit von Leerstand und Neubau gesprochen (Hendricks 2005, S. 35). Der
Zusammenhang zwischen Bevölkerungszunahme und Flächeninanspruchnahme
scheint logisch, wenngleich er nicht signifikant ist. Ebenso trägt eine rückläufige Bevölkerungszahl nicht per se zur Reduzierung der Neuinanspruchnahme bei (Bürkner et al.
2007, S. 39). BÜRKNER et al. schlussfolgern aus einer Zusammenschau von Studien
und Expertisen, dass „… der demographische Wandel nicht der entscheidende Faktor
für die Entwicklung der Flächeninanspruchnahme sein wird“ (ebd., S. 52). Allerdings
hat er durchaus Auswirkungen auf die baulich-räumliche Entwicklung in Städten. Ausgehend von dem zentralen Faktor der Entwicklung der Haushaltszahlen wird frühestens ab dem Jahr 2020 von Wirkungen auf die Flächeninanspruchnahme ausgegangen
(ebd., S. 70).
Szenario 1: Hohe Flächeninanspruchnahme trotz Schrumpfung
Trotz veränderter Rahmenbedingungen (Rückgang der Bevölkerung und wirtschaftliche Stagnation), politischer Zielstellungen („30-ha-Ziel“) und planerischer Vorstellungen (z. B. „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“) schreitet die Flächenneuinanspruchnahme – wenn auch gedämpfter, aber doch deutlich – in Ostdeutschland fort.
Empirisch ließ sich für die vergangenen 15 Jahre feststellen, dass sich die Flächeninanspruchnahme abgekoppelt von der Bevölkerungsentwicklung und der stagnierenden
wirtschaftlichen Entwicklung weiter auf hohem Niveau fortgesetzt und sich damit die
103
104
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Hoffnung auf einen „demographischen Automatismus“63 nicht bestätigt hat (ARL
2004, S. 3; Siedentop 2002, S. 30 ff.). Offensichtlich sind es nicht vordergründig die
quantitativen demografischen Rahmenbedingungen, die den Flächenverbrauch eindämmend beeinflussen – im Gegenteil sind sogar Tendenzen erkennbar, dass diese
den Flächenverbrauch noch steigern. Dafür gibt es folgende Gründe (ebd., S. 31 f.):
‚ Es ist auch weiterhin von einem steigenden individuellen Flächenkonsum auszugehen – das heißt die derzeitige Wohnfläche pro Person von 40 m² kann weiter steigen.
‚ In einem verschärften interkommunalen Wettbewerb wird die Bereitstellung von
Wohnbauland weiter eine Strategie darstellen, um die wenigen Zuzugswilligen zu
gewinnen.
‚ Die Alterung der Gesellschaft geht mit einer Verkleinerung der Haushalte, aber
nicht mit einer Verringerung der individuellen Wohnfläche einher (Remanenzeffekt64).
Urban Sprawl65 wird meist als Problem des Wachstums beschrieben, trotz allem ist er
aber ein „nahezu universales Phänomen“ als Ergebnis wirtschaftlicher Interessen, welches sich auch an den Rändern schrumpfender Stadtregionen vollzieht. Die Auswirkungen auf das funktionsräumliche Gefüge der Stadt sind ähnlich: So hängen Entmischungs-, aber auch Entdichtungserscheinungen gleichermaßen mit Sprawl und
Schrumpfung zusammen (Nuissl, Rink 2004b, S. 24 ff.). Darüber hinaus sind die ostdeutschen Schrumpfungsprozesse teilweise auch Resultat eines politisch gestützten
Urban Sprawl: Durch bewusste Entscheidungen ausgelöst (staatliche Förderung, Modernisierungsstrategien), handelt es sich um einen angebotsinduzierten Sprawl, bei
dem die Verbesserung der unmittelbaren Wohnsituation das ausschlaggebende Motiv
war. Einige Strategien gegen die Schrumpfung (z. B. große Industrieansiedlungen am
Stadtrand) führen teilräumlich zu einem fortschreitenden Urban Sprawl. So ist davon
auszugehen, dass eine weitere Wachstumsorientierung gepaart mit den in den letzten
Jahren geschaffenen funktionsräumlichen, infrastrukturellen und planungsrechtlichen
Tatsachen zu einer fortschreitenden Flächeninanspruchnahme führen werden (ebd.,
S. 31 ff.).
63
Hiermit ist der Zusammenhang zwischen sinkenden Bevölkerungszahlen und einem flächensparsameren und bestandsqualifizierenden Städtebau gemeint (Siedentop 2002, S. 30).
64
Teilweise wird von einer Vervierfachung der individuellen Wohnfläche im Lebenszyklus ausgegangen (Mäding 2003, S. 67).
65
Die Begriffe Suburbanisierung und Urban Sprawl (der amerikanischen Debatte entlehnt) werden
teilweise gleichbedeutend oder auch in unterschiedlichen Intensionen verwendet: So kann der Begriff Urban Sprawl mit dem Fokus auf tatsächlich physische Aspekte verwendet werden. Suburbanisierung meint dann eher eine Phase der Stadtentwicklung (Nuissl, Rink 2003, S. 8 ff.).
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Szenario 2: Verringerte Flächeninanspruchnahme unter Schrumpfungsbedingungen
Durch schrumpfende Einwohnerzahlen wird erwartet, dass der Siedlungsdruck – wenn
auch nicht proportional – nachlässt (Mäding 2003, S. 68). Ein Rückgang der Flächeninanspruchnahme unter Schrumpfungsbedingungen wird vor allem im ländlichen
Raum signifikant, weil dort zunehmend weniger Wohnbauland neu ausgewiesen bzw.
beansprucht wird. Der Gesamtflächenverbrauch wird daher eher von Verkehrsflächen
bestimmt und der Verbrauch für Siedlungsfläche ist rückläufig (Förster, Zimmermann
in Heiland et al. 2004). Veränderungen der Arbeitswelt, z. B. in Zusammenhang mit
dem Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft können auch Veränderungen in der arbeitsplatzspezifischen Flächennachfrage und eine Bremsung des gewerblichen Flächenbedarfs zur Folge haben. Gleichzeitig stattfindende Veränderungen im
Einzelhandelssektor und die Abwanderung von Industriestandorten ins Ausland vermindern zusätzlich die Flächennachfrage, aber auch die Revitalisierungschancen innerstädtischer Brachen (Fuhrich, Dosch 2005, S. 64).
3.3
Freiflächenzuwachs in schrumpfenden Städten
Neben der anhaltenden Flächeninanspruchnahme auch am Rand schrumpfender Städte sind Entwicklungen festzustellen, die zu einem Zuwachs an freien Flächen und auch
Freiräumen in (schrumpfenden) Städten führen: (1) Durch den wirtschaftlichen Strukturwandel werden Gewerbe- und Verkehrsflächen aufgegeben, die abhängig vom
baulichen Verwertungsdruck und der Eignung für eine Revitalisierung städtische Brachflächen werden. (2) Nutzungsumwidmungen und die Umsetzung von Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen der Eingriffsreglung bei Bauvorhaben sowie Veränderungen der
Freiraumnutzungsarten führen zu einem deutschlandweit verzeichneten Anstieg der
Freiräume im Zuständigkeitsbereich städtischer Grünverwaltungen. (3) Spezifisch für
am Programm „Stadtumbau Ost“ teilnehmende Kommunen ist die Entstehung von
Freiflächen auf Rückbaugrundstücken.
Wenn brachgefallene Flächen nicht entsiegelt bzw. restrukturiert werden, bleiben sie
verbraucht (Nuissl, Rink 2004a, S. 60). Inwiefern man diese Flächen – sollten sie denn
dauerhaft begrünt oder renaturiert bzw. als Grünfläche im Siedlungsgebiet gewidmet
werden – dann tatsächlich statistisch wieder als Freifläche einordnen kann, hängt auch
stark von den erreichten (auch ökologischen) Qualitäten ab. Die Frage ist, inwieweit
eine „Renaturierung“ im Innenbereich eine Flächenneuausweisung ausgleichen kann.
Neue Freiräume bei Freiflächeninanspruchnahme
Die Flächenstatistik des Bundes ist nicht geeignet, kleinräumige und auf die Siedlungsgebiete bezogene Daten zur quantitativen Freiraumentwicklung zu liefern. Aus den
Erhebungen lassen sich aber durchaus Tendenzen hinsichtlich einer Zunahme der Freiräume im Siedlungsbereich erkennen. Im Zusammenhang mit Statistiken zur Flächeninanspruchnahme werden auch die Anlage von Grünflächen und die Durchführung
105
106
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
von Kompensationsmaßnahmen im Rahmen der Eingriffsregelung als Flächenverbrauch gewertet. Aus Sicht der Freiraumplanung sollte dies differenzierter bewertet
werden. Problematisch ist hier das ambivalente Verständnis von Freiraum: (1) Durch
Flächenneuinanspruchnahme wird Freiraum verbraucht. (2) Auch bei Flächenneuausweisungen werden teilweise Freiräume erhalten oder neu entwickelt. Insofern es sich
nicht um die Inanspruchnahme wertvoller Naturräume, sondern agrarisch überprägter
und aus naturschutzfachlicher Sicht nicht besonders schützenswerter Räume handelt,
können durch freiraumplanerische Maßnahmen durchaus höhere ökologische Qualitäten erreicht werden. Dies hängt natürlich eng mit dem Grad der Neuversiegelung (bei
Grünflächen meist sehr gering), der Standortgerechtigkeit und Naturnähe der angestrebten Bepflanzung und der tatsächlichen Nutzung zusammen. Es handelt sich bei
der Anlage von Grünflächen rein quantitativ natürlich um eine Veränderung des Freiraumbestandes – aus qualitativer Sicht sollten aber die gestalterischen und funktionalen Aspekte entsprechend berücksichtigt werden, die evtl. sogar zu einer qualitativen
Verbesserung führen.
Ein Indiz für die Zunahme von Freiräumen können die Flächenausweisungen der Flächennutzungspläne sein (Flächenerhebung nach Art der geplanten Nutzung des Statistischen Bundesamtes). Allerdings liegen diese in den meisten Kommunen aus den
1990er Jahren vor und finden sich derzeit in Überarbeitung und können somit für eine
Gegenüberstellung der ausgewiesenen Nutzungen nicht herangezogen werden. Hinzu
kommt, dass durch Zwischennutzungsregelungen Grundstücke trotz der (temporären)
Nutzung weiterhin als Bauflächen ausgewiesen sind und somit nicht erfasst werden.66
Zunahme von Brachflächen
Der geschätzte tägliche Zuwachs an Brachflächen in Deutschland liegt bei 12 ha, trotz
steigender Anteile der Wiedernutzung (Penn-Bressel, et al. 2003). Es wird deutlich,
dass der Flächenvorrat schneller steigt, als dass Flächen recycelt werden (Fuhrich,
Dosch 2005, S. 63). Die Baulandumfragen 2000 und 2003 verdeutlichen, dass der
Nachnutzungsdruck rapide abnimmt und durch das große bzw. steigende Angebot
brachgefallener Industrieflächen der Anteil der tatsächlichen Nachnutzung weiter abnimmt. Im Gegenzug werden immer mehr Brachflächen (dauerhaft) in Grünflächen
umgewidmet (ARL 2004, S. 4). Nach Berechnungen des UBA beträgt die Flächenreser-
66
Bei diesen Flächen sollte zunächst nicht davon ausgegangen werden, dass sie tatsächlich dauerhaft
in das Freiraumsystem der Stadt integriert werden. Allerdings gehen auch von temporären Nutzungen Verbesserungen des Wohnumfeldes und stadtökologischer Qualitäten hervor und auch für
diese Flächen müssen öffentliche oder private Mittel zur Anlage und Unterhaltung bereitgestellt
werden.
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
ve im Siedlungsbestand (variierend je nach Definition und bauleitplanerischer Verfügbarkeit) ca. 70.000 bis 140.000 ha.67
Eine deutschlandweite genaue Erfassung des Anteils an Brachflächen an der Flächennutzung ist aufgrund unterschiedlicher Definitionsansätze68 und uneinheitlicher Erfassungssystematiken kaum möglich (Böhme et al. 2006, S. 21). Viele Städte führen unter
Federführung der Liegenschafts- oder Umweltämter Brachenkataster, in denen die
brachliegenden, potenziell bebaubaren Flächen im Stadtgebiet erfasst werden. Die
Kataster dienten ursprünglich vor allem der koordinierten Nutzerlenkung auf Bestandsflächen (Baulandkataster) – heute kann die steigende Anzahl der aufgenommenen
Flächen und die zurückgehende Nachfrage als Tendenz dafür gewertet werden, dass
viele dieser Flächen in absehbarer Zeit nicht wieder bebaut werden und die Zahl der
Freiräume in der Stadt zunimmt. Als Baulückenkarteien dienen sie oft der Vermittlung
für Freiraumnutzungen bzw. Kompensationsmaßnahmen im Rahmen der Eingriffsregelung. Allerdings werden Rückbauflächen in den Großwohnsiedlungen nur sehr selten
aufgenommen.
Zunahme an Freiräumen im Bereich der öffentlichen Verwaltung
Unabhängig von Wachstum oder Schrumpfung ist in den Städten ein Zuwachs an
Freiräumen (im Bereich der öffentlichen Verwaltung) festzustellen. Generelle Aussagen
und Daten zur Flächenentwicklung von Freiräumen im kommunalen Verwaltungsbereich sind bis auf ausgesuchte Freiraumkategorien (z. B. Entwicklung der Friedhofsfläche69) nicht vorhanden. Betrachtet man die Zahlen einzelner Städte so ist ein Trend zur
Zunahme von Freiräumen im Verantwortungsbereich kommunaler Grünflächenämter
zu erkennen:
67
Aktuelle Zahlen der Baulandumfrage des BBR gehen von mindestens 150.000 ha brachliegenden
Flächen im Siedlungsbestand aus (davon 36.000 ha in den Neuen Bundesländern und Berlin)
(Bundesregierung 2008, S. 216).
68
In dieser Arbeit wird sich folgender Definition angeschlossen: „Brachflächen sind ungenutzte oder
stark mindergenutzte Flächen verschiedener Vornutzungskategorien in einem passiven Verharrungszustand der durch den Wegfall ihrer bisherigen Nutzung ausgelöst wurde und erst mit der
Ansiedlung einer neuen, dauerhaften und standortgerechten Nutzung endet“ (BBR et al. 2006,
S. 96 f.).
69
Von der in Deutschland vorhandenen Friedhofsfläche ist nach Expertenmeinung ca. 1/3 in Zukunft
überflüssig (Weber in Krebs 2003, S. 46). Im Rahmen einer Untersuchung zu „Strategien der
Friedhofsentwicklung in Hannover“ wurde sogar ein Überhang von 40-50 % der Fläche festgestellt (ebd., S. 47). Eine Prognose für die Stadt Ludwigsburg hingegen geht von einer wachsenden
Zahl Verstorbener aus und ermittelt einen zusätzlichen Bedarf (trotz Gräberrücklauf und veränderter Bestattungsarten) von 47 % der jetzigen Friedhofsfläche (Köhl 2004, Ruf in Köhl 2004, S. 90).
Die Aufgabe von Friedhofsflächen bedeutet keine Entlastung. Die z. T. sehr ausgedehnten Flächen
bleiben in der Regel als öffentliche Parks bestehen und verbleiben im Zuständigkeitsbereich der
Grünverwaltungen, ohne dass diesem Flächenzuwachs weitere Einnahmequellen gegenüberstehen.
107
108
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
(a) Die Stadt Berlin geht von einem beachtlichen Zuwachs der Flächen im Zuständigkeitsbereich der Grünverwaltung aus. Neben den nicht quantifizierten Flächen durch
Rückbaumaßnahmen im Rahmen des Programms „Stadtumbau Ost“ sind es die Aufgabe der Flughafennutzung in Berlin-Tempelhof, brachliegende Bahnanlagen, Stilllegungen von Landwirtschaftsflächen, die Aufgabe innerstädtischer Wasserwerke, eine
angenommene rückläufige Nachfrage an Kleingärten und die Aufgabe von ca. 700 ha
Friedhofsfläche. Daneben sind Zuwächse durch verwaltungsinterne Kompetenzverlagerungen zu erwarten (SenVerW Stadtentwicklung 2004, S. 62). Konkrete Zahlen zur
Flächenentwicklung gibt es nur bei einigen Nutzungsarten. Insgesamt ist aber von
beträchtlichen Zuwächsen auszugehen, da es sich bei den aufgezählten Beispielen um
sehr flächenintensive Nutzungen handelt. Von 1992 bis 2002 gab es bereits einen
Flächenzuwachs an Park- und Grünanlagen von ca. 4.200 ha auf ca. 5.500 ha.
(b) In Leipzig hat der Anteil öffentlicher Grünflächen im alten Stadtgebiet von 1992 bis
2005 um 36 % zugenommen (Heck 2005a, S. 27). Es ist anzunehmen, dass besonders
in den letzten Jahren der Zuwachs auf das Brachfallen, die Nutzungsaufgabe und den
gezielten Rückbau nicht mehr benötigter Wohn- und Gewerbegebäude zurückzuführen ist.
(c) Die Stadt Dresden beobachtet einen Trend zur Zunahme der kommunal verwalteten Grünanlagen (Tabelle 2). Einzig die Kleingartenfläche ist zurückgegangen, begründet durch die Aufgabe von Anlagen durch Hochwasserereignisse und durch Flächenbedarfe für Straßenbaumaßnahmen. Die Dynamik bei den Vorrangflächen für Naturund Landschaftsschutz ist durch Übernahme von Flächen durch Private und durch
neue Baumaßnahmen zu erklären.
Jahr
Park- und
Grünanlagen
(ha)
Kommunalwald (ha)
Vorrangflächen f.
Natur- u. Landschaftsschutz (ha)
Kleingärten
(ha)
2000
265,2
508,6
264,7
792,7
2001
283,7
543,6
280,4
2002
290,0
548,6
277,0
2003
303,6
553,8
2004
304,4
553,5
Spielplätze Straßenbäume
(ha)
(Anzahl)
23,3
39.469
24,3
42.365
790,5
24,3
43.993
272,0
786,4
25,8
44.558
287,3
786,0
28,3
45.847
Tabelle 2: Entwicklung der kommunalen Fläche der verschiedenen Freiraumkategorien der Stadt
Dresden (keine Veränderungen gab es bei der Friedhofsfläche, die Fläche der Kleingärten
beinhaltet auch private Flächen) (Stadt Dresden 2006, S. 17 f.).
Eine erhebliche Zunahme ist bei den Straßenbäumen/Alleen und begrünten Straßenzügen zu verzeichnen, die vor allem im Zuge der Sanierung des Straßennetzes – oft
auch als Kompensationsmaßnahme – entstehen. Die Vielzahl neu entstandener Spielplätze ist trotz fehlender kommunaler Mittel durch vielfältige Finanzierungswege er-
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
möglicht worden. Die Unterhaltung der teilweise kommunalen Flächen muss in der
Folge aber von der Stadt getragen werden, was, insbesondere im Hinblick auf die
Beseitigung von Vandalismusschäden, zu erheblichen Belastungen des Budgets des
Amtes für Stadtgrün führt (Stadt Dresden 2006, S. 17 f.).
Beitrag des Programms „Stadtumbau Ost“ zur Freiflächenzunahme
Einige Städte haben im Rahmen ihrer Stadtumbaukonzepte ermittelt, wie sich der
Rückbau von Wohngebäuden hinsichtlich eines Flächenzuwachses auswirken wird.
Dies liegt meist nur für die Rückbauflächen in den Großwohnsiedlungen vor, da der
Rückbau im Altbaubestand sehr kleinteilig abläuft und schlecht voraussehbar ist. Die in
den Stadtumbaukonzepten meist angegebene Zahl der abgerissenen Wohneinheiten
kann allenfalls als Anhaltspunkt für eine Zunahme von Freiräumen dienen. Insbesondere in den Großwohnsiedlungen hängt diese eng mit der Geschosszahl und den Wohnungsgrößen zusammen und kann nur in gebietsbezogenen Einzelerhebungen erfasst
werden. Nach einer Statistik zu den Wohnungsabgängen in Sachsen im Jahr 2003
sollen die durch Rückbau von Wohngebäuden frei werdenden Flächen zu ca. 50 % als
Grünflächen genutzt werden.70
Freiflächenzunahme – mehr Freiräume oder bauliche Wiedernutzung?
Trotz der weiter anhaltenden Flächenneuinanspruchnahme lässt sich im Einzelnen
durchaus ein Zuwachs an Freiflächen in der Stadt belegen. Inwieweit Schrumpfung
auch zu einer Reduzierung des Flächenverbrauchs beiträgt ist derzeit noch unklar. Klar
scheint jedoch zu sein, dass sich trotz Schrumpfung der Flächenverbrauch zwar auf
einem im Gegensatz zu heute niedrigeren Niveau stabilisieren wird, aber nicht vollständig eingedämmt werden kann.
Die aktuelle Flächennutzungsdynamik in schrumpfenden Städten zeigt aus Sicht der
Freiraumplanung ambivalente Züge: Durch Flächenneuinanspruchnahme im Außenbereich kommt es zunächst zum Verlust von Freiräumen. Innerhalb dieses Flächenumfangs bleiben aber auch Freiräume erhalten bzw. werden in Form von Parks, Hausgärten, Begleitgrün und Kompensationsmaßnahmen neu angelegt. Die Flächeninanspruchnahme ist demnach zum einen rein quantitativ belegbar und zum anderen im
Hinblick auf Zersiedelung, Zerschneidung und Veränderungen des ursprünglichen
Zustandes negativ einzustufen. Aus freiraumplanerischer Sicht sind aber innerhalb
dieses Flächenverbrauchs auch positive Seiten zu erkennen: Flächenverbrauch heißt
nicht automatisch Versiegelung von Flächen, Verlust von Lebensräumen und Verlust
ökologischer Funktionen. Aus dem Blickwinkel städtischer Grünverwaltungen erhöhen
sich damit die Freiraummenge und damit auch die Unterhaltungskosten. Dazu kommen durch Nutzungsaufgabe und Rückbau brachfallende Flächen im Innenbereich.
70
Pressemitteilung 135/2004 des Statistischen Landesamtes des Freistaates Sachsen
109
110
B.3 Freiflächenzuwachs versus Flächeninanspruchnahme
Diese werden in steigendem Maße nicht wieder baulich genutzt und werden dauerhaft
oder temporär als Grünfläche gewidmet. Somit erhöht sich auch dadurch die absolute
Menge der Freiräume in den Städten. Zusammenfassend ist von einer Zunahme von
Freiräumen im Siedlungsbereich auszugehen (Abbildung 17).
Prozesse
Kleinräumiges Wachstum
Flächenneuinanspruchnahme
(Siedlungs- und Verkehrsfläche)
Freiflächenverlust
(Land-,
Forstwirtschaft)
Außenbereich
Schrumpfung
Aufgabe von
Flächennutzungen
Rückbau von
Gebäuden
(Stadtumbau)
Aufwertung
(Stadtumbau)
Freiräume
Freiflächenzuwachs
Freiräume
(neue Freiräume
innerhalb neuer
Siedlungs- und
Verkehrsfläche)
(Wohnbauland-, Gewerbe-,
Infrastrukturbrachen)
(temporär oder
dauerhaft begrünte
bzw. aufgewerte
Rückbau- udn
Brachflächen)
Innenbereich
Abbildung 17: Übersicht über Flächennutzungsänderungen durch Wachstums- und
Schrumpfungsprozesse im Innen- und Außenbereich der Städte (Eigene Darstellung).
Die Flächennachfrage in den schrumpfenden Regionen sinkt – trotzdem wird das Siedlungsflächenangebot vielerorts noch erweitert. Um eine weitere Reduzierung der Siedlungsdichten zu vermeiden und damit die Effizienz der Infrastrukturen zu erhalten, sind
auch hier Strategien zur Innenentwicklung und Wiedernutzung brachliegender Flächen
notwendig. Fragen des Flächenmanagements sind demnach unabhängig von den
Rahmenbedingungen von großer Bedeutung (Fuhrich, Dosch 2005, S. 62 f.). Der Fakt,
dass das Wohnen der bedeutsamste Faktor für die Flächenneuinanspruchnahme ist,
verdeutlicht, dass veränderte Wohnungsnachfrage, steigende Wohnflächenansprüche
und die Zunahme von Einpersonenhaushalten trotz Schrumpfung auch weiter zum
Flächenverbrauch beitragen werden (Bürkner et al. 2007, S. 39).
Im Gegenzug liegen hier aber auch die entscheidenden Ansatzmöglichkeiten,
Schrumpfung zu einer Reduzierung der Flächenneuinanspruchnahme zu nutzen. Hierbei stellt sich auch die Frage ob der „Stadtumbau Ost“ als Instrument zur Eindämmung der Flächeninanspruchnahme durch beispielsweise die Revitalisierung der Innenstädte geeignet ist (Thiel 2004, S. 37 f.). Im Rahmen der Nachnutzung von Rückbauflächen gibt es bereits Ansätze, dass sich auf diesen Flächen gewissermaßen eine Umkehr des Sprawls andeutet, z. B. durch den Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern auf
innerstädtischen Brachflächen (Nuissl, Rink 2004b, S. 32), aber auch die zunehmende
Besetzung von Brachflächen durch Supermärkte oder Autohändler. Aus Stadtumbauperspektive kann der gezielte Rückbau und die langfristig angelegte Renaturierung von
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Flächen einen Beitrag zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme und damit zur
Umsetzung des „30-ha-Ziels“ leisten (BBR 2004, S. 108; BMVBS, BBR 2007a, S. 45).
Allerdings sind hierzu Barrieren der planerischen Sicherung und damit Absicherung der
Dauerhaftigkeit zu überwinden (Böhme et al. 2006, S. 40; Kapitel B.4).
4
Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in
schrumpfenden Städten
Die Umsetzung der Freiraumplanung unter Schrumpfungsbedingungen ist eng an die
planungsrechtlichen Rahmenbedingungen geknüpft. Alle Planungsebenen übergreifend stehen eine Reihe Instrumente und Steuerungsansätze zur Freiraumentwicklung
zur Verfügung – wenngleich explizite gesetzliche Regelungen nicht existieren (DRL
2006, S. 31). Die Anwendung und Ausschöpfung der Möglichkeiten stellt auch in
schrumpfenden Städten eine große Herausforderung dar. Im Folgenden sollen zunächst die Festsetzungsmöglichkeiten freiraumplanerischer Zielstellungen in formellen
und informellen Instrumenten, insbesondere im Hinblick auf deren Eignung zum Umgang mit den aktuellen Herausforderungen, erörtert werden (Kapitel B.4.1). Eine weitere Basis zur Umsetzung von freiraumplanerischen Stadtumbaumaßnahmen stellen
die raumordnungs- und baurechtlichen Regelungen dar. Sie werden ebenfalls im Hinblick auf die speziellen Aufgaben des Stadtumbaus dargestellt (Kapitel B.4.2). Abschließend werden die rechtlichen Möglichkeiten und Hindernisse der Freiraumentwicklung im Stadtumbau zusammengefasst (Kapitel B.4.3).
4.1
Rechtliche Grundlagen der Freiraumentwicklung in Städten
4.1.1 Formelle Ansätze
Die Aufgabe, Freiräume im Siedlungsbereich zu entwickeln und zu erhalten, wird trotz
der offensichtlich vorhandenen gesellschaftlichen Legitimation eigenständig und generell nicht gesetzlich gefordert bzw. geregelt. Die Festlegungen in einzelnen, den Umgang mit Raum aus verschiedenen Perspektiven regelnden Gesetzen entfalten zwar
Wirkungen für die städtische Freiraumplanung, decken aber nicht alle relevanten Aspekte ab. Vor dem Hintergrund einer gesellschaftlich-kulturell begründeten Legitimation von Stadtgrün können diese Gesetze allerdings auch im Hinblick auf eine Unterstützung der städtischen Freiraumplanung interpretiert werden.
Der Schutz der Natur und der Nachhaltigkeitsgedanke sind bereits im Grundgesetz
verankert: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen
die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen
Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch
die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ (GG Art. 20 a).
111
112
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Neben der Steuerung der Freiraumentwicklung über die Grundsätze der Raumordnung
und den damit verbundenen klassischen Instrumenten der Landes- und Regionalplanung finden vermehrt Instrumente aus den Fachplanungen und informelle Instrumente Anwendung (Mitschang 1996, S. 16 f.; Spannowsky 2005, S. 201). Die Entwicklung
von städtischen Freiräumen basiert auf den Regelungen des Bundesplanungsrechtes
(BauGB) und der Ländernaturschutzgesetze auf Basis des Bundesnaturschutzgesetzes
(BNatSchG). Darüber hinaus ist insbesondere das Bundesbodenschutzgesetz im Hinblick auf den sparsamen Umgang mit Boden und Entsiegelung für die Freiraumentwicklung relevant (DRL 2006, S. 26 ff.).
Bauleitplanung
Betrachtet man die konsensual anerkannten positiven Wirkungen von Freiräumen auf
die städtische Lebensumwelt vor dem Hintergrund der Grundsätze und Aufgaben der
Bauleitplanung (§ 1 BauGB), so kann man durchaus von einer gesetzlichen Verpflichtung zur Anlage und Unterhaltung von Freiräumen in Siedlungen ausgehen. Die Bauleitplanung soll neben der baulichen, auch die sonstige Nutzung der Grundstücke
steuern – so finden sich unter den in der Bauleitplanung zu berücksichtigenden Belangen auch zahlreiche natur- und landschaftsbezogene Planungsziele (Mitschang 1996,
S. 3, 263). Auch ohne einer expliziten Verwendung oder Definition der Begriffe Freiraum bzw. Freiraumplanung wird von einer hohen Bedeutung der Baugesetzgebung
für die kommunale Freiraumplanung ausgegangen (DRL 2006, S. 27). Freiraumplanung kann als Bestandteil bzw. Teilaufgabe des Städtebaus betrachtet werden: „Die
umfassende Aufgabe des Städtebaus ist es nicht nur, zu bestimmen, wo Freiflächen
erhalten oder bebaut werden, sondern das Siedlungsgefüge so zu entwickeln und
innerhalb des Siedlungsgefüges Freiflächen den baulichen Nutzungen so zuzuordnen,
dass eine weitere Flächeninanspruchnahme durch Funktionstrennung vermieden wird,
und dass sowohl innerstädtische Freiräume wie auch bauliche Nutzungen in ihren
Zusammenhängen von Nutzbarkeit und Raumbildung gestärkt werden“ (Haase 1999,
S. 45).
Landschaftsplanung
Das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) macht über urbane Freiräume explizit keine
Aussagen. Allerdings gelten die Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege
auch für den besiedelten Bereich (BNatSchG § 1). Inwiefern hier allerdings auch vom
Menschen geschaffene städtische Grünflächen gemeint sind, oder eher die im Gesetz
erwähnten „… im besiedelten Bereich noch vorhandenen Naturbestände …“
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
(BNatSchG § 2, Abs. 1, Nr. 10) kann dabei verschieden ausgelegt werden.71 Die Planungsinstrumente des Naturschutzes im Rahmen der räumlichen Planung sind auf der
örtlichen Ebene der Landschaftsplan und in zahlreichen Bundesländern der Grünordnungsplan. Sie sollen die Beachtung der naturschutzfachlichen Ziele in der Bauleitplanung gewährleisten. Die Landschaftsplanung thematisiert damit den Natur- und Landschaftsschutz sowie die Erholungsvorsorge im Außen- und Innenbereich und damit die
Umweltverträglichkeit der Siedlungsentwicklung hinsichtlich einer integrierten Freiraum- und Siedlungsentwicklung und der Qualitätsverbesserung des Wohn- und Arbeitsumfeldes (Hutter et al. 2004, S. 78).
4.1.2 Informelle Ansätze
Auf der Ebene der Bauleitplanung werden die Ausweisungsmöglichkeiten der Freiraumplanung formell mit abgedeckt. Eigenständige freiraumplanerische Konzepte
werden vom Gesetzgeber nicht gefordert. Da freiraumplanerische Belange in der
Stadtentwicklung aber nicht nur unter städtebaulichen Aspekten betrachtet werden
können, stellen viele Städte eigenständige informelle Freiraumkonzepte für die Gesamtstadt und für Teilräume auf (z. B. Grünordnungsrahmenpläne, Freiraumkonzepte,
Grünmasterpläne), und verabschieden diese teilweise als Satzungen oder als Beschlüsse
des Stadtrates (DRL 2006, S. 28 f.). Insbesondere im Rahmen des Stadtumbaus ist die
Formulierung gesamtstädtischer und langfristiger freiraumplanerischer Zielstellungen
von besonderer Bedeutung, wenn es um den Rückbau von Gebäudesubstanz und die
freiraumplanerische Nachnutzung brachgefallener oder leerer Flächen geht. Nur wenige Städte haben im Rahmen der Erstellung ihrer Stadtumbaukonzepte separate Freiraumkonzepte erstellt. Wenn das Thema überhaupt aufgenommen wurde, dann meist
nur im Rahmen von Nachnutzungskonzepten bei einzelnen Abrissvorhaben.
Freiraumversorgungsanalysen dienen der Feststellung, zu welchem Grad in welchen
Bereichen der Stadt die Bevölkerung mit unterschiedlichen Freiräumen versorgt ist.
Daraus können Hinweise für freiraumplanerische Maßnahmen abgeleitet werden
(Hutter et al. 2004, S. 98). Neben rein quantitativen Erhebungen sind auch die qualitativen Merkmale der einzelnen Räume von Bedeutung, um die Eignung bezüglich gewisser funktionaler Anforderungen einschätzen zu können. Im Zusammenhang mit
Stadtumbau und Schrumpfungsprozessen können Freiraumversorgungsanalysen auch
71
Im Entwurf zum Umweltgesetzbuch vom 20.05.08 wird im Dritten Buch (Naturschutz und Landschaftspflege), § 1 (Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege) in Absatz 6 auch von städtischen Freiräumen gesprochen: „Freiräume im besiedelten und siedlungsnahen Bereich einschließlich ihrer Bestandteile, wie Parkanlagen, großflächige Grünanlagen und Grünzüge, Wälder und
Waldränder, Bäume und Gehölzstrukturen, Fluss- und Bachläufe mit ihren Uferzonen und Auenbereichen, stehende Gewässer, Naturerfahrungsräume, gartenbau- und landwirtschaftlich genutzte
Flächen sind zu erhalten und dort wo sie nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind, neu zu
schaffen.“ Sollte diese Regelung Bestandteil der endgültigen Fassung werden, so bedeutet dies
erstmals einen gesetzlichen Rahmen dieser Art für städtische Freiräume.
113
114
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Hilfestellung für die Abschätzung von Innenentwicklungspotenzialen geben. Hierbei ist
es insbesondere von Bedeutung, dass neben angebotsbezogenen Größen auch die
tatsächliche Nachfrage berücksichtigt wird. Mit zunehmender Entdichtung, sich wandelnden Stadtstrukturtypen und einer wachsenden Freiflächenverfügbarkeit wird sich
auch die quantitative Freiraumnachfrage ändern (Kapitel B.1.2.1; B.3.3). Der Ansatz
der Bewertung der Freiraumversorgung mit (politisch) definierten Richtwerten72 kann
für wachsende Städte mit einem entsprechenden Druck auf Freiflächen durchaus ein
hilfreiches Instrument zur Feststellung von Defiziten sein. In schrumpfenden Städten
wird es eher sinnvoll sein, Richtwerte für eine Unternutzung zu finden, um Angebotsausdünnungen zu steuern. Die qualitative Nachfrage ist auch von sozialen Faktoren
abhängig. Die unterschiedlichen Bevölkerungs-, Alters- und Lebensstilgruppen entsprechend des kleinräumigen Sozialgefüges können unterschiedliche Freiraumbedürfnisse zur Folge haben (ausführlicher siehe Kapitel B.1.2): „Die Frage der notwendigen
und sinnvollen Grünausstattung der Stadt lässt sich nicht allein mit den etablierten
Planungsgrößen beantworten. Sie muß (!) vor dem Hintergrund der sich wandelnden
gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse überdacht und neu verhandelt werden“ (Giseke, Renker 1998, S. 563). Bisher gibt es allerdings noch keine Ansätze zur
„Umkehr“ der Richtwertanwendung hinsichtlich der Frage wie viel Freiraum verträglich ist. Es ist anzunehmen, dass hier vor allem qualitative Kriterien ausschlaggebend
sein werden und stärker nach Stadtstrukturtypen differenziert werden muss (Westphal
2007, S. 128 ff.).
4.2
Rechtliche Grundlagen des Stadtumbaus
Für die geordnete Entwicklung schrumpfender Städte und Regionen werden spezifische städtebauliche und bodenordnerische Instrumente benötigt. Vor allem Zwischennutzungen und die dauerhafte Nutzung ehemaliger Bauflächen als Grünfläche stellen
neue Anforderungen an das bodenpolitische Instrumentarium, und insbesondere an
den Umgang mit bestehenden Baurechten (Fuhrich, Dosch 2005, S. 60). Im Folgenden
werden die Regelungen zum Stadtumbau und flankierende Bestimmungen zu den
72
Richtwerte spielen in der Freiraumplanung seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine Rolle. Sie bedeuteten die Verankerung sozialpolitischer Errungenschaften als planungsrelevante Größen in der
kommunalen Planung (Giseke, Renker 1998, S. 560). In den 1970er Jahren wurden sie im Rahmen
einer sozial gerechten Freiraumversorgung und unter neuen städtebaulichen Leitbildern in beiden
deutschen Staaten erneut herangezogen (Gartenbauamtsleiterkonferenz 1973, Deutsche Olympische Gesellschaft 1976, Greiner, Gelbrich 1972). In der Literatur und der kommunalen Planungspraxis gibt es zahlreiche Richtwertkonzepte. Aktuell verwenden einige Städte Richtwerte, allgemein
gültige Zahlen wurden aber seit den 1970er Jahren nicht mehr definiert. Freiraumversorgungsanalysen (z. B. Landschaftsplan Leipzig, Umweltatlas Berlin, Freiraumkonzept Freiburg) sind darauf
ausgerichtet, in Orientierung an bestehende Richtwerte unterversorgte Stadtgebiete zu identifizieren und so Grundlagen und Argumentationshilfen für stadt- und freiraumplanerische Konzepte
und Maßnahmen zur Verbesserung der Freiraumversorgung zu bieten.
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Steuerungs- und Umsetzungsmöglichkeiten dargestellt und, insbesondere im Hinblick
auf freiraumplanerische Belange diskutiert.
4.2.1 Allgemeines Städtebaurecht
Bodenordnung
Insbesondere auf von Rückbau betroffenen Flächen können Bodenordnungsmaßnahmen notwendig werden. Die Erfahrungen und die Komplexität von Stadtumbaumaßnahmen zeigen allerdings, dass bodenordnerische Maßnahmen nur untergeordnet eine
Rolle spielen (Reuter 2005, S. 98 f.). Die hoheitliche Umlegung (BauGB § 46) kann
beim Stadtumbau vor allem in Umstrukturierungsgebieten zweckmäßig sein73, muss
auf Rechts- und Zweckmäßigkeit aber im Einzelfall geprüft werden. Die Durchführung
setzt einen rechtskräftigen Bauleitplan voraus, der – obwohl durchaus ein sinnvolles
Instrument für eine langfristige Entwicklung, in Altbaugebieten – aber nur in den seltensten Fällen aufgestellt wird. Stadtumbaubedingte Freiflächen in größerem Umfang
können über dieses Instrument nicht entwickelt werden, da die Eigentümernützlichkeit
des Verfahrens in diesem Fall nicht mehr gegeben wäre und nicht der Ausgleich gegenläufiger Eigentümerinteressen, sondern die Erfüllung öffentlicher Aufgaben im
Vordergrund stehen würde (ebd., S. 100 f.).
Das neu eingeführte Instrument der vereinfachten Umlegung (§§ 80-84 BauGB) kann
angewendet werden, wenn es sich um unmittelbar angrenzende oder in enger Nachbarschaft liegende Grundstücke oder Splittergrundstücke handelt, die selbstständig
nicht mehr bebaubar sind. Die hier mögliche kürzere Verfahrensdauer kann Vorteile
bei der zügigen Umsetzung von Nachnutzungsmaßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus haben (Stahr 2005).
Aufhebung von Baurechten
Die Regelungen zur Aufhebung von Baurechten können im Stadtumbau in zweierlei
Hinsicht relevant sein: (1) Zur Vermeidung weiterer Flächeninanspruchnahme im Außenbereich ohne realen Bedarf können ausgewiesene B-Pläne zurückgezogen werden.
Bei der Novellierung des BauGB wurde hinsichtlich eines modifizierten Entschädigungsrechtes hier allerdings keine Neuregelung getroffen (Thiel 2005, S. 109, Entschädigungsregelungen BauGB §§ 40-44). (2) Wird in einem B-Plan die Nachnutzung eines
beräumten privaten Grundstückes als Grünfläche mit öffentlichem Interesse festgelegt
und dies entsprechend umgesetzt, so hat der betroffene Eigentümer ein Recht auf die
Übernahme des Grundstückes durch die Kommune zum Verkehrswert der bisher zulässigen Nutzung, da die weitere Nutzung des Grundstücks für ihn nicht mehr möglich ist
73
Die städtebauliche Umlegung dient dazu, Grundstücke neu zu ordnen, dass nach Lage, Form und
Größe für die bauliche oder sonstige Nutzung zweckmäßig gestaltete Grundstücke entstehen.
115
116
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
und ein Planungsschaden eingetreten ist. Sollte die Privatnützigkeit des Grundes nicht
ganz aufgehoben sein, kann auch eine geldwerte Entschädigung in Frage kommen
(MSWV 2003, S. 57).
Die vollständige Aufhebung von Baurechten aus einem wichtigen öffentlichen Interesse heraus kann dem Stadtumbau vor allem in peripheren Lagen der Stadt dienlich sein,
in der Regel wird allerdings eine Reduzierung des Baurechtes ausreichend sein (ebd.,
S. 61 f.). Bei der Frage nach der Aufhebung von Baurechten kann sich auch an den
Planungsleitlinien nach § 1 (6) BauGB orientiert werden: Insbesondere die Aspekte
Bevölkerungsentwicklung und Anpassung an vorhandene Ortsteile können die neue
Planungssituation dahingehend verändern, dass durch den großflächigen Rückbau von
Wohnblocks in Randbereichen ein Außenbereichscharakter entsteht und somit Baurechte verloren gehen. Mit zunehmender Dimension des Rückbaus vor allem in Großwohnsiedlungen werden Fragen der (künftigen) Zulässigkeit von Bauvorhaben nach
den Regelungen des BauGB § 34 bzw. § 35 aufgeworfen. Die städtebauliche Struktur
sowie die Rückbaupraxis in Standorten des Plattenbaus können dazu führen, dass
größere Freiflächen entstehen, die baurechtlich evtl. als „Außenbereich im Innenbereich“ eingestuft werden (MI, MIR 2005, S. 31). Seitens der Grundstückseigentümer
wird befürchtet, dass damit tatsächlich Baurechte verloren gehen oder potenziell eingeschränkte Baurechte zu einer Verringerung des Bodenwertes führen können. Dies
führt zu Vorbehalten gegenüber (großflächigen) Abrissen und kann vor allem künftig
zum Stocken des Stadtumbaus führen. In diesem Zusammenhang ist es nicht zulässig
einen Bebauungsplan aufzustellen, um die Boden- und damit die Bilanzwerte des Flächeneigentümers zu erhalten (Goldschmidt 2006, S. 327).
Wenn auf der Grundlage von Stadtumbaukonzepten bisherige Nutzungen aufgehoben
werden, kann das Planungsschadensrecht nach BauGB §§ 39-44 zur Anwendung
kommen. Dies entfaltet insbesondere Wirkungen auf die Umsetzung freiraumplanerischer Maßnahmen. Allerdings ist auch hier ein rechtskräftiger B-Plan Voraussetzung
(Stadt Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 25 ff.). Die Wiedernutzung
von innerstädtischen Brachflächen wird z. T. auch dadurch erschwert, dass sehr hohe
Bodenwerte und dementsprechend überhöhte Baulandpreise angesetzt werden. Die
Senkung der Preise würde eine Vermarktung erleichtern. Aufgrund der problematischen Wertermittlung auf schrumpfenden Märkten sind Enteignung oder Vorkaufsrecht nur schwer umzusetzen (Stahr 2005, S. 161; Kapitel B.5.1.1).
Sicherungs- und Durchsetzungsinstrumente
Zur Umsetzung des Stadtumbaus können zusätzlich folgende Sicherungs- und Durchsetzungsinstrumente des allgemeinen Städtebaurechts eingesetzt werden (MSWV
2003, S. 48): Veränderungssperre § 14; Zurückstellung von Baugesuchen § 15;
Gemeindliches Vorkaufsrecht § 24; Enteignung § 85. Diese Instrumente setzen allerdings einen Aufstellungsbeschluss für einen bzw. einen rechtskräftigen Bebauungsplan
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
voraus – dies wird nur in den seltensten Fällen des Stadtumbaus der Fall sein (Stadt
Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 23). Die Enteignung als härtestes
Mittel sollte möglichst vermieden werden. Falls sie zur Herstellung nachhaltiger städtebaulicher Strukturen aufgrund fehlender Kooperationsbereitschaft seitens des Privateigentümers aber notwendig wird, können die gängigen Entschädigungsregelungen
aufgrund der knappen Kommunalhaushalte eine Einschränkung darstellen. In diesem
Zusammenhang scheint die Forderung berechtigt, dass kooperationswillige und
-feindliche Eigentümer nicht gleichbehandelt werden sollten: Für nicht Kooperationsbereite sollte auch eine Entschädigung unterhalb des Verkehrswertes möglich sein
(Davy 2005, S. 71).
4.2.2 Besonderes Städtebaurecht
Folgende Möglichkeiten des Besonderen Städtebaurechtes können beim Stadtumbau
zum Einsatz kommen (Schmidt-Eichstaedt 2004, S. 137 f.; MSWV 2003): Sanierungsgebiete im Normalverfahren und im vereinfachten Verfahren, städtebauliche Entwicklungsbereiche, Stadtumbaugebiete und Maßnahmen der Sozialen Stadt. So sind in ca.
88 % der Kommunen einzelne Stadtumbaugebiete gleichzeitig als Sanierungsgebiet
ausgewiesen (BMVBS, BBR 2007a, S. 67).
Die Realisierung von Stadtumbaukonzepten mit Hilfe des Sanierungsrechts ist zulässig,
da es um die Beseitigung bzw. Reduzierung städtebaulicher Missstände im Rahmen
von gebietsbezogenen Gesamtmaßnahmen geht (Stadt Leipzig, Forschungsgruppe
Stadt + Dorf 2003, S. 7; Schmidt-Eichstaedt 2004, S. 134). Insbesondere Doppelstrategien von Abriss und Aufwertung können somit durchaus im Sinne des Sanierungsrechtes sein. Wird das nicht mehr angemessene Verhältnis von Angebot und Bedarf
ebenfalls als Funktionsschwäche definiert, so sind auch Maßnahmen der Freiraumentwicklung auf leer gezogenen Flächen in Nachranggebieten im Sinne des Sanierungsrechtes zu behandeln (Stadt Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 9).
Die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme ist für den Stadtumbau durchaus geeignet,
allerdings trifft dies nur bedingt auf Flächen zu, bei denen eine bauliche Nachnutzung
nicht absehbar ist. Denn nach BauGB §165, Abs. 3, Nr. 2 kann eine Entwicklung auch
eine Aufwertung des Wohnumfeldes und die Wiedernutzung brachliegender Flächen
beinhalten. Für die Entwicklung dauerhaft brachliegender Flächen kann eine bessere
Verzahnung des Naturschutzes und der Landschaftsplanung mit dem besonderen
Städtebaurecht sinnvoll sein (z. B. Verknüpfung einer naturschutzrechtlichen Satzung
zur Unterschutzstellung mit der Satzung einer Entwicklungsmaßnahme; Thiel 2005,
S. 107).
Die Erfahrungen in den Kommunen zeigen, dass die neuen Stadtumbauregelungen des
Besonderen Städtebaurechts eine sinnvolle Ergänzung des klassischen Instrumentariums darstellen. Insbesondere ihr kooperativer Ansatz macht ihre Eignung im
117
118
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
konsensual orientierten Stadtumbau aus. Stadtumbauverträge sind bisher schon weit
verbreitet, allerdings sind die Potenziale, vor allem was die Kooperation mit privaten
Einzeleigentümern betrifft, bisher noch nicht ausgeschöpft (BMVBS, BBR 2007a,
S. 67 f.). Mit dem im Rahmen der Novellierung des BauGB zum 1.1.2007 aufgenommenen § 171 f zur Förderung privater Stadtentwicklungsinitiativen wird dem Bedarf
und den Potenzialen der Einbindung privater Initiativen in Stadtentwicklungsmaßnahmen Rechnung getragen. Standort- und Eigentümergemeinschaften sowie projektbezogene Zusammenschlüsse können nun Maßnahmen der öffentlichen Hand ergänzen.
Stadtumbau
Mit dem 2004 im Baugesetzbuch ergänzten Abschnitt Stadtumbau (§§ 171a-d) konnten spezifische und einfachere Fördergebietskategorien verankert werden (SchmidtEichstaedt 2004, S. 135). Stadtumbaumaßnahmen nach BauGB können dabei anstelle
oder ergänzend zu den anderen Instrumenten des Besonderen Städtebaurechts zum
Umgang mit den räumlichen Schrumpfungsprozessen eingesetzt werden (BauGB
§ 171a, Abs. 1). Nach § 171a, Abs. 3 des novellierten BauGB sollen Stadtumbaumaßnahmen u. a. dazu beitragen, dass „die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie die Umwelt verbessert werden“ und „freigelegte Flächen einer nachhaltigen städtebaulichen
Entwicklung oder einer hiermit verträglichen Zwischennutzung zugeführt werden“. Es
wird deutlich, dass Stadtumbaumaßnahmen weit über den reinen Abriss hinausgehen,
und dass freiraumplanerische Maßnahmen eine bedeutende Rolle spielen.
Die Durchführung der Stadtumbaumaßnahmen erfordert ein per Beschluss ausgewiesenes Stadtumbaugebiet und ein gültiges städtebauliches Entwicklungskonzept (BauGB
§ 171b). Gegenwärtig befindet sich dieses in den meisten Kommunen in Erstellung
bzw. im Rahmen des Wettbewerbs „Stadtumbau Ost“ aufgestellte Konzepte werden
fortgeschrieben. Es wird angestrebt, einen Großteil der Maßnahmen über vertragliche
Regelungen in Stadtumbauverträgen abzusichern (BauGB § 171c). Dies gilt insbesondere für einen Lastenausgleich zwischen vom Stadtumbau betroffenen Eigentümern.
Hier finden sich auch Spielräume für den Flächentausch oder die Übernahme von Pflegeleistungen bei auf Abbruchgrundstücken neu angelegten Grünflächen. Die Kommunen machen davon rege Gebrauch: Gegenstand der Verträge sind vor allem die Fördermittelvergabe zwischen Kommune und Wohnungseigentümer oder Trägern technischer Infrastruktur, der Verzicht auf Entschädigungsforderungen im Falle von Baurechtsverlusten oder die Kostenverteilung. Die Möglichkeit der Aufstellung einer
Stadtumbausatzung nach BauGB § 171 d, mit dem Ziel der Sicherung und sozialverträglichen Durchführung des Stadtumbaus, wurde bisher erst von ca. 10 % der Kommunen wahrgenommen bzw. erwogen (BMVBS, BBR 2007a, S. 67).
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Soziale Stadt
Für die Gestaltung von Frei- und Brachflächen im Wohnumfeld zu erhaltender Quartiere können auch Maßnahmen nach den Regelungen zur Sozialen Stadt (BauGB
§ 171e) durchgeführt werden. Die Regelungen gelten laut § 171e, Abs. 2 für städtebauliche Maßnahmen zur „… Stabilisierung und Aufwertung von durch soziale Missstände benachteiligten Ortsteilen oder anderen Teilen des Gemeindegebiets, in denen
ein besonderer Entwicklungsbedarf besteht.“ In den innerstädtischen vom Stadtumbau
betroffenen Gebieten dürfte dieser Entwicklungsbedarf vorliegen, der für benachteiligte innerstädtische und innenstadtnahe gelegene Gebiete oder verdichtete Wohn- oder
Mischgebiete mit dem Bedarf abgestimmter und gebündelter Maßnahmen definiert
wurde. Das Entwicklungskonzept soll dabei insbesondere Maßnahmen enthalten
„... die der Verbesserung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie der Schaffung und
Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen dienen.“ Die Anlage von Grünflächen in
Gebieten mit Versorgungsdefiziten sollte nach diesem Verständnis durchaus förderfähig sein.
Städtebauliche Gebote
Der Einsatz von Geboten74 kann beim Stadtumbau vor allem in Hinblick auf eine einvernehmliche Regelung verschiedener Interessen eingesetzt werden. Allerdings handelt
es sich um Instrumente für die Klärung von Einzelfällen – die flächendeckende Anwendung beim Stadtumbau wird nicht sinnvoll sein (MSWV 2003, S. 49 ff.). Rückbau darf
nach § 179 BauGB von der Kommune angeordnet werden, aber die Schwelle der Zumutbarkeit nicht überschreiten. Weiterhin müssen damit verbundene Vermögensnachteile angemessen entschädigt werden: „Die Gemeinde kann den Eigentümer verpflichten zu dulden, dass eine bauliche Anlage im Geltungsbereich eines Bebauungsplans
ganz oder teilweise beseitigt wird, wenn sie 1. den Festsetzungen des Bebauungsplans
nicht entspricht und ihnen nicht angepasst werden kann oder 2. Missstände oder
Mängel im Sinne des § 177 Abs. 2 und 3 Satz 1 BauGB aufweist, die auch durch eine
Modernisierung oder Instandsetzung nicht behoben werden können“ (BauGB § 179).
Diese Regelung wurde mit der Novellierung des BauGB nicht angepasst und so sind die
Möglichkeiten eines geordneten Rückzuges eingeschränkt (Thiel 2005, S. 19; Goldschmidt 2006, S. 322).
4.2.3 Informelle Instrumente – (Integrierte) Stadtentwicklungskonzepte
Nach § 1 Abs. 6, Nr. 11 BauGB sind bei der Erstellung der Bauleitpläne auch sonstige
städtebauliche Planungen zu berücksichtigen. Dazu zählen insbesondere die aufgrund
74
Bau- und Anpassungsgebot (§ 176), Modernisierungsgebot (§ 177), Instandsetzungsgebot
(§ 177), Pflanzgebot (§ 178), Entsiegelungsgebot (§ 179), Rückbaugebot (§ 179)
119
120
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
aktueller Planungserfordernisse erstellten Stadtentwicklungspläne.75 Die Bezeichnungen (auch Integrierte Stadtentwicklungskonzepte, Stadtentwicklungsprogramme) und
Geltungsbereiche variieren in den verschiedenen Städten. In der Regel werden sie für
die Gesamtstadt erstellt und integrieren alle stadtentwicklungsrelevanten Handlungsfelder oder behandeln sektoral bzw. je nach Dringlichkeit einzelne Aspekte. In der
Regel besitzen sie Empfehlungscharakter innerhalb der Kommune. Viele deutsche
Städte wenden dieses Instrument an, prominente Beispiele sind das „Planwerk Innenstadt Berlin“, die sektoralen Stadtentwicklungspläne in Leipzig und der STEP 2010
Heidelberg.
Im Zuge des Programms, und insbesondere des Wettbewerbs „Stadtumbau Ost“
(Kapitel B.2.1), wurde dieses Instrument weiter gestärkt und formalisiert. Mit der Novellierung des BauGB wurden Stadtumbaukonzepte bzw. städtebauliche Entwicklungskonzepte Bestandteil der gesetzlichen Regelungen und damit Fördervoraussetzung für
das Programm „Stadtumbau Ost“ bzw. die Festlegung der Förderkulisse Stadtumbaugebiet (BauGB § 171b). Dies verdeutlicht die Bedeutung dieses Instrumentes für aktuelle Stadtentwicklungsaufgaben (Kapitel B.2.1.2).
Der Integrationsanspruch der im Rahmen des Programms „Stadtumbau Ost“ zu erstellenden Integrierten Stadtentwicklungskonzepte wird in der Verbindung wohnungswirtschaftlicher und städtebaulicher Aspekte gefordert – das heißt unter anderem Themen
wie Gebäudesanierung und -abriss, Freiraum- und Wegeplanung, Anpassung der
technischen und sozialen Infrastruktur, soziale Belange (BMVBW 2005, S. 72): „Ein
INSEK ist ein strategisches Instrumentarium, das sich aus datenseitigen, strukturellen
und konzeptionellen Bestandsdarstellungen/-analysen und vorausschauenden Einzelbausteinen zusammensetzt und einen langfristig tragfähigen Handlungsrahmen für die
zukünftige Entwicklung einer Stadt darstellt. Vor der Zielstellung einer wirtschaftlichen,
sozial und ökologisch verträglichen Entwicklung stellt es als programmatischer Einstieg
in den Stadtumbau den Planungsrahmen ohne abschließende Festlegung bis zum
75
Eine verbindliche Definition für den Terminus Stadtentwicklungsplanung gibt es nicht – der Inhalt,
die Bezeichnung, die Reichweite sowie die Verbindlichkeit bzw. Stellung in der Kommune ist sehr
unterschiedlich. Die Ausprägung hängt dabei von der Stadtgröße, den Problemschwerpunkten,
den planerischen Rahmenbedingungen und den (politischen) Entwicklungszielen der jeweiligen
Kommune ab. Bereits Ende der 1960er Jahre und erneut Mitte der 1980er Jahre wurde dieses Planungsinstrument vor allem zum Umgang mit neuartigen Aufgaben der Stadtplanung herangezogen. Methodik und Inhalt wandelte sich dabei anders als die Bezeichnung in Abhängigkeit von
Aufgabenschwerpunkten und spezifischen Anforderungen (Weidner 2005, S. 13 ff.). Ende der
1990er Jahre zeigte sich erneut der Bedarf einer Stadtentwicklungsplanung ergänzend zum formellen Instrumentarium des BauGB. Verschiedene Planungsinitiativen auf europäischer Ebene (URBAN
I und II) und auf nationaler Ebene (Soziale Stadt) stellen ein Einsatzgebiet für dieses Instrument dar
(ebd., S. 116 f.).
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Zielhorizont dar. Es beinhaltet sowohl die gesamtstädtische als auch die teilräumliche
Betrachtungsebene“ (Weidner 2005, S. 117).76
4.3
Rechtliche Möglichkeiten und Hindernisse der Freiraumentwicklung im
Stadtumbau
Die Zusammenschau (Tabelle 3) der für die Freiraumentwicklung im Stadtumbau relevanten gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Verankerung und Umsetzung freiraumplanerischer Zielstellungen sowie der Steuerungsmöglichkeiten des Stadtumbaus
zeigt die unterschiedliche Passfähigkeit und die Notwendigkeit der Kopplung formeller
und informeller Ansätze (DRL 2006, S. 31).
Freiraumentwicklung
Gesetzliche Regelungen
Stadtumbau
Formelle Instrumente
Gesetzliche
Regelungen
Grundgesetz
Grundgesetz
Raumordnungsgesetz
Baugesetzbuch:
Baugesetzbuch
Allgemeines
Städtebaurecht
Bauleitplanung
Flächennutzungsplan
Bebauungsplan
Landschaftsplanung
(Landesnaturschutzgesetze)
Eingriffsregelung
Grünordnungsplanung
Bauleitplanung
Flächennutzungsplan
Bebauungsplan
Städtebaulicher Vertrag
Sicherungs- und Durchsetzungsinstrumente
Eingriffsregelung
Bundesnaturschutzgesetz
Formelle Instrumente
Planungsschadensrecht
Bodenordnung
Baugesetzbuch:
Besonderes
Städtebaurecht
Städtebauliche Sanierungsmaßnahme
Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme
Stadtumbaumaßnahme
Maßnahme der Sozialen Stadt
Städtebauliche Gebote
Informelle Instrumente
Informelle Instrumente
Freiraumversorgungsanalysen
Stadtentwicklungsplanung
Freiraumkonzepte
Tabelle 3: Übersicht über die unter freiraumplanerischen Gesichtspunkten für den Stadtumbau
relevanten gesetzlichen Regelungen und das formelle und informelle Instrumentarium. (Eigene
Darstellung).
Die fett hervorgehobenen Instrumente werden als besonders relevant eingeschätzt.
76
In verschiedenen Länderrichtlinien und Städten werden die Konzepte der (Integrierten) Stadtentwicklungsplanung insbesondere seit dem Programm „Stadtumbau Ost“ unterschiedlich benannt:
Leipzig STEP (Stadtentwicklungsplan); ISEK; Brandenburg: STUK (Stadtumbaukonzept); Sachsen:
SEKo (Städtebauliches Entwicklungskonzept); SEK (Stadtentwicklungskonzept).
121
122
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
In einer Umfrage unter Kommunen zum Umgang mit dem Bevölkerungsrückgang
sahen Kommunen Reformbedarf im Städtebaurecht (29 %) und in der Bauleitplanung
(24 %). Dabei geht es weniger um die Instrumente als um deren Handhabung, insbesondere bei starren und langwierigen Planungsverfahren. In diesem Zusammenhang
wird auch die Frage der Bürgerbeteiligung aufgeworfen: Diese wird einerseits im
Stadtumbau als unabdingbar eingeschätzt und andererseits für eine schnelle Umsetzung hinderlich angesehen. Weiterhin wird die Bodenpolitik – die Innenentwicklung
und den Umgang mit Brachflächen betreffend – als reformbedürftig eingeschätzt (BBR
2005b, S. 63 f.).
4.3.1 Eigentumsrecht
Im Stadtumbau werden vor allem Fragen des Bodeneigentums und des Bodenwertes
berührt. Sie müssen vor dem Hintergrund der Artikel 14 (Abs. 1, S. 1) und 15 des
Grundgesetzes betrachtet werden (Tabelle 4). Insbesondere vor dem Hintergrund der
„… Revitalisierung Stadtumbau bedingter Brachen im Interesse des ‚gemeinen Wohls’
als auch des Eigentums Privater ...“ sind die gesetzlichen Grundlagen zu beachten
(Thiel 2005, S. 105).
Grundgesetz, Artikel 14:
Grundgesetz, Artikel 15:
(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt
und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle
der Allgemeinheit dienen. (Sozialpflichtigkeit)
(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.
Sie darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen,
das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung
ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und
der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung
steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten
offen.
Grund und Boden, Naturschätze
und Produktionsmittel können
zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art
und Ausmaß der Entschädigung
regelt, in Gemeineigentum oder
in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für
die Entschädigung gilt Artikel 14
Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.
Tabelle 4: Regelungen im Grundgesetz zum Recht auf Eigentum (Eigene Darstellung).
Das Eigentum77 wird in der BRD als konstitutionelles Menschen- und verfassungsrechtliches Grundrecht betrachtet – allerdings ist im Grundgesetz der Gedanke der Sozialpflichtigkeit verankert. Das Bundesverfassungsgericht begründet die Sozialpflichtig-
77
In der Rechtsphilosophie wird unterschieden zwischen dem (1) Patrimonium und dem (2) Dominium. (1) Patrimonium als ursprüngliches Eigentumsverständnis geht auf das Vererben von Eigentum zurück und bedeutet damit zwar den Gebrauch aber nicht den Verbrauch von Eigentum. Es
kommt heute noch bei der Trennung von Verfügungs- und Nutzungsrechten zur Anwendung
(Bergrecht, Fischerei, Waldnutzung). (2) Dominium bezeichnet das Eigentum im römischen Rechtsverständnis, was unserem heutigen Verständnis zu Grunde liegt und von einem nahezu uneingeschränkten Recht des Eigentümers ausgeht (Kantzow 2005, S. 8;Kantzow, Oswalt 2005, S. 693 f.).
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
keit des Grundeigentums wie folgt: „Die Tatsache, dass der Grund und Boden
unvermehrbar ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der freien
Kräfte und dem Belieben des einzelnen vollständig zu überlassen; eine gerechte
Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit beim Boden in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern. Der Grund und Boden ist weder volkswirtschaftlich noch in seiner
sozialen Bedeutung mit anderen Vermögenswerten ohne weiteres gleichzustellen; er
kann im Rechtsverkehr nicht wie eine mobile Ware behandelt werden …“ (Bundesverfassungsgericht 1967 in Kantzow 2005, S. 8).
Im Rahmen des Stadtumbaus und der Frage der (Nach-)Nutzung von Baugrundstücken erlangt dieser Aspekt aktuell Bedeutung: Kann oder will ein Grundeigentümer
nicht mehr für die Unterhaltung seiner Immobilie aufkommen – es besteht aber ein
öffentliches (Nutzungs-)Interesse – ist evtl. auch eine Enteignung sinnvoll. Unterlegt
werden könnte dies damit, dass das Eigentumsrecht am Boden im Kern ein Nutzungsrecht ist (ebd., S. 9). Denn der Artikel des Grundgesetzes bedeutet kein Recht auf
Eigentum, sondern das Recht des Eigentümers. Dies schließt auch das Recht ein, sein
Grundstück nicht zu nutzen oder zu gebrauchen. Dieses Recht ist allerdings eingeschränkt durch zahlreiche Verpflichtungen des Eigentümers (Davy 2006, S. 58 ff.):
durch die Sozialpflichtigkeit nach Art. 14 Grundgesetz; durch zivilrechtliche Pflichten
(z. B. Verkehrssicherung und Nachbarschutz) und durch öffentlich-rechtliche Beschränkungen (z. B. Bodenschutz- oder Denkmalschutzrecht).
4.3.2 Responsiver Stadtumbau
Der Gesetzgeber hat bereits rechtliche Regelungen zum Stadtumbau getroffen und
bestehende Instrumente des Baugesetzbuches an die neuen Anforderungen angepasst.
Trotzdem werden einige Regelungen als noch unzureichend bzw. nicht konsequent
genug eingeschätzt, z. B. aus Sicht des Bodens- und Eigentumsrechts (Thiel 2005).
Generell muss davon ausgegangen werden, dass die Instrumente des Allgemeinen
Städtebaurechts nach wie vor als Wachstumsinstrumente zu verstehen sind und auch
aufgrund des nicht novellierten Planungsschadensrechts für die Umsetzung von Maßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus nur bedingt geeignet sind. So wird das Instrument des Bebauungsplans im Rahmen des Stadtumbaus in ca. 50 % der Kommunen
eingesetzt (BMVBS, BBR 2007a, S. 67). Angesichts der sich abzeichnenden Stagnation
des Stadtumbaus werden Rückbaugebote in Zukunft evtl. verstärkt zum Einsatz kommen müssen – wenngleich das Instrument in seiner jetzigen Ausprägung kaum anwendbar ist und im Grunde dem konsensualen Stadtumbauansatz widerspricht. Speziell ist auf die Möglichkeiten und Eignung städtebaulicher Verträge für die Steuerung
und Umsetzung des Stadtumbaus hinzuweisen (Schmidt-Eichstaedt 2004). Die Gestattungsvereinbarung (Kapitel B.4.3.3) zur Regelung von Zwischennutzungen stellt hierfür ein durchaus innovatives und erfolgreiches Beispiel dar.
123
124
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Grundsätzlich sind zwei Aspekte bei der rechtlichen Absicherung und Umsetzung von
Stadtumbaumaßnahmen zu beachten: (1) Jede Stadt kann aus dem Pool vorhandener
und neu geschaffener formeller und informeller Instrumente schöpfen und individuelle
Lösungen für den Stadtumbau finden. (2) Die Grundvoraussetzung für die Anwendung aller Instrumente ist der Konsens und die Kooperationsbereitschaft aller Akteure,
um, insbesondere im informellen Bereich, die zahlreichen sich bietenden Möglichkeiten
anzuwenden. Dabei bedeutet responsiver Stadtumbau (Abbildung 18), dass den jeweiligen Herausforderungen und Problemlagen mit den adäquaten Lösungsansätzen gegenübergetreten werden sollte.
Enteignung
Planungsrechtlicher Zwang
Stadtumbauverträge mit
Eigentümern
Städtebauliche Förderung
Moralischer Apell
Information
Abbildung 18: Umsetzungspyramide des responsiven Stadtumbaus (Davy 2005 nach Ayres und
Braithwaite 1992).
Die baugesetzlichen Neuregelungen zum Stadtumbau verdeutlichen das zu Grunde
liegende kooperative Steuerungsmodell und die aktivierende Rolle des Staates (MSWV
2003, S. 37; Stadt Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 18; SchmidtEichstaedt 2004). Allerdings sollte Stadtumbau nicht mit Kooperation gleichgesetzt
werden – vielmehr sind eine Vielzahl von Instrumenten zur Umsetzung notwendig
(Davy 2005, S. 70 f.).
Die Mitwirkungsbereitschaft privater Wohnungsunternehmen bzw. Eigentümer im
Stadtumbau wird als unzureichend eingeschätzt. Ansätze für Kooperationen gelingen
teilweise im Bereich der Nachnutzung von Freiflächen (BBR 2005b, S. 52). Bisher wurde von Eingriffen in das Eigentumsrecht nach dem Grundgesetz im Rahmen von
Stadtumbaumaßnahmen weitestgehend abgesehen. Inwiefern dies – im Sinne der
Sozialpflichtigkeit – mit steigenden Herausforderungen und Handlungsdruck notwendig wird, kann nur vermutet werden. Dabei kann auch ein verändertes Verständnis
zum Umgang mit Gewinnen aus steigenden Bodenwerten nötig werden: Bisher verblieb der Planungsgewinn bei öffentlich initiierten Umwandlungen in Bauland in privater Hand. Im Gegenzug müssen Planungsverluste durch ebenfalls öffentlich eingeleitete Rückumwandlungen öffentlich entschädigt werden (Kantzow, Oswalt 2005,
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
S. 693). Hierin liegt eine entscheidende Barriere für den Umgang mit den gegenwärtigen Umbrüchen auf dem Bodenmarkt (siehe Kapitel B.5).
4.3.3 Freiraumplanerische Nachnutzung
Bisher wurde Freiraumentwicklung vor allem vor dem Hintergrund einer anzustrebenden Verbesserung der Gestalt und Nutzbarkeit des Stadtraumes und damit im Hinblick
auf die räumliche Zuordnung der Freiräume zur Bebauung betrachtet. Gleichzeitig wird
insbesondere die Landschaftsplanung aus einer „Verteidigungsposition“ heraus wahrgenommen und ist auch entsprechend in den Gesetzen verankert (z. B. Eingriffsregelung) (Haase 1999, S. 45 f.). Dies stammt aus Zeiten der Freiraumknappheit, die sich in
den schrumpfenden Städten geradezu umkehrt. In diesem Zusammenhang wird gefordert, dass ein ökologischer Umbau der Städte nur dann erfolgen kann, wenn die
Instrumente der Landschaftsplanung und Stadtökologie mehr als Gestaltungsinstrumente unter Anerkennung der Realitäten denn als Verzögerungsstrategien und Reparaturinstrumente begriffen werden. Der Freiraum wird demnach zu wenig als „selbstbewusste Komplementäre“ der gebauten Strukturen wahrgenommen (Kaltenbrunner
2004, S. 636 ff.).
Es gibt keine expliziten gesetzlichen Regelungen die festlegen, dass Freiräume unabdingbare Bestandteile von Siedlungsräumen sein müssen. Allerdings werden als insbesondere zu berücksichtigende Grundsätze der Bauleitplanung durchaus freiraumrelevante Aspekte beschrieben (Haase 1999; Mitschang 1996). Die Umsetzung freiraumplanerischer Maßnahmen ist demnach zwar gesellschaftliches Ziel, aber gesetzlich nicht
generell, eindeutig und flächendeckend geregelt.
Die formellen Instrumente sowohl der Bauleitplanung als auch der Landschaftsplanung
sind nur bedingt geeignet, um freiraumplanerische Zielsetzungen, insbesondere in
schrumpfenden Städten, zu formulieren und entsprechende Maßnahmen verbindlich
abzusichern. Der Geltungsbereich eines Bebauungsplanes ist meist zu kleinräumig, um
ökologisch sinnvolles und nutzergerechtes Grün zu realisieren. Auch der im gleichen
Geltungsbereich liegende Grünordnungsplan (wenn er erstellt wird) hat dann nur die
„Gestaltung“ dieser Splitterflächen zur Aufgabe und wird kaum geeignet sein, übergeordnete freiraumplanerische Fragen zu lösen. Auf der Ebene der Flächennutzungsplanung existiert das Instrument des Landschaftsplanes, seine naturschutzfachliche
Ausrichtung kann hier nur zu teilweise befriedigenden Lösungen für die städtische
Freiraumplanung führen. Zwar werden Landschaftspläne auch für den besiedelten
Bereich mit einer an stadtplanerische Aspekte angepassten Methodik aufgestellt (z. B.
Landschaftsplan Leipzig) – trotzdem ist eine integrierte Betrachtung der Freiraumproblematik unter ökologischen, sozialen, ökonomischen und gestalterischen Gesichtspunkten kaum möglich.
125
126
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Freiraumkonzepte auf FNP-Ebene oder Grünordnungsrahmenpläne sind sinnvolle
Ansätze, um die Belange der städtischen Freiraumplanung besser in die Stadtplanung
zu integrieren (Albertshauser 2002, S. 99 f.). Teilweise werden im Rahmen des Stadtumbaus auch eigenständige gesamt- und teilstädtische Freiraumkonzepte bzw. städtebauliche Konzepte mit einer starken Integration freiraumplanerischer Belange erstellt.
Letzteres ist vor allem in Städten der Fall, welche ihre Zukunftsvorstellungen an Modellen der Auflockerung und Dezentralisierung anlehnen (z. B. Dessau).
Festsetzungsmöglichkeiten freiraumplanerischer Nutzungen in der Bauleitplanung
Für unterschiedliche Zielrichtungen freiraumplanerischer Entwicklung bestehen verschiedene gesetzliche Vorgaben: Mit dem Ziel einer dauerhaften Renaturierung können nach BauGB § 9, Abs. 1, Nr. 20 Flächen oder Maßnahmen zum Schutz, zur Pflege
und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft ausgewiesen werden. Daran
können weitere Bindungen geknüpft werden (z. B. Naturschutzrecht). Die baurechtliche Umwidmung schafft dauerhafte und rechtlich gesicherte Freiräume. Der Verkehrswert entspricht land- und forstwirtschaftlichen Flächen, wobei durch Flächenverknappung und Umfeldqualitätssteigerung die Erhöhung des Verkehrswertes benachbarter Grundstücke möglich ist.
Laut § 171a, Abs. 3, Nr. 6 BauGB sollen Stadtumbaumaßnahmen auch dazu beitragen,
dass freigelegte Flächen einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung oder einer
hiermit verträglichen Zwischennutzung zugeführt werden. Nach den Aussagen im
BauGB sind Zwischennutzungen im Stadtumbau „… zeitlich begrenzte Nutzungen von
Flächen, deren nachhaltige städtebauliche Entwicklung aufgrund des Prozesscharakters
(!) des Stadtumbaus auf absehbare Zeit nicht gesichert ist oder bei denen aufgrund des
Fehlens von wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten dieser Flächen auf absehbare
Zeit keine dauerhafte Nutzung möglich ist“ (Goldschmidt, Taubenek 2005, S. 1568).
Eine temporäre Ausweisung öffentlicher und privater Grünflächen kann auf Grundlage
des BauGB § 9, Abs. 1, Nr. 15 erfolgen. Durch Befristungen oder Bedingungen kann
die Nutzung von Beginn an eingegrenzt werden. Der Verkehrswert solcher Flächen
orientiert sich an Rohbau- oder Bauerwartungsland (Davy 2006, S. 99 ff.).
Neu ist seit der BauGB-Novelle von 2004 die Möglichkeit der Festsetzung temporärer
Nutzungen im B-Plan: Nach BauGB § 9, Abs. 2 kann festgesetzt werden, dass
„… bestimmte der in ihm [B-Plan] festgesetzten baulichen und sonstigen Nutzungen
und Anlagen nur 1. für einen bestimmten Zeitraum zulässig sind oder 2. bis zum Eintritt bestimmter Umstände zulässig oder unzulässig“ sind. Allerdings muss es sich um
besondere Fälle handeln und die Folgenutzung schon bei der Festsetzung festgelegt
werden (Thiel 2005, S. 107). Erfahrungen im Stadtumbau zeigen aber, dass bei befristeten baulichen Nutzungen meist vertragliche Regelungen gefunden werden (Reuter
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
2005, S. 98). Die Eignung dieses Instrumentes ist damit zu hinterfragen (Kunze
2004).78 Insbesondere die im Gesetz verankerte Forderung nach einer Festlegung der
letztlich dauerhaften Folgenutzungen konterkariert im Grunde die beabsichtige Offenheit von Zwischennutzungen. In Städten mit hohem Entwicklungsdruck können mit
diesem Instrument durchaus unkonventionelle temporäre Nutzungen verteidigt werden – allerdings wird dies in der Regel in schrumpfenden Städten nicht notwendig sein.
Neben den neuen Möglichkeiten im Rahmen des B-Plans ist eine temporäre Nutzung
auch in gewissem Maße als Vorhaben nach § 34 Abs. 1 und 2 zu handhaben: Für eine
beabsichtigte temporäre Nutzung kann demnach auch eine unbefristete Genehmigung
erteilt werden, wenn sich die Maßnahme in die Umgebung einfügt und den Kriterien
des Artikels entspricht (MSWV 2003, S. 66; Stadt Leipzig, Forschungsgruppe Stadt +
Dorf 2003, S. 36 f.).
Zwischennutzungen erfordern in der Regel keine Änderungen des Planungsrechtes
(Reuter 2005, S. 98). Bei Zwischennutzungen spielen insbesondere vertragliche Regelungen eine große Rolle (Stadt Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 39).
Zur künftig verstärkten Anwendung von Zwischennutzungen sollten auch Vereinbarungen zwischen zwei privaten Parteien gestärkt werden. Kommunale Baumschutzsatzungen behindern möglicherweise die Gestaltung von Zwischennutzungen mit Großgrün. Hier sind Neuregelungen notwendig (BBR 2004, S. 104). Im Folgenden wird ein
städtebaulicher Vertrag zur Vereinbarung temporärer freiraumplanerischer Nutzungen
dargestellt.
Beispiel: Gestattungsvereinbarung Leipzig
Die Stadt Leipzig setzt in großem Umfang die Gestattungsvereinbarung zur Regelung
freiraumplanerischer Zwischennutzungen ein.79 Sie stellt die rechtliche Grundlage für
eine öffentliche Zwischennutzung einer Brach- oder Abrissfläche ohne Verlust von
Baurecht dar und wird zwischen der Stadt und dem privaten Eigentümer eines brachliegenden Grundstücks abgeschlossen. Diese Regelung basiert auf den § 146 (Durchführung städtebaulicher Sanierungsmaßnahmen), § 147 (Durchführung von Ordnungsmaßnahmen im Rahmen städtebaulicher Sanierungsmaßnahmen) und § 164a
(Einsatz von Städtebaufördermitteln) BauGB sowie der Verwaltungsvorschrift des
Sächsischen Staatsministeriums des Innern (SMI 2005b). Dabei ist der Gegenstand
dieses Vertrages die Durchführung von Ordnungsmaßnahmen auf dem Grundstück
des Eigentümers zur Behebung städtebaulicher Missstände, zur Neugestaltung des
78
Baumgart, Sabine: Vortrag auf der BDLA-Tagung „Best Practice im Stadtumbau“ am 07.11.07 in
Leipzig
79
Bis zum Oktober 2006 konnten in der Stadt Leipzig mit 134 Gestattungsvereinbarungen insgesamt
245 Flurstücke aktiviert und 160.000 m² öffentlich nutzbare Freiräume geschaffen werden (Will
2006).
127
128
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
Sanierungsgebiets und zur Verbesserung der Umweltbedingungen nach stadtökologischen Gesichtspunkten.
Dieses Instrument wurde ursprünglich für die Steuerung und Beschleunigung des Abrisses im Altbaubestand, die Gewährleistung einer öffentlichen Zwischennutzung der
Abrissflächen und damit für die Lösung der Probleme mit brachliegenden Flächen
innerhalb der Gründerzeitquartiere im Zusammenhang mit einer Aufwertung der
Wohnumfeldqualität entwickelt. Aber auch in Großwohnsiedlungen können an städtebaulich wichtigen oder besonders öffentlichkeitswirksamen Stellen solche Maßnahmen notwendig und sinnvoll sein. Der Erfolg dieses Instruments hat dazu geführt, dass
ähnliche Vereinbarungen im privatrechtlichen Sektor getroffen werden. Dies hat insbesondere vor dem Hintergrund rückläufiger Städtebaufördermittel eine große Bedeutung (Will 2006).
Der Zweck der Förderung ist die Freilegung des Grundstücks zur Ermöglichung einer
befristeten Zwischennutzung sowie die Schaffung einer befristeten öffentlich zugänglichen Grünfläche oder Parkstellfläche. Die Dauer der Zwischennutzung beträgt je nach
Vereinbarung 5 bis 10 Jahre. Die Gestaltung der Fläche obliegt dabei dem Eigentümer
und orientiert sich an einem Kostenrahmen von etwa 10 bis 15 €/m². Die Kosten für
Beräumungs- und Gestaltungsmaßnahmen inklusive der Baunebenkosten sind bis zu
100 % förderfähig.80 Der Eigentümer gewährleistet die öffentliche Zugänglichkeit
ganzjährig, täglich mindestens in der Zeit von 8.00 Uhr bis 20.00 Uhr.
Das auf dem Grundstück bestehende Baurecht wird durch die Unterzeichnung einer
Gestattungsvereinbarung grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Meist ist der Eigentümer
für die Unterhaltung und Pflege der Fläche zuständig. Um Anreize für die Eigentümer
zur zeitlich begrenzten Überlassung ihrer Grundstücke zu schaffen, ermöglicht die
Stadt im Einzelfall die Befreiung von der Grundsteuer und von den Kosten für die Einleitung von Regenwasser für den Zeitraum der Zwischennutzung (Fieseler 2004,
S. 38). So können auch ggf. anfallende Pflegekosten ausgeglichen werden. Für den
Zeitraum der Gestattungsvereinbarung ist keine Bebauung zulässig, der Eigentümer
kann aber jederzeit vom Vertrag zurücktreten, muss in diesem Falle die Kosten anteilig
an die Stadt zurückzahlen. Im Falle einer Wiederbebauung muss der Eigentümer nicht
mit Ausgleichsleistungen, z. B. durch die notwendige Beseitigung von Bäumen rechnen.
Einige Aspekte der Gestattungsvereinbarung werden als problematisch eingeschätzt:
Die städtebauliche Verwendung der Flächen ist nach dem Auslaufen der Bindungsfrist
unklar, da während der Vertragslaufzeit für die betreffenden Flächen keine B-Pläne
aufgestellt werden dürfen. Neue Strategien bzw. eine konzeptionelle Neuordnung
werden erschwert. Problematisch sind auch evtl. auftretende Wertsteigerungen (z. B.
80
http://www.stadtumbau-ost.info/ am 23.08.04
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
durch stadtökologische Verbesserungen) wenn die Kommune nach Ablauf der Frist
über einen Kauf bzw. eine mögliche Enteignung der Flächen nachdenkt um z. B. eine
dauerhafte Grünfläche zu sichern (Thiel 2005, S. 108).
Eingriffsregelung
Die Umsetzung der Eingriffsregelung nach § 1a Abs. 3 BauGB und §§ 18-21 BNatSchG
kann sowohl hinsichtlich der Steigerung stadtökologischer Qualitäten als auch der
Umsetzung von Maßnahmen der Freiraumentwicklung im Rahmen des Stadtumbaus
neue Handlungs- und vor allem Finanzierungsmöglichkeiten bieten (Stadt Leipzig,
Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 47 ff.; Fritsch 2003, S. 241). Durch die Möglichkeit einer räumlichen und zeitlichen Entkoppelung von Eingriff81 und Kompensation82 ergeben sich für die Kommune Handlungsspielräume bei der Suche nach geeigneten Flächen oder Maßnahmen für die Kompensationserfordernisse. Gemäß der Grundsätze des Naturschutzes und der Landschaftspflege (BNatSchG § 2, Abs. 1, Nr. 11)
sind nicht mehr benötigte Flächen zu renaturieren – somit entsprechen Stadtumbauansätze dieser Art den Grundsätzen des Naturschutzrechtes und sind damit auch im Sinne der Eingriffsregelung naturschutzrechtlich gestützt und umsetzbar (Köck 2003,
S. 16 f.). Eine durch konsequenten Rückbau an den Randbereichen mögliche großflächige und dauerhafte Renaturierung kann auch als Kompensationsmaßnahme auf ein
Ökokonto eingebucht oder direkt einem Eingriff zugeordnet werden (BBR 2004,
S. 115).83
Dieses Mittel wird selbstverständlich nur dann einen Beitrag zur Finanzierung dauerhafter Grünflächen sein können, wenn parallel auch Wachstumsprozesse – also Eingriffe erfolgen. Dies steht teilweise dem eigentlichen Nachhaltigkeitsziel einer Senkung der
Flächenneuinanspruchnahme gegenüber. Problematisch stellt sich eine potenzielle
Ausübung des in der Regel erhalten bleibenden Baurechtes vor dem Hintergrund des
§ 21, Abs. 2 BNatSchG dar: Wird die (Frei-)Flächennutzung im Innenbereich nicht
baurechtlich abgesichert und ist eine Bebauung nicht mit der Änderung der Bauleitplanung verbunden, besteht für einen Eingriff keine Ausgleichsverpflichtung. Damit wird
die bereits durchgeführte Maßnahme entwertet und stellt keinen Ausgleich für den
ursprünglich zugeordneten Eingriff (auch zeitlich und räumlich entkoppelt) mehr dar
81
Als Eingriffe werden im Sinne des Gesetzes verstanden: Veränderungen der Gestalt oder Nutzung
von Grundflächen oder Veränderungen des mit der belebten Bodenschicht in Verbindung stehenden Grundwasserspiegels, die die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes oder das
Landschaftsbild erheblich beeinträchtigen können (§ 18, Abs. 1 BNatSchG).
82
Nach § 19 Abs. 2 BNatSchG ist der Verursacher zu verpflichten, unvermeidbare Eingriffe und
Beeinträchtigungen durch Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege auszugleichen oder zu kompensieren.
83
Für die dauerhafte Begrünung einer Fläche ist es notwendig auch im Gebiet verlaufende Straßen
zurückzubauen. In Halle werden hierfür Ausgleichsmittel benutzt (BBR 2004, S. 113).
129
130
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
(Köck 2003, S. 17). In Verbindung mit nach dem novellierten BauGB zulässigen temporären baulichen Nutzungen können auch temporäre Kompensationsmaßnahmen
nötig werden (Thiel 2005, S. 108).
Die Eingriffsregelung kann unter bestimmten Voraussetzungen auch zum Umgang mit
rückbaubedingten Freiflächen eingesetzt werden. Allerdings sind hier insbesondere
noch Fragen bezüglich der Dauerhaftigkeit der Kompensation sowie der Freistellung
von Ausgleicherfordernissen im beplanten Innenbereich zu klären (Köck 2003; Stadt
Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003). Diese Instrumente sind zudem an die
formelle Bauleitplanung gebunden. Da diese im Rahmen des Stadtumbaus allerdings
kaum verwendet werden, ist die Anwendbarkeit zusätzlich eingeschränkt. Die Umsetzung von Kompensation als temporäre Maßnahmen im städtischen Freiraum bei zeitlich befristeten Flächennutzungen kann Probleme aufwerfen. Ein Ausgleich kann nur
bei dauerhaften Maßnahmen erbracht werden. Dies bedeutet, dass die Kompensation
so lange gesichert werden muss, wie die entsprechende Beeinträchtigung existiert.
Wenn aber auf Brachen noch Baurecht besteht, ist die Dauerhaftigkeit der Ausgleichsfläche gefährdet. Hinzu kommt, dass im Falle einer Wiederbebauung der Flächen und
damit eines erneuten Eingriffs, dieser nach BauGB nicht ausgeglichen werden muss
(Bruns, Heck 2003, S. 26). Dies bedeutet, dass temporäre Maßnahmen nicht durch die
Umsetzung der Eingriffsregelung finanziert werden können (Stadt Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 54). Allerdings kann es naturschutzfachlich
durchaus sinnvoll sein, Flächen in verschiedenen Sukzessionsstadien bereitzuhalten, um
eine große Biodiversität in den Städten zu erreichen (Bruns, Heck 2003, S. 26).
Die Realisierung von Ausgleichsmaßnahmen auf Abbruchgrundstücken könnte eine
geeignete Methode sein, um die Finanzierung der Nachnutzung zu bewältigen, allerdings müssten die entsprechenden rechtlichen Grundlagen auch auf Bundesebene
angepasst werden.84 Ein Problem ist dabei auch, dass die meisten Flächen im Privateigentum sind: Die Stadt müsste die Flächen kaufen, um eine dauerhafte Begrünung zu
gewährleisten. Dies wiederum spricht gegen das Bestreben vieler Ämter, ihre Fachliegenschaften zu reduzieren. Weiterhin ist zu beachten, dass die Anlage von Parkanlagen o. ä. nicht in jedem Fall geeignet ist, naturschutzfachliche Ausgleichserfordernisse
zu erbringen. Im Rahmen konsequenter Rückbaukonzepte kann es aber vor allem in
den Randbereichen der Siedlungen durchaus sinnvoll sein, ökologisch hochwertige
Maßnahmen umzusetzen. Ein weiteres Problem ist die Unterhaltungspflege, die auch
84
Beispiel Ausgleichsflächenmanagement der Stadt Leipzig: Die Stadt Leipzig hat seit 2000 einen
Ansatz entwickelt, über ein dynamisches Bodenmanagement Freiraumkonzepte und -maßnahmen
mit Hilfe der Eingriffsregelung umzusetzen (Bruns, Heck 2003). Die Kompensationsmaßnahmen
sollen unter „… Berücksichtigung der Prioritäten der integrierten Stadtentwicklung und der Entwicklung regionaler Grünzüge …“ umgesetzt werden (Fritsch 2003, S. 239). Die Auswahl der Flächen soll u. a. durch festgelegte Stadtumbaubereiche erfolgen (Köck, Thum 2003, S. 4).
B.4 Rechtliche Rahmenbedingungen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten
bei Regelungen beispielsweise über Gestattungsvereinbarungen irgendwann einmal
dem Eigentümer der Fläche zukommt.
Doppelte Innenentwicklung
Mit dem 2007 in Kraft getretenen „Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben
für die Innenentwicklung der Städte“ (BauGB) sollen die Innenentwicklung und damit
die Stärkung der Innenstädte bei einer gleichzeitigen Verminderung der Außenentwicklung und damit Flächenneuinanspruchnahme im Sinne der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (Kapitel B.3.1) befördert werden.
Parallel sollen in Reaktion auf die UVPG-Novelle Möglichkeiten zur Beschleunigung
von Planverfahren, durch Ausnahmeregelungen von der SUP geschaffen werden.
Nach § 13 des neuen BauGB können für Innenentwicklungsprojekte das vereinfachte
bzw. beschleunigte B-Plan-Verfahren angewendet werden sowie die Umweltprüfung
und der Umweltbericht entfallen.85
Die Neuregelungen sind aus Sicht des Flächenschutzes und der Anpassung der Städte
an durch den demografischen Wandel zu erwartende verringerte bzw. veränderte
Wohnungsnachfrage als sinnvoll einzuschätzen (DStGB 2007). Aus Sicht der Wahrung
naturschutzfachlicher Interessen in der Stadt und der Nutzung von Chancen der Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten ist dies teilweise auch kritisch zu bewerten. Insbesondere die pauschale Freistellung von Umweltprüfungen, die möglicherweise beträchtliche Flächenversiegelung ohne Anwendung der Eingriffsregelung und damit ohne Kompensationserfordernis, die Erleichterung der Innenentwicklung ohne
Beschränkungen der Außenentwicklung und die Herabstufung freiraumplanerischer
Maßnahmen als Beitrag einer qualifizierten Innenentwicklung ist im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung kritisch zu betrachten (BDLA 2006; Brandl 2007; Jessel et al.
2006). Im Stadtumbau entstehende Brachflächen, die große Freiraumentwicklungspotenziale bieten, stehen somit nahezu uneingeschränkt einer Bebauung zur Verfügung.
Für einige Flächen ist dies im Sinne einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Stadtentwicklung durchaus erstrebenswert – allerdings wurde die Chance für eine stärker freiraumplanerisch intendierte Ausgestaltung der Stadtstruktur vergeben (ebd., S. 271).
Das angemahnte Ziel einer doppelten Innenentwicklung (DRL 2006) – welches in
schrumpfenden Städten im Grunde gute Umsetzungschancen hat – kann auf diese Art
und Weise der Innenentwicklungsförderung schwerlich erreicht werden.
85
Bebauungspläne der Innenentwicklung können in jedem Fall für Grundstücke von weniger als
20.000 m² bzw. weniger als 70.000 m² mit Entfallen der Umweltprüfung (im Falle nach überschlägiger Prüfung nicht zu erwartender Umweltauswirkungen) aufgestellt werden (BauGB § 13,
Abs. 1). Ausgehend von den Randbedingungen und den Flächengrößen hätten z. B. in der Stadt
Leipzig 2/3 bis 3/4 der Bebauungspläne des Jahres 2006 im beschleunigten Verfahren ablaufen
können (Brandl 2007, S. 34).
131
132
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
5
Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
Die Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten kristallisiert sich als zentrale Fragestellung und Herausforderung des Stadtumbaus heraus (Kantzow, Oswalt
2005, S. 693). Insbesondere bei der Nachnutzung der durch Rückbau frei werdenden
Flächen und den Wertschöpfungsmöglichkeiten stehen sich die Notwendigkeiten und
Chancen der Freiraumentwicklung und die Entwicklung der Grundstückswerte diametral gegenüber. Die Entwicklungsmöglichkeiten scheitern dabei an den Werterwartungen der Grundstückseigentümer und der üblichen Ermittlung der Verkehrswerte von
Baugrundstücken (BMVBS, BBR 2007a, S. 68).
Bodenwerte und deren Ermittlung spielen im Rahmen des Stadtumbaus in unterschiedlichen Bereichen eine Rolle (Stadt Leipzig, Forschungsgruppe Stadt + Dorf 2003, S. 40;
BMVBS, BBR 2007e, S. 1): Bei Änderungen oder Aufhebung des Planungsrechtes für
bauliche Nutzungen mittels Bebauungsplänen kann es zu Entschädigungsforderungen
kommen. Im Rahmen der Ausweisung von Sanierungsgebieten und der nachfolgenden
Abrechnung der Wertzuwächse ist eine Wertermittlung erforderlich. Nachnutzungsentscheidungen und die Flächenverfügbarkeit für Nachnutzungen hängen von den
Preisvorstellungen privater Grundstückseigentümer ab. Aus Sicht der Kreditwirtschaft
und des Steuerrechts ist die Frage der Differenz zwischen Buch- und Verkehrswerten
bedeutsam. Lastenausgleichsverfahren, Verkaufsbestrebungen oder Flächentauschverfahren können nur auf Basis der Kenntnis der Verkehrswerte umgesetzt werden.
Die positive Auswirkung von Grünflächen auf die Lebensqualität, die Standortqualität
und damit auch das ökonomische Klima, die Investitionsbereitschaft und die Konkurrenzfähigkeit von Städten sind nur teilweise messbar, aber unbestritten vorhanden
(u. a. Selle 1999; Lerner, Poole 1999). Dieser Zusammenhang wird beispielsweise
bezüglich des Ansiedlungsverhaltens renommierter Firmen, der Wertentwicklung von
Immobilien und der Wohnstandortentscheidungen von Stadtbewohnern deutlich. Im
Folgenden wird auf Grundlage der Bewertungsmethoden von Grundstücken und Umweltgütern die Frage der Wertentwicklung von Immobilien im Stadtumbau bezüglich
der Möglichkeiten und Hemmnisse der Freiraumentwicklung erörtert.
5.1
Wert öffentlicher Freiräume
Grünflächen sind in Deutschland bisher Allgemeingut in kommunaler Zuständigkeit.
Sie werden als selbstverständlich in Anlage, Unterhaltung und Nutzung begriffen. Eine
wirtschaftliche Bewertung oder „Geschäftskultur“ hat sich nicht entwickelt (Milchert
2005, S. 11). Trotzdem ist öffentliches Grün als „ein fester Bestandteil kommunalen
Vermögens“ zu verstehen (ver.di, GALK 2004, S. 9). Die Bewertung des öffentlichen
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
Gutes86 Freiraum entzieht sich dabei größtenteils aus Angebot und Nachfrage resultierenden Marktmechanismen. Insbesondere die stadtstrukturelle, raumbedeutsame,
nutzungsorientierte und stadtökologische Wertigkeit ist mit merkantilen Bewertungsmechanismen nur beschränkt zu erfassen.87 Hinzu kommt, dass eine rein ökonomische
Bewertung von städtischen Freiräumen nicht sinnvoll wäre, denn politische, ethische
und moralische Aspekte spielen bei der Freiraumentwicklung vermutlich sogar eine
größere Rolle als reine Nutzenaspekte. Methoden zur monetären Bewertung können
daher immer nur Hilfsinstrumente sein (Albertshauser 2002, S. 69).
Dementsprechend wurden Werte von Freiräumen bisher vorwiegend wohlfahrtsökonomisch dargestellt. Dies wird bei knapper werdenden Kommunalfinanzen nicht mehr
ausreichen, um den unverzichtbaren grünen Bestandteil unserer Städte in (allerdings zu
diskutierender) Quantität und Qualität zu erhalten. Eine monetäre Wertzuweisung auf
der einen, aber auch eine messbare Wertschöpfung auf der anderen Seite, werden
künftig im Kampf um Haushaltsmittel, politische Unterstützung und gesellschaftliche
Legitimation notwendig sein (Neumann 2003, S. 104; Klaphake 2003, S. 7; Neumann,
Hüls 2006, S. 29). Dies erfordert einerseits entsprechende Methoden der Wertbestimmung, aber andererseits auch einen Mentalitätswandel im Umgang mit dem Gemeingut Stadtgrün. Insbesondere die Frage danach, ob Grün Geld bringen darf oder muss,
sollte diskutiert werden.
5.1.1 Bodenwertermittlung
Traditionell werden Immobilienwerte von den Faktoren Boden-, Gebäude- und Mietwert bestimmt. Offiziell als Grünfläche gewidmete Flächen werden nicht am Grundstücksmarkt gehandelt und besitzen somit auch keinen Verkehrswert88. Die üblichen
86
Öffentliche Güter sind gekennzeichnet durch eine nicht bestehende Konsumrivalität und dadurch,
dass Dritte von deren Nutzung nicht ausgeschlossen sind. Umweltgüter können als Untergruppe
öffentlicher Güter verstanden werden, allerdings existiert teilweise eine Konsumrivalität, da Umweltgüter rivalisierenden Nutzungsarten unterworfen sind (Luther et al. 2002, S. 34).
87
Dem gegenüber steht der Ansatz, dass wenn man bei einer Sache nicht den Eigenwert bestimmen
kann, man aber den Wertverlust der Umgebung feststellen kann, welcher eintreten würde, wenn
die Sache nicht mehr ihren positiven Einfluss auf die Umgebung ausüben könnte (z. B. Sachwertverfahren für Bäume nach der Methode KOCH).
88
Der Verkehrswert einer Immobilie bildet verschiedene Zustandsmerkmale ab (nach Wertermittlungsverordnung): Entwicklungszustand von Grund und Boden, Art und Maß der baulichen Nutzung, wertbeeinflussende Rechte und Belastungen, beitrags- und abgaberechtlicher Zustand, Wartezeit bis zur baulichen oder einer sonstigen Nutzung, Beschaffenheit und Eigenschaft des Grundstücks, Lagemerkmale.
133
134
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
Verfahren89 zielen nicht explizit auf die Bewertung der zum Grundstück gehörigen
Freiräume ab. Beim Vergleichswertverfahren finden Freiraumqualitäten allerdings indirekt Beachtung, indem nur vergleichbare Grundstücke herangezogen werden können,
welche auch durch wertbeeinflussende Lagemerkmale charakterisiert werden. Bei Verfahren, die von dem zu erwirtschaftenden Ertrag ausgehen, werden freiraumplanerische Aspekte nur mittelbar betrachtet, da davon auszugehen ist, dass die Höhe des
Ertrages auch von der Umfeldqualität abhängig ist. Im Sachwertverfahren können
besonders kulturhistorisch oder naturschutzfachliche Pflanzungen über einen Zuschlag
auf den Bodenwert integriert werden. Dieses Vorgehen ist allerdings strittig und es
wird empfohlen, den Wert des Grüns auf dem Grundstück als bauliche Anlage aufzufassen und so in das Verfahren eingehen zu lassen (Luther et al. 2002, S. 58 f.).
Demzufolge liegt vor allem für ausschließlich als Grünfläche oder Park genutzte
Grundstücke kein Bewertungsverfahren vor. Es ist nur möglich, die einzelnen Elemente
(z. B. Gehölze, Ausstattung usw.) zu erfassen und dann einen Grundstückswert zu
ermitteln. Dieser dürfte in der Regel allerdings im Vergleich zu bebauten Grundstücken
immer relativ gering ausfallen, da diese Objekte in ihrem reinen Sachwert unter dem
von Gebautem liegen. Die anderen von begrünten Flächen ausgehenden Werte können hingegen nur schwer monetär erfasst werden. In dieser Tatsache ist das eigentliche Dilemma der Wertzuweisung und -wahrnehmung von städtischen Freiräumen zu
sehen.
Kommunalwirtschaftlich werden Grünflächen als Kostenträger (Anschaffung, Erhaltung) betrachtet. Der potenzielle Grundstückswert (bei Umwandlung in Bauland) wird
in der Regel nicht betrachtet. Die Grundstückskosten sollten in die Aufstellung einbezogen werden, auch wenn sich das Grundstück schon in kommunalem Eigentum befindet. Zur Wertermittlung sollten die Vermögenswerte in Form der geschätzten Anschaffungs- und Wiederherstellungskosten bestehender Grünanlagen eingesetzt werden (Gälzer 2001, S. 155 f.). Ebenso sollten Personal- und Planungskosten eingerechnet werden.
Die Wertermittlung von Grundstücken, die einer Nutzung als öffentliche Grünfläche
zugeordnet werden sollen, ist abhängig davon, ob es dafür eine planungsrechtliche
89
Die Ermittlung kann nach dem Vergleichs-, Ertrags- oder Sachwertverfahren erfolgen. Das Ertragsund Sachwertverfahren bezieht sich auf bebaute Grundstücke, das heißt der Bodenwert wird nicht
unmittelbar ermittelt. Durch das Vergleichswertverfahren kann direkt der Verkehrswert ermittelt
werden. International werden im Gegensatz zu den in Deutschland üblichen normierten Verfahren
eher stärker betriebswirtschaftlich ausgerichtete Verfahren (Discounted-Cash-Flow-Verfahren, Residualverfahren) angewendet (Luther et al. 2002, S. 43 f.). Im BauGB sind Regeln zur Wertermittlung in den §§ 192-199 getroffen: „Der Verkehrswert (Marktwert) wird durch den Preis bestimmt,
der in dem Zeitpunkt, auf den sich die Ermittlung bezieht, im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach
den rechtlichen Gegebenheiten und tatsächlichen Eigenschaften, der sonstigen Beschaffenheit und
der Lage des Grundstückes oder des sonstigen Gegenstandes der Wertermittlung ohne Rücksicht
auf ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse zu erzielen wäre“ (§ 194 BauGB).
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
Festsetzung gibt (Reuter 2005, S. 103): (1) Wird eine künftige Grünfläche in einem BPlan festgesetzt, sind die Entschädigungsvorschriften zur Enteignung nach §§ 93-103
BauGB anzuwenden. In der Regel kann hier nicht mehr der Bodenwert für Bauland
angesetzt werden, da die baulichen Entwicklungschancen auch schon vor einer öffentlichen Planung gering waren (ggf. kann noch der Preis für Land- und Forstwirtschaftsflächen angesetzt werden). (2) Üblicherweise wird eine Umnutzung in eine Grünfläche
beim Stadtumbau nicht planungsrechtlich abgesichert. Der ermittelte Verkehrswert der
Fläche wird in der Regel zu hoch sein, so dass eine Entschädigung nicht möglich ist,
und die Fläche durch die Kommune aufgekauft werden muss bzw. die Maßnahme
nicht durchgeführt werden kann.
5.1.2 Ökonomische Leistungen von Grünflächen – Wertschöpfung
Umweltgüter sind als Existenzgrundlagen der menschlichen Gesellschaft anerkannt –
allerdings entzieht sich diese Qualität größtenteils einer finanziellen Wertschöpfung
und damit teilweise auch der Möglichkeit einer monetären Bewertung. Einige Qualitäten bzw. Eigenschaften von Umweltgütern im weiteren Sinne und damit auch städtischer Freiräume im engeren Sinne sind aber unmittelbar feststellbar und bewertbar
(Albertshauser 2002, S. 67 f.; Nohl 1991, S. 516):
‚ Der Produktivitätswert wird beispielsweise durch stadtökologische Regulationsleistungen von Grünflächen bestimmt.
‚ Durch die Nutzung von Grünanlagen und die Wertschätzung seitens der Bevölkerung besitzen sie einen Freizeit- und Erholungswert.
‚ Der ästhetische Wert von Grünflächen wirkt sich auf den Erholungswert aus, welcher wiederum Bedeutung für die Wohnqualität und damit den Immobilienwert einer Wohnlage hat.
‚ Der Gesundheitswert von Freiräumen zeichnet sich einerseits aus durch eine Verbesserung der Umweltqualität, denn durch die Regulationsleistungen der Grünflächen entsteht eine höhere Lebensqualität (nicht messbar) und diese wirkt sich andererseits positiv auf den Produktivitätswert aus (geringere Kosten für Krankheiten,
Arbeitsausfall) (DTLR 2002, S. 12).
‚ Der ökologische Nutzen von Freiräumen sowie der Wert unserer natürlichen Lebensumwelt in der Stadt kann als Daseinswert eingeordnet werden. Dieser bemisst
sich nicht nach der tatsächlich wahrgenommenen Nutzung. Vielmehr handelt es
sich hierbei um den durch menschliche Wertvorstellungen geprägten Eigenwert von
Pflanzen, Tieren und Ökosystemen.
135
136
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
‚ Darüber hinaus kann städtischen Freiräumen ein jetzt noch nicht beanspruchter
Wert, der aber in Zukunft von Bedeutung sein kann, im Sinne eines Optionswertes
innewohnen. Dies hängt auch mit dem Vermächtniswert zusammen, in dessen Sinne gemäß dem Nachhaltigkeitsgedanken alles so zu erhalten ist, dass folgende Generationen Nutzen daraus ziehen können.
Die ökonomischen Leistungen von Grünflächen können in monetäre und nicht monetäre Effekte unterschieden werden. Bei den monetären Effekten kann nochmals zwischen on-site benefits, das heißt im Freiraum selbst wirksamen und off-site benefits,
das heißt im Umfeld des Freiraums wirksamen, differenziert werden (Neumann, Hüls
2006, S. 31; Smaniotto Costa 2007, Tabelle 5).
Monetäre Effekte
Nicht-monetäre Effekte
on-site benefits (direkte
Effekte)
off-site benfits (indirekte
Effekte)
Einnahmen aus der Freiraumnutzung (z. B. Golfanlagen,
Veranstaltungen)
Miet- und Pachteinnahmen
direkte Einnahmemöglichkeiten
(Produktvermarktung)
Beschäftigungsmöglichkeiten
bei Planung, Bau und Unterhaltung von Grünflächen für
Mitarbeiter der Kommune und
Angestellte in Planungsbüros
und Gartenbaufirmen
Erhalt und Steigerung der
Eigentumswerte durch
Auswirkungen positive
Auswirkungen der Nähe
zu Grünflächen und
Baumbestand auf Grundstückspreise
Steigerung der Steuereinnahmen
Umsatzsteigerung (Handel)
Steigerung der Lebens- und Umweltqualität
verbesserte Umweltbedingungen als
Beitrag zur Gesundheitsvorsorge und
Reduzierung der Gesundheitskosten
Bessere Vermietbarkeit und Mieterstabilisierung angrenzender Wohnungsbestände
Imagegewinn
Steigerung der Attraktivität für Kunden
und Touristen (insbesondere bei gartenhistorisch wertvollen Anlagen)
Steigerung der Investitionsbereitschaft
im Umfeld von Freiräumen
Tabelle 5: Direkte und indirekte monetäre und nicht-monetäre Effekte von Freiräumen (Eigene
Darstellung nach Neumann, Hüls 2006, S. 31; Smaniotto Costa 2007).
Neben dem Wert öffentlicher Grünflächen für die Umwelt- und Lebensqualität in einer
Stadt, welcher durch einige Wertermittlungsmethoden durchaus in Teilen abgebildet
werden kann, gehen von Grünflächen bzw. vor allem deren Anlage, Unterhaltung und
Bewirtschaftung auch ökonomische Wirkungen aus. Dieser Bereich ist mit einem hohen Personaleinsatz auf allen Ebenen verbunden – öffentliche Freiräume und deren
Planung und Verwaltung bieten somit unterschiedlichste Beschäftigungsmöglichkeiten
für verschiedene Berufe und Qualifikationen (Woolley 2003, S. 48 ff.; URGE-Team
2004). Weiterhin gehen von diesem Sektor auch Impulse für die Bauwirtschaft bzw.
Gartenbaufachbetriebe aus – allerdings ist vor dem Hintergrund des Kostendrucks eine
zunehmende Konkurrenz mit fachlich nur unzureichend qualifizierten Firmen festzustellen.
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
Selbstversorgungsansätze in Kleingartenanlagen und Gärten spielen eine – wenn auch
eher kleine – Rolle im Rahmen lokaler Ökonomien (Woolley 2003, S. 52; URGE-Team
2004). Für einige Bevölkerungsgruppen stellen diese Produktionsmöglichkeiten (Gemüse, Obst, Blumen, Kleintiere) aber durchaus eine Einnahmequelle bzw. eine Unterstützung für den eigenen Haushalt dar (z. B. Anwohner-, Integrations- oder Migrantengärten; siehe Kapitel C.2.3.3).
Die Frage nach der Wirtschaftlichkeit städtischer oder stadtnaher Freiräume ist keine
Neue. Die „Wirtschaftlichmachung der extensiven Zwischenräume“ in historischen
städtebaulichen Modellvorstellungen zur Dezentralisierung oder zu Trabantenmodellen
(siehe Kapitel C.1.2) wurde als Grundvoraussetzung der Tragfähigkeit des Ansatzes der
landschaftlichen Durchdringung betrachtet. Eine landwirtschaftliche oder gartenbauliche Nutzung der Freiräume wurde als unverzichtbar angesehen, um zum einen soziale
(und damit unrentable) Freiraumnutzungen anzubieten und anderseits um eine nichtbauliche Nutzung zu rechtfertigen (Migge 1926, S. 100 ff.).
Die wertsteigernde Wirkung von Grünflächen auf andere städtische Belange ist messbar (Immobilienwerte) und sollte auch in einer monetären Wertschätzung münden.
Verschiedene Studien weisen eine Wertsteigerung von Immobilien in Abhängigkeit
von der Nähe zu Freiräumen aus.90 Eine Messung der Wert steigernden Wirkung von
Freiräumen auf Immobilien kann die Grundlage für steuerliche Regelungen sein, die
ermöglichen, dass der Mehrwert der Immobilie anteilig abgeschöpft werden kann und
diese Einnahmen zur Refinanzierung der öffentlichen Investition in Freiräume eingesetzt werden können (Neumann 1999, S. 24).91 Denn öffentliche Freiräume werden
bisher überwiegend aus kommunalen Mitteln bezahlt und damit von der gesamten
Bürgerschaft getragen. Den Vorteil der Wertschöpfung haben dann allerdings die
angrenzenden Grundstückseigentümer durch die Wertsteigerung ihrer Immobilien.
Wenn die monetäre Wertschöpfung in Form von Renditen nicht bei den eigentlich
90
Eine Studie aus den 1970er Jahren in den USA konnte für Bauland eine Preissteigerung um 30 %,
und für bebaute Grundstücke von 2-7 % nachweisen (Woolley 2003, S. 46). Für Finnland wurde
eine positive Grundstückspreisentwicklung in Zusammenhang mit der Nähe zu Wald- und Wasserflächen nachgewiesen. Der Verlust dieser Räume durch Bebauung würde sich in einer Wertminderung um 7 % der angrenzenden Immobilien äußern (Tyrväinen 1996). Ähnliche Untersuchungen
in den Niederlanden konnten eindeutige Wertsteigerungen vor allem für Grundstücke in der Nähe
zu Wasserflächen nachweisen (Luttik 2000). Die Studie der britischen „Comission for Architecture
and the Built Environment” untersuchte in verschiedenen Fallstudien die Wirkung von Grünanlagen auf den Wert von Immobilien. Im Ergebnis wurde eine große Bandbreite der Wert steigernden
Wirkung zwischen 0 und 34 % festgestellt (CABE 2005, S. 79 ff.). Eine Studie im Auftrag der
GALK zeigt, dass verschiedene freiraumplanerische Elemente im Schnitt den Bodenrichtwert mit
4 % beeinflussen. Über das reine Vorhandensein hinaus wirken sich vor allem die gestalterische
Qualität und der Pflegezustand mit 12 % bzw. 19 % Anteil am Bodenwert aus (Gruehn 2006).
91
In den USA orientiert sich die Grundsteuer an dem tatsächlichen Marktwert der Immobilie – kommunale, den Wert steigernde Maßnahmen zur Verbesserung der Freiraumsituation können so refinanziert werden (Klaphake 2003, S. 9).
137
138
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
Verantwortlichen liegt, sollte eine finanzielle Beteiligung der Nutznießer angestrebt
werden.
Angesichts der Einspardiskussionen und Pflegeverminderungen sind erwartende Wertsteigerungen durchaus kritisch zu bewerten, da Freiraum grundsätzlich nur wertsteigernd wirken kann, wenn eine entsprechende Qualität gewährleistet wird. Qualitätsdefizite können gegenteilig sogar eine Wertminderung benachbarter Grundstücke
bewirken, was sich bei entspannten Wohnungsmärkten in schrumpfenden Städten
nachteilig auf die Vermietungssituation auswirken kann (Neumann, Hüls 2006, S. 32).
In Deutschland liegen aktuell nur wenige Erfahrungen und empirische Ergebnisse bezüglich der ökonomischen Bewertung städtischer Freiräume vor. Internationale Ergebnisse sind nur begrenzt übertragbar. Inwiefern die ökonomische Betrachtungsweise
städtischer Freiraumpolitik tatsächlich eine Chance zu einer Legitimation und damit
auch Grundlage einer neu ausgerichteten Freiraumpolitik sein kann, wird darüber hinaus kontrovers diskutiert (Klaphake 2003, S. 13).
5.2
Freiraumentwicklung im Spannungsfeld der Bodenwertentwicklung in
schrumpfenden Städten
Bodenwertverlust in schrumpfenden Städten?
In der fachlichen Diskussion herrschen unterschiedliche Auffassungen darüber, inwieweit Leerstand zum Wertverlust privater Grundstücke führt und ob und in welcher
Form der Staat auch finanziell eingreifen muss, um diesen Prozess aufzuhalten. Die
konträren Auffassungen können dabei mit unterschiedlichen mentalen Konstruktionen
des „Bodens“ begründet werden: (1) Geht man von der Wertschöpfung durch eine
(bauliche) Nutzung aus, betrachtet man Boden im Sinne einer Immobilie als Vermögensgegenstand. (2) Territorium in Form von Eigentum in Privatbesitz bezieht sich vor
allem auf die Verfügungsrechte. (3) Darüber hinaus ist auch eine Betrachtung des
Bodenwertes im Hinblick auf seine natürlichen Funktionen denkbar. Entsprechend
unterschiedlich sind die Wertzuweisungen. Dabei stehen territorialer, ökonomischer
und ökologischer Bodenwert in Wechselbeziehungen, welche eine objektive Aussage
über den Bodenwert erschweren (Davy 2007, S. 140 ff.).
(1) Wertentwicklung im Sinne eines ökonomischen Bodenwertverständnisses:
Ausgehend davon, dass sich der Wert eines Grundstückes allein über dessen Ertragsfähigkeit bestimmt (Ertragswert = Grundstückswert), stellt Leerstand und die fehlende
Aussicht auf Vermietbarkeit von Wohnungen einen Wertverlust dar. Denn mit einem
leer stehenden Gebäude ist kein Ertrag erzielbar, und das Grundstück erleidet trotz des
Wertes des Gebäudes einen Werteverlust (BMVBS, BBR 2007e, S. 1). Das Programm
„Stadtumbau Ost“ wird diesem Verständnis folgend als „Immobilienwerterhaltungsprogramm“ verstanden, denn es versucht, durch Leerstand verursachte fallende Immobilienwerte aufzuhalten. Somit wird nicht der Abriss, sondern der Leerstand als
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
Wertvernichtung aufgefasst. Das Ziel des Programms und der beteiligten Banken ist es,
den Leerstand so gering wie möglich zu halten und damit Werte und die Kreditfähigkeit erhalten, da vor allem im Verständnis der Banken die Investitionskraft der Zukunft
vom Wert der Grundstücke bestimmt wird. Dementsprechend wird auch eine u. U.
wert steigernde Umgebung (attraktives, auch grünes Wohnumfeld) zunächst nicht als
ausschlaggebend für den Grundstückswert eingeschätzt. Dies kann auch als Grund
dafür gelten, dass dem Aufwertungsteil des Förderprogramms „Stadtumbau Ost“
wenig Bedeutung beigemessen wird (WEBER in Oswalt 2005c, S. 5).
Die auf dem ökonomischen Bodenwertverständnis basierende Auffassung des „urbanen downsizing“, das heißt Schrumpfen führt zum Wertverlust von Grundstücken,
wird auch kritisch gesehen (Davy 2005, S. 67). Denn diese Annahme bildet die Argumentationsgrundlage für den als Rückbau betriebenen Stadtumbau und eine „Motivationshilfe“ für private Grundstückseigentümer, die aus Angst vor Wertverlusten am
Stadtumbau aktiv mitwirken. Auf diese Mitwirkung setzt der § 171c BauGB zum
Stadtumbauvertrag. Die Beteiligung der Eigentümer am Stadtumbau ist durchaus zu
unterstützen, aber vor dem Hintergrund der fraglichen Wertverluste der Grundstücke
in Frage zu stellen. Folgende Annahmen, die den Stadtumbau rechtfertigen, sind zu
hinterfragen (ebd., S. 67):
‚ Schrumpfung führt zu Grundstückswertverlusten – Stadtumbau führt zur Aufwertung
‚ Leerstände und niedrige Verkaufshäufigkeit bei Immobilien sind ein sicheres Zeichen
für Grundstückswertverluste – Stadtumbau belebt den Bodenmarkt
‚ Vor dem Rückbau sind Grundstückswerte geringer als nachher – Stadtumbau kann
die Differenz als Finanzierungsquelle nutzen
‚ Eigentümer haben überzogene Vorstellungen über den Wert ihrer Grundstücke –
der Stadtumbau leistet Aufklärung und motiviert dadurch zur Kooperation
Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Bodenwert und der demografischen Entwicklung. Auch wenn – im Falle von Wachstum – bei wachsender Nachfrage
die Bodenpreise steigen, heißt dies nicht automatisch, dass bei schrumpfender Bevölkerung die Bodenpreise sinken. Bodenwerte sind in der Regel nicht von Bevölkerungszahlen abhängig – allerdings ist eine „gefühlte Wertlosigkeit“ beim Anblick leerer
Stadtviertel durchaus nachvollziehbar (Davy 2005, S. 68): „[…] Die Leere [wird] von
verschiedenen Akteuren unterschiedlich interpretiert“ (Davy 2007, S. 140). Somit
besteht das Problem, dass Eigentümer nicht denselben Wertverlust wie Stadtplanungsämter fühlen und somit den Stadtumbau nicht als Instrument verstehen, Grundstückswertverluste zu mindern. Mit dem Stadtumbau wird demnach ein „… Anpassungsprozess subventioniert …, der den Angebotsbestand zur besseren Ausbeutung einer
schwindenden Nachfrage verknappt“ (Davy 2005, S. 70). Hier stellt sich die Frage,
139
140
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
inwieweit die öffentliche Hand Verantwortung für die Verluste privater Immobilienbesitzer trägt bzw. tragen muss.
(2) Wertentwicklung im Sinne eines territorialen Bodenwertverständnisses:
Durch Schrumpfung verursachter Leerstand und niedrige Verkaufshäufigkeiten und
aufgrund dessen auf Kaufpreissammlungen basierende unrepräsentative Bodenrichtwerte bedeuten nicht auch sinkende Grundstückswerte: „Während Staat und Kommunen erwarten, dass private Grundstückseigentümer auf öffentliche Hilfe gegen
drohende Wertverluste hoffen, warten die Eigentümer gelassen auf die nächste Subvention“ (Davy 2005, S. 68). Wertverluste wären eher anzunehmen, wenn Wohnoder Geschäftsräume unter den Bewirtschaftungskosten angeboten werden, oder
wenn Eigentümer ihre Grundstücke verschenken oder verlassen, weil die Kosten den
Nutzen übersteigen. Das bloße Abwarten und „Ertragen“ des Leerstandes bedeutet
zwar Bewirtschaftungs-, Liquiditäts- und damit Investitionsprobleme, aber zunächst
kaum Wertverluste. Der Wert eines Gebäudes als Vermögensgut ist durch Bodenwert
und Herstellungskosten gekennzeichnet – Leerstand ist somit nicht automatisch Wertverlust, zumal in Deutschland mit einem Grundstück nur relativ geringe laufende Kosten verbunden sind (ebd., S. 68 f.).
Die Bodenwertstabilität trotz sinkender Bevölkerungszahlen mag zunächst paradox
erscheinen, allerdings folgt sie den Gesetzen des privaten Grundstückseigentums. Dieses Eigentum kann als die „institutionelle Grundlage einer Ökonomie des Behaltens
[Herv. i. Orig.]“ (Davy 2006, S. 51) gelten, welche verschiedene Strategien für den
Eigentümer bietet: Verkauf, Nutzungsüberlassung an Dritte, Selbstnutzung und bloßes
Behalten. Es wird deutlich, dass der Eigentümer durchaus auch dann rational handelt,
wenn dies von Nachteil für die Allgemeinheit erscheint. Dabei tritt an die Stelle des
ökonomischen der territoriale Bodenwert, der in der schrumpfenden Stadt die Abwärtsspirale weiter verstärkt (ebd., S. 75). Das Eigentümerverhalten richtet sich zudem
weniger an den zu erzielenden Preisen für den Verkauf oder für die Vermietung als an
den Kosten (private oder betriebliche Kosten; Opportunitäts- oder Alternativkosten;
soziale Kosten als negative externe Effekte; Transaktionskosten) des Behaltens aus.
Dementsprechend sollte ein Bodenmanagement in der schrumpfenden Stadt an diesen
Kosten orientiert sein (ebd., S. 107).
Um die beschriebenen Barrieren zu überwinden, sollten alternative Eigentumskonzeptionen angedacht werden (Kantzow, Oswalt 2005, S. 694 ff.): Die auf der Trennung
von Bodeneigentum und -nutzung beruhende Erbpacht ermöglicht städtebauliche
Veränderungen ohne private Planungsgewinne bzw. öffentliche Entschädigungspflichten. Gemeinnützige Stiftungen können „Privateigentümer“ sein und sind gleichzeitig
verpflichtet, zum Wohl der Allgemeinheit zu handeln. Um unterschiedliche Eigentümerinteressen zu vereinbaren und den befürchteten Mikado-Effekt zu umgehen, können Quartiergenossenschaften ein Weg sein, wie mehrere Privateigentümer von ein-
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
zelnen Aktionen profitieren bzw. diese mit tragen können. Auf der Grundlage der
Trennung von Eigentum und Nutzung können Anreize gegeben werden, Eigentum für
Nutzungsinteressierte niedrigschwellig zur Verfügung zu stellen bzw. Nichtnutzung zu
besteuern.
Bodenwertverluste durch Freiraumentwicklung?
Ein größeres, weil sich eher stellendes, Problem als das der Entwicklung der Baugrundstückswerte ist die Wertermittlung sowie der (ökonomische) Wertverlust, wenn ehemalige Bauflächen nach dem Rückbau der Bausubstanz in eine neue, geringwertigere
Nutzungskategorie überführt werden sollen. Eine bauleitplanerische Rückstufung beispielsweise zu Grünflächen erfordert eine Bilanzberichtung auf Seiten des Eigentümers,
was Sonderabschreibungen erforderlich macht und somit den Gesamtvermögenswert
der betroffenen Wohnungsunternehmen mindert.92 Um dies zu vermeiden, entwickeln
Eigentümer – trotz fragwürdiger Zukunftsaussichten – bauliche Nachnutzungskonzepte.93 Im Ergebnis stellen sich die Rückbauflächen dann als nicht genutzte, begrünte
Flächen in Erwartung eines Investitionsvorhabens dar, was wiederum dem eigentlichen
Aufwertungsgedanken des Stadtumbaus entgegensteht (BMVBS, BBR 2006a, S. 73).
Die gegenwärtige Praxis der Bodenwertermittlung orientiert sich dabei am ökonomischen Bodenwertverständnis in Form des Verkehrswertes. In der Regel werden die
freiraumplanerischen Nachnutzungen nicht planungsrechtlich abgesichert: Dauerhafte
Freiräume entstehen nur auf Flächen, die durch die Kommune aufgekauft wurden und
somit zwar Wertverlust bedeuten, aber keine Entschädigungsforderungen privater
Eigentümer nach sich ziehen. Auch für die Dauer einer grünen Zwischennutzung wird
von einer Wertminderung des Grundstückes ausgegangen. Auch wenn wegen zu
erwartender Entschädigungsforderungen keine planungsrechtliche Herabzonung privater (Bau-)Grundstücke geschieht, so findet in Abhängigkeit von Lage und umgebender
Bebauung oft trotzdem eine Wertminderung der Grundstücke statt. Insbesondere in
92
Am Beispiel des Umbaukonzeptes „Waldstadt“ in der Großwohnsiedlung Halle-Silberhöhe zeigt
sich die schwierige Frage der Bodenwerte, wenn Bauflächen geringer wertigen Nutzungen weichen
sollen. Die geplante Nach- und Umnutzung von Abrissflächen lässt Forstflächen entstehen. Die
Stadt möchte den Wohnungsunternehmen diese Flächen für einen Preis von 0,10 €/m² abkaufen.
Der aktuelle Bodenrichtwert dieser Baugrundstücke liegt allerdings bei ca. 100 €/m² – eine Bilanzberichtigung in Form von Sonderabschreibungen wäre unabdingbar. Das Problem der Wertermittlung stellt sich neben dem Verkauf auch beim Flächentausch: wenn Wohnungsunternehmen im direkten Umfeld ihrer verbleibenden Bestände zusätzliche kommunale Flächen beispielsweise für
Müllplätze, Stellplätze oder Grünanlagen benötigen, geht die Stadt von Werten zwischen 8 €/m²
für Müll- und Freiflächen und 24 €/m² für Parkplätze aus. Diese Hürde führt aktuell dazu, dass solche Flächen von den Wohnungsunternehmen nicht genutzt werden können (auch wenn sie z. B.
andere Flächen für einen sehr niedrigen Preis als Forstflächen verkaufen soll) da die Stadt einen
wertgleichen Ausgleich fordert (Netzwerk-Brief „HalleBautUm! 18/19 – Juli 2005).
93
Die aktuellen Schwierigkeiten sind auch darauf zurückzuführen, dass diese Wohnungsbestände
nach 1990 mit einem zu hohen Wertansatz in die Bilanzen der neu gegründeten Wohnungsgesellschaften eingegangen sind (Kantzow 2005, S. 6).
141
142
B.5 Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
städtischen Randgebieten oder großen Rückbauflächen in den Plattenbaustandorten
ist von Bodenwerten für Bauerwartungs- oder Rohbauland auszugehen. Sollten tatsächlich „Außenbereiche im Innenbereich“ (siehe Kapitel B.4.2.1) entstehen, sind
Werte für Nichtbauland anzusetzen (MI, MIR 2005, S. 71).
Die Ausweisung von (Bau-)Grundstücken als Renaturierungsfläche für öffentliche
Zwecke in einem Bebauungsplan entspricht einer Ausweisung als fremdnützige Fläche.
Daraus entstehende Vermögensnachteile sind im Rahmen des Planungsschadensrechtes auszugleichen. Dies bedeutet das Recht entweder auf eine Geldentschädigung für
die Nutzungsbeschränkungen oder auf eine Übernahme des Grundstücks durch die
öffentliche Hand (Davy 2006, S. 103). Eine ökonomische Wertzuweisung renaturierter
Grundstücke ist schwierig, da es für diese Nutzungen keinen Preis für deren Konsum
und damit keinen Markt gibt. Allerdings gilt dies auch für Brachflächen – im Gegenteil
ist ein oft zutreffender Altlastenverdacht sogar als verlustbringend einzustufen. Unter
den folgenden beiden Rahmenbedingungen erweist sich die Renaturierung94 im Vergleich zum liegen lassen sogar volkswirtschaftlich nützlicher und effizienter und hat
einen „Nettowohlfahrtseffekt“: (1) Die Kosten für die Renaturierung dürfen den Nutzen für die lokale Ökonomie nicht überschreiten. (2) Der Renaturierung dürfen keine
Einschränkungen für andere Gewerbebetriebe bzw. Bauvorhaben folgen. Ergänzend
würden aus der Dekontamination und der ökologischen Aufwertung soziale und ökologische Vorteile hervorgehen (ebd., S. 31). Diese Argumentation verdeutlicht erneut,
dass die umfassenden positiven Wirkungen von Grünflächen nicht direkt in die Wertermittlungskette integriert werden: Monetarisierbare gesamtwirtschaftliche Effizienz
wird neben ökologische und soziale Belange gestellt und nicht gemeinsam betrachtet.
Eine nochmals differenzierte Betrachtungsweise ist notwendig, wenn es um die Beurteilung der Effizienz solcher Maßnahmen für den einzelnen Eigentümer einer betroffenen Fläche geht: (1) Eine dauerhafte Umwidmung von Bauland ist für den Eigentümer
betriebswirtschaftlich ineffizient, wenn konkrete Investitionsvorhaben absehbar sind.
(2) Die Renaturierung ist dann effizient, wenn durch die Bodensanierung bodenschutzrechtliche Entlastungen entstehen. Im Rahmen der Abwägung volkswirtschaftlicher,
ökologischer und sozialer Interessen mit den betriebswirtschaftlichen Interessen eines
Einzeleigentümers kann das Ziel der Renaturierung auch für Fall (1) tragfähig sein
(ebd., S. 31 f.).
Stadtumbauentscheidungen auf Basis einer „dimensionslosen Diskussion der Wertigkeiten“ im Rahmen der Abwägung zwischen Aufwand und Nutzen, insbesondere bei
der Anlage von öffentlichen Freiräumen, zu treffen, scheint nicht zielführend zu sein
94
Renaturierung wird hier verstanden als Rückverwandlung ehemals baulich genutzter Flächen in
Landschaft. Allerdings ist damit nicht ausschließlich die dauerhafte Umwandlung in NichtBaulandnutzungen gemeint, sondern auch eine Zwischennutzung als Vorbereitung für eine erneute
bauliche Nutzung (Davy 2006, S. XV, 10).
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
(Gerkens 2006). Unter der Annahme, dass der territoriale Bodenwert im Stadtumbau
eine größere Rolle als der ökonomisch intendierte Immobilienwert spielt, sollte die
temporäre oder auch der dauerhafte Entwicklung von Grünflächen auch auf weiter in
Privatbesitz befindlichen Grundstücken forciert werden. Vor dem Hintergrund fehlender baulicher Interessen, der Unmöglichkeit, all diese Flächen durch die Kommune zum
Verkehrswert zu erwerben und dem Willen zur Freiraumentwicklung, scheint dies die
einzige Lösung zu sein. Insofern sollten Grünflächen auch in Zukunft als Teil der nicht
bis ins Detail zu bilanzierenden Daseinsvorsorge verstanden und angeboten werden.
6
Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Die aktuell in Ostdeutschland ablaufenden Schrumpfungsprozesse sind durch demografische und ökonomische Komponenten geprägt. Die wirtschaftliche Entwicklung in
Ostdeutschland trägt vor allem im Hinblick auf die Abwanderung der Bevölkerung zu
Schrumpfungsprozessen bei. Der Zusammenhang zwischen der demografischen (vor
allem Geburtenentwicklung und Alterung) und wirtschaftlichen Entwicklung ist vielschichtig und nicht automatisch negativ (Börsch-Supan 2007). Die in der Diskussion
oft unterstellten Wechselwirkungen zwischen demografischen und ökonomischen
Faktoren wurden empirisch bisher nicht nachgewiesen (Franz 2005, S. 12). Obwohl
bisheriges (Stadt-)Wachstum oft an wirtschaftlichen Aufschwung und Bevölkerungszunahme gekoppelt waren, heißt dies nicht, dass Schrumpfung einfach die Umkehrung
dieser Prozesse bedeutet: Das durch Bevölkerungsverluste zurückgehende Arbeitskräfteangebot hat zunächst keinen wachstumsbegrenzenden Effekt, da der Faktor Arbeit
alles andere als knapp ist – Experten weisen allerdings schon jetzt auf einen Fachkräftemangel hin, das heißt in qualitativer Hinsicht wird der Faktor Arbeit evtl. begrenzend
wirken. Weiterhin ist auch international eine Tendenz zum Wirtschaftswachstum ohne
Beschäftigungszuwachs erkennbar (ebd., S. 12 f.).
Einen direkten Zusammenhang gibt es allerdings zwischen Bevölkerungsverlusten
durch Suburbanisierung und den Kommunalhaushalten. Regionalökonomisch spielt der
Wohnort eines Arbeitnehmers hingegen keine Rolle, solange er seinen Arbeitsplatz
und sein alltägliches Konsumverhalten nicht ändert. Eine Studie zum Zusammenhang
zwischen der Veränderung der Einwohner- und Beschäftigtenzahl und ökonomischen
Wachstumsindikatoren in ostdeutschen Städten zeigt keine eindeutigen Muster. In den
meisten untersuchten Fällen war jedoch eine Gleichzeitigkeit von wirtschaftlichem
Wachstum und zurückgehenden Bevölkerungs- und Beschäftigtenzahlen festzustellen
(ebd., S. 13). Eine geringere Wirtschaftskraft beeinflusst durchaus die Finanzkraft der
öffentlichen Hand, aber auch der Privatpersonen negativ. Im Hinblick auf freiraumplanerische Herausforderungen der Schrumpfung betrifft dies insbesondere die Handlungsmöglichkeiten, die von der finanziellen Ausstattung der Kommunalhaushalte
sowie öffentlicher und privater Flächeneigentümer abhängen. Insbesondere die kom-
143
144
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
munale Daseinsvorsorge muss in Teilbereichen neu überdacht werden (Junkernheinrich
2006, S. 5).
Im folgenden Kapitel wird der Zusammenhang zwischen dem demografischen und
wirtschaftlichen Wandel und den Wirkungen auf die Kommunalhaushalte im Hinblick
auf die Umsetzung und Finanzierung von Freiräumen betrachtet (Kapitel B.6.1, B.6.2).
Es steht immer weniger Geld für die Anlage und Unterhaltung bestehender, und insbesondere entstehender, Freiräume zur Verfügung (Becker 2003). Dies betrifft vor allem
kommunale, aber auch Rückbauflächen im privaten Eigentum. Finanzielle Einschränkungen der öffentlichen Hand und teilweise der privaten Eigentümer bedürfen, insbesondere vor dem Hintergrund einer Zunahme an Freiräumen, neuer Handlungsansätze
bezüglich der Anlage und Unterhaltung sowie der Trägerschaften und Organisationsformen von Freiräumen in schrumpfenden Städten (Kapitel B.6.3). Die aktuelle Diskussion macht auf der einen Seite bereits die Vielfalt der Finanzierungsansätze in der
Stadtumbaupraxis deutlich und wirft auf der anderen Seite aber die Frage nach der
Eignung und Zukunftsfähigkeit der angewendeten Ansätze im Hinblick auf eine nachhaltige und qualitätvolle Freiraumentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen auf.
6.1
Auswirkungen der Schrumpfung auf die Kommunalhaushalte
Die Aufgaben der Kommunalverwaltung bestehen aus den öffentlich-rechtlichen
Kernaufgaben, die größtenteils auf einem Durchführungsmonopol der öffentlichen
Hand basieren (z. B. Genehmigungen, Ordnungsmaßnamen, Planungen und Lizenzierungen). Der weitaus umfassendere Teil der öffentlichen Dienstleistungen beinhaltet
die wohlfahrtsstaatlichen Dienste (z. B. Kultur, Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen, Umwelt- und Naturschutz). Durch diese Leistungen werden die sozialstaatliche
Daseinsvorsorge sowie die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gewährleistet. Somit wird ein großer Teil der persönlichen Dienstleistungen für jeden einzelnen Bürger
auf der kommunalen Ebene erbracht (z. B. durch Schulämter, Grünflächenämter, Sozialämter). Grünanlagen sind demnach eine von der Kommune erbrachte Dienstleistung
für den Bürger. Wenn im Zuge der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte die Aufgaben der Kommunen auf ein Minimum, das heißt die öffentlich-rechtlichen Kernaufgaben zurückgeschnitten werden, würden die Kommunen diese wohlfahrtsstaatlichen
Dienstleistungen einbüßen. Damit wäre dann ebenfalls die sozialstaatliche Daseinsvorsorge in Frage gestellt. Im Gegenzug lässt sich natürlich die Frage aufwerfen, ob dieser
Anspruch überhaupt von der öffentlichen Hand erfüllt werden muss, oder ob diese
Aufgaben nicht auch durch andere Träger oder Institutionen übernommen werden
können (Albertshauser 2002, S. 73).
Die finanzwirtschaftlichen Konsequenzen der Schrumpfungsprozesse erhöhen die Verantwortung und den Handlungsdruck der Kommunen, den Stadtumbau quantitativ
und qualitativ zu steuern (Weidner 2005, S. 89). Insbesondere problematisch ist dabei,
dass die kommunalen Ausgaben nicht proportional zum Bevölkerungsrückgang redu-
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
ziert werden können, und dass die Diskrepanz zwischen der Einnahme- und der Ausgabenseite wächst. Der im Grundgesetz verankerten Autonomie der Kommunen fehlt
somit zunehmend die finanzielle Ausstattung. Ebenso stellt die Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse unter diesen Bedingungen ein kaum noch zu erreichendes Ziel dar
(Pohlan, Wixforth 2005, S. 20).
Es wird derzeit davon ausgegangen, dass die demografischen Veränderungen, die
kommunalen Haushalte stark beeinflussen werden (Seitz 2006, S. 182; BMVBS, BBR
2007d). Die schon seit einigen Jahren anhaltenden Einnahmeverluste95 der Kommunen
haben verschiedene Ursachen: Zum einen sind es Gesetzesänderungen, die mit einer
Aufgaben- und damit Ausgabenausweitung für die Kommunen einhergehen. Zum
anderen sind es konjunkturelle Gründe, welche zu Einnahmeverlusten aller öffentlichen
Haushalte führen. Aktuell sind es die Folgen der Schrumpfung mit ihren wirtschaftlichen (z. B. Rückgang der Gewerbesteuer) und demografischen (z. B. Rückgang von
einwohnerzahlabhängigen Zuweisungen) Komponenten, die zu strukturellen Haushaltsdefiziten, nicht nur ostdeutscher Kommunen, führen (Zierold 2003; Pohlan,
Wixforth 2005, S. 19; Seitz 2006, S. 180).96 In den Neuen Bundesländern kommt trotz
eines prognostizierten Realwachstums der Einnahmen der Kommunen noch das Abschmelzen der Osttransfers97 und damit ein absoluter Einnahmerückgang, sowie der
Konsolidierungsbedarf der Pro-Kopf-Ausgaben entsprechend der Westflächenländer
hinzu (Seitz 2004b, S. 5 f.; Seitz 2004a, S. 87, 99). Generell ist ein Ansteigen der Ausgaben für Sozialleistungen zu beobachten (seit 2000 Ost: um 37 %, West: um 17 %),
was vor allem durch weniger Investitionen kompensiert wird (Seitz 2006, S. 181).
In Tabelle 6 werden die Effekte des demografischen Wandels auf die Einnahmen und
die Ausgaben der Kommunalhaushalte überblicksartig betrachtet. Dabei ist zwischen
95
Seit dem Jahr 2006 weisen die Kommunalhaushalte im gesamtdeutschen Schnitt eine positive
Entwicklung auf, was das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben anbelangt. Dies ist v. a. auf eine Wiederabsenkung der Gewerbesteuerumlage durch den Bund und damit auf eine Steigerung
bei den Gewerbesteuereinnahmen zurückzuführen. Aber auch bei der Körperschafts-, Lohn- und
Umsatzsteuer wurden steigende Einnahmen verzeichnet. Trotzdem bleiben die Verwaltungshaushalte stark defizitär und die Kreditbelastung steigt weiter an (Karrenberg, Münstermann 2007).
Bisher wurde, um die Gesamtausgaben stabil zu halten, mit einer Reduzierung der Investitionsausgaben (2004: -6,1 %) reagiert. 2004 lagen die Investitionsausgaben 40 % unter dem Niveau von
1992 (Deutscher Städtetag 2004). Seit 2006 sind entsprechend der steuerlichen Mehreinnahmen
wieder leichte Zuwächse bei den kommunalen Investitionen zu verzeichnen (Karrenberg, Münstermann 2007, S. 8).
96
Die ostdeutschen Kommunen erreichten im Jahr 2002 ca. 51 % des Pro-Kopf-Steueraufkommens
der Kommunen in den finanzschwachen Westflächenländern (Seitz et al. 2004, S. 17).
97
Die ostdeutschen Länder werden gegenüber den finanzschwachen westdeutschen Ländern dadurch von ihrem jetzigen Einnahmevorsprung von ca. 20 % bis 2020 auf ca. 95-97 % der ProKopf-Einnahmen dieser Länder zurückfallen. Im Hinblick auf die nach wie vor vorhandenen Infrastrukturlücken sind hier große Finanzierungsdefizite zu erwarten (Seitz et al. 2004, S. 2).
145
146
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
den quantitativen, qualitativen und räumlichen Aspekten des demografischen Wandels
sowie den Effekten der Veränderungen der lokalen Wirtschaft zu unterscheiden.
Es sei darauf hingewiesen, dass die einzelnen Effekte des demografischen Wandels in
ihren Auswirkungen auf die kommunalen Einnahmen nur schwer zu erfassen und
durchaus heterogen sind sowie sich auch teilweise gegenseitig kompensieren können
(Müller 2006, S. 88). Entsprechende Studien sind somit methodisch kritisch zu betrachten. Im Vergleich dazu können Aussagen zur Ausgabeseite klarer getroffen werden
(Pohlan, Wixforth 2005, S. 21).
Demografische Komponenten
Schrumpfung
Kommune
Einnahmen
Zuweisungen KFA
Zuweisungen Bund,
EU
Einkommenssteueranteil
Bevölkerungszahl
Bevölkerungsstruktur
Suburbanisierung
Erwerbsfähigenzahl
++
+
+
+
Verbrauchssteuern
++
+
Gebühren
++
Umsatzsteuer
+
+
+
Ausgaben
+
+
++
Gewerbesteuer
++
Technische
Infrastruktur
++
Soziale
Infrastruktur
+
Sozialtransferzahlungen
Ökonomische
Komponenten
Lokale
ArbeitsÖkonolosigkeit
mie
+
++
+
+
+
+
+
++
Tabelle 6: Wirkungen ökonomischer und demografischer Komponenten der Schrumpfung auf
den Kommunalhaushalt (+ Auswirkungen, ++ starke Auswirkungen, leere Felder ohne klare
Aussagen; Eigene Darstellung).
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Einnahmen
Es ist davon auszugehen, dass die fiskalischen Effekte des demografischen Wandels
schneller und stärker auf der Einnahme- als auf der Ausgabenseite zu spüren sein werden. Weiterhin werden die Kommunen, durch die Vielzahl einwohnerbezogener Zuweisungen und der höheren Infrastrukturverantwortung), ungleich stärker betroffen
sein als die Länder (Müller 2006, S. 100). Die Einnahmeseite in Kommunalhaushalten
unterliegt einer weitgehenden Anpassungsautomatik und ist vor allem im Rahmen von
Schrumpfungsprozessen kaum zu beeinflussen.
In Sachsens Kommunen werden die Pro-Kopf-Einnahmen bis zum Jahr 2020 unter das
Niveau der Kommunen in den finanzschwachen Westflächenländern fallen. Infolge des
Bevölkerungsrückgangs und der Absenkung der Osttransfers im Jahr 2020 wird das
Gesamteinnahmevolumen real unter dem des Jahres 2002 liegen (Seitz 2004a, S. 94).
Die mit dem Rückgang der Osttranfers aus Bund und EU verbundenen Mindereinnahmen liegen real sogar doppelt so hoch wie die Einnahmeverluste aus dem Bevölkerungsrückgang (Seitz et al. 2004, S. 42). Im Hinblick auf das zu erwartende Finanzierungssaldo entsprechend unterschiedlicher Bevölkerungs- und Wachstumsprognosen
muss künftig von einem mehr oder weniger großen Defizit ausgegangen werden (Bach
et al. 2002).
Im Vergleich zu den Finanzierungslücken im Sozialversicherungssystem wird das Steueraufkommen weit weniger vom demografischen Wandel betroffen sein. Durch die
nachgelagerte Besteuerung von Renten ist damit zu rechnen, dass das Steueraufkommen längerfristig erhöht wird. Hinzu kommt, dass die unternehmensbezogenen Steuern (Gewerbesteuer, Körperschaftsteuer) und die indirekten Verbrauchsteuern von der
demografischen Entwicklung nicht sehr stark berührt werden (ebd., S. 137).
Zwischen 1996 und 2002 kam es in den ostdeutschen Kommunen bereits zu einem
Einnahmerückgang von ca. 185 €/EW. Dies resultiert zu ca. 2/3 aus geringeren Zuweisungen der Länder. Rückgänge bei Gebühreneinnahmen sind wahrscheinlich auf Auslagerungen (z. B. im Kita-Bereich) zurückzuführen. Hinzu kommen Rückgänge bei
Vermögensveräußerungen. Hingegen gestiegen sind die Steuereinnahmen, was allerdings auf eine Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer und nicht auf eine
Stärkung der realen Steuerkraft zurückzuführen ist (Seitz et al. 2004, S. 13).
Betrachtet man nur den Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl und Einnahmeseite kann man davon ausgehen, dass ein Bevölkerungsrückgang um 1 % ca. einen Ein-
147
148
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
nahmerückgang von zunächst 0,7 % und bis 2020 von 0,95 % bedeutet (Seitz 2004b,
S. 7).98
Ausgaben
Die geringer werdenden Einnahmen sind kaum zu beeinflussen. Anpassungsmaßnahmen sind somit auf der Ausgabenseite erforderlich und sind Handlungsfeld politischer
bzw. bürokratischer Entscheidungen. Dabei ist zunächst eine Anpassung der Ausgabenhöhe an die demografisch bedingten Einnahmeveränderungen, aber zukunftsgerichtet auch eine Anpassung der Ausgabenstruktur an die demografisch bedingten
Bedarfsänderungen notwendig.
Die Ausgabenseite der Kommunen wird von vier wesentlichen Komponenten beeinflusst (Mäding 2004b, S. 84): (1) Ausgabenremanenz bei rückläufiger Bevölkerung, (2)
steigende Ausgaben pro Kopf wegen qualitativer Effekte des demografischen Wandels
(Alterung, Heterogenisierung, usw.), (3) zusätzliche Ausgaben durch Binnenwanderungen (Regionen, Suburbanisierung) und (4) zusätzliche Ausgaben durch Kommunenwettbewerb um Einwohner. Die verschiedenen kommunalen Aufgaben reagieren
dabei unterschiedlich auf demografische Veränderungen. Bei Anpassungsbestrebungen
ist entsprechend zu unterscheiden zwischen der Unterhaltung bestehender (Infrastruktur-)Einrichtungen99, Transferleistungen und Verwaltungsaufgaben.
Anpassungen auf der Ausgabenseite der Kommunen sind erforderlich, da einerseits die
Einnahmen aufgrund des Bevölkerungsrückgangs massiv sinken und andererseits in
einzelnen Aufgabenbereichen zusätzliche Lasten durch Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung entstehen (Seitz 2004b, S. 14). Die Bewältigung des demografischen Wandels ist dabei weniger ein Problem des Managements des Gesamtausgabenvolumens als vielmehr eine Frage der – politisch durchzusetzenden – Veränderung der Ausgabenstrukturen (Seitz 2004a, S. 99). Dabei werden die Einnahmeverluste
größtenteils nur über den Abbau von Personal zu kompensieren sein: SEITZ ermittelt
einen Personalabbaubedarf bis zum Jahr 2020 in Höhe von ca. 30 % des aktuellen
Bestandes (ebd., S. 94, 101 f.). Die in den nächsten Jahren unbedingt notwendige
Haushaltskonsolidierung sollte dabei zu Lasten der konsumtiven Ausgaben und nicht
der Infrastrukturausgaben gehen (Seitz et al. 2004, S. 33).
98
Durch den Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen mit Wohnsitz in der Stadt Leipzig wird ein Einnahmerückgang des Verwaltungshaushaltes durch ein geringeres Steueraufkommen und geringere
einwohnergebundene Zuweisungen je nach Szenario zwischen 15 % und 30 % bezogen auf 2000
bis zum Jahr 2030 prognostiziert. Insgesamt wird von einem Gesamtrückgang der kommunalen
Einnahmen – inklusive demografische Effekte und Auslaufen des Solidarpaktes – von 50 % bis
2030 ausgegangen (Stadt Leipzig 2003b, S. 20 ff.).
99
Hier ist es sinnvoll zwischen (1) Versorgungs- und (2) Besorgungssystemen zu unterscheiden: (1)
dezentrale Leistungsabgabe z. B. Abwasserentsorgung, Rettungsdienste; (2) Leistungen werden an
einem zentralen Ort erbracht, z. B. Schule, Kultur-, Medizineinrichtungen (Seitz 2004a, S. 5).
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Bereits heute leiden die Kommunen unter Remanenzeffekten100 im Infrastrukturbereich, die eine langfristige Anpassungsstrategie und vor allem eine Zusammenarbeit
der Kommunen bei der Erstellung öffentlicher Leistungen (z. B. gemeinsame Betriebshöfe, Grünflächenpflege, Zusammenlegung von Fachverwaltungen, gemeinsamer
Betrieb und Erhalt von sozialer, kultureller und Freizeitinfrastruktur) erfordern. Darüber
hinaus wird auch die Notwendigkeit eines größeren öffentlichen Bewusstseins und des
Engagements der Bürger auch beim Erhalt und der Pflege öffentlicher Grünflächen
sowie Sport- und Freizeitanlagen deutlich (Seitz 2004a, S. 94 f.).
6.2
Finanzierung öffentlicher Freiräume
Die oftmals durch Förderprogramme oder andere Finanzierungswege noch möglichen
Investitionskosten für öffentliche Freiräume sind in Relation zu den Folgekosten – für
die es diese Möglichkeiten meist nicht gibt – eher gering. Da bei Grünanlagen die
Instandhaltungskosten nach 7-10 Jahren in der Regel die Investitionskosten überschreiten, wird deutlich, dass die langfristige Einplanung dieser Kosten auch schon bei
der Neuplanung notwendig ist.
Neben der „klassischen“ Finanzierung aus kommunalen Eigenmitteln spielen insbesondere Fördermittel aus verschiedenen staatlichen Programmen der Länder und des
Bundes, aber auch der EU eine wichtige Rolle bei der Finanzierung öffentlicher Freiräume. In Zusammenhang mit den knapper werdenden öffentlichen Mitteln bedarf es
zunehmend neuer Finanzierungsformen für die Gestaltung und Unterhaltung sowohl
vorhandener als auch neu entstehender Freiräume nicht nur schrumpfender Städte.
6.2.1 Nationale Städtebauförderung
Das BauGB regelt in § 164a den Einsatz von Städtebaufördermitteln auf der Grundlage
des Artikels 104a, Abs. 4 des Grundgesetzes.101 Die Mittel der Städtebauförderung
sollen auf städtische und ländliche Räume mit erhöhten strukturellen Schwierigkeiten
100
Kostenremanenz: die Kosten bei einem rückläufigen Auslastungsgrad von Infrastrukturangeboten
sinken nicht im gleichen Maße, in dem sie zuvor bei zunehmender Auslastung angestiegen sind.
Die höheren Kosten werden als remanente Kosten bezeichnet. Sie entstehen dadurch, dass die
Kostenanpassung an den Auslastungsgrad aus wirtschaftlichen, rechtlichen oder politischen Gründen entweder zeitverzögert oder grundsätzlich anders erfolgt (Seitz et al. 2004, S. 82).
101
Dieser Artikel räumt dem Bund die Möglichkeit ein, den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden zu gewähren. Die Beseitigung städtebaulicher
Missstände wird dabei als gesamtstaatliche Verantwortung aufgefasst und vom Bund unterstützt.
Die Bundesfinanzhilfen sind gemäß dieses Artikels nur für investive Maßnahmen einzusetzen. Derzeit nutzt der Bund diese Möglichkeit im Rahmen der Städtebauförderung, der sozialen Wohnraumförderung und der Finanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz mit dem Ziel
der nachhaltigen Stadtentwicklung.
149
150
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
konzentriert werden.102 Sie haben das Ziel, die Attraktivität der Städte und Gemeinden
als Wohn- und Wirtschaftsstandort zu stärken, die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen zu fördern und so die Zukunftsfähigkeit der Städte nachhaltig zu unterstützen (BMVBW 2005, S. 68). Diese Finanzhilfen können nur in Anspruch genommen
werden, wenn entsprechende Fördergebiete räumlich ausgewiesen werden. Dabei sind
die Regelungen des Bundes nur Rahmengesetze. Die Durchführung und Verteilung
bestimmen die Bundesländer. Die verschiedenen Programme der Städtebauförderung
flankieren bzw. unterstützen explizit die städtebauliche Entwicklung unter Schrumpfungsbedingungen und stellen somit wichtige Finanzierungsinstrumente zur Bewältigung aktuell anstehender Probleme dar (Tabelle 7). Auf die Städtebauförderung im
Rahmen des Programms „Stadtumbau Ost“ wurde bereits ausführlich in Kapitel B.2.1
eingegangen.
Seit dem Jahr 2008 existiert ein neues Programm zur Förderung der Innenstädte und
Ortskerne „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“. Per Gemeindebeschluss räumlich abgegrenzte „Zentrale Versorgungsbereiche“, die durch Funktionsverluste, und insbesondere gewerblichen Leerstand, betroffen oder bedroht sind, können Fördermittel
erhalten, um Gesamtmaßnahmen für den Erhalt der gemischten Standorte zu unterstützen (BMVBS 2008, Artikel 11). Es werden Mittel bereitgestellt, um öffentliche
Räume aufzuwerten, das Stadtbild prägende Gebäude instand zu setzen, Bau- und
Ordnungsmaßnahmen an ungenutzten Gebäuden oder Brachflächen sowie Zwischennutzungen zu fördern. Darüber hinaus sind das Citymanagement oder Standortgemeinschaften förderfähig. Neu ist weiterhin die Einrichtung von Verfügungsfonds, in
denen bis zu 50 % Städtebauförderung mit entsprechenden privaten Mitteln
kofinanziert werden (BMVBS 2008, Artikel 12). Mit diesem auf eine Laufzeit von
8 Jahren angelegten Programm wird die gegenwärtige politische Strategie der Innenstadtförderung untermauert.103 Mit dem Programm sollen Alternativen zum Abriss leer
stehender Gebäuden vor allem in Stadt- oder Stadtteilzentren ermöglicht werden.
102
Die rechtliche Grundlage der Städtebauförderung bildet die jährlich aktualisierte Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern (nach § 165b BauGB) über die Gewährung von Finanzhilfen an die Länder zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen. Auf dieser Grundlage regeln die
Länder über Förderrichtlinien die Förderfähigkeit von Maßnahmen und Vorhaben, Förderschwerpunkte und nähere Auswahlkriterien. Die Gemeinden sind im Rahmen der Planungshoheit für die
Vorbereitung und Durchführung der städtebaulichen Maßnahmen zuständig und stellen beim Land
entsprechende Förderanträge für die ausgewiesenen Fördergebiete (BMVBW 2005, S. 68).
103
BMVBS: Pressemitteilung 136/2008
151
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Maßnahmenschwerpunkte für den Einsatz von
Finanzhilfen (§ 164b, Abs. 2 BauGB)
Finanzhilfen im Rahmen der VV Städtebauförderung 2008
die Stärkung von Innenstädten und Ortsteilzentren in
ihrer städtebaulichen Funktion unter besonderer Berücksichtigung des Wohnungsbaus sowie der Belange
des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege
Förderung einer
nachhaltigen Stärkung von Innenstädten und Ortszentren, des städtebaulichen Denkmalschutzes sowie der
Wiedernutzung von
Brachflächen im
Rahmen städtebaulicher Erneuerung
und Entwicklung
ca. 122 Mio. €
ca. 90 Mio. € (Städtebaulicher Denkmalschutz für Neue
Bundesländer)
Förderung von
Maßnahmen für
Aktive Stadt- und
Ortsteilzentren
ca. 40 Mio. €
Förderung von
Maßnahmen der
Sozialen Stadt
ca. 90 Mio. €
Förderung des
Stadtumbaus in den
neuen und den
alten Ländern
ca. 162 Mio. € (davon
104 Mio. € für SU Ost)
die Wiedernutzung von Flächen, insbesondere der in
Innenstädten brachliegenden Industrie-, Konversionsoder Eisenbahnflächen, zur Errichtung von Wohn- und
Arbeitsstätten, Gemeinbedarfs- und Folgeeinrichtungen unter Berücksichtigung ihrer funktional sinnvollen
Zuordnung (Nutzungsmischung) sowie von umweltschonenden, kosten- und flächensparenden Bauweisen
städtebauliche Maßnahmen zur Behebung sozialer
Missstände
Tabelle 7: Maßnahmenschwerpunkte und Finanzhilfen der Städtebauförderung im Jahr 2008 für
Gesamtdeutschland (BMVBS 2008, S. 8).
In der Verwaltungsvereinbarung zur Städtebauförderung des Bundes des Jahres 2007
wurde die Experimentierklausel zum Artikel 8 („Verteilung der Bundesmittel“) eingeführt. Diese ermöglicht es, den bei Städtebauförderprogrammen üblichen kommunalen
Eigenanteil von einem Drittel der Gesamtkosten teilweise auch durch private Mittel zu
substituieren (23 % durch Private, 10 % Kommune): „Das Land kann aufgrund der
besonderen Haushaltslage einer Gemeinde auf der Grundlage von allgemein bekannt
gemachten Grundsätzen durch Einzelfallentscheidungen zulassen, dass Mittel, die der
geförderte Eigentümer aufbringt, als kommunaler Eigenanteil gewertet werden, wenn
konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass anderenfalls die Investitionen unterbleiben würden. Der von der Gemeinde selbst aufgebrachte Eigenanteil muss dabei mindestens 10 v. H. der förderfähigen Kosten betragen“ (BMVBS 2007, S. 37). Damit
wurde den – vor allem im Teil Aufwertung des Programms „Stadtumbau Ost“ deutlich
werdenden und zu großen Vollzugsdefiziten führenden – Haushaltengpässen in
schrumpfenden Kommunen Rechnung getragen. Für die Qualität des Stadtumbaus
ganz entscheidende Aufwertungsmaßnahmen können nun auch teilweise durch private Akteure, z. B. Grundstückseigentümer, kofinanziert werden.
152
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Zusätzlich zu den Programmen der nationalen Städtebauförderung stellen die Bundesländer Förderprogramme zu verschiedenen Themen auf. Ein Beispiel ist das
„Brachenprogramm“ des Freistaates Sachsen: Die Verwaltungsvorschrift des SMI zur
Revitalisierung von Brachen regelt die Zuwendung von Fördermitteln zur Beseitigung
von Brachflächen zur Unterstützung einer nachhaltigen innerstädtischen Entwicklung.
Brachgefallene Flächen sollen für neue Nutzungen vorbereitet werden, Umweltschäden sollen beseitigt und die Inanspruchnahme von Boden und anderen Ressourcen
sollen reduziert werden. Gefördert werden Maßnahmenbündel in benachteiligten
Stadtgebieten auf der Grundlage integrierter Handlungskonzepte. Neben städtebaulichen und gewerblichen Entwicklungen sind dabei auch Maßnahmen förderfähig die,
„… zur Steigerung des Erlebniswertes des benachteiligten Stadtteils und insbesondere
die im infrastrukturellen Bereich als auch im Wohnumfeld zur Verbesserung der Umweltsituation, zur Erhöhung der Lebensqualität und zur Steigerung der Attraktivität
beitragen“ (SMI 2001).
Auf nationaler Ebene gibt es keine expliziten Programme zur Förderung freiraumplanerischer Maßnahmen. Teilweise können aber Finanzhilfen aus naturschutzfachlichen
oder umweltpolitischen Programmen auch im städtischen Raum eingesetzt werden.
Allerdings hat die Städtebauförderung für die Entwicklung städtischer Freiräume eine
hohe Bedeutung, denn ca. 25 % der geleisteten Finanzhilfen werden für Maßnahmen
im öffentlichen Raum und Wohnumfeld ausgegeben (BMVBW 2005, S. 89). Neben
der Fortführung der klassischen Aufgaben der Städtebauförderung sollen die Schwerpunkte vor allem auf den integrierten Ansätzen des Stadtumbaus und des Programms
Soziale Stadt liegen, was in der Novellierung des BauGB entsprechend manifestiert
wurde. Dabei soll vor allem – auch angesichts der Wohnungsnachfrage und der
Standortkonkurrenzen – die Qualitätsverbesserung des Wohnungsbestandes im Mittelpunkt stehen. Dies sollte auch entsprechende Maßnahmen im (grünen) Wohnumfeld beinhalten. Die im Programm „Stadtumbau Ost“ geförderten Aufwertungsmaßnahmen dienen neben der Qualifizierung des Wohnungsbestandes auch der Nachnutzung der Abrissflächen und der Entwicklung des verbleibenden Bestandes. Es wird
deutlich, dass es hier insbesondere um freiraumplanerische Maßnahmen geht und die
aktuelle Verschiebung der Fördermittelausgaben zu Gunsten des Rückbaus eher negative Auswirkungen auf die Realisierung derartiger Maßnahmen hat.
6.2.2 EU-Fördermittel
Für die Stadt- und Freiraumentwicklung stehen Mittel aus den EU-Strukturfonds
(EFRE, ESF) zur Beseitigung der strukturellen wirtschaftlichen und sozialen Probleme
innerhalb der Mitgliedsstaaten zur Verfügung (EG 1999). Daneben gibt es einen Kohäsionsfonds, der der Unterstützung besonders benachteiligter Staaten dienen soll (ProKopf-BIP < 90 % des EU-Durchschnitts) und zur Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur- und Umweltschutzprojekten eingesetzt wird. Zahlungen aus diesem Fonds sollen
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Investitionen der Privatwirtschaft und der nationalen sowie regionalen Regierung ergänzen oder stimulieren. Gemeinschaftsinitiativen dienen der Unterstützung bei Problemen, die auf nationaler Ebene nicht gelöst werden können. Maßnahmen innerhalb
dieser Initiativen werden aus den Mitteln der Strukturfonds kofinanziert.
Im Rahmen der EU-Förderung gibt es wie bei der nationalen Städtebauförderung keine
Programme, die alleinig auf die Entwicklung städtischer Grünflächen abzielen. Allerdings konnten Mittel aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE)
im Rahmen der Gemeinschaftsinitiativen INTERREG und URBAN auch zur Förderung
freiraumplanerischer Maßnahmen eingesetzt werden.104 Die aktuelle Ausgestaltung
des Kohäsionsfonds bzw. der Strukturfonds für den Zeitraum 2007-2013105 bietet
Möglichkeiten für die Unterstützung der Umweltpolitik in Städten. Das formulierte Ziel
der Erhaltung bzw. Erhöhung der Lebensqualität kann, insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der Veränderung der Lebensstile, nur in strategischen und integrierten Konzepten verwirklicht werden. Diese Fördermöglichkeiten
können evtl. auch Potenziale für freiraumplanerische Ansätze, insbesondere bei Fragen
der nachhaltigen Flächennutzung und der biologischen Vielfalt im Rahmen einer integrierten Umweltpolitik, bieten (KOM 2006, S. 8 ff.).
Die Umstellung der EU-Fördermittelpolitik führt gegenwärtig zu Finanzierungsengpässen in den Kommunen. Erfolgreiche integrative Projekte beispielsweise in URBAN IIGebieten können nicht fortgesetzt werden. Inwiefern die in der aktuellen Förderperiode (2007-2013) geplante Kohäsionsinitiative JESSICA106 in Form eines revolvierenden
Fonds107 für Stadtentwicklungsprojekte auch in schrumpfenden ostdeutschen Städten
genutzt werden kann, bleibt abzuwarten. Neu ist die Kehrtwende von der Philosophie
104
Im Zeitraum 2000-2006 werden folgende Initiativen unterstützt: INTERREG III: Förderung der
grenzübergreifenden, transnationalen und interregionalen Zusammenarbeit zur Förderung einer
harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung der Gesamtheit des gemeinschaftlichen Raumes zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhaltes. URBAN II: zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Wiederbelebung von Städten und Vorstädten, die sich in
einer Krise befinden zur Förderung einer dauerhaften Städteentwicklung (Stadtteile mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen).
105
Für die Neuausrichtung der EU-Strukturfonds ab 2007 gelten folgende Ziele: Konvergenz, Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, Territoriale Zusammenarbeit (entsprechend der
INTERREG-Ziele bis 2006). Die Hauptelemente der Gemeinschaftsinitiative URBAN werden als Bestandteile der Ziele „Konvergenz“ und „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ weitergeführt (EC 2007, S. 6).
106
JESSICA (Joint European Support for Sustainable Investment in City Areas): Kombination von
Zuschüssen und Darlehen für die Finanzierung von Projekten zur Stadterneuerung und Stadtentwicklung.
107
Diesem neuen Förderansatz liegt zu Grunde, dass durch Fördermittel (private) Investitionen stimuliert werden, die für eine Rückzahlung der Förderkredite genutzt werden können. Revolvierende
Fonds werden z. T. aus EFRE-Mitteln gespeist. Diese Mittel sollen durch wiederholende Zyklen der
Kreditvergabe wieder als Strukturfondsmittel für neue Maßnahmen zur Verfügung stehen
(Jakubowski 2007, S. 579).
153
154
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
der Zuschüsse zu Kreditinstrumenten. Für diese Form der Mikrokredite für Stadtentwicklungsprojekte liegen in Deutschland bisher keine Erfahrungen vor und man feilt
noch an der Ausgestaltung der neuen Förderbedingungen. Kernelement ist dabei die
Mobilisierung privater Mittel durch die Transformation von Bedarf in Nachfrage. Fraglich ist allerdings, ob, insbesondere in strukturschwachen, benachteiligten oder
schrumpfenden Städten bzw. Stadtteilen, diese privatwirtschaftlichen Initiativen tatsächlich zu mobilisieren sind (Jakubowski 2007). Sollte sich dieser Ansatz durchsetzen,
wird umso deutlicher, dass Freiraumentwicklung als ökonomisch relevantes Handlungsfeld betrachtet werden muss (Kapitel B.5.1), da sonst freiraumplanerische Maßnahmen kaum noch förderfähig sind.
6.3
Ökonomische Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten – Grenzen kommunaler Verantwortung
6.3.1 Auswirkung der kommunalen Finanzknappheit auf die Freiraumplanung
Im Rahmen der zu erwartenden Finanzknappheit der kommunalen Haushalte und der
notwendigen Ausgabenanpassung ist davon auszugehen, dass auch die Ausgaben für
die Anlage und Unterhaltung städtischer Grünflächen reduziert werden müssen.
So wird die auch ohne die Herausforderung Schrumpfung bereits angespannte Finanzsituation durch zwei weitere Aspekte verschärft: (1) Durch den vor allem in auch
räumlich stark schrumpfenden Städten zu erwartenden Freiflächenzuwachs und damit
Flächenzuwachs auch im Zuständigkeitsbereich der städtischen Grünverwaltungen
(Kapitel B.3.3) werden die geringer werdenden Mittel auf mehr Flächen verteilt werden müssen.108 (2) Bevölkerungsrückgang und eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur lassen für einige Freiraumtypen bzw. in einigen Stadtgebieten Veränderungen
der Nutzerzahl pro m² Grünfläche erwarten (Kapitel B.1.2.1). Werden planerische
Richtwerte zur Nutzung bestimmter Grünflächen unterschritten, droht evtl. der Verlust
einer (ökonomischen) Legitimationsgrundlage für die Unterhaltung öffentlicher Freiräume. Diese Mindestrichtwerte existieren derzeit zwar nicht, wenn aber die Auslastung über Gebühren finanzierter öffentlicher Bäder oder Sportanlagen merklich zurückgeht, können die relativ trägen Fixkosten nur bis zu einer bestimmten Grenze über
höhere Gebühren ausgeglichen werden. Frei nutzbare Grünanlagen könnten bei erkennbarer Unternutzung ebenfalls im Rahmen (wirtschafts-)politischer Entscheidungen
von Ausgabenkürzungen betroffen sein. Im Rahmen einer Studie zu den Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die kommunalen Finanzen in brandenburgi108
Beispiel Berlin: Der Flächenerweiterung stehen in Berlin immer weniger finanzielle Mittel für die
Pflege und Unterhaltung der städtischen Grünanlagen gegenüber. Die Bezirksämter Berlins hatten
im Jahr 2003 ca. 20 Mio. € für ca. 9.500 ha Pflegefläche zur Verfügung. Dies entspricht ca. 24 %
des errechneten Bedarfs und stellt gegenüber 1994 (Pflegefläche ca. 8.500 ha) eine Reduzierung
um ca. 67 % dar (SenVerW Stadtentwicklung 2004, S. 60). Der Flächenzuwachs ist hauptsächlich
durch verwaltungsinterne Kompetenzverlagerungen begründet.
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
schen Städten wurde für den Ausgabenbereich Park- und Gartenanlagen ein
Remanenzkosteneffekt von ca. 7 % festgestellt (BMVBS, BBR 2007d, S. 18 f.). Damit
stellt dieser Bereich durchaus einen „demografiesensiblen“ Aufgabenbereich dar,
wenngleich es Bereiche gibt, in denen noch viel stärkere Remanenzeffekte auftreten.
Die Einnahmeausfälle und auslastungsbedingten Kostensteigerungen können allerdings
nur bedingt durch Kosteneinsparungen und Angebotsausdünnungen kompensiert
werden und aus politischen, technischen, rechtlichen und sozialen Gründen nicht zeitlich parallel und proportional zum Bevölkerungsrückgang umgesetzt werden (Zierold
2003, S. 46).
Personalbesatz Kommunen
Ein großer Teil der kommunalen Personalausgaben entfällt auf den Verwaltungssektor
(ca. 27 %) und die Verwaltung im Bereich „Öffentliche Sicherheit und Ordnung“. Ein
Großteil der Reduzierung auf der Ausgabenseite wird über eine Anpassung des Personalbesatzes in der öffentlichen Verwaltung, aber auch in Kindertagesstätten und in
Krankenhäusern und bei Polizei und Kultureinrichtungen erfolgen müssen (Seitz
2004a, S. 88 ff.). Dabei würde eine reine Reduzierung des Personals aufgrund von
Kostenremanenzen und zu erwartenden Versorgungsengpässen nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen. Vielmehr muss die Finanzierbarkeit über neue kommunale
Strukturen, Gemeindezusammenschlüsse und interkommunale Zusammenarbeit und
Arbeitsteilung, insbesondere in peripheren und schrumpfenden Regionen, erhalten
werden. Die Unterhaltung städtischer Grünanlagen ist ein recht personalaufwändiger
Bereich – insofern sind Einschnitte hier vermutlich besonders stark zu spüren. Im Aufgabenbereich „Gesundheit und Sport“ (mit den Bereichen Park- und Gartenanlagen,
das heißt Grünflächenämter, Gesundheitsbehörden sowie Natur- und Umweltschutz,
ohne Krankenhäuser) sind in Sachsen ca. 10 % der Kommunalbediensteten beschäftigt. Demografische Effekte fallen hier wahrscheinlich eher gering aus, aber ohne tiefere Analysen können kaum Aussagen getroffen werden (ebd., S. 90 ff.).
Investitionen
Die noch immer vorhandenen Infrastrukturlücken erfordern hohe Investitionen vor
allem im Städte- und Straßenbau. Hinzu kommt aber, dass teilweise überproportionale
Investitionen auch in Bereiche fließen, in denen Lücken weniger erkennbar sind (z. B.
Kulturbereich) bzw. in denen durch zu erwartende demografische Veränderungen eher
wenig erforderlich sein dürften (z. B. Schulbereich, öffentliche Verwaltung; vgl. Seitz
et al. 2004, S. 6). Sowohl die erwarteten Bevölkerungsverluste als auch die zu erwartende Bevölkerungsstruktur haben große Auswirkungen auf den Investitionsbedarf in
den neuen Ländern. Infrastrukturvorhaben sollten räumlich konzentriert werden, um
eine ausreichende Auslastung und eine Folgefinanzierung zu ermöglichen. Zumal auch
überdimensionierte Infrastrukturen (z. B. neu erschlossene Gewerbegebiete) kaum
weitere Wachstumsimpulse bringen (ebd., S. 119, 127 ff.). Neuinvestitionen in öffent-
155
156
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
liche Freiräume aus kommunalen Mitteln sind bereits stark rückläufig und müssen in
Hinblick auf Auslastung und langfristige Pflegeerfordernisse künftig noch stärker geprüft werden.
Infrastruktur
Die Infrastruktur der Städte ist in Wachstumsphasen entsprechend des Grundversorgungsbedarfs der Einwohner entstanden. Teilweise wurden Überdimensionierungen
schon während des Baus und der Einrichtung aufgrund utopischer Wachstumserwartungen verursacht. Zusammen mit jetzt drastisch sinkenden Einwohnerzahlen wird es
erforderlich, dieses Dienstleistungsangebot anzupassen.
Neben der Erhaltung vorhandener, spielt auch die Investition in neue Infrastruktur eine
Rolle.109 Im Hinblick auf regionale Schrumpfungsprozesse und künftige Bedarfe ergibt
sich hier ein erhöhter Steuerungsbedarf durch die Länder sowie die Notwendigkeit
einer Auseinandersetzung mit den prognostizierten Bevölkerungszahlen, um geringer
werdende Fördermittel und Investition sinnvoll und vor allem langfristig tragfähig einzusetzen (Seitz 2004a, S. 97). In diesem Zusammenhang sollten auch bestehende
Gleichwertigkeitsvorstellungen über die Lebensverhältnisse in Zusammenhang mit der
Klassifikation zentraler Orte und der Konzentration von Infrastruktur auf Siedlungsschwerpunkte überdacht werden (Pohlan, Wixforth 2005, S. 46).
Die verschiedenen Infrastrukturbereiche sind dabei in unterschiedlichem Maße betroffen. Personenabhängige, gesetzlich geregelte und direkt an Angebot und Nachfrage
gekoppelte Angebote (z. B. Kindergartenplätze) sind unmittelbar von der Veränderung
der Bevölkerungszahlen betroffen. Ebenfalls gibt es relativ direkte Abhängigkeiten in
Bereichen, in denen die Kundenzahl im Zusammenhang mit dem Umfang des Infrastrukturangebotes steht (z. B. Ver- und Entsorgung, ÖPNV, Bürgerämter). Kultur-,
Freizeit- und Sportangebote sind meist weniger an Versorgungsquoten orientiert,
leiden aber auch an Nachfrage- und damit Einnahmerückgängen vor allem bei stark
zurückgehenden Einwohnerzahlen. Gerade diese nicht direkt nachfrageorientierten
Bereiche sind aber gefährdete Haushaltsposten für pauschale Mittelkürzungen auch in
nicht von Schrumpfung betroffenen Kommunen (Zierold 2003, S. 45 f.). Im Bereich
Sport und Erholung (umfasst hier auch Grünanlagen) sind demografische Faktoren
kaum zu identifizieren. Anlagen, für die Nutzer Entgelte zahlen, sind allerdings von
Nutzer- und damit Einnahmerückgängen sowie Kostenremanenzen betroffen und
erfordern höhere Gebühren oder Zuschüsse (Seitz 2004b, S. 13).
109
Die Belastung der Kommunen mit Sachinvestitionsaufgaben kann mit ca. 2/3 auf gesamtstaatlicher
Ebene und mit 4/5 auf Länderebene angegeben werden. Insgesamt werden ca. 70 % der Sachinvestitionsaktivität von den Kommunen durchgeführt (Seitz et al. 2004, S. 1).
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Städtische Grünverwaltungen sind aus folgenden Gründen besonders schnell von Einsparungen betroffen: Das Angebot öffentlicher Freiräume ist eher gesellschaftlich erwünscht und historisch manifestiert als gesetzlich legitimiert ist (Kapitel B.4.1). Bedarfszahlen und Richtwerte werden eher hinsichtlich von Angebotsdefiziten aufgestellt, die in schrumpfendem Städten nur noch teilweise vorhandenen sind (Kapitel 4.1.2). Eine monetäre Wertzuweisung ist umstritten und nur über Umwege möglich
(Kapitel 5.1.2). Einerseits sind die Einsparmengen im Vergleich zu anderen kommunalen Aufgaben- und Investitionsfeldern eher gering. Allerdings kann sich auch ein geringer Geldmangel schnell in Verwahrlosung und Wertminderung der Grünanlagen
äußern. Andererseits sind die Ausstattung und der Pflegestandard zumindest in einigen
städtischen Anlagen durchaus gut und entsprechen den ebenfalls hohen Anforderungen der Bevölkerung. Die Frage ist, ob dieses unbestritten hohe Niveau überall und um
jeden Preis aufrechterhalten werden muss bzw. kann (Neumann 2003, S. 100 f.).
6.3.2 Veränderte Anforderungen an die Finanzierung öffentlicher Freiräume
Es gibt vielfältige Möglichkeiten für die Finanzierung öffentlicher Freiräume – zukünftig
werden vor allem Mischfinanzierungsstrategien eine Rolle spielen, die eine langfristig
tragfähige Finanzierungsgrundlage darstellen (URGE-Team 2004, S. 101). Dies bedeutet auch, dass sich die kommunale „… Freiraumplanung von der linearen Eigen- zu
einer zyklischen Fremdfinanzierung ausrichten“ muss (Schöbel 2003b, S. 95). Städtebauliche Probleme und deren Komplexität verlangen eine Bündelung von Fördermitteln auf allen staatlichen Ebenen (BMVBW 2005, S. 39 f.). Schon heute werden viele
freiraumplanerische Maßnahmen mit der Unterstützung verschiedener Förderprogramme durchgeführt.
Fördermittel
Die Gestaltung neu entstehender Freiräume vor allem unter Schrumpfungsbedingungen ist meist nur durch die Bündelung verschiedener Förderprogramme und Finanzierungsformen möglich. Dabei hängen die Kosten für Herstellung und Unterhaltung zum
einen von der geplanten Nutzung und Gestalt und zum anderen vom Grad des ehrenamtlichen Engagements (z. B. kostenloses Engagement der Nutzer, Pflegepatenschaften) ab (BBR 2004, S. 104 ff.). Die Auszahlung von Städtebaufördermitteln verlangt in
der Regel einen kommunalen Eigenanteil – die Finanzsituation der Kommunen beeinflusst somit ganz erheblich die Spielräume für die Stadt- und Freiraumentwicklung
(BMVBW 2005, S. 7): „So haben auch die Kommunen nur eine begrenzte Absorptionsfähigkeit von Fördermitteln, wenn man die Kommunen nicht zu einer übermäßigen
Verschuldung verleiten will“ (Seitz et al. 2004, S. 5). Die Förderung von Privatinitiativen im Grünbereich mit relativ geringem Fördermitteleinsatz kann teilweise beträchtliche Summen aus privatem Kapital mobilisieren (Gälzer 2001, S. 157). Die neuen
Kofinanzierungsbestimmungen der Städtebauförderung (Experimentierklausel) können
dies unterstützen.
157
158
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Die Vergabe der Fördermittel erfolgt teilweise wenig abgestimmt und gleichwertig in
verschiedenen Regionen und Stadtteilen. Neben der Abkehr vom „Gießkannenprinzip“
vom nationalen bis zum städtischen Maßstab wird von vielen Seiten ein Überdenken
der Fördermittelpolitik gefordert.110 Eine Umfrage bei von Bevölkerungsrückgang betroffenen Kommunen zeigte, dass mehr als 78 % der befragten Kommunen (162 Gemeinden) Änderungsbedarf in der Vergabe von Fördermittel sehen. Dieser Reformbedarf wird ebenfalls im Bereich des Finanzausgleichs (69 %) und der Infrastrukturfinanzierung (64 %) gesehen (BBR 2005b, S. 62). Generell wird im Hinblick auf die künftige
Verteilung der Finanzhilfen von einer stärkeren sachlichen, räumlichen und auch zeitlichen Differenzierung ausgegangen (BMVBW 2005, S. 119 ff.). Viele aktuell realisierte
freiraumplanerische Maßnahmen werden als temporäre Nutzungen angelegt. Die
Finanzierung von Zwischennutzungen durch Fördermittel ist aber durchaus problematisch (Abbildung 19):
Die Beräumung der Flächen ist mit Mitteln der Städtebauförderung möglich,
wenn sie in der entsprechenden Gebietskulisse liegen. Der Einsatz von Fördermitteln für die Nachnutzung ist meist an eine
Gewährleistungsfrist von 10 Jahren gebunden, was den Einsatz für temporäre
Nutzungen erschwert. Hier müssen zusätzliche Regelungen zur Rückzahlung der
Fördermittel gefunden werden, wenn die
Zwischennutzung vor Ablauf der Bindungsfrist aufgegeben wird.
Abbildung 19: Geförderte
Wohnumfeldverbesserung versus Rückbau.
Neue Pflegeansätze – Auswege aus der Krise?
Viele Kommunen erwarten neben der Neuorganisation der Pflege (z. B. Eigenbetriebe,
Fremdvergabe) in den Verwaltungen auch von Pflegeverlagerungen Entlastungen
(Albertshauser 2002, S. 92 f.).
110
Anregungen könnte hier sowohl die bisherige als auch die aktuell veränderte Förderpolitik Englands geben: Bisher erfolgte die Vergabe nach der Qualität der Bewerbung in Wettbewerbsverfahren („competitive bidding“). Aktuell wird die Vergabe der Fördermittel für die Stadtentwicklung
stärker nach der Bedürftigkeit (evidenzbasierte Mittelvergabe) organisiert. Dafür gibt es seit 1997
den IMD (Index of Multiple Deprivation), ein landesweiter Benachteiligungsindex für Stadtteile
(Brombach, Jessen 2005). Der im Rahmen des Programms „Stadtumbau Ost“ durchgeführte
Wettbewerb entspricht diesem Ansatz nicht, da alle beteiligten Kommunen im Voraus Finanzhilfen
zur Erstellung entsprechender Konzepte erhalten haben und zusätzlich nur geringe Prämien für besonders gute Konzepte ausgezahlt wurden.
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
Die unterschiedlichen Ansätze sind dabei eher symbolisch und wertschätzungssteigernd als ökonomisch zu bewerten:
‚ Durch Baumpatenschaften entsteht keine reale Entlastung, weil Baumpflege eine
sehr anspruchsvolle und kontinuierlich durchzuführende Aufgabe ist, und Pflegedurchgänge in der Regel gebiets- bzw. straßenweise organisiert sind.
‚ Der Pflegevergabe an Ehrenamtliche mangelt es zum einen an der Wertschätzung
durch Außenstehende und ist auch aus diesem Grund meist nur eine kurzfristige Lösung.
‚ Die Pflege öffentlicher und schulischer Freiräume durch Lehrer und Schüler ist bei
entsprechendem und kontinuierlichem Engagement neben einer Entlastung vor allem wertprägend für den generellen Umgang mit öffentlichen Freiräumen.
‚ Die im Rahmen von (Verkehrs-)Baumaßnahmen oder Grundstückszuschnitten oft
entstehenden Kleinstgrünflächen haben oft keine Funktion, sind aber aufwändig zu
pflegen bzw. fallen bei einer Vernachlässigung schnell negativ im Stadtbild auf. Ein
Weg ist die Abgabe dieser Flächen an Anlieger – allerdings sind diese Restflächen
meist ohne funktionalen Sinn, aber mit hohen Kosten für den Einzelnen verbunden.
‚ In der Stadt vorhandene oder entstehende landschaftliche Extensivflächen können
an private Nutzer verpachtet werden und so auch zu neuen Freiraum- bzw. Nutzungsformen führen.
Durch die vollständige Verlagerung von Pflegeleistungen nach außen versprechen sich
die Kommunen ein niedrigeres Preisniveau durch marktwirtschaftliche Mechanismen
und eine flexiblere Reaktion auf real anfallende Bedarfe, ohne entsprechende personelle und materielle Ressourcen ständig auf hohem Niveau vorzuhalten. Um langfristig
eine hohe Qualität der Grünflächen zu erhalten, setzt dies voraus, dass trotz marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen das Preis-Leistungsverhältnis stimmt, und dass
kontinuierlich Haushaltsmittel in angemessenem Umfang zur Verfügung stehen, um
Pflegeaufträge vergeben zu können. Vor dem Hintergrund, dass Mittel für Grünflächen oft ganz oben auf Einsparlisten stehen, hat man mit einem ohnehin vorhandenen
Eigenbetrieb eher die Chance, wenigstens grundlegende Pflegemaßnahmen durchzuführen (Becker 1995, S. 465). Eine Untersuchung in Berlin zum wirtschaftlichen Vergleich kommunaler Eigenleistung und privatwirtschaftlicher Vergabe zeigte, (1) dass
die Fremdvergabe kostengünstiger bei typischen gärtnerischen Leistungen (Unterhaltung von Schmuckpflanzungen, Hecken, Rabatten) durch die damit verbundene Kalkulationssicherheit ist, dass aber (2) landschaftspflegerische Maßnahmen (Wiesenpflege, naturnahe Anlagen) im Eigenbetrieb durch vorhandene Fachkompetenz und Ausstattung günstiger durchzuführen sind (Richard 2006). Die pauschale Forderung nach
der Auslagerung sämtlicher Leistungen der Grünflächenämter ist demnach kritisch zu
betrachten. Ein Mix aus Fremdvergabe und Eigenleistung ist am sinnvollsten, um eine
159
160
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
bei der Grünflächenpflege so wichtige Kontinuität zu gewährleisten und die Abhängigkeit von Marktpreisen in Maßen zu halten.
Das Schlagwort der „naturnahen“ oder auch „extensiven“ Pflege wird in vielen Städten als Ausweg aus dem Dilemma der Zunahme der Freiräume bei gleichzeitig geringer
werdenden Finanzmitteln diskutiert.111 Über eine Reduzierung der Pflegegänge bzw. intensität erhofft man sich Einsparungen und eine gleichzeitige qualitative Aufwertung
der Fläche im Hinblick auf die Erholung und das Naturerleben, und insbesondere ökologische Aspekte. Durch extensive Pflege wird die Ansiedlung von Wildpflanzenarten
und störungsempfindlichen Tierarten ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist auf die
Verwässerung des Begriffs „naturnah“ hinzuweisen (Wittig 1996). Auch und gerade
die Verbindung von Naturschutz- und Nutzungsinteressen benötigt eine Gestaltung
„naturnaher“ Sukzessionsprozesse als ein „differenziertes Management pflanzlicher
Dynamik“ (Grosse-Bächle 2005, S. 16). Neue Gestaltungsansätze erfordern auch neue
Ansätze in der Pflege kommunaler Grünanlagen. Standortoptimierte Pflanzungen und
gezielte Sukzession bis hin zur Bewaldung müssen dabei auch ästhetischen und funktionalen Anforderungen genügen, die wiederum nur über eine fachgerechte Bewirtschaftung und Pflege sichergestellt werden können (Kircher 2003).
In einigen Städten wird die Grünflächenpflege durch Beweidung diskutiert bzw. auch
bereits angewendet. Damit werden zum einen die Verbindung naturschutzfachlicher
Ziele mit Naturerleben und Erholungsnutzung und zum anderen finanzielle Einsparungen angestrebt (Becker 2003, S. 28). Eine Möglichkeit ist die zielorientierte Biotoppflege mit Schafen auf größeren Flächen (ab ca. 20 ha) überwiegend im Stadtrandbereich112: Kritisch sind hier die evtl. hohen Transportkosten und evtl. vorhandene Vorbehalte der Bevölkerung, insbesondere im Hinblick auf eine Nutzungseinschränkung,
zu betrachten.
Für die Pflege naturschutzfachlich wertvoller innerstädtischer Gebiete kann eine finanzielle Förderung aus dem Vertragsnaturschutz in Frage kommen (Bsp.: Berlin Adlershof, Beweidung eines Sandtrockenrasens). Eine andere Möglichkeit ist die Ganzjahresbeweidung mit Wildtieren im Außenbereich mit naturschutzfachlichen Zielstellungen
auch im Rahmen von Ausgleichsmaßnahmen. Erfahrungsgemäß haben solche Gebiete
auch Potenziale als gut erreichbare Naturerfahrungsräume. Die Eignung solcher Pflegemaßnahmen muss im Einzelfall zwischen den ästhetischen, funktionalen, ökologischen und ökonomischen Zielstellungen abgewogen werden. Für den Einsatz dieser
Pflegeform sprechen die Lage und Größe der Fläche, eine evtl. schon bestehende Be-
111
Die Diskussion um diese Form der Pflege kam Ende der 1970er Jahren zeitgleich zu einem gestiegenen Umweltbewusstsein auf. Bis dahin war ein umfangreicher Herbizideinsatz und Düngung,
häufige Rasenmahd und Abtransport kompostierbarer Abfälle üblich (Schmidt, H. 2005, S. 19 f.).
112
Beispiele: Neue Messe Leipzig, Partheaue Leipzig, Elbwiesen Dresden
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
weidungstradition und ökologische Gründe. Im Hinblick auf die Erholungs- und Naturerlebniseignung ist eine Integration betroffener Anwohner und potenzieller Nutzer
zwingend notwendig. Erfahrungen zu Einsparpotenzialen gegenüber konventioneller
Pflege liegen kaum vor und sind strittig. Erfahrungen in schwedischen Städten beziffern einen Einspareffekt zwischen 80 und 300 €/ha/a (Felinks, Brux 2005).
Eine Verringerung der Pflegeintensität ist im Hinblick auf die Nutzbarkeit und Zugänglichkeit für jede einzelne Fläche zu prüfen. Die Umsetzung von Kosteneinsparungen
unter dem Deckmantel des Naturschutzes ist hinsichtlich naturschutzfachlicher Zielstellungen ebenfalls einzelfallbezogen zu hinterfragen. Die Verringerung von
Mahdgängen oder die Aufgabe aufwändig zu pflegender Schmuckpflanzungen erhöht
nicht per se die ökologische Wertigkeit, kann sehr wohl aber zu einer verringerten
Wertschätzung und Nutzung führen.
Alternative Finanzierungsformen als Ergänzung zur klassischen Freiraumfinanzierung
Leere Kommunalhaushalte und versiegende oder nicht mehr kofinanzierbare Fördermittel erfordern den verstärkten Einsatz anderer Geldquellen zur Erhaltung und Entwicklung städtischer Freiräume. Die Hoffnung, fehlende kommunale Mittel für öffentliche Aufgaben durch privates Engagement und Sponsoring zu ersetzen, entspricht
allerdings in der Regel nicht den Prinzipien dieser Finanzierungsformen. Durch spezifische Förderansätze und -philosophien beispielsweise von Stiftungen, die eher auf die
Abdeckung von Aufgaben abzielen, welche vom Staat nicht geleistet werden (können), kommt hier eher das Engagement für spezielle Themen und Ideen in Frage
(Schröder 1997, S. 74). Über ein innovatives Freiraumverständnis und neue Funktionsauffassungen im Rahmen schrumpfender Städte kann hier jedoch durchaus ein Betätigungsfeld für diese potenziellen Geldgeber gefunden werden.
Neben der klassischen Finanzierung freiraumplanerischer Maßnahmen durch den
Kommunalhaushalt gibt es zunehmend angewendete alternative Finanzierungsansätze
(BBR 2004, S. 121; Hoyer 2008, S. 52; Übersicht Tabelle 8). Oft basieren diese auf der
Mobilisierung privater Mittel – dies kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen:
‚ Private Haushalte und Bürger können durch ehrenamtliches Engagement oder
durch eine finanzielle Beteiligung (z. B. Eintrittsgelder, Spenden) Beiträge zur Gestaltung und Unterhaltung von öffentlichen Grünflächen leisten.
‚ Privatwirtschaftliche Unternehmen (Profit-Unternehmen) können sich zum einen
über die Bereitstellung von Geld beteiligen oder zum anderen Dienstleistungen, Beratung und Kompetenzen bei Werbung und Marketing zur Verfügung stellen.
‚ Private Organisationen und Stiftungen (Nonprofit-Unternehmen) können entsprechend ihrer Satzungen bzw. Förderziele Geld für die Anlage und Pflege städtischer
Freiräume bereitstellen.
161
162
B.6 Finanzierung öffentlicher Freiräume in schrumpfenden Städten
In Deutschland gibt es bisher nur wenige Beispiele für privates Engagement im Grünflächenbereich. Initiativen beschränken sich meist auf Prestige- bzw. Pilotprojekte.
Ausschließlich privates und uneigennütziges Engagement im öffentlichen Raum ist im
großen Umfang auch in Zukunft nicht zu erwarten (Schröder 1997, S. 71).
Kategorie
Definition
Instrumente
Gesetzliche
Bestimmungen
Akteure werden zur Mitfinanzierung von
freiraumplanerischen Maßnahmen verpflichtet, auf der Grundlage von gesetzlichen Festlegungen und Verfahren
BauGB (Bebauungspläne)
BNatschG (Eingriffsregelung),
BID (Business Improvement Districts)
Wettbewerbe/
Programme
Finanzhilfen von Bund und Ländern (und
EU) zur Förderung bestimmter städtebaulicher Maßnahmen
Soziale Stadt, Stadtumbau Ost / West,
Städtebaulicher Denkmalschutz
Programme zur Förderung der Innenstädte (z. B. „Ab in die Mitte“)
Entente Florale
Bundes- und Landesgartenschauen
Individuelle
Bürgerpartizipation
Freiwilliges monetäres und nichtmonetäres Engagement Privater (Bürger,
Unternehmen) für den öffentlichen Raum
aufgrund kommerzieller und nichtkommerzieller Anreize
Spenden
Patenschaften
Sponsoring
Administrative Vereinbarungen
Freiwillige Zusammenschlüsse privater
und öffentlicher Akteure zur Stärkung
konkreter Standorte/ Bereiche
Private Public Partnerships
Eigentümer-, Interessensgemeinschaften
Tabelle 8: Möglichkeiten der Finanzierung freiraumplanerischer Maßnahmen in Ergänzung
kommunaler Investitionen (Neumann, Hüls 2006, S. 31).
Die aktuelle Praxis zeigt die Handlungsspielräume und verschiedenen Möglichkeiten
der Finanzierung bestehender und entstehender Freiräume. Gleichzeitig werden auch
die „Grenzen freiwilligen Handelns“ und des Handelns ohne Geldfluss deutlich: „Qualität ist in der Regel nicht ohne Geld und Zeitaufwand herstellbar“ (BBR 2004, S. 121).
Ebenso ist auf die Gefahren der Abgabe kommunaler Aufgaben bei der Freiraumversorgung durch z. B. Privatisierung und Sponsoring hinzuweisen. Eine geldgeberbestimmte Gestaltung und Nutzung der Freiräume kann die Ausgrenzung bestimmter
Bevölkerungsgruppen, den Verlust von Öffentlichkeit sowie den Verlust von ästhetischer und ökologischer Qualität bedeuten (Schröder 1997). Da bisher „noch diffuse
Vorstellungen und Ideen“ zu neuen Finanzierungs- und Organisationsansätzen künftiger Freiraumplanung (Preisler-Holl 2004, S. 685) bestehen, liegen Fragen der Eignung
neuer Finanzierungsmodelle für eine „fundamentale Sicherung“ der Freiräume nahe
(Gottfriedsen 2004, S. 692). Langfristig ist ein Nachdenken darüber notwendig, bis zu
welcher Größenordnung (räumlich und finanziell) die öffentliche Hand für die Unterhaltung öffentlicher Grünflächen zuständig sein soll. Diese Grenze sollte allerdings
weniger eine politische denn eine fachliche Entscheidung sein.
B.7 Zusammenfassung
Unabhängig von neuen Finanzierungswegen sollte der öffentliche Raum im Zuständigkeitsbereich der Kommunen bleiben, wenn auch die Stadt vom Verwaltungs- zum
Managementdenken übergehen muss, ohne inhaltliche Ansprüche aufzugeben
(Schröder 1997, S. 70). Neben der Forderung nach einer öffentlichen Verantwortung
für den städtischen Freiraum besteht aber auch der Anspruch, die Freiraumplanung
marktgerechter zu organisieren und damit flexibler auf Veränderungen der Angebotsund Nachfrageseite zu reagieren (Milchert 2005, S. 12). Die aktuelle Diskussion macht
auf der einen Seite bereits die Vielfalt der Ansätze in der Stadtumbaupraxis deutlich
und wirft auf der anderen Seite die Frage nach der Eignung und Zukunftsfähigkeit der
angewendeten Ansätze im Hinblick auf eine nachhaltige und qualitätvolle Freiraumentwicklung auf.
Die Forderung nach dem Erhalt komplexer und eigenständiger Grünverwaltungen
kann dabei durchaus mit dem Bestreben der Flexibilisierung und neue Finanzierungsquellen und Partner für die Unterhaltung der Grünflächen zu finden, kombiniert werden. Eine Trennung der Verantwortlichkeiten in einen strategisch-planenden und in
einen operativ-betrieblichen Bereich wurde zu Beginn der Modernisierungsdiskussion
und wird teilweise auch noch heute von vielen Seiten als ungünstig angesehen – vor
allem wenn man das Produkt Grünfläche ganzheitlich betrachtet (Schmidt 1995).
Trotzdem wählen gerade aktuell viele Städte diesen Weg, um die Grünverwaltung
wenigstens noch in einigen Teilen erhalten zu können.
7
Zusammenfassung
Die vielfältigen Auswirkungen von Schrumpfung auf die unterschiedlichen Handlungsfelder bilden ein komplexes Gefüge, das bei der Bewertung und Einordnung einzelner
freiraumplanerischen Ansätze immer im Bewusstsein sein muss. Generell ist vor allem
in Hinblick auf die angemessene Versorgung der Bewohner mit verschiedenen Freiraumangeboten eine Veränderung städtischen Verwaltungshandelns zu erwarten. Die
Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in der Freiraumversorgung wird sich zunehmend
auf besondere Problemgebiete konzentrieren (müssen). Durch den Flächenzuwachs
werden vor allem in bisher unterversorgten Stadtgebieten (z. B. dichte Gründerzeitviertel) Engpässe verringert und die Freiraumversorgung insgesamt verbessert. Vor allem
in Hinblick auf die Freiraumsituation in schon bisher gut versorgten Stadtgebieten
(z. B. Großwohnsiedlungen113) ist dies hinsichtlich der unterschiedlichen Freiraumtypen
zu differenzieren: Intensiv gestaltete und monofunktional angelegte Freiräume (repräsentative Stadtplätze, Spielplätze für unterschiedliche Altersgruppen und Sportanlagen)
113
Die meisten Großwohnsiedlungen zeichnen sich durch eine gute quantitative Freiraumversorgung
aus. Allerdings handelt es sich hier zum großen Anteil um wenig nutzbares und aneignungsfähiges
Abstandsgrün und undifferenzierte baumbestandene Rasenflächen.
163
164
B.7 Zusammenfassung
gehören sicher nur in seltenen Fällen zu den neu anzulegenden Freiräumen – vielmehr
wird es sich bei den neu entstehenden Anlagen um flexible, multifunktionale, robuste,
einfache und pflegeleichte Anlagen handeln (müssen), um zum einen den veränderlichen und unsicheren Anforderungen und zum anderen den finanziellen Einschränkungen der öffentlichen Hand Rechnung zu tragen.
Die Vielfalt und Menge verfügbarer Freiräume bietet die Chance, individuellen Nutzungswünschen Raum zu geben und die städtische Lebensumwelt konkurrenzfähig
zum Umland und „Wohnen im Grünen“ zu machen. Defizite im Zugang zu Grünflächen generell werden dabei wahrscheinlich verringert. Die Bedeutung städtischer Freiräume als Ort der Integration und öffentlicher Raum wird weiter hoch sein bzw. sogar
steigen. Um dies weitestgehend uneingeschränkt zu ermöglichen, sollte die Verantwortung für städtische Freiräume weiterhin in der Hand kommunaler Trägerschaft
liegen.
Aus der Analyse der aktuellen Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten ergeben sich folgende zusammengefasste Annahmen, die
auch der empirischen Untersuchung der drei Fallbeispielstädte zu Grunde lagen:
‚ Die Nutzungsintensität einzelner Freiräume wird sich verringern.
‚ Entsprechend der veränderten Bevölkerungsstruktur verschiebt sich die Nachfrage
nach verschiedenen Freiraumkategorien.
‚ Bei anhaltendem Stadtumbau ist von einem weiteren Zuwachs an Freiflächen und
damit potenzieller Freiräume in allen Stadtstrukturtypen auszugehen.
‚ Innenentwicklungspotenziale werden nicht allein durch bauliche Maßnahmen ausgeschöpft.
‚ Das rechtliche Instrumentarium hält eine Vielfalt an Lösungsansätzen bereit. Es
bedarf aber der Ergänzung informeller Ansätze, wenn es im Sinne der Herausforderungen des Stadtumbaus angewendet werden soll.
‚ Die Wahrnehmung der Entwicklung der Bodenwerte in schrumpfenden Städten
erschwert die dauerhafte Entwicklung von Freiräumen.
‚ Finanzierungsengpässe aufgrund der desolaten Lage der kommunalen Haushalte
und aufgrund der Veränderungen in der nationalen und europäischen Förderpolitik
erschweren die kommunale Finanzierung öffentlicher Freiräume.
Die im folgenden Teil C der Arbeit beschriebenen Handlungsansätze schrumpfender
Städte bieten teilweise Lösungsmöglichkeiten für die erörterten Herausforderungen.
Gleichzeitig muss die Eignung und Zukunftsfähigkeit einiger Maßnahmen in Bezug auf
die Passfähigkeit zu den Rahmenbedingungen kritisch eingeschätzt werden.
C Grundlagen und Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
C
Grundlagen und Handlungsansätze der Freiraumplanung
in schrumpfenden Städten
Die zentrale Forschungsfrage nach der Bedeutung der Freiraumplanung bei der Bewältigung räumlich wirksamer Schrumpfungsprozesse in Städten berührt verschiedene
Themenfelder (Abbildung 4). Hinsichtlich der räumlich-planerischen Umsetzung des
Stadtumbaus verfolgen die von Schrumpfung betroffenen Städte unterschiedliche
Zielstellungen und Modelle. Zur Erklärung und Einordnung dieser Planungsansätze –
sowohl in den historischen Kontext, als auch in die aktuelle Diskussion – sollen verschiedene theoretische Grundlagen herangezogen werden.
Abbildung 4: Aufbau Teil C (Eigene Darstellung).
Städtebauliche Entscheidungen, vor allem in Bezug auf das Verhältnis von gebautem
zu unbebautem Raum, werden häufig auf der Basis von Leitbildern der Stadtplanung
getroffen (Kapitel C.1.1). Der Einfluss freiraumplanerischer Überlegungen auf aktuell
diskutierte Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder lässt auf die Bedeutung freiraumplanerischer Belange und Zielstellungen innerhalb der Schrumpfungsdebatte
schließen.
165
166
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Zur Einordnung der aktuellen Diskussion ist es erforderlich, das Verhältnis von Freiraum und Gebautem im historischen und aktuellen Diskurs um städtebauliche Leitbilder zu reflektieren (Kapitel C.1.2; C.1.3; C.1.4). Die Verortung der Schrumpfung im
Stadtgebiet hat einen erheblichen Einfluss auf die Verteilung, Nutzbarkeit und Gestaltbarkeit der entstehenden Freiflächen und damit der Bedeutung potenzieller Freiräume.
Die Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Ansätzen zur Typologie
räumlicher Schrumpfungsprozesse bildet die Grundlage für die Etablierung von Stadtmodellen (Kapitel C.1.5). Darauf aufbauend werden mögliche städtebauliche Leitbilder unter Schrumpfungsbedingungen diskutiert (Kapitel C.1.6).
Neben der konzeptionellen Bedeutung der Freiraumplanung auf der Maßstabsebene
der Gesamtstadt bzw. städtischer Teilräume stellt sich auch die Frage nach der Rolle –
im Sinne der Funktion und der Gestalt – des Freiraums im Umgang mit konkreten
Flächen und vor dem Hintergrund aktueller Rahmenbedingungen und Herausforderungen. Diese beiden Aspekte werden auf der Basis freiraumtheoretischer Grundlagen
erörtert. Überlegungen zum Naturverständnis und des Einflusses auf die Stadtnatur
lassen Schlüsse auf die Gestaltungsfähigkeit der entstehenden Flächen zu (Kapitel
C.2.1). Ebenso können Anregungen aus gegenwärtig diskutierten landschaftstheoretischen Ansätzen hinsichtlich des Verhältnisses von Gebautem und Freiraum und dessen
Gestalt und Funktion gewonnen werden (Kapitel C.2.2). Die Forderung nach neuen
Freiraumtypen ist darüber hinaus in den Kontext freiraumtypologischer Überlegungen
einzuordnen (Kapitel C.2.3).
Als Ergebnis werden jeweils Hypothesen zur Rolle und zu künftigen Aufgaben und
Funktionen sowie zur Gestalt der Freiräume formuliert, welche in der anschließenden
empirischen Untersuchung als Analysekriterien zu Grunde lagen. Die Darstellung der
empirischen Ergebnisse erfolgt nach der Erörterung der städtebaulichen und freiraumplanerischen theoretischen Grundlagen (Kapitel C.3). Dabei werden für die drei untersuchten Städte – Chemnitz, Halle und Leipzig – jeweils die Stadtmodelle und städtebaulichen Leitbilder für die Gesamtstadt und die Stadtumbaugebiete bezüglich ihrer
Bedeutung für den Freiraum dargestellt. Weiterhin wird, gegliedert nach Stadtumbaustrategien, Strategien der Freiraumplanung und konkreten freiraumplanerischen Projekten, die Bedeutung der Freiraumplanung und ihrer Umsetzung in den Stadtumbauansätzen der einzelnen Städte erörtert.
1
Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung –
zwischen Kontinuität und Neuorientierung
Die stadträumliche Umsetzung des Stadtumbaus, hier vor allem des Rückbaus, wirkt
sich erheblich auf die verbleibende Stadtstruktur aus. Neben dem Umfang des Rückbaus spielt die räumliche Verteilung im Stadtgebiet eine große Rolle. Dabei liegen der
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Entwicklung der Stadtstruktur, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis von gebauten zu unbebauten Elementen, auch in schrumpfenden Städten grundsätzlichen Richtungen und Denkansätze zu Grunde, welche sich an bekannten Stadtmodellen und
Leitbildern orientieren. Das Verhältnis von bebauter und nicht bebauter Fläche bildet
die Rahmenbedingungen für die künftige Freiraumstruktur und die Bedeutung vorhandener und potenziell entstehender Freiräume.
In den Stadtumbaudebatten einzelner Städte wird auf einer übergeordneten Ebene
wieder verstärkt eine Diskussion über Stadtmodelle, im Sinne grundsätzlicher Vorstellungen zur Entwicklung der Stadtstruktur, geführt, die dann in die Formulierung konkreter städtebaulicher Leitbilder einfließt. Im Rahmen dieser Arbeit ist insbesondere
von Interesse, welche Aussagen darin bezüglich der Rolle des Freiraums bei der Entwicklung künftiger Stadtstrukturen getroffen werden.
Die Debatte um räumliche Modelle und Leitbilder steht in der Kontinuität historischer
Vorstellungen um die ideale Stadtform. Die Thematisierung freiraumplanerischer Zielstellungen in Stadtmodellen und städtebaulichen Leitbildern ist dabei kein neues Phänomen. Die historischen Leitbilder (Kapitel C.1.2) sollen dementsprechend hinsichtlich
der Chancen und Grenzen der Übertragbarkeit auf die Herausforderungen in schrumpfenden Städten erörtert werden (Kapitel C.1.2.7). Darüber hinaus kann die Diskussion
über Stadtmodelle und Leitbilder in schrumpfenden Städten nicht losgelöst von der
aktuellen – wenn auch unter Wachstumsbedingungen – geführten Auseinandersetzung um zukunftsfähige Stadtstrukturen geführt werden (Kapitel C.1.3).
Bevor auf die Stadtmodelle und städtebaulichen Leitbilder schrumpfender Städte, ihre
historischen Wurzeln und ihren aktuellen Kontext eingegangen wird, sollen im Folgenden die Begriffe der theoretischen Diskussion und deren Inhalte vor dem Hintergrund
dieser Arbeit definiert und eingeordnet werden (Kapitel C.1.1).
1.1
Leitbilder in der Stadtplanung – Begriffsverständnis
Der Begriff des Leitbildes ist zum einen schillernd und zu anderen auch widersprüchlich
und unklar in Bedeutung und Verwendung (Fürst et al. 1999, S. 4 ff.). Das Verständnis
des Begriffs ist sowohl in der historischen Debatte als auch in den verschiedenen Disziplinen (Psychologie, Sozialwissenschaft, Philosophie, Ökonomie, Raumplanung) sehr
unterschiedlich (Kuder 2004, S. 29 ff.). Leitvorstellungen zur Stadtentwicklung können
mittels unterschiedlicher Ansätze formuliert werden. Das Spektrum des Leitbildbegriffs
in der Raum- und Stadtentwicklung ist weit: „[…] vom synonymen Gebrauch für Ziele,
Prinzipien und Konzepte von Städtebau, Stadtplanung und Raumordnung über die
bloße Etikettierung ohnehin ablaufender Trends und die Formulierung pathetischer
Leitformeln mit missionarischem Gehalt bis zum Motivangebot für Imagepflege und
Public Relations Strategien“ (Becker et al. 1998, S. 13). Entsprechend können Typen
von Leitbildern, die oft auch in Kombination mit unterschiedlicher Gewichtung zum
167
168
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Einsatz kommen, unterschieden werden (Sieverts 1998b, S. 23 f.). In Abbildung 21
wird das in dieser Arbeit zu Grunde liegende Verständnis von Stadtutopien, Stadtmodellen, städtebaulichen Leitbildern und Leitbildern der Stadtentwicklung dargestellt.
Querschnittskategorie
Stadtutopien (1)
Stadtmodelle (2)
Städtebauliche
Leitbilder (4)
Leitbilder der
Stadtentwicklung (3)
Zukunftsaussage für das
Stadtgefüge
Slogans, Images =
teilweise mit räumlichen
bzw. städtebaulichen
Aussagen
Grundlage
und
Bestandteil
städtebauliche
Ordnung mit
gesellschaftlicher Wirkung
Bildhafte Konkretion
komplexer
Zielvorstellungen
Strukturmodell =
vereinfachte Darstellung
einer idealtypischen
grafisch
räumlichen Anordnung einprägsame Diagramme
deskriptiv
theoretisch-abstrakt
grafisch/visuell
normativ
praktisch-konkret
argumentativ
Abbildung 21: Leitbilder in der Stadtplanung: Verhältnis von Stadtutopien, Stadtmodellen und
Leitbildern der Stadtentwicklung zur Querschnittskategorie städtebauliche Leitbilder (Eigene
Darstellung auf der Grundlage von Albers 1996, 2007; Streich 1990; Sieverts 1998b; Kuder
2004).
(1) Archetypen von Stadt und Stadtmythen sind durch eine symbolische Dimension
gekennzeichnet und teilweise tief im Bewusstsein verankert, z. B. „Stadt als Organismus“, im Sinne von Stadtutopien.
(2) Stadtmodelle bzw. -ideen, als „grafisch einprägsame Diagramme“ und „gemeinsamer räumlicher Nenner“ dienen der fachlichen Verständigung unterschiedlicher
Ressorts und Professionen.
(3) Slogans, Themen und Images bilden populäre Muster und werden zur Werbung
eingesetzt (im Sinne der Leitbilder des Stadtmarketings).
Städtebauliche Leitbilder im engeren Sinne (4) werden dabei als Querschnittskategorie
verstanden, welche diese drei Leitbildelemente mehr oder weniger vereint. Darüber
hinaus gibt es Leitbildkategorien, die im weiteren Sinne für die Stadtentwicklung rele-
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
vant sind, aber an dieser Stelle nicht ausgeführt werden sollen: städtebaurechtliche
Leitbilder114 und Leitbilder der Raumentwicklung115.
Stadtutopien
Das utopische Moment städtebaulicher Leitbilder wird sowohl in vielen Begriffsdefinitionen als auch in den konkreten Leitbildern mehr oder weniger deutlich formuliert.
Darüber hinaus sollten Leitbilder von expliziten Stadtutopien abgegrenzt werden: Utopien im Rahmen der Stadtentwicklung sind nach ALBERS „… Gedankengebäude […],
die sich auf die Ordnung der Gesellschaft beziehen oder sie doch zumindest mit im
Blick haben“ (Albers 1996, S. 56). Damit grenzt er den Begriff ab von den „… mehr
oder minder naive[n] Extrapolationen des technisch möglich Seienden, wie sie vor
allem in den [19]60er Jahren grassierten“ (ebd., S. 56). Die gesellschaftsbezogenen
städtebaulichen Ideen lassen sich differenzieren: Einerseits gab es Gesellschaftsentwürfe, die auch Aussagen zum angestrebten städtebaulichen Rahmen zur Verwirklichung
dieser Ziele machten (MORUS, OWEN). Andererseits existieren Visionen über städtebauliche Ordnungen, die sich auch mehr oder weniger auf die Gesellschaft auswirken
sollten (HOWARD, WRIGHT) (ebd., S. 56). Letztere kommen der Intention der städtebaulichen Leitbilder sehr nahe bzw. lassen sich nur schwerlich von ihnen abgrenzen.
Stadtmodelle
Unter dem Begriff Stadtmodelle werden in den unterschiedlichen planungsrelevanten
Disziplinen verschiedene Aspekte subsumiert. In dieser Arbeit wird von einer Abgrenzung der architekturtheoretischen Modelle zu sozialökologischen, sozialgeografischen
und soziologischen Stadtmodellen ausgegangen (Lichtenberger 1998; Löw et al.
2007).116
Die hier diskutierten Strukturmodelle der Stadtentwicklung werden verstanden als „…
vereinfachende Darstellung einer idealtypischen Anordnung …“ (Albers 2007, S. 31).
Städtische Strukturmodelle wurden seit Beginn der städtebaulichen Diskussion in der
114
Im Baugesetzbuch (§ 1, Abs. 5) finden sich – als Grundsätze der Bauleitplanung formuliert – vier
städtebaurechtliche Leitbilder, welchen die formelle Bauleitplanung auf kommunaler Ebene folgen
soll (Davy 2006, S. 27 f.).
115
2006 wurden die aktuellen Leitbilder der Raumentwicklung durch die Ministerkonferenz beschlossen. Sie folgen dem Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und tragen die Titel: „Wachstum und Innovation“, „Öffentliche Daseinsvorsorge sichern“ und „Ressourcen bewahren, Kulturlandschaften gestalten“ ( BMVBS 2006; Aring, Sinz 2006).
116
Soziologisch intendierte Stadtmodelle „… heben wesentliche Merkmale eines unter dem Begriff
Stadt subsumierten räumlich-sozialen Gefüges hervor“ (Löw et al. 2007, S. 93). Aufbauend auf
dieser Definition diskutieren LÖW et al. die Europäische Stadt, die Funktionelle Stadt, die sozialistische Stadt, die Zwischenstadt, die Global City und die Postkoloniale Stadt als Stadtmodelle. Die
Aufzählung verdeutlicht die zu städtebaulichen Modellen unterschiedlichen Ansätze. Lediglich die
Charakterisierung der Europäischen Stadt beinhaltet Anhaltspunkte für raumstrukturelle Aussagen
(ebd., S. 94 f.).
169
170
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angewendet und erfüllten zwei Funktionen: (1)
Strukturmodelle dienten der Darstellung des Zustandes eines ausgewogenen Stadtgefüges und (2) der Formulierung einer Zukunftsaussage für die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Stadtgefüges (Albers 2007, S. 32). So sind abstrakt-theoretische Systematisierungen städtebaulicher Strukturmodelle – neben utopischen Vorstellungen – die
Grundlage für städtebauliche Leitbilder (Streich 1990, S. 6). Diese Strukturmodelle
bestehen aus den drei geometrischen Grundformen Punkt, Linie und Fläche. Diese
wiederum spiegeln für sich allein idealtypische Stadtgeometrien wider, welche sich
aber vermischen und die Vielfalt städtebaulicher Strukturmodelle ermöglichen (ebd.,
S. 7).
Im Rückblick auf die Stadtentwicklung des 20. Jahrhunderts lassen sich konzentrische,
polyzentrale, Raster- und kompakte Stadtmodelle unterscheiden (Albers 2007,
S. 36 ff.). Diese machen teilweise auch Aussagen über darin enthaltene Freiraumsysteme: Den konzentrischen Stadtmodellen (vor allem verbreitet in Leitbildern und konkreten Entwicklungskonzepten einzelner Städte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) wohnt die Idee der begrenzenden Grünringe inne. Diese wurde anderenorts
weiterentwickelt zu Stadtmodellen, die sich auszeichnen durch einen umgebenden
Grüngürtel und in die Stadt hineinragende Grünkeile. Die Entwicklung polyzentraler
Strukturmodelle war eine Konsequenz des weiteren enormen Stadtwachstums mit
dem Effekt der Überlastung des einzigen Stadtzentrums. Durch die Entwicklung vernetzter Nebenzentren versuchte man die Kernstadt zu entlasten und kleinere Siedlungseinheiten zu entwickeln. Erste Ideen dazu gab es in Nordamerika in den 1920er
Jahren. Auch die „Charta von Athen“ propagierte diesen Ansatz. Parallel entwickelte
Bandstadtmodelle sind als Unterkategorie einzuordnen, streben sie doch auch die
Funktionstrennung und Gliederung städtischer Nutzungen an. Gänzlich anderen Ansätzen folgten Modelle, die eine Rasterung des Stadtgefüges anstrebten. Im Gegensatz
dazu standen Überlegungen zu auf Verdichtung ausgerichteten Modellen einer kompakten Stadt (ebd., S. 36 ff.). Diese als „systematische Strukturvorschläge“ bezeichneten und in grafischen Diagrammen formulierten Stadtmodelle als Bestandteile städtebaulicher Leitbilder wurden bis in die 1960er Jahre hinein entwickelt. Städtebauliche
Leitbilder der Folgezeit wiesen diese Prägnanz nicht mehr auf und waren oft verbale
Formulierungen und auf Teilaspekte von Vorstellungen zur Stadtentwicklung bezogen
(ebd., S. 40).
In der Schrumpfungsdebatte wird zunehmend wieder über Strukturmodelle diskutiert –
inwiefern sie über eine Zustandsbeschreibung hinaus gehende Steuerungsfunktionen
übernehmen können, kann erst rückblickend bewertet werden. Zweifel an der Bedeutung von Stadtmodellen für die aktuelle Stadtentwicklung werden mit den gänzlich
veränderten Rahmenbedingungen (Wandel im Erwerbsleben, Mobilitäts- und Freizeitverhalten und die stetig gestiegene Ressourcenverfügbarkeit) der Stadtentwicklung
begründet (Albers 2007, S. 40 f.; Streich 1990, S. 8). Die seit den 1990er Jahren disku-
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
tierten Ansätze der Stadtentwicklung – auch in Reaktion auf die zunehmende Zersiedelung – stützen sich eher auf Beobachtungen und Überlegungen zu möglichen Szenarien künftiger Stadtstrukturen („Zwischenstadt“, „Netzstadt“). Allerdings taugen sie
kaum als „… Material für ein generelles räumliches Ordnungsmodell“ (Albers 2007,
S. 43). Betrachtet man aber die neuen Rahmenbedingungen der Schrumpfung, insbesondere im Zusammenhang mit der Verknappung von Ressourcen, könnten Stadtmodelle als theoretischer Zugang und Diskussionsgrundlage für die Stadtentwicklung
neuen Aufwind bekommen.
Die Empirie zeigt, dass bei strategischen Stadtumbauentscheidungen und der Formulierung städtebaulicher Leitbilder in schrumpfenden Städten auf modellhafte Vorstellungen zur Entwicklung der Stadtstruktur zurückgegriffen wird. Wenngleich generalisierende Modelle per se geringe Steuerungskraft haben und die individuellen Gegebenheiten einer jeden Stadt den Rahmen vorgeben, kann die aktuelle städtebauliche
Entwicklung in das Kontinuum der historischen Debatte um eher kompakte oder eher
gegliederte Stadtmodelle eingeordnet werden (ebd., S. 44 f.).
Leitbilder der Stadtentwicklung
Eine weitere Kategorie ist das „Leitbild als Instrument für ein erfolgsorientiertes Auftreten im Wettbewerb mit anderen Städten“ (Weidner 2005, S. 152). Im Rahmen von
Imagekampagnen oder einer Neuausrichtung der Stadtpolitik werden Leitbilder als
politische Zukunftsaussagen formuliert. Zunehmend werden diese Prozesse und Inhalte
von Unternehmensberatungen vorbereitet und gestaltet (Schückhaus 1998). Dafür
müssen Bilder geschaffen werden, die unverwechselbare Images und Identitäten bilden
(Steiner 1998, S. 111). Diese Leitbilder beinhalten soziale, ethische und wirtschaftliche
Zielstellungen. Teilweise werden sie im Rahmen stadtplanerischer Vorgänge, z. B. bei
der Erstellung eines Stadtentwicklungskonzeptes formuliert. Es gibt aber auch Beispiele
für Leitbilddiskussionen, die unabhängig von Planungsaufgaben als politische Diskussion geführt werden (z. B. bei Stadtjubiläen). Insbesondere bei der letztgenannten Kategorie spielen Formulierungen eine Rolle, die weniger technokratisch und sektoral, sondern übergreifend, emotional und eingängig für sowohl Stadtbewohner, als auch Investoren sind. Dabei sind neben eingängigen Slogans auch damit verknüpfte Bilder
von großer Bedeutung (ebd., S. 115 ff.). Teilweise beziehen sich diese meist verbalen
Formulierungen auch auf räumliche Vorstellungen und können so auch Wirkungen auf
städtebauliche Leitbilder entfalten.
Städtebauliche Leitbilder
Städtebauliche Leitbilder können definiert werden als eine: „… bestimmte Art von
Zielvorstellungen, die sich dadurch auszeichnet, dass sich in ihnen dominierende und
übergreifende, verdichtete und bildlich fassbare Zielkonzepte manifestieren, die immer
auf einem gewissen kollektiven Grundkonsens beruhen und mit utopischen, manchmal
171
172
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
aber auch modischen Momenten durchsetzt sind“ (Streich 1990, S. 3). Diese bildliche
Darstellung dient der Veranschaulichung des konzeptionellen Sachverhalts und folgt
geometrischen Grundprinzipien (ebd., S. 3). Entsprechend dieser Definition stellen sie
eine Querschnittskategorie dar, welche die Kategorien von Leitbildern in der Stadtplanung vereint (Abbildung 21).
Städtebauliche Leitbilder werden hier im Sinne „professioneller städtebauliche Leitbilder“ verstanden, die Aussagen über „raumstrukturelle Ziele der Stadt“ machen
(Spiekermann 1999, S. 5). Dabei sollten sie folgende übergreifende Merkmale aufweisen: die Beschreibung einer Planungssituation und Vorzeichnung von Entwicklungslinien für einen künftigen Zustand, einen gewissen Interpretationsbedarf aufgrund unscharfer und metaphorischer Formulierung sowie einen offiziellen Status ohne Anweisungswirkung (Naegler 2007, S. 23). In dieser Arbeit sollen städtebauliche Leitbilder
entsprechend des disziplinären Hintergrundes als gegenstandsbezogene, baulich und
räumlich konkrete Vorstellungen der Stadtentwicklung verstanden werden. Dabei
spielen auch prozessuale Vorstellungen teilweise eine Rolle (Kuder 2004, S. 57). Sie
sind folgendermaßen charakterisiert:
‚ Klarer Bezugsraum (Bose 2001, S. 248 f.);
‚ Verräumlichung inhaltlicher Zielvorstellungen;
‚ dominante, übergreifende Idee;
‚ grundsätzliche Vorstellungen über Ordnung und Gestalt des Stadtkörpers, vor allem
in Bezug auf das Verhältnis von gebautem zu unbebautem Raum sowie
‚ abstrahierte, modellhafte Darstellungen oder Piktogramme zur Weiterentwicklung
der stadtregionalen Siedlungsstruktur (Weidner 2005, S. 151).
Darüber hinaus handelt es sich bei dem Terminus „städtebauliche Leitbilder“ um einen
theoretisch besetzten Begriff. Er beruht auf einer rückblickenden Abstraktion und Systematisierung räumlich normativer Zielvorstellungen für Städte. Dabei kann man unterscheiden zwischen explizit allgemein gehaltenen städtebaulichen Leitbildern und vor
dem Hintergrund konkreter Stadtsituationen entwickelten Leitbildern, die im Nachgang zu städtebaulichen Leitbildern (im Sinne einer wissenschaftlichen Kategorie) verallgemeinert wurden. Ausdrücklich wird der Begriff des städtebaulichen Leitbildes nach
dem Zweiten Weltkrieg verwendet (Becker et al. 1998, S. 13). Seit der „Gegliederten
und Aufgelockerten Stadt“ (Göderitz et al. 1957) ist der Begriff des städtebaulichen
Leitbildes in der Stadtplanung etabliert (Kuder 2004, S. 9). Dies heißt auch, dass Leitbilder zur Stadtplanung aus vorangegangenen Städtebauepochen erst ex-post als
städtebauliche Leitbilder bezeichnet wurden.
Um die aktuelle Diskussion auch vor einem theoretischen Hintergrund reflektieren zu
können, sollen in dieser Arbeit Leitbilder bevorzugt aufgrund inhaltlicher Merkmale
eingeordnet werden. Unabhängig davon, ob sie bereits in den theoretischen Stand der
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
städtebaulichen Leitbilder gehoben wurden.117 Die theoretische Diskussion lässt dabei
nur bedingt Schlüsse auf ihre Rolle in der Planungspraxis zu. Denn viele der theoretisch
diskutierten Leitbilder finden sich in den Städten nicht in Reinform in städtischen Planungen oder Konzepten wieder (Spiekermann 1999, S. 21).
Die Bedeutung von Leitbildern in der theoretischen Debatte bzw. akademischen Diskussion ist derzeit durchaus hoch – seit den 1990er Jahren kann man von einem Wiederaufleben der städtebaulichen Leitbilder sprechen (u. a. ebd., Fürst et al. 1999, Bose
2001, Borchard 1989). Die Gründe dafür liegen zwischen externen, globalen und internen, lokalen Zwängen und Optionen. Sie können auch in schrumpfenden Städten
als Antrieb für die Formulierung städtebaulicher Leitbilder gelten: ökologische Krise,
politischer Umbruch in Europa, ökonomischer Strukturwandel, Übergang in das Informationszeitalter, sozialer, demografischer und kultureller Wandel und die (finanzielle)
Krise der Kommunalverwaltungen (Becker et al. 1998, S. 11 ff.). Trotz vielfältiger Kritik
an der Methode der Leitbildformulierung, den Inhalten und Skepsis bei der Verwendung, wird das Instrument – verbunden mit der Hoffnung in seine Wirksamkeit unter
den aktuellen Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung – weiter und zunehmend
verwendet (Kuder 2004; Fürst et al. 1999, S. 4 ff.; Naegler 2007).
Generell ist zwischen der theoretischen Auseinandersetzung der Stadtforschung mit
(historischen) Leitbildern und den spezifischen Debatten um Leitbilder einzelner Städte
zu unterscheiden. Insbesondere die Diskussion in schrumpfenden Städten wird im
Grunde nur vor dem Hintergrund konkreter Städte und Planungserfordernisse geführt.
Insofern empfiehlt sich in dieser Arbeit eine getrennte Erörterung historischer städtebaulicher Leitbilder (Kapitel C.1.2), aktueller städtebaulicher Leitbilder (Kapitel C.1.3)
und städtebaulicher Leitbilder unter Schrumpfungsbedingungen (Kapitel C.1.6).
Städtebauliche Leitbilder, wie sie in diesem Kapitel dargestellt werden, stellen gewissermaßen die wissenschaftliche Abbildung des geschichtlichen Verlaufs der Stadtentwicklung und ihrer jeweiligen städtebaulichen Zielvorstellungen dar (Abbildung 22).
Unabhängig von der (inhaltlichen) Definition des Begriffs ist hinsichtlich ihres Entstehungs- und damit auch Verwendungskontexts zu unterscheiden: Nur das Wissen über
die ihre Entstehung fördernde Unzufriedenheit kann ein Verständnis des Leitbildes
erzeugen (Fürst et al. 1999, S. 4). Insofern ist den folgend dargestellten historischen
städtebaulichen Leitbildern gemein, dass sie in der Regel auf Missstände vorhergehender Stadtepochen mit neuen Ansätzen reagieren. Die aktuelle Diskussion um städte-
117
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Auffassungen existieren, den Begriff nur für
die Stadtkonzeptionen bis zum Zweiten Weltkrieg zu verwenden. Wobei hierfür ausschlaggebend
ist, dass konkrete Leitbilder als Konsens quasi nur autoritär herbei zu führen sind, und diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach diesem Zeitpunkt nicht mehr existieren ( Kuder 2004, S. 40
in Bezugnahme auf RODENSTEIN 1992). Dem gegenüber steht die modernem Auffassung, dass es
das eine, allgemein gültige (städtebauliche) Leitbild nicht mehr geben kann bzw. muss, sondern
dass es ortspezifische oder auch konkurrierende Leitbilder gibt (ebd., S. 40).
173
174
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
bauliche Leitbilder fügt sich in dieses Schema nur bedingt ein: Einerseits findet die
Diskussion um im Grunde diametrale Leitbilder gleichzeitig statt, und andererseits
zeichnen sich die Leitbilder weniger durch neue Ideen, als durch Rückgriffe auf Ansätze vergangener städtebaulicher Leitbilder, idealtypische Stadtmodelle oder auch einfach die Akzeptanz der Realität aus. Die Kontinuitäten der zentralen städtebaulichen
Zielvorstellungen lassen sich durch alle städtebaulichen Leitbilder verfolgen. Sie werden
zusammenfassend in Kapitel C.1.4 dargestellt.
Jahr
2000
1980
1960
Netzstadt
Zwischenstadt
Europäische Stadt
Nachhaltige Stadt
Hinwendung zur Innenstadt
Urbanität durch Dichte
Gegliederte und Aufgelockerte Stadt
1940
Funktionalistische Stadt
1920
Gartenstadt
1900
Kompakte Stadtstruktur
Gegliederte Stadtstruktur
Funktionsmischung
Zentralität
Stadt-Land-Gegensatz
Freiraum als Begrenzung
Funktionstrennung
Dezentralisierung
StadtLandschaft
Freiraum als Gliederung
Abbildung 22: Zeitliche Abfolge und Orientierung städtebaulicher Leitbilder der historischen
und aktuellen Diskussion (Eigene Darstellung).
1.2
Freiraum in historischen städtebaulichen Leitbildern
Zunächst werden die bedeutendsten städtebaulichen Leitbilder der Vergangenheit,
beginnend bei der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, überblicksartig dargestellt.
Dabei wird kurz auf ihren Entstehungskontext eingegangen. Schwerpunkt der Darstellung bilden die Aussagen zur städtebaulichen und Freiraumentwicklung. Dabei wird
unterschieden zwischen strukturellen Aussagen auf gesamtstädtischer Ebene und der
Formulierung konkreter Ziele für die Nutzung und Gestaltung öffentlicher, gemeinschaftlicher und privater Freiräume.
1.2.1 Gartenstadt
Basierend auf Reformbestrebungen und teilweise paternalistischen Ansätzen für Industriedörfer des 19. Jahrhunderts (Posener 1968, S. 15 ff.; Reinborn 1996, S. 39 ff.)
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
wurde mit dem Konzept der „Gartenstadt“ von Ebenezer HOWARD erstmals konsequent und umfassend eine Idee einer Stadtgründung formuliert.118 Der Anspruch,
Industrialisierung und gute Lebensbedingungen zu verbinden, sollte erfüllt werden,
indem Ballungen von Wohn- und Industriearbeitsplätzen vermieden, und stattdessen
eigenständige Einheiten von Arbeitsplätzen und Wohnungen über das ganze Land
geschaffen werden sollten. Wichtig war dabei auch der Bezug der Städte zum Landschaftsraum und zur Landwirtschaft. Städtische und ländliche Vorzüge sollten in der
„Town-Country“ verschmolzen werden, ohne dass dabei das Landleben dem der
bäuerlichen Landwirtschaft gleichzusetzen wäre. Dieses Bestreben ist Ausdruck eines
Naturverhältnisses was ein naturgemäßes (Stadt-)Leben zum Zweck hat (Howard
1965, S. 45 ff.). Die „Town-Country“ sollte nicht die Gegensätze zwischen Stadt und
Land aufheben, sondern ihre Vorzüge vereinen. Insofern hat sie niemals das Ziel gehabt, die Siedlungen auszudehnen als „… eine lockere und unendlich verzettelte Masse von Einzelhäusern mit großen Gärten, die schließlich das ganz Land bedecken: sie ist
vielmehr eine kompakte, streng begrenzte städtische Ansiedlung“ (Mumford 1968,
S. 188).
Städtebauliche Idee
Zur Etablierung des Ideals formulierte HOWARD ausführliche konzeptionelle, und vor
allem detaillierte organisatorische und betriebswirtschaftliche Überlegungen.119 Neben
sozialen und ökonomischen Eigenschaften stehen auch die Umweltqualitäten und die
Vorzüge des Freiraums im Mittelpunkt. HOWARD formuliert in dieser Konkretion
keine städtebaulichen Ideen. Sein Konzept war eher ganzheitlich gedacht und der
Frage der Stadtstruktur gewidmet (Osborn 1968, S. 164; Mumford 1968, S. 190). Die
Entwicklung eines Diagramms für die räumliche Ausprägung der Gartenstadt (im Sinne
eines abstrakten Stadtmodells) erfolgte in dem Bewusstsein, dass die konkrete bauliche
Ausformung keineswegs idealtypisch, sondern angepasst an naturräumliche Gegebenheiten und abwechslungsreich sein sollte (Howard 1965, S. 52 ff.):
118
Das Konzept wurde zunächst nicht Gartenstadt benannt. Die Idee der „Town-Country“ wurde in
einem Buch „Tomorrow: A peaceful path to real reform” 1898 veröffentlicht, erlangte aber erst als
Neuauflage mit dem Titel “Garden Cities of To-Morrow“ 1902 Bekanntheit. Der Begriff der Garden City hat dann in viele europäische Sprachen Eingang gefunden, wenngleich sich dahinter die
verschiedensten Ideen und gebauten Entwürfe verbargen und noch immer verbergen (Osborn
1968, S. 163).
119
Die Definition „Gartenstadt” der Garden City and Town Planning Association 1919 verdeutlicht,
wie viel Stadtutopie und wie wenig städtebauliches Leitbild im Zentrum des Gartenstadtgedankens
liegt: „Eine Gartenstadt ist eine Stadt, die für gesundes Leben und für Arbeit geplant ist; groß genug, um ein volles gesellschaftliches Leben zu ermöglichen, aber nicht größer; umgeben von einem
Gürtel offenen (landwirtschaftlich genutzten) Landes; die Böden des gesamten Stadtgebietes befinden sich in öffentlicher Hand oder werden von einer Gesellschaft für die Gemeinschaft der Einwohner verwaltet“ (Osborn 1968, S. 179).
175
176
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
‚ Die eigentliche Stadt bildet ein zentraler, repräsentativ gestalteter Garten mit ihn
umgebenden öffentlichen Gebäuden, eingebettet in einen zentralen Park, welcher
wiederum von Versorgungs- und Vergnügungseinrichtungen (Kristallpalast) umgeben ist.
‚ An die Mitte schließen in Ringen unmittelbar Häuser mit Privatgärten an, welche
wiederum durch eine ringförmige öffentliche Parkanlage unterbrochen sind. Dies
hatte das Ziel, jedem Bewohner in kurzer Entfernung zum Wohnhaus Zugang zu einer öffentlichen Parkanlage zu bieten.
‚ Den äußeren Ring bilden Industrie- und Gewerbebetriebe.
‚ Umgeben ist die Stadt von einem landwirtschaftlichen Gürtel, der die Ver- und
Entsorgung sichern soll. In Abständen können sich kleinere Trabanten zu dieser
Kernsiedlung bilden.
Die gebauten Garten(-vor-)städte und damit die heute bekannten gebauten Formen
beruhen eher auf den Ideen der Architekten UNWIN und PARKER, die am Bau der im
Sinne der ursprünglichen Idee geplanten Gartenstädte Welwyn und Letchworth beteiligt waren (Posener 1968, S. 28). Insofern wurde die Formensprache adaptiert, wenngleich die meisten der heute bekannten und architektonisch wertgeschätzten realisierten Gartenvororte der eigentlichen Idee HOWARDS mehr oder weniger konträr gegenüberstehen (Osborn 1968, S. 164). So sind die in Deutschland seit Anfang des
20. Jahrhunderts realisierten Garten(-vor-)städte nur teilweise auch den sozialreformerischen Ideen verpflichtet – oft hatten sie nur städtebaulich einen Gartenstadt-Charakter (Reinborn 1996, S. 72 ff.; Harlander 2006, S. 26). Sie sind gekennzeichnet durch
zentrale Plätze mit öffentlichen Einrichtungen, den naturräumlichen Gegebenheiten
angepassten Straßenverläufen, kurz und abwechslungsreich gestalteten Straßenräumen, eine offene Bebauung mit verschiedenen Haustypologien, den Häusern zugeordneten privaten Hausgärten und öffentlichen Grünflächen. Urbanität sollte vor allem im
Zentrum erhalten bleiben. Trotz der großen Bedeutung der privaten Freiräume waren
die Siedlungen nie als „Schrebergärtensiedlungen“ angedacht (Posener 1968, S. 48).
Daneben schlug sich das Gartenstadtkonzept sehr wohl in – wenngleich nicht als Gartenstadt bezeichneten – stadtstrukturellen Überlegungen zu radialkonzentrischen
Stadtmodellen nieder (Fehl 2000, S. 52 f.). So kann die „Gartenstadt“ als „Mutter
einer Vielzahl städtebaulicher Konzepte“ gelten (Häußermann 2002, S. 270).
Freiraumverständnis
Freiraum wurde in der „Gartenstadt“ als siedlungsbegrenzendes und gliederndes Element verstanden. Im äußeren Bereich diente es der landwirtschaftlichen Versorgung
und der Begrenzung des Siedlungswachstums. Ziel war es, kleinere, durchgrünte
Stadteinheiten zu schaffen (Reinborn 1996, S. 48). Die im Stadtinneren liegenden
öffentlichen Räume waren durch eine hohe Qualität und Bedeutung gekennzeichnet.
Der Ansatz der „grünen Mitte“ hebt den Freiraum über andere gesellschaftliche und
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
damit städtische Nutzungsanforderungen hinaus (Kühn 2000, S. 19). Die Versorgung
mit privaten Freiräumen (Hausgärten oder teilweise Kleingärten) war durch die offene
und parzellierte Bebauung gegeben. Zusätzlich zu den privaten Freiräumen auf den
6 x 30 m oder 6 x 40 m großen Parzellen wurde der Anspruch formuliert, eine Freiraumversorgung von 9 acre Park/1000 Personen – was ca. 36 m²/EW Park entspricht
– anzulegen (Mumford 1968, S. 188).
Insgesamt ist der formulierte Anspruch an die Freiraumversorgung und freiraumplanerische Gestaltung und Funktionalität durchaus großstädtisch. Insofern ist der Titel
„Gartenstadt“ zum einen hinsichtlich des umfassenden Siedlungskonzeptes, und zum
anderen im Hinblick auf den vielfältigen und reichhaltigen freiraumplanerischen Anspruch im Grunde kaum zutreffend.120
1.2.2 Funktionalistische Stadt und Neues Bauen
Die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorgedachten Reformansätze im Städtebau wurden erst nach dem Ersten Weltkrieg mit einem „radikalen Bruch mit der
traditionellen Stadtentwicklung“ tatsächlich verwirklicht. Das sich in dieser Zeit durchsetzende Modell des Funktionalismus sollte bis in die 1970er Jahre dominant bleiben
(Häußermann 2002, S. 269). Das konzeptionelle Vorbild der „Gartenstadt“ sowie der
nach wie vor der Stadtentwicklung immanente Wunsch nach gesunden Lebensbedingungen wurde in den 1920er Jahren in verschiedenen städtebaulichen und architektonischen Vorstellungen interpretiert: Die Spannweite reichte dabei vom Heimatstil
(Stuttgarter Schule) bis zum Neuen Bauen (Bauhaus) (ebd., S. 277; Reinborn 1996,
S. 136).
Städtebauliche Idee
Den vielfältigen städtebaulichen Ansätzen lagen im Grunde ähnliche Gedanken zu
Grunde, die sich in unterschiedlichen Formen und Geometrien – Orientierung an linearen oder radio-zentrischen Stadtstrukturen – niederschlugen (Fehl 2000, S. 59 ff.).
Dabei konnte sich die „Bandstadt“ (ebd., S. 53 ff.) nicht durchsetzen. Die Stadtutopien
dieser Zeit zeugen von der Überzeugung von der Moderne und den neuen technischen Möglichkeiten des Bauens, der Bewegung und der Kommunikation. In dieser
Phase wird „die kompakte Stadt […] zur naturraumgreifenden Stadtlandschaft“
(Reinborn 1996, S. 95).
Die Utopie der „Stadtkrone“ von Bruno TAUT (1915-1920) war die Konkretisierung
seiner sozialreformerischen Vision der „Auflösung der Städte“. Dies war dabei ideell
„… im Sinne einer Aufhebung der geistigen Begrenzung …“ gemeint (Reinborn 1996,
120
Schmidt, Erika: Vortrag „Gärten und Gemeinschaftsgrün in der historischen Gartenstadt“ auf der
Tagung „100 Jahre Hellerau. Zur Geschichte und Zukunftsfähigkeit der Gartenstadtidee“ am
07.06.08 in Dresden
177
178
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
S. 97), wenngleich die von ihm geforderte Auflösung aktuell als „Zwischenstadt“ oder
„Perforierte Stadt“ räumliche Realität geworden ist. Das seiner Utopie innewohnende
Ideal eines naturbezogenen Siedelns, spiegelte sich in seinen später in Berlin und Magdeburg realisierten Siedlungen in einer entsprechend hohen Bedeutung der privaten
Gärten, der Landwirtschaftsflächen und naturlandschaftlicher Elemente wider
(Reinborn 1996, S. 97, 115).
Die städtebaulichen Ideen von Le CORBUSIER – niedergeschrieben in „Urbanisme“
(1929) und visualisiert in der „Ville Contemporaine“, der „Stadt der Gegenwart“ –
orientieren sich an der Moderne und der Faszination für die Großstadt. Räumlich konkretisiert bedeutete dies eine orthogonale Stadtstruktur, die Ballung von Wohnungen
und Einrichtungen in Wohnhochhäusern und die Trennung der Verkehrsarten, mit
dem Anspruch kurzer Wege (ebd., S. 98 ff.).
Der große Wohnungsbedarf brachte eine große Anzahl von (randstädtischen) Wohnsiedlungen hervor. Die Realität der damals gebauten Siedlungen spiegelte die Grundideen der Zeit wider, wenn auch der Maßstab der Umsetzung ein anderer war. Die
Siedlungen waren durchgrünt und die einzelnen Siedlungsbestandteile waren durch
Grünzüge von der Umgebung abgegrenzt.121
Parallel zur Entwicklung in Deutschland wurden vor allem in Nordamerika Stadtkonzepte entwickelt, die, basierend auf einer Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen
und dem kapitalistischen Stadtwachstum, (1) die Dezentralisierung weiter Landstriche
in Nordamerika voraussagten, (2) Landschaft als grundlegendes Ordnungselement der
Stadtgestalt annahmen und damit (3) den klassischen Gegensatz Stadt-Land in Frage
stellten: „Broadacre City“ (Frank Lloyd WRIGHT, 1934/35), „Futurama“ und „New
Regional Pattern (Dezentrale Konzentration)“ (Ludwig HILBERSHEIMER, 1945/49).
Der Ansatz der Dezentralisierung wird dabei unterschiedlich realisiert. Gemein ist vor
allem den Ansätzen von WRIGHT und HILBERSHEIMER, dass sie ein Leben in (relativ)
enger Verbindung mit der Landschaft bzw. der Natur als das „natürlichere“ oder „organischere“ ansehen. Landschaft (und in diesem Sinne Freiraum) wird als das entscheidende Medium gesehen, um räumliche Beziehungen zwischen der natürlichen
Umwelt und den Infrastruktursystemen sowie zwischen privaten und öffentlichen
Räumen herzustellen (Waldheim 2005, S. 130). Damit wird Landschaft bzw. Freiraum
nicht mehr nur als Zierelement oder Umweltbelang, sondern als Bestandteil der Kultur
betrachtet. Dieser Bedeutungswandel beruht auch auf der Eigenschaft von Landschaft
oder Freiraum, zwischen verschiedenen Maßstäben vermitteln zu können und vielfältige Beziehungen zwischen der regionalen Umwelt und lokalen sozialen Strukturen
herstellen zu können (Waldheim 2005, S. 131).
121
Beispiele: Römerstadt Frankfurt/M., Hufeisensiedlung Berlin-Britz, Jarrestadt Hamburg, Dammerstock Karlsruhe
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Freiraumverständnis
Konkrete Konzepte für die Entwicklung einzelne Städte dieser Zeit strebten großzügige
Grünsysteme und ein vielfältiges, vernetztes Freiraumangebot an. Zentral war dabei
die Abkehr von rein repräsentativen zu funktionalen Freiräumen (Spitthöver 2002,
S. 30). Die Forderung nach Licht, Luft und Sonne wirkte sich vor allem auf die Freiraumversorgung und -gestaltung in den einzelnen Wohnsiedlungen aus. Generell
wurde von einer engen Beziehung und Ergänzung des Wohninnenraums mit dem
wohnungsnahen Freiraum ausgegangen (ebd., S. 31 ff.).
Die sich zunehmend verbreitende mehrgeschossige Zeilenbauweise ermöglichte die
Trennung privater, gemeinschaftlicher und öffentlicher Freiräume. Neben den formalen Qualitäten zeichneten sich die Freiräume durch eine gute Aneignungsfähigkeit aus
(Reinborn 1996, S. 104 f.). Indem diese Zeilen sich aber zunehmend verselbstständigten und keinen Bezug mehr zum Außenraum hatten, gingen auch die Raumbildung
und damit die Freiraumqualitäten verloren (ebd., S. 131).
In den gebauten Siedlungen spielten gliedernde und einbettende Grünzüge eine große
Rolle. Allerdings war damit nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein funktionaler
Anspruch verbunden. Die Freiräume sollten ein umfangreiches gesamtstädtisches Programm aufnehmen (Promenaden, Volksparks, Sportstätten, Landwirtschaft und Gartenbau) und in den Siedlungen wohnungsbezogene Freiraumangebote ermöglichen
(ebd., S. 101). Öffentliche Freiräume mit einem vielfältigen Nutzungsangebot waren
teilweise Bestandteil der Siedlungen. Besonders hervorzuheben ist die vielfältige Freiraumausstattung im wohnungsnahen Bereich: Mietergärten und gemeinschaftlich
nutzbare Grünflächen in unmittelbarere Nähe zu den Wohnhäusern kennzeichneten
die hohe Qualität vieler dieser Siedlungen.
Der parkartige und fließend angedachte Freiraum zwischen den Wohnhochhäusern
war zwangsläufig großzügig bemessen. Der Ansatz des „Wohnens im Parks“ hatte
damit weniger mit der dem Freiraum beigemessenen Bedeutung zu tun, als der Konsequenz der baulichen Verdichtung und der Funktionstrennung (ebd., S. 100). Eine weniger differenzierte Gestaltung und Nutzung ermöglichten die Entstehung des „Abstandsgrüns“ (Spitthöver 2002, S. 36 ff.).
179
180
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
1.2.3 Gegliederte und Aufgelockerte Stadt
Die „Stadtlandschaft“122 zielt ähnlich der „Town-Country“ von HOWARD auf ein mit
dem Land und der Natur verträgliches Leben. Modelle, die konzentrische und lineare
Stadtstrukturen verbinden, werden als Idealform der Strukturierung der aufgelockerten
Stadtlandschaft angesehen. Neben geringeren Dichten, der Auflockerung und der
Gliederung durch Grünzüge, war es vor allem die – politisch und ideologisch motivierte
– Idee der Siedlungszellen, die die Konzepte der 1940er Jahre prägte (Reinborn 1996,
S. 157 ff.). Die Ideen der funktionalistischen Stadt wurden nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt und aufgrund der Zerstörung und des großen Neubaubedarfs auch
teilweise umgesetzt (Durth 1990, S. 15 ff.). Das Leitbild der „Gegliederten und aufgelockerten Stadt“ 123 führt all diese Ansätze zusammen. Ihm wird im Grunde als einzigem Nachkriegsleitbild eine umfassende Gültigkeit und Wirkung zugesprochen
(Harlander 1998, S. 4).
Die Entwicklung in der DDR lief – zumindest theoretisch – in eine andere Richtung. In
den „16 Grundsätzen des Städtebaus“ wendete man sich deutlich von „… den in den
zwanziger und dreißiger Jahren verbreiteten Tendenzen im Städtebau, die auf die
Auflösung der Stadt hinausliefen“ (Lammert 1979, S. 42) und damit den Prinzipen der
„Gartenstadt“ und der „Stadtlandschaft“ ab: „Die Stadt in einen Garten zu verwandeln, ist unmöglich, selbstverständlich muss für eine ausreichende Begrünung gesorgt
werden“ (Rietdorf 2002, S. 114, 12. Grundsatz). Zeitgleich wurde das Bild der kompakten Stadt verfolgt (Harlander 1998, S. 4). Nach einer kurzen Phase des Städtebaus
der „Nationalen Tradition“ wendete man sich dem Bau randstädtischer Großwohnsiedlungen in zunehmend industrialisierter Bauweise zu. Die letztlich gebauten Siedlungen unterschieden sich allerdings nicht so deutlich von denen in Westdeutschland.
122
Der Begriff der „Stadtlandschaft“ geht bereits auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück
(Durth 1999, S. 19 ff.): Die Gartenstadtidee sowie Reformsiedlungen der 1920er Jahre sind Versuche zur Durchdringung und Verschmelzung von Stadt und Natur, auch wenn der Terminus Stadtlandschaft dafür noch nicht verwendet wird. Der zunächst analytisch und deskriptiv in der Stadtgeographie verwendete Begriff wird dann erstmals bei REICHOW (1941) explizit als normative
Leitvorstellung für die Stadtentwicklung verwendet. BENZ-RABABAH führt den Begriff der „Stadtlandschaft auf neun Strömungen seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück: Landschaft
und Stadtbildplanung (SITTE, FISCHER; UNWIN), Gartenstadt und Gartenvorstadt (HOWARD),
Grünsysteme, Trabanten, Bandstadt, Kleingärten, Kleinstadt, Nationalsozialismus, Organik als städtebauliche Dimension. Diese wurden um 1940 zu einer Theorie zusammengeführt (Benz-Rababah
1999a, S. 128 ff.).
123
Manifestiert und benannt wurde der städtebauliche Geist der Nachkriegszeit in dem 1957 erschienenen Buch „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“ von GÖDERITZ, RAINER und HOFFMANN
(Göderitz et al. 1957). Das Buch sollte bereits 1944 mit dem Titel „Organischer Städtebau“ erscheinen. Dies zeigt die konzeptionelle Nähe und Kontinuität der Idee der Stadtlandschaft. Darüber
hinaus ist dieses Leitbild auch in der Fortführung der Gedanken als Wiederaufbauplanungen des
Dritten Reichs und letztlich auch als Reaktion auf die zerstörten Städte einzuordnen.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Städtebauliche Idee
Die Strömung des organischen Städtebaus („Organische Stadtbaukunst“ von
REICHOW 1948), das heißt, die Entwicklung der Städte nach biologischen Prinzipien
und der Ausprägung der Stadtlandschaft entsprechend der naturräumlichen Gegebenheiten, stellt einen Kontrast zur historischen, kompakten Stadt dar (Reinborn 1996,
S. 181 ff.). Das städtebauliche Leitbild der „Gegliederten und aufgelockerten Stadt“
sah vor, die Stadt in einzelne Siedlungs- und Nutzungsbereiche zu gliedern, durch
Grünzüge aufzulockern und mit vielfältigen Naherholungsangeboten auszustatten. Die
einzelnen Stadtzellen sollten sich organisch um einen Kern anordnen. Dabei ging es nie
um eine vollständige Zersiedelung der Landschaft. Eine völlige Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Landschaft wurde nicht angestrebt. Beide sollten gleichberechtigte Elemente der Stadtlandschaft sein (ebd., S. 186). Kleinere Häuser mit Bezug zum
privaten Freiraum wurden als Ideal angesehen.
Die Umsetzung des städtebaulichen Leitbilds erfolgte in randstädtischen Siedlungen
mit meist mehrgeschossigen Gebäuden.124 Die Trennung der Verkehrsräume für Autound Fußgängerverkehr im Sinne der „Autogerechten Stadt“ und die den Häusern
zugeordneten, großzügigen Grünräume hatte letztlich den Verlust des öffentlichen
Stadtraumes zur Folge (ebd., S. 195). Den Anforderungen an die Städte dieser Zeit
konnte offenbar nicht mehr mit den Idealen der Gliederung und Auflockerung begegnet werden. Maßstabssprünge, Verdichtung und das steigende Verkehrsaufkommen
dominierten die städtebauliche Realität (Durth 1990, S. 27).
Freiraumverständnis
Die Durchdringung von Stadt und Natur schien mit der „Stadtlandschaft“ nun tatsächlich machbar: „Die Landschaft erhielt so einerseits nur das Gewicht eines Faktors unter
vielen anderen, anderseits eignete sich diese Komponente aufgrund ihrer Vieldeutigkeit aber als eine Art von ‚Leim’, um das ganze Gedankengebäude […] zusammenzuhalten“ (Benz-Rababah 1999a, S. 152). Anders als in Zeilenbau-Siedlungen der 1920er
Jahre wurde der Freiraum „als durchdringender Träger“ (Röhrbein 1986, S. 44) das
dominierende Element. Die „Stadtlandschaft“ sollte gekennzeichnet sein durch der
Bebauung gleichwertige Nutzgärten und gliedernde Grünzüge, welche wichtige Freiraumfunktionen, von Freizeit- und Sportangeboten bis hin zur Landwirtschaft, aufnehmen sollten (Reinborn 1996, S. 183 f.).
Die quantitative Ausstattung mit Freiräumen betreffend, herrschten sowohl in den
Leitbildern als auch in den umgesetzten Siedlungen ähnliche Auffassungen. Was die
Nutzung und Gestaltung der Flächen anbelangt, gab es – auch in Abhängigkeit von
der präferierten Bauform – durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Das Eigenheim
124
Z. B.: Neue Vahr Bremen, Sennestadt Bielefeld, Nürnberg-Langwasser
181
182
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
mit Garten, die Parzellierung der Grünzüge in Mietergärten oder eine durchgängige
Ausbildung des Freiraums als großzügige Parklandschaft waren die diskutierten Optionen (Homann, Spitthöver 2002, S. 60 f.). Mietergärten wurden dabei durchaus mit
Argumenten der Selbstversorgung und der Reduzierung der Pflegekosten gestützt.
Insbesondere der Gartenbau war bald nicht mehr notwendig und so rückte in den
großzügig bemessenen Freiräumen bald die Schmuck- und Erholungsfunktion in den
Vordergrund. Dies äußerte sich in Rasenflächen mit Gehölzgruppen, die zwar einen
grünen Anblick boten, aber durch die fehlende Zonierung kaum nutz- oder aneigenbar
waren und heute eher abschätzig als „Abstandsgrün“ bezeichnet werden (ebd.,
S. 62 f.). Die hohen freiraumplanerischen Ansprüche konnten nicht erfüllt werden:
Mangelnde Zuordnung zu den Wohnungen und die Aufhebung der Trennung in öffentliche und private Räume führten zu einer mangelnden Nutzbarkeit.
1.2.4 Urbanität durch Dichte
Resultat des Städtebaus und der Wohnungspolitik seit der Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert, und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, waren Städte, die
sich durch zunehmende Entmischung der Funktionen, wachsende Verkehrsbewegungen sowie sich ausbreitende Siedlungsflächen des Großsiedlungsbaus, aber auch des
Einfamilienhausbaus auszeichneten (Reinborn 1996, S. 233 ff.). In den 1960er Jahren
kam das soziologisch intendierte Bestreben zu Tage, Urbanität und Gesellschaft vor
allem durch bauliche Dichte zu befördern (SALIN, BAHRDT, MITSCHERLICH). Dieser
Ansatz wurde vor dem Hintergrund weiter hohen Wohnraumbedarfs bei gleichzeitiger
Ablehnung der dichten Baustrukturen der Gründerzeit, insbesondere in den neuen
Siedlungstypen der randstädtischen Großsiedlungen und Trabantenstädte, realisiert.
Die sich von den eigentlich beabsichtigten städtebaulichen Wirkungen stark unterscheidende gebaute Realität und die sich relativ rasch in vielen Siedlungen Westdeutschlands einstellenden sozialen Probleme formierten schon in den 1970er Jahren
Kritik und gegenläufige städtebauliche Ziele (ebd., S. 277; Fürst et al. 1999, S. 50).125
Auch in der DDR wurden diese Großformen umgesetzt, wenn auch mit anderem Hintergrund. Das Konzept des „Sozialistischen Wohnkomplexes“ von 1959 „als Einheit
der materiellen und kulturellen Versorgung“ (Lammert 1979, S. 44) spiegelte das gesellschaftliche Verständnis städtebaulich wider (Rietdorf 2002, S. 109 ff.). Im Unterschied zu Westdeutschland wurde dieser städtebauliche Ansatz, als favorisierte Lösung
des Wohnungsproblems und dem Gesellschaftsverständnis folgend, bis zur politischen
125
Parallel zu den städtebaulichen Konzepten für die neuen Wohnsiedlungen gab es eine planerische
Auseinandersetzung mit den sich ausdehnenden Städten und dem steigenden Flächenverbrauch
(Reinborn 1996, S. 298). Die Betrachtung der gesamten Stadtregion war dabei weniger restriktiv –
wie es heute in der Zwischenstadtdiskussion der Fall ist – veranlasst, als dem Organisations- und
Ordnungswunsch der sich ausdehnenden Agglomerationen geschuldet. Der Begriff der „Regionalstadt“ (HILLEBRECHT) wurde geprägt (ebd., S. 299 ff.).
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Wende fortgeführt. Die zunächst angestrebten 5- bis 6-geschossigen Bauformen wurden mit weiter steigendem Wohnraumbedarf – und entsprechend des 1976 beschlossenen Programms zum „Komplexen Wohnungsbau“126 – größer dimensioniert und
führten zu ähnlich problematischen Raumsituationen wie in den Großsiedlungen
Westdeutschlands (Fürst et al. 1996, S. 93 ff.).
Städtebauliche Idee
Zur Umsetzung des Ziels der „Urbanität durch Dichte“ in Westdeutschland wurde
zunächst die städtebauliche Form des Zeilenbaus und der aufgelockerten Siedlungen
der 1950er Jahre in großem Maßstab, das heißt mit höheren Gebäuden und auf größerer Fläche fortgeführt. Das „Wohnen im Park“ des funktionalistischen Städtebaus
sollte mit entsprechender Erhöhung der Einwohnerdichte mehr Urbanität auf der einen, und die Vorzüge der durchgrünten und durchlüfteten Siedlungen auf der anderen
Seite vereinen (Homann 2002, S. 75). Bis in die 1970er Jahre wurde der Zeilenbau zu
städtebaulichen Großformen weiterentwickelt, die sich wieder am geschlossenen Baublock orientieren, wenngleich mit geringeren Dichten und deutlich größeren Dimensionen (Reinborn 1996, S. 238 ff.). Die so erhoffte baulich ausgedrückte Urbanität sollte
einen Kontrast zur umgebenden Landschaft darstellen, wenngleich auch der Anteil von
Freiflächen – „als geometrisch angeordnetes Stadtgrün“ – in diesen Siedlungen sehr
hoch war (ebd., S. 241).
Die Spannbreite der städtebaulichen Strukturen, mit denen das Leitbild der „Urbanität
durch Dichte“ umgesetzt wurde, war durchaus groß und wurde in den einzelnen Siedlungen gemischt angewendet – sie reichten von Atrium- und Gartenhofhäusern in
Teppichbebauung bis zu Wohnscheiben und Punkthochhäusern. Entsprechend vielfältig waren auch die entstehenden Freiraumstrukturen (Homann 2002, S. 76).
Freiraumverständnis
Freiräume waren als Abstandsflächen durch die großen Bauhöhen und Baumassen
zwangsläufig vorhanden und sollten durchaus der Gliederung „im Sinne inszenierter
Stadtlandschaften“ (ebd., S. 76) und der Anbindung an umgebende Landschaftsräume
dienen, wenngleich sie räumlich und funktional kaum Wirkungen entfalten konnten
(Reinborn 1996, S. 252). Teilweise wurden zusätzlich größere Freiräume in direkter
Nachbarschaft zu den Siedlungen ausgewiesen, in denen Sport- und Spielmöglichkeiten angeboten wurden (Homann 2002, S. 79). Durch blockartige Strukturen wurde
eine Trennung in halböffentliche und öffentliche Freiräume erreicht. Dies schlug sich
durch die dominanten Baustrukturen allerdings kaum in der sozialräumlichen Wahrnehmung und Nutzung nieder. Eine tatsächliche Aneignung des Wohnumfeldes und
126
Die im 5-Jahres-Rhythmus zentral herausgegebenen Komplexrichtlinien enthielten umfassende und
detaillierte Vorgaben zum Wohnungsbau sowie zur Freiraumgestaltung.
183
184
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Erweiterung des Nutzungsangebotes im Hinblick auf eine Erweiterung des Aktionsraums der Wohnung war nicht erwünscht oder geplant. Die räumlichen und strukturellen Defizite der Freiräume wurden durch die mangelnde Gestaltung und Ausstattung
noch verstärkt (Homann 2002, S. 80 ff.). Die beabsichtigte Trennung der Verkehrsarten sollte durch eine innere Erschließung bevorzugt über Grünzüge erreicht werden –
das Ergebnis waren stark baulich geprägte Wegeführungen (ebd., S. 76 ff.).
Die Großwohnsiedlungen der DDR wiesen ähnliche Probleme auf: Trotz detaillierter
Vorgaben und ambitionierter Planungen für die Gestaltung der Wohnhöfe und Grünzüge konnten diese aufgrund ökonomischer Schwierigkeiten oft nicht, stark vereinfacht und schematisch oder nur zeitlich verzögert umgesetzt werden (Rietdorf 2002,
S. 119 ff.). Die (geforderte) Eigeninitiative bei der Gestaltung des direkten Wohnumfeldes führte dann aber zu einer stärkeren Identifikation und letztlich Aneignung der
Außenräume.
1.2.5 Hinwendung zur Innenstadt
Mit der Kritik an den Großwohnsiedlungen der 1960er und 70er Jahre und an der mit
deren Bau einhergehenden Vernachlässigung der Altbauquartiere und der Verödung
der Innenstädte kam es im Laufe der 1970er Jahre zu einer Hinwendung zur Innenstadt (Reinborn 1996, S. 285 ff.). Hinzu kamen wirtschaftliche Stagnation, der
Wunsch, der Stadtflucht attraktive Innenstädte entgegenzusetzen, und letztlich das
steigende Bewusstsein für (stadt-)ökologische Belange (Fürst et al. 1996, S. 60). Im
Leitbild des „Ökologischen Stadtumbaus“ wurde den ökologischen Belangen der
Stadterneuerung besondere Bedeutung beigemessen. Dabei spielte auch die Ausstattung der Städte mit Grünflächen eine große Rolle (ebd., S. 73 f.). Die in Westdeutschland in den 1970er Jahren eingeführte Städtebauförderung sollte der Sanierung und
Erneuerung innerstädtischer Baugebiete und der Belebung der Stadtzentren dienen.
Städtebauliche Idee
Die Hinwendung zur Innenstadt erfolgte zunächst unter ähnlichen Paradigmen („Urbanität durch Dichte“) wie die Siedlungsexpansion an den Stadträndern. So kam es zu
städtebaulichen Großprojekten in den Zentren und „Flächensanierung“, das heißt dem
großräumigen Abriss von Altbausubstanz, legitimiert durch so genannte Funktionsschwächen, als Vorbereitung einer Neubebauung im Stil der neuen Vorstädte
(Reinborn 1996, S. 288 ff.). Daneben reifte aber schnell die Erkenntnis, dass dieses
Vorgehen auf überzogenen Wachstumsvorstellungen beruhte und bedenkliche Auswirkungen auf die Sozial- und Baustruktur der Innenstädte hatte. Die daraufhin einsetzende Phase der „Behutsamen Stadterneuerung“ setzte auf Modernisierungsmaßnahmen, kleinräumige strukturelle Eingriffe, Verkehrsberuhigung und Verbesserungsmaßnahmen im öffentlichen Raum und Wohnumfeld sowie die Errichtung von Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen. Diese Wende führte in einigen Städten auch zur
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Rekonstruktion bzw. zum Wiederaufbau zerstörter Altstädte (Reinborn 1996, S. 291).
In der DDR war der Fokus der Wohnraumschaffung auch zu dieser Zeit weiter auf die
Großwohnsiedlungen gerichtet. Teilweise kam es auch zu Flächenabrissen im Altbaubestand, wo dann Ersatzbauten in Plattenbauweise realisiert wurden. Größtenteils
wurde die Altbausubstanz schlicht vernachlässigt und in zunehmendem Maße unbewohnbar (Fürst et al. 1996, S. 104 ff.).
Freiraumverständnis
Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung begleiteten die Erneuerung in den Innenstädten. Verkehrsberuhigung, die Schaffung gemeinschaftlicher Freiräume und die sich
zunehmend etablierende Ökologiebewegung förderten die Gestaltung grüner Innenhöfe, Spielmöglichkeiten, Fassadenbegrünung und Dachgärten (Reinborn 1996,
S. 294). Freiräume im Wohnumfeld standen für eine hohe ökologische und soziale
Qualität. Der in geringem Umfang betriebene Mietwohnungsbau der 1980er Jahre
zeichnete sich in der Regel auch durch qualitätvolle, kleinteilige und vielfältige Freiraumangebote aus (Spitthöver 2002, S. 93).
1.2.6 Nachhaltige Stadt
Der in den 1980er Jahren begonnenen Hinwendung zur Innenstadt folgte das Leitbild
der „Nachhaltigen Stadt“: Innenentwicklung, Konversion, Nachverdichtung und ökologisch ausgerichtete Wohnprojekte wurden in den 1990er Jahren Ausdruck des neuen
Stadtverständnisses. Der Gedanke der Nachhaltigen Stadt ist dabei zugleich übergreifend und städtebaulich unkonkret: „Wenn es in der Europäischen Union ein städtebauliches Leitbild gibt, dann ist es das von der sustainable city [Herv. i. Orig.] – hinreichend unspezifisch, um allseits akzeptiert zu sein“ (Kaltenbrunner 2006, S. 36). Gleichzeitig zeigt die gebaute Realität der Städte gegenläufige Tendenzen: Zersiedelung,
Suburbanisierung und Flächenverbrauch führten schließlich zur Prägung des Begriffs
der „Zwischenstadt“127 (Spitthöver 2002, S. 94 f.; Sander 1998, S. 477). ALBERS hebt
das Leitbild der „Nachhaltigen Stadt“ teilweise in den Stand der Utopien, auch deswegen, da angesichts der tatsächlich erkennbaren Tendenzen der Stadtentwicklung – vor
allem Privatisierung und Ökonomisierung – dieses Ziel in weite Ferne zu rücken scheint
(Albers 1996, S. 66).
Der Bedarf, die gesamte Stadtregion zu betrachten, wurde, insbesondere vor dem
Hintergrund der fortschreitenden Suburbanisierung, größer. Konzepte zur axialen Ausrichtung des Städtewachstums und der dezentralen Verdichtung an Knoten des
ÖPNV’s sollten eine nachhaltige Siedlungsentwicklung steuern helfen (Fürst et al.
1999, S. 55). Das Leitbild der „Dezentralen Konzentration“ ist dabei weniger als ein
127
Eine ausführliche Erläuterung findet sich in Kapitel C.1.3.2.
185
186
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
städtebauliches, und eher als ein regionales bzw. raumordnerisches einzuordnen (Fürst
et al. 1999, S. 63).
Städtebauliche Idee
Diese Phase des Städtebaus ist gekennzeichnet durch Blockbebauung und Nutzungsmischung. Die Ästhetisierung der Bauformen auch im Sinne der Postmoderne und die
städtebauliche Strukturierung, orientiert an kleinstädtischen Modellen, der Idee des
„New Urbanism“ folgend, bestimmte die Umsetzung des Städtebaus (Reinborn 1996,
S. 309 ff.). Die dichte, kompakte und nutzungsgemischte Stadt der kurzen Wege wird
zum städtebaulichen Ziel des Leitbildes der „Nachhaltigen Stadt“. Mischung und Dichte – in einzelnen Städten durchaus auch in polyzentraler Ausformung – werden als
Kernelemente angesehen (Sander 1998, S. 477). Anforderungen an Stadtökologie,
soziale Belange und Urbanität, aber letztlich auch die bodenökonomischen Zwänge,
sollen gleichermaßen befriedigt werden (Spitthöver 2002, S. 95 f.).
Freiraumverständnis
Den Freiräumen und dem öffentlichen Raum wird in den neu entstehenden Siedlungen
des verdichteten Wohnungsbaus eine hohe Bedeutung beigemessen. Dennoch mangelt es aufgrund der Verdichtung teilweise an gemeinschaftlichen und privaten Freiräumen. Durch die vielfältigen Freiflächenansprüche und die hohe Flächenoptimierung
entstehen Funktionsmängel (ebd., S. 99 ff.).
Kompakte Städte sollten vor allem durch die Nachverdichtung und Revitalisierung
brachgefallener städtischer Flächen realisiert werden. Das Ziel „stadtökologisch qualifizierter Dichten“ (Sander 1998, S. 477) stellt eine Gratwanderung zwischen dem Verlust von innerstädtischen Freiräumen und der Erfüllung von Wohnpräferenzen und
ökologischen Belangen dar (Fürst et al. 1999, S. 61 f.).
Das Streben nach großräumiger Steuerung der Siedlungsentwicklung wurde zunehmend auch durch übergeordnete Freiraumkonzepte (Regionalparks, regionale Grünzüge) deutlich. Insbesondere bei Achsenkonzepten sollte der Zwischenraum Erholungsund stadtökologische Funktionen übernehmen. Die zu etablierenden Freiraumsysteme
sollten vor allem der Vernetzung der einzelnen Freiräume untereinander dienen (ebd.,
S. 55 ff.).
1.2.7 Fazit: Relevanz historischer städtebaulicher Leitbilder für schrumpfende Städte
Insbesondere die stärker freiraumorientierten städtebaulichen Leitbilder der Vergangenheit können Anknüpfungspunkte für die Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen bieten. Die Rahmenbedingungen, die zur Entstehung dieser Ideen und
daraus entwickelter Leitbilder führten, waren andere, als die der heutigen Realität der
schrumpfenden Städte. Grundsätzlich unterscheiden sich die Entstehungsgründe: War
das eine städtebauliche Utopie der Moderne, so ist das andere heute mehr oder weni-
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
ger eine gezwungene Reaktion auf städtebauliche Realitäten. Dennoch scheinen diese
Ideen teilweise eher für die heutige Stadtentwicklung geeignet, als die in vielen aktuellen Planwerken formulierten Leitbilder, die meist der Idee der „Europäischen Stadt“
folgen (Bormann et al. 2005, S. 134). Wenn die Ansätze auch nicht schematisch auf
heutige Bedingungen übertragen werden können, so lohnt sich doch eine Reflektion
und Anknüpfung. Folgend werden die relevanten Ansätze hinsichtlich ihrer Chancen
und der Grenzen der Übertragbarkeit erörtert.
Gartenstadt
Bricht man den Ansatz der „Gartenstadt“ (Kapitel C.1.2.1) auf seine zentralen konstituierenden Gedanken herunter, so scheint er im Grunde für alle Stadtideen tragfähig
zu sein. Die schrumpfende Stadt gehört selbstverständlich dazu. Der einzige Unterschied könnte sein, dass sich die Ansätze hier besonders gut realisieren lassen.128 Auch
wenn sich eine Stadt nicht automatisch zur Gartenstadt schrumpft129 – die Idee der
„Gartenstadt“ kann vor allem hinsichtlich der städtebaulichen Ausformung Anknüpfungspunkte bieten. Die konkrete Umsetzung mit privaten Gärten sowie gliedernden
und allgemein zugänglichen Freiräumen hat in schrumpfenden Städten gute Chancen.
So findet sich der Ansatz der „Gartenstadt“ – die Topoi Stadt und Land zu verknüpfen
– auch in den aktuell diskutierten urbanen Landschaften wieder. Im Unterschied zum
Reformansatz der „Gartenstadt“ stellen Fragen des Bodenwertes in schrumpfenden
Städten die wohl hinderlichen Aspekte dar. Wobei auch HOWARD durchaus bewusst
war, dass die Finanzierung der (nicht für agrarische oder gartenbauliche Produktion
genutzten) Freiräume erst erfolgen kann, wenn die gesamte Siedlung ökonomisch
tragfähig ist.
Nordamerikanische Ansätze
Zur Bewältigung der neuen Aufgaben der Stadtentwicklung, und insbesondere der
Umsetzung des landscape urbanism (siehe Kapitel C.2.2.2), bieten die für nordamerikanische Verhältnisse entwickelten stadtplanerische Modelle der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts (Kapitel C.1.2.2) Anknüpfungspunkte. Insbesondere was ihren Umgang mit Landschaft anbelangt, spielen die Ideen auch bei der heutigen Gestaltung der
dezentralisierten und sich auflösenden Städte eine Rolle (Waldheim 2005, S. 117). Dies
kann auch für schrumpfende Städte gelten, wo ein enger Landschaftsbezug erwartet
werden kann. Allerdings gehen die Modelle nicht auf ökologische Belange ein und
128
Will, Thomas: Tagung „100 Jahre Hellerau. Zur Geschichte und Zukunftsfähigkeit der Gartenstadtidee“ am 07.06.08 in Dresden
129
Tietz, Jürgen: Tagung „100 Jahre Hellerau. Zur Geschichte und Zukunftsfähigkeit der Gartenstadtidee“ am 07.06.08 in Dresden
187
188
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
beruhen auf einem damals und heute utopischen Planungs- und Umsetzungsverständnis (Waldheim 2005, S. 132 ff.).
Stadtlandschaft
Der Begriff der „Stadtlandschaft“ verbindet sich mit dem städtebaulichen Leitbild der
„Gegliederten und aufgelockerten Stadt“ (Kapitel C.1.2.3). In diesem Zusammenhang
beinhaltet er „… eine Wahrnehmungsweise von Stadtregionen, nach der Stadt und
Landschaft nicht mehr als komplementäre Gegenüber, sondern in ihrer wechselseitigen
Durchdringung und Synthese gesehen werden“ (Kühn 2000, S. 21). Die Grundidee
dieses Ansatzes führt zur gegenwärtigen Bedeutung und Verwendung des Begriffs
(siehe „Zwischenstadt“-Diskussion in Kapitel C.1.3.2). Die Stadtlandschaft wurde zum
Modell ganz unterschiedlicher sozialer Leitbilder und Gesellschaftsformen – dementsprechend vielschichtig wird der Begriff verstanden und der Ansatz verwendet (BenzRababah 1999b, S. 595 f.). Bis heute scheint sich mit dem Begriff eine gewisse „Erlösungshoffnung zu verbinden“ (ebd., S. 597).
Das der Stadtentwicklung der 1940er und 50er Jahre zu Grunde liegende städtebauliche Leitbild der „Stadtlandschaft“ konnte in der Praxis nicht befriedigend umgesetzt
werden: Betrachtet man die städtische Entwicklung dieser Zeit, so „… scheint es weder
gelungen, die Stadt zu begrenzen und als Kontrast zur Landschaft zu entwickeln, noch
Stadt und Landschaft harmonisch zu durchdringen, eine Synthese herzustellen“ (Tessin
2002, S. 37). Die Gründe dafür sind dabei ebenso vielschichtig wie sie unüberwindbar
scheinen: die Dynamik der Verstädterung, der hohe Einfluss des Bodenmarktes und
privater Verwertungsinteressen, die geringe Steuerungskraft der Bauleitplanung,
kommunale Interessen und Konkurrenzen sowie die Wohnpräferenzen für gering verdichtetes Wohnen im Grünen trugen dazu bei, dass das Leitbild der Stadtlandschaft nie
großflächig Realität wurde und wohl auch künftig schwer zu realisieren sein wird.
TESSIN vermutet weiterhin, dass die mit der Industrialisierung der Landwirtschaft einhergehende Unattraktivität der stadtumgebenden Landschaft zu einem Mangel an
überzeugungsfähigen landschaftlichen Bildern führte, für die sich die Umsetzung und
Akzeptanz der „Stadtlandschaft“ gelohnt hätte (ebd., S. 37): „Die ‚schöne’ Landschaft, in die hinein es sich lohnen würde die Stadt aufzulösen bzw. harmonisch einzugliedern, gibt es in Großstadtnähe eher nicht mehr“ (Tessin 2007, S. 35).
Im Umkehrschluss ließe sich ableiten, dass dieses Modell in schrumpfenden Städten
nur Erfolg haben kann, wenn es gelingt, die Auflösung der Stadt in ihrem ursprünglichen Gebiet mit „schöner Landschaft“, das heißt qualitativen Freiräumen, zu begleiten. Offensichtlich wird Grün, Freiraum oder eben Landschaft nicht automatisch Bindeglied – wie zur Qualifizierung der „Zwischenstadt“ gefordert, sondern kann auch
unterbrechen und zerreißen. Die Ausformung und Wahrnehmung der Freiräume als
verbindendes oder trennendes Element ist dabei eine Gratwanderung – stark abhängig
von ihrer Gestaltung und Funktionalität (ebd., S. 39 f.).
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Die Bewertung des Modells hinsichtlich seiner Eignung für die künftige Stadtentwicklung fällt somit ambivalent bis ablehnend aus. Trotzdem zeigen die Diskussion um die
„Zwischenstadt“, und die doch teilweise Anerkennung dieses Modells als einzig realistische Zukunftsaussage die steigende Bedeutung der „Stadtlandschaft“ als Antwort
auf die gegenwärtige Stadtentwicklung (Kühn 2000, S. 22; Hesse 2001, S. 127 ff.).
Zur Umsetzung der Nachhaltigkeit und eines ökologischen Stadtumbaus auch unter
Schrumpfungsbedingungen, kann das „… ideelle und planungspraktische Potential (!)
[…], das dem Leitbild der Stadtlandschaft im Versuch einer Versöhnung von Stadt und
Natur von Anbeginn eigen war“ Anknüpfungspunkte bieten (Durth 1999, S. 18).
Die Stadtentwicklung des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass die Ideen der „Stadtlandschaft“ nicht großräumig und langfristig umgesetzt werden konnten. Die Gründe
dafür mögen vielfältig und vor allem politischer und gesellschaftlicher Natur gewesen
sein – und damit nicht mehr im planerischen Handlungsfeld liegen. Trotzdem ist anzunehmen, dass auch gewisse professionelle Unzulänglichkeiten letztlich nicht zur Umsetzung und zum Erfolg dieser Konzepte geführt haben. Ein Manko war die fehlende
Vision für die gestaltete Landschaft: Die Entwicklung einer Stadtlandschaft wurde zwar
gefordert, allerdings wusste man nie so genau, wie diese Landschaft eigentlich beschaffen sein sollte. Das Resultat waren Siedlungen „… in mehr oder weniger undifferenzierten, aber stets gut gemeinten Grünräumen“ (Bormann et al. 2005, S. 50), die
letztlich – neben auch hier wieder gesellschaftlich bedingten Gründen – zu gegenläufigen Stadtideen geführt haben. Auch in der aktuellen Diskussion kann ein Mangel an
sowohl funktionalen, als auch ästhetischen Vorstellungen für die neuen Freiräume
erneut zu Legitimationsproblemen und Umsetzungsschwierigkeiten und letztlich zu
einer Abkehr von diesen Modellen führen: „So nahe liegend und verlockend diese
Möglichkeit [Stadt über Freiraum zu strukturieren, Anm. d. Verf.] erscheint, besteht
doch die Gefahr, dass sich die Fehler der Moderne unter veränderten Vorzeichen wiederholen: Wenn Landschaft wiederum nicht mehr ist, als eine (positiv besetzte) Hintergrundfolie für die Stadtentwicklung, bleibt zu befürchten, dass sich die erhofften
Impulse […] kaum einstellen werden“ (ebd., S. 136).
Eine Anwendung auf heutige Verhältnisse erfordert somit eine Bewertung des alten
Ansatzes und dessen differenzierte Übertragung. Dies insbesondere, da unter dem
Paradigma der gegliederten und aufgelockerten Stadt eine weiträumige Zersiedelung
der Landschaft stattgefunden hat. So wird das dem Ansatz durchaus innewohnende
identitätsstiftende Potenzial durch die Negativerfahrungen des Abstandgrüns und der
autogerechten Stadt überlagert. Das Leitbild der „Stadtlandschaft“ bildet so die Plattform der Kritik an allen Versuchen der Auflösung der überkommenen Stadtstrukturen
des 19. Jahrhunderts, die durch die aktuelle Diskussion um Auflockerung oder Verdichtung der Stadt wieder thematisiert werden. Der ambivalente Zugang zu diesem Leitbild
kann dabei auch mit der Dehnbarkeit des Landschaftsbegriffes selbst begründet werden (Durth 1999, S. 18 f.). Insofern erfordert eine Anwendung des Leitbildes der
189
190
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
„Stadtlandschaft“ in der aktuellen Stadtentwicklung mindestens eine Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der Freiraumentwicklung und des Landschaftsverständnisses (siehe Kapitel C.2.2).
Hypothese
‚ Historische städtebaulicher Leitbilder mit hohem Freiraumbezug bieten Anknüpfungspunkte für die Anwendung unter Schrumpfungsbedingungen – eine kritische
Übertragung vorausgesetzt.
1.3
Freiraum in aktuellen städtebaulichen Leitbildern
Die in der Städtebaudiskussion um die „ideale“ Stadtentwicklung traditionell konkurrierenden Stadtmodelle der kompakten Stadt und der gegliederten Stadt stehen sich
spätestens seit Ende der 1990er Jahre scheinbar diametral gegenüber (Kühn 2000,
S. 18; Durth 1999; Becker et al. 1998; Kuder 2004, S. 42): Einerseits gibt es das städtebauliche Leitbild der „Europäischen Stadt“, welches sich am Stadtmodell der kompakten Stadt orientiert (Kapitel C.1.3.1).130 Andererseits gibt es städtebauliche Leitbilder, die auf die Durchdringung von Stadt und Land oder die Stadt der Netze und Knotenpunkte abzielen. Sie firmieren unter unterschiedlichen Bezeichnungen, wie die
„Zwischenstadt“, die „Netzstadt“ oder die „StadtLandschaft“ (Kapitel C.1.3.2).131
Die Diskussion in dieser Spannweite ist nicht neu, wohl aber die Gleichzeitigkeit und
die Vehemenz (Abbildung 22): „So vielfältig sich die städtebauliche Praxis derzeit darstellt, so deutlich akzentuiert sind die beiden Stadtmodelle, auf die europaweit Konzepte und Verfahren Bezug nehmen oder die ihnen implizit unterlegt sind: […], eine
Polarisierung, die – so die Quintessenz – die Notwendigkeit von Stadtmodellen zeigt,
zugleich aber die prinzipielle Unmöglichkeit deutlich macht, in sich konsistente Stadtmodelle zu formulieren, die allen wichtigen Herausforderungen moderner Stadtentwicklung gerecht werden“ (Jessen 1998, S. 490).
130
In der Regel kann das Leitbild der „Europäischen Stadt“ mit dem Stadtmodell der kompakten Stadt
gleichgesetzt werden. Einige wenige Ansätze verstehen die Europäische Stadt in einem weiteren
Sinn, der auch in anderen Stadtmodellen denkbar ist. Ob europäische Stadtkultur tatsächlich auch
die Form der europäischen Stadt braucht, ist umstritten (Hesse 2001, S. 120): Geht man davon
aus, dass „die urbane Lebensform […] ubiquitär“ ist (Löw et al. 2007, S. 96), sind auch andere
Raum- und Bauformen denkbar. Die Abkopplung von städtebaulicher Form und europäischer
Stadt(kultur) wird zunehmend gefordert: KALTENBRUNNER nennt es „… tendenziell ideologisch,
eine überlieferte Siedlungsform als Idealbild der Stadt zu beschwören, weil Erwartungen an die
Auswirkungen bestimmter räumlicher Dispositionen geknüpft werden, ohne dass es dafür schlüssige Belege gäbe“ (Kaltenbrunner 2007, S. 703).
131
Beide Ansätze sind dabei nicht mit den historischen städtebaulichen Leitbildern gleichzusetzen: Die
„Europäische Stadt“ bedient sich vorhandener Stadtideen und die „Zwischenstadt“ ist weniger
Leitbild als Zustandsbeschreibung.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Im Folgenden werden diese beiden kontrastierenden und zugleich konkurrierenden
Ansätze aktueller Stadtplanung bezüglich ihrer Bedeutung für schrumpfende Städte
diskutiert. Es handelt sich dabei um Ansätze aus einer nicht unter Schrumpfungsbedingungen geführten Debatte. Da beide Denkrichtungen aber Basisüberlegungen zur
Stadtentwicklung repräsentieren, werden sie zwar unter anderen Vorzeichen diskutiert,
aber nicht an Relevanz verlieren. Die Diskussion um die räumliche Form und die Leitbilder für schrumpfende Städte muss zwangsläufig mit Bezug zu dieser laufenden
Debatte geführt werden.
1.3.1 Europäische Stadt
In der Fortführung der Bestrebungen der 1980er Jahre, Stadtreparatur und kritische
Rekonstruktion zu betreiben, wurde die Debatte um die „Europäische Stadt“132 Anfang der 1990er Jahre forciert.133 Das städtebauliche Leitbild der „Europäischen Stadt“
ist dabei ein „… Omnibus, unter dem sich verschiedene politische, kulturelle und soziologische Auffassungen der Stadt versammeln“ (Hesse 2005, S. 180). Es konnte sich
als omnipräsentes und breit akzeptiertes städtisches Leitbild durchsetzen. Durch die
Ausweitung dieses Leitbildes auf ökologische, soziale, politische, ökonomische und
kulturelle Anforderungen wurde es zu einem „gesellschaftlich weithin konsensfähigen
Referenzrahmen“, innerhalb dessen Verfeinerungen möglich sind, ohne ein gänzlich
neues Leitbild aufstellen zu müssen (Jessen 2006, S. 31). Allerdings kann man dies
auch als „pragmatischen Pluralismus“ deuten (ebd., S. 32). Darüber hinaus bedient
sich dieses Leitbild einer vergangenen Stadtform, was in der Geschichte städtebaulicher Leitbilder nicht üblich war.
132
Verwendet man den Begriff, ist es wichtig, zwischen (1) der europäischen Stadt als geographischer
und typologischer Topos der Stadthistorie und (2) dem städtebaulichen Leitbild der „Europäischen
Stadt“ als Zielstellung mit einer Idealisierung einiger Elemente der europäischen Stadt des ersteren
Falls zu unterscheiden (Rietdorf, IRS 2001, S. 2).
133
Das Leitbild der „Europäischen Stadt“ lag implizit auch schon den Stadterneuerungsbestrebungen
seit den 1980er Jahren zu Grunde (Jessen 2006, S. 30). Die gegenwärtige Diskussion wurde vor allem durch die Publikation „Die dritte Stadt“ (Hoffmann-Axthelm 1993) entfacht. Diese analytische
Schrift legt dar, dass – in Kritik der Moderne – eine zukunftsfähige Stadt nur durch Zentralität, Mischung, Dichte und Kompaktheit im Sinne einer Flächenbegrenzung funktionieren kann. Die Orientierung an europäischer Stadtkultur wird deutlich, ohne dass das Leitbild der „Europäischen
Stadt“ postuliert wird.
191
192
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Städtebauliche Idee
Die Idee der europäischen Stadt134 drückt sich auch in der baulichen und räumlichen
Ausprägung aus (Löw et al. 2007, S. 94 ff.). Sie war gekennzeichnet durch einen starken Gegensatz von Stadt und Land, eine ausgeprägte Zentralität, eine gewisse Größe
sowie eine wahrnehmbare Dichte und Heterogenität von Bauwerken und Räumen
(Siebel 2004, S. 12 ff.). Das städtebauliche Leitbild der „Europäischen Stadt“ will diese
– vermeintlich von den Bauformen abhängigen – urbanen Eigenschaften wieder herstellen: Für das städtebauliche Leitbild steht „als Bild die europäische Stadt des
19. Jahrhunderts ohne ihre Nachteile und mit den Ausstattungsqualitäten von morgen
vor Augen“ (Jessen 1998, S. 498). Die Vorzüge der (historischen) europäischen Stadt
sollen durch die Rückkehr zur kompakten Stadtform und die scharfe Trennung zur
umgebenden Landschaft, umgesetzt durch die innere Verdichtung, gesteuert durch ein
Ausdehnungsverbot nach außen, und Gestaltungsregeln nach Stadtbaumustern des
19. Jahrhunderts für den Innenbereich wieder hergestellt werden (Durth 1999, S. 31).
Die künftige bauliche Ausformung der Städte soll sich dementsprechend an der überkommenen Baustruktur – insbesondere der klaren Abgrenzung zum Außenraum, der
Blockrandbebauung und der Qualität der öffentlichen Räume – orientieren. Die damit
angestrebten Eigenschaften der „Europäischen Stadt“ sind: Kompaktheit, Nutzungsmischung, kurze Wege und Dichte. Die kompakte Stadt kann somit als der „… morphologische Baustein des Leitbildes der ‚Europäischen Stadt’ …“ gelten (Hesse 2005,
S. 180).
Freiraumverständnis
In der europäischen Stadt hat Freiraum schon immer eine große Rolle gespielt, dies
wird bei der Übertragung in das aktuelle Leitbild meist vergessen (Kühn 1998, S. 498):
Spricht man von europäischer Stadt, wird holzschnittartig der mittelalterliche Kern –
soweit noch vorhanden – und die zugegeben dichte Gründerzeitbebauung der Stadterweiterungen gemeint. Die vermeintlich steinerne europäische Stadt beispielsweise
des 17. und 18. Jahrhunderts hatte jedoch auch innerhalb der Stadtmauern größere
Freiräume und Einfamilienhäuser mit Gärten (Nagel 2007, S. 218). Ebenso gab es seit
dem Ende des 19. Jahrhunderts – mit der Erkenntnis der Verschlechterung der Lebensverhältnisse durch Industrialisierung und Mietskasernen – Bestrebungen, durch Grüngürtel und Parkanlagen Freiräume in der Stadt zu schaffen bzw. zu erhalten. Das aus
134
Als konstituierende Elemente des Topos europäische Stadt werden beschrieben: Vorhandensein
einer Geschichte vor der Moderne, eng verbunden mit der gesellschaftlichen Emanzipation in der
Vergangenheit, Möglichkeit der urbanen Lebensweise sowie ein Maß an Planung und Regulierung
(Siebel 2004, S. 12 ff.). Im Gegensatz zur klar als städtebauliches Leitbild formulierten „Europäischen Stadt“ existieren auch Denkansätze, die die europäische Stadt eher als diesen Topos verstehen, dem eine spezifische Auffassung und ein Grundverständnis des Städtischen zu Grunde liegt.
In diesem Zusammenhang wird der europäischen Stadt eine große Anpassungsfähigkeit auch an
andere Entwicklungsbedingungen zugesprochen.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
der mittelalterlichen europäischen Stadt verschwundene, bis dahin so selbstverständliche Grün holte man in der Folgezeit durch die Integration herrschaftlicher Parks, die
Schleifung und Begrünung der Wallanlagen, die stadthygienisch und sozialreformerisch
begründete Anlage von Stadtparks und Grünringen, wieder in die Stadt hinein (Kühn
1998, S. 499; siehe auch Kapitel C.2.1.3).
Im Sinne des Leitbildes der „Europäischen Stadt“ soll ein sichtbarer Gegensatz von
Stadt und Land bzw. Landschaft erhalten bleiben. Durch Grüngürtel als Bestandteile
von Freiraumsystemen wird versucht, diesen Gegensatz noch immer zu erhalten (Kühn
2001, S. 201 f.). Freiräume spielen auch innerhalb der kompakten Siedlungsstruktur als
Bestandteil der Lebensqualität eine Rolle. Insbesondere wird dem öffentlichen Raum
eine hohe Bedeutung als Träger von Urbanität beigemessen. (Gestaltete) Freiräume
werden bei der Ausprägung der Stadtstruktur mitgedacht (Becker 1998, S. 462). Freiraum in der Stadt entspricht hier dem klassischen Verständnis gestalteter Parkanlagen.
Brachen und Abrissflächen stellen hingegen potenziell und langfristig wieder zu bebauende Bereiche dar.
1.3.2 Zwischenstadt / Netzstadt / Regionalstadt / StadtLandschaft
Das Phänomen der „verstädterten Landschaft oder der verlandschafteten Stadt“ wurde seit Beginn der 1990er Jahre von einigen Autoren135 beschrieben. Es beruht auf
aktuell in wachsenden europäischen Agglomerationsräumen zu beobachtenden Tendenzen einer diffusen Urbanisierung in Form der Ausbreitung über das gesamte Territorium. Als Triebkräfte der starken räumlichen Veränderungen der Städte gelten die
Industrialisierung, die Landflucht und die Suburbanisierung (Sieverts 2001b, S. 18).
Diese Rahmenbedingungen haben zu Folge, dass Städte nicht mehr nur als kompakte
und klar von der Umgebung abgegrenzte Siedlungsform funktionieren können. Die
Ausbreitung städtischer Elemente ist vielmehr Ausdruck von Wohnwünschen und ihren
Realisierungsmöglichkeiten und damit privatwirtschaftlicher Entscheidungen (ebd.,
S. 16).
Diese Entwicklung hat dabei nicht „… zu amorphen Strukturen, sondern zu einem
komplexen System …“ aus Knoten und Verbindungen, die in vielfältigen horizontalen
Beziehungen stehen, geführt (Venturi 2003, S. 25 f.). Dies erfordert neue städtebauliche Modelle und vor allem Leitbilder, „… mit denen die herkömmliche Dialektik von
135
Analytische Modelle der „Netzstadt“, „Zwischenstadt“ oder „Middle Landscape“ stehen allesamt
für Vorstellungen, „die die Auflösung der Stadt in die Region als einen unumkehrbaren säkularen
Prozeß (!) ansehen“ (Jessen 1998, S. 499): Peter ROWE „Middle Landscape“ (1991), Peter
BACCINI „Netzstadt“ (Oswald 1998); Marco VENTURI (Venturi 2003). Unter Anerkennung der
Realität der Zwischenstadt formuliert KÜHN das Bild der „Regionalstadt“ (Kühn 2002). Die Betrachtung stadtregionaler Zusammenhänge ist dabei weniger ein Phänomen aktueller Entwicklungen als vielmehr eine erneute Anwendung in den sich gegenwärtig ausbreitenden Zwischenstädten.
193
194
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
leer/voll bzw. Stadt/Land überwunden wird, indem diese Gegenpole in einer komplexeren, kohärenten Gestaltung vereint werden“ (Venturi 2003, S. 35).
Zur Darstellung der aktuellen Leitbilddiskussion in dieser Arbeit wird sich an dem von
SIEVERTS 1997 eingeführten Begriff der „Zwischenstadt“ orientiert (Sieverts 2001b,
S. 7). Die „Zwischenstadt“136 wird – wenngleich ausdrücklich nicht als städtebauliches
Leitbild verstanden – an dieser Stelle erörtert, da sie für die räumlichen Prozesse und
Muster in schrumpfenden Städten geeignete Erklärungsansätze und damit auch Handlungsansätze bietet. Der Ansatz der „Zwischenstadt“ soll hier im Sinne des von SIEVERTS unternommenen Versuchs verstanden werden, die „Auflösung der kompakten
historischen europäischen Stadt“ zu beschreiben und Wege zum „Umgang mit einer
ganz anderen, weltweit sich ausbreitenden neuen Stadtform“ zu diskutieren (Sieverts
et al. 2005, S. 33).
Städtebauliche Idee
Das Konzept der „Zwischenstadt“ beschreibt die „… vielfältigen freiraum- und siedlungsstrukturellen Konfigurationen im Konglomerat der Raumtypen der Stadtregionen,
die sich in einem permanenten Entstehungs- und Transformationsprozess befinden“
(ebd., S. 28). Diese verschiedenen Siedlungsfelder können sowohl städtische als auch
landschaftliche Eigenschaften haben (Sieverts 2001b, S. 14). Räumlich ist die Zwischenstadt gekennzeichnet durch eine „… ungeordnete Struktur ganz unterschiedlicher Stadtfelder mit einzelnen Inseln geometrisch-gestalthafter Muster, eine Struktur
ohne eindeutige Mitte, dafür aber mit vielen mehr oder weniger stark funktional spezialisierten Bereichen, Netzen und Knoten“ (ebd., S. 15; vgl. auch Venturi 2003, S. 20).
Dabei ist das Überleben jedes einzelnen Zentrums bzw. Kerns von seiner Spezialisierung und seiner Komplementarität zu den anderen Kernen und weniger von seiner
Konkurrenzfähigkeit abhängig (ebd., S. 24, 50).
Freiraumverständnis
In der „Zwischenstadt“ hat sich „… das Verhältnis von offener Landschaft und besiedelter Fläche […] häufig schon umgekehrt: Die Landschaft ist vom umfassenden
‚Grund’ zur gefassten ‚Figur’ geworden“ (Sieverts 2001b, S. 15). Dabei wird der Charakter der jeweiligen Zwischenstadt bestimmt von der „… Korngröße und Dichte der
136
Der Begriff der Zwischenstadt beschreibt einen Phänotyp, Strukturtyp und Zwischenzustand
(Sieverts et al. 2005, S. 33), wobei „manchmal […] der Begriff Zwischenstadt sogar schon mit einem Leitbild verwechselt [wird]“ (Sieverts 2003a, S. 80). Dies entspricht allerdings nicht der ursprünglichen Intention: Die Beschreibung der Zwischenstadt war nie als Zielvorstellung oder „…
Plädoyer für die Zersiedelung …“ (Sieverts 2001b, S. 7) gemeint und zu verstehen. „’Zwischenstadt’ ist ein gedankliches Konstrukt, ein Versuch, bestimmte neuere Phänomene der Stadtentwicklung zu benennen, um sie öffentlich diskutieren zu können. Das Konstrukt ist aber nicht geeignet,
unmittelbar analysiert oder als Handlungsbasis verwendet zu werden“ (Sieverts et al. 2005,
S. 112).
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Bebauung der einzelnen Stadtfelder und dem Grad ihrer mehr grob- oder mehr feinmaschigen Durchdringung mit Freiräumen und Landschaften …“ (Sieverts 2001b,
S. 20). Insofern wird die Diskussion um die „Zwischenstadt“ begleitet von einer Wiederentdeckung der Landschaft in der Stadtplanung137 (Durth 1999, S. 33): SIEVERTS
fordert, dass Landschaft zum „… eigentlichen Bindeelement der Zwischenstadt …“
werden muss – gleich einem „ … ‚Archipel’ [der Bebauungsformen, Anm. d. Verf.] in
das ‚Meer’ einer zusammenhängend erlebbaren Landschaft eingebettet …“ (Sieverts
2001b, S. 20).
Entsprechend der quantitativen Bedeutung des Freiraums und der „ausgesprochenen
prägenden Rolle, die der Landschaft in den heutigen Regionalstädten zunehmend
zukommt“ wird auch der Begriff der „StadtLandschaft“138 verwendet (Wolfrum 2002,
S. 17): „In der begrifflichen Kombination von ‚Stadt’ und ‚Landschaft’ liegt ein interessanter Ansatz für die Argumentation und Vermittlung räumlicher, gestalterischer und
ideeller Leitbilder“ (Reuther 2000, o. S.). Die Verwendung dieser vormals als Dualismus aufgefassten Termini in einem Wort scheint tatsächlich unausweichlich. Denn
auch wenn sich der Gegensatz beider Elemente auflöst, so wird und kann doch das
eine nie das andere in Gänze ersetzen (Wolfrum 2002, S. 17).
Bei der Definition und Gestaltung des als so bedeutsam eingeordneten Freiraums in
der „StadtLandschaft“ spiegeln sich die beiden grundsätzlichen normativen Vorstellungen städtischer Form wider, welche weniger von den tatsächlichen Potenzialen und
Bedürfnissen der Gestaltung und Nutzung der Freiräume ausgehen: (1) Das mit der
„Europäischen Stadt“ verwurzelte landschaftliche Ideal des begrenzenden Außenraums taucht in den Bestrebungen, Grüngürtel und Grünzäsuren zur Eindämmung des
Siedlungswachstums anzulegen, auf. (2) Hingegen spielt bei einer Stadtauffassung, die
Mitte und Rand nicht mehr klar definiert und städtische Elemente als ein Patchwork im
Raum versteht, Freiraum neben anderen städtischen Elementen eine gleichwertige
Rolle. Aber auch wenn dem letztgenannten Stadtverständnis (vermeintlich) gefolgt
wird, so wird doch immer wieder die Hoffnung formuliert, Freiraum könnte das integrative Element der Stadtregion sein (Kühn 2002, S. 69). Betrachtet man aber Freiraum
als komplementären Bestandteil jeglichen Siedelns, so ist es immer eine Frage der Dichte und der jeweiligen Beziehungen zwischen bebautem und freien Raum (Sieverts
2001b, S. 21). Die trennende und die integrative Wirkung von Freiräumen scheint
137
Dementsprechend kann die „Zwischenstadt“ auch als Landschaftskonzept angewendet werden
(siehe Kapitel C.2.2.3).
138
Der Begriff Stadtlandschaft ist in der Architekturgeschichte bereits im Sinne eines städtebaulichen
Leitbildes theoretisch besetzt (Kapitel C.1.2.3). Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, ob
der Begriff trotz dieser „Wiederverwendung“ für die Beschreibung aktueller Strukturen der Stadtentwicklung benutzt werden kann oder soll. Über die völlig neue Ausrichtung des Terminus ist man
sich hingegen einig.
195
196
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
dabei recht eng beieinander zu liegen und zeigt die Ambivalenz freiraumplanerischer
Strategien (Kühn 2002, S. 72).
1.3.3 Fazit: Einflüsse des Diskurses um aktuelle städtebauliche Leitbilder auf
schrumpfende Städte
Der Diskurs zwischen der „Europäischen Stadt“ auf der einen und der sich auflösenden
„StadtLandschaft“ auf der anderen Seite wurde und wird unter dem Wachstumsparadigma geführt. Trotzdem bieten sich Anknüpfungspunkte für die Gestaltung schrumpfender Städte. Es ist aber davon auszugehen, dass, so wenig die idealisierten Vorstellungen der beiden Pole in wachsenden Städten realistisch sind, so sehr auch unter
Schrumpfungsbedingungen differenzierte städtebauliche Leitbilder von Nöten sind.
Europäische Stadt
Es wird eine fast schon ideologische Debatte darüber geführt, ob Schrumpfung als
endgültiger Angriff auf die europäische Stadt oder doch als eine ihrer Facetten einzuordnen ist – wenngleich dafür zunächst ein Konsens über die Definition der europäischen Stadt herrschen müsste (Akbar, Kremer 2005, S. 20). Stadtumbau als Bewältigung räumlich wirksamer Schrumpfung kann als ein erneuter Angriff auf die baulichen
Qualitäten der europäischen Stadt gedeutet werden (Sulzer 2005). Aber bietet
Schrumpfung nun nicht endlich die Chance, das Leitbild der „Europäischen Stadt“ in
einem umfassenden Verständnis umzusetzen (ebd.)? Denn nicht Schrumpfung ist der
eigentliche Angriff auf die europäische Kernstadt, sondern das „Einwandern von suburbanen Prinzipien der Lebensführung und der Raumstrukturierung“ (Prigge 2005b,
S. 225). Sind es Einfamilienhäuser und Supermärkte oder „zufällig angeordnete neue
Grünflächen“ … „mit geometrisch angeordneter Baumbepflanzung“ (Sulzer 2005,
S. 384 f.), die das Bild der europäischen Stadt stören? Und ist es somit eine Frage der
gestalterischen und funktionalen Qualität der Lücken, die man zumindest teilweise
bereit ist, zu akzeptieren? Insofern ist es vielleicht nicht das Problem des Verschwindens von Nutzungen und die Entdichtung der europäischen Stadt, sondern eher die
ungeklärte Frage nach den Folgenutzungen in Art und Ausprägung.
Das Ziel einer nachhaltigen Stadtentwicklung scheint politisch fest mit dem Modell der
kompakten Stadt verbunden (Hall 1997, S. 30). Dies reicht von der europäischen bis
zu nationalen Ebene: In der „Charta von Aalborg“139 werden 1994 mit Blick auf zukunftsbeständige Flächennutzungsstrukturen höhere Bebauungsdichten und Mischnutzungen gefordert. Auch die 2007 formulierte „Leipzig-Charta“ sieht für die Erreichung nachhaltiger europäischer Städte die Notwendigkeit einer kompakten Sied139
Die Charta von Aalborg wurde 1994 von den Teilnehmern der Europäischen Konferenz über zukunftsbeständige Städte und Gemeinden in Aalborg verabschiedet. Sie stellt einen zentralen Meilenstein in der Debatte um den Beitrag der Städte zu einer nachhaltigen Entwicklung in Europa und
der nachhaltigen Entwicklung ihrer selbst dar.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
lungsstruktur und der Mischung von städtischen Nutzungen. In nationalen Stadtentwicklungspolitiken wird ebenfalls explizit dieses Ziel formuliert (Kapitel B.3.1). Angesichts der völlig konträren städtebaulichen Realitäten ist die Leistungs- und Steuerungsfähigkeit dieses Leitbildes aber zu hinterfragen (Sieverts 1998b, S. 35). Trotzdem
scheint die Zukunftsfähigkeit solcher Ansätze unbestritten (Kaltenbrunner 2006, S. 36).
Allerdings wird durchaus darauf hingewiesen, dass die Potenziale der europäischen
Stadt vielschichtiger als nur ihre Kompaktheit und Nutzungsdichte sind. Soll die „Europäische Stadt“ auch unter veränderten Rahmenbedingungen ein tragfähiges Leitbild
bieten, so ist eine Reduzierung auf ihre bauliche Form nicht überall zielführend
(BMVBS, BBR 2007b, S. 59). Auch die fachlichen Positionen dazu sind durchaus differenziert: Eine Expertenbefragung zur Nachhaltigkeit verschiedener historischer und
aktueller städtebaulicher Leitbilder ergab, dass sowohl verdichteten und monozentrischen als auch verdichteten polyzentrischen Modellen die gleichen (hohen) Potenziale
einer nachhaltigen Entwicklung der Stadtstruktur beigemessen werden (Fürst et al.
1999, S. 80). Insofern wird die Gültigkeit eines einzigen Leitbilds – insbesondere im
Hinblick auf die spezifischen Ausgangssituationen einer jeden Stadt – bezweifelt.
Das Modell der kompakten Stadt wird in der Schrumpfungs- und Stadtumbaudebatte
politisch deutlich forciert (BMVBW 2005, S. 103). So kann das Leitbild der „Europäischen Stadt“ möglicherweise „… als Referenzrahmen kommunalen Handelns den
Paradigmenwechsel zum Stadtumbau in schrumpfenden Städten …“ überdauern
(Jessen 2006, S. 37).
Kommt zum Ziel der Nachhaltigkeit der Wunsch nach Urbanität dazu, so scheint man
auf kompakte Stadtstrukturen kaum verzichten zu können. Allerdings werden in Bezug
auf die zum Erreichen kompakter Stadtstrukturen erforderliche Innenentwicklung von
professioneller Seite differenzierte Konzepte gefordert: Ansätze der doppelten oder
qualitativen Innenentwicklung fordern die integrierte Betrachtung der Flächennutzung
auch vor dem Hintergrund der Erhaltung freiraumplanerischer Qualitäten innerhalb der
Städte zur Erhaltung von Umwelt- und Lebensqualität (Hüchtker et al. 2000; Hutter et
al. 2004). Meint man tatsächlich die europäische Stadt, so ist dies auch eine Stadt, in
der (grüne) Freiräume immer ein essenzieller Bestandteil waren. Weitet man also das
Verständnis der europäischen Stadt aus, so lassen sich auch in diesem, vermeintlich
schlecht für Suburbanisierung und Schrumpfung geeigneten Leitbild Ansatzpunkte für
eine Gestaltung finden, die nicht nur auf Kompaktheit und Nachverdichtung abzielen,
sondern auch Freiräume als Elemente anerkennen (Kühn 1998, S. 498): „Das Leitbild
der europäischen Stadt unter den Vorzeichen von Schrumpfung und Stadtumformung
vermag kaum noch der heutigen Stadtentwicklung als Orientierung dienen, denn zu
oberflächlich sind die Fragmente, aus denen sich allenthalben Planer, Architekten,
Stadtmarketing und Politik bedienen, wenn sie die europäische Stadt zitieren. Dennoch
muss in ihrer Tradition nach Stadtgestalt und Identität gefragt werden. Dies gilt in
hohem Maße für die Freiraum- und Landschaftsplanung“ (Merk 2006b, S. 40).
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C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Wird die „Europäische Stadt“ als Leitbild, und damit als normative Perspektive formuliert und damit auch ihre bauliche Ausformung idealisiert, kann ihr Anpassungspotenzial an veränderte städtische Rahmenbedingungen evtl. nicht genutzt werden. LÖW
et al. führen als Beispiel den Kontext der „Perforierten Stadt“ auf: „Löcher bekommt
eine Stadt nur dann, wenn man sie vor dem Hintergrund eines kompakten Stadtkörpers (der Norm) betrachtet. […] Auch Brachen sind Teile der [europäischen, Anm.
d. Verf.] Stadt, die sozial, ökologisch und politisch wichtige Bedeutung haben können“
(Löw et al. 2007, S. 97). Daher scheint eine ständige Neubestimmung der eigentlichen
und spezifischen Qualitäten und Potenziale der „Europäischen Stadt“ unabdingbar.
SIEBEL beschreibt das Leitbild der „Kompakten europäischen Stadt“ als „rückwärtsgewandte Utopie“ (Siebel 2000, S. 30). Als Schwäche des Leitbildes der „Europäischen
Stadt“ wird oft ihr Abheben von den eigentlichen Entstehungsfaktoren europäischer
Städte genannt. Neben Wohlstand und der Entwicklung eines freien Bürgertums waren es auch Armut, persönliche Abhängigkeiten, unterentwickelte Transportsysteme
und die (räumlich) enge Verbindung von Produktion und Leben, die zu den Baustrukturen führten, die wir heute als „Gefäss (!), Ort und Symbol“ urbaner Lebensweise
wertschätzen (ebd., S. 28 f.). Diese Verhältnisse wollen wir heute mitnichten zurück
haben – wenngleich sie im übertragenen Sinne doch wiederkommen. Denn analysiert
man die Realitäten (nicht nur) schrumpfender Städte ehrlich, sind in gewisser Weise
Parallelitäten zu erkennen: Alterung, steigende Energie- und Transportkosten und
zunehmende Selbstständigkeit als Erwerbsmodell sind einige Herausforderungen, die
mit dichten, effizienten und gemischten Stadtstrukturen evtl. leichter bewältigt werden
können.
Ist die europäische Stadt am Ende doch ein Zukunftsmodell für vom demografischen
und ökonomischen Wandel sowie räumlicher Schrumpfung betroffene Städte? Es ist
weniger der Zweifel an den Vorzügen der normativen Zielvorstellung des Leitbildes der
„Europäischen Stadt“, als die Skepsis gegenüber seiner Umsetzbarkeit, die eine differenzierte Bewertung seiner Tragfähigkeit notwendig machen. So ist eine Diskussion um
eine nachhaltige Stadtentwicklung, die auf der Ausschließlichkeit der kompakten oder
fragmentierten Leitbilder basiert, nicht zielführend (Kühn 1998, S. 495).
Zwischenstadt
Wird der Ansatz der „Zwischenstadt“ weniger als ein (durchaus akzeptabler) Versuch
der Beschreibung der gegenwärtigen Situation der Stadtregionen in Europa, sondern
mehr als eine normative Position gewertet, so wirkt er stark polarisierend. Trotzdem
kann als großer Vorteil der „Zwischenstadt“ gewertet werden, dass ihre Ausprägung
vermutlich die „alte Stadt“ geschützt hat – wenngleich dies die Zerstörung der alten,
agrarisch geprägten Landschaft bedeutet. Die Elemente der modernen Stadt – Kläranlagen, Industriegebiete und Einfamilienhaussiedlungen – hätten in der alten Stadt kei-
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
nen Raum gehabt oder hätten sogar zu ihrer Zerstörung beigetragen (Sieverts et al.
2005, S. 29).
Das Problematische an der „Zwischenstadt“ ist weniger ihre Entstehung – zumal diese
Tatsachen kaum umkehrbar sind. Die jetzt anstehenden Aufgaben sind ihre Gestaltung
und Qualifizierung, die diese Siedlungsform trotz sich ändernder Bedürfnisse und
Rahmenbedingungen zukunftsfähig macht. Die Herausforderung dabei ist, die NichtWahrnehmung welche zu Nicht-Beachtung und Nicht-Planung führt, zu überwinden
und Gestaltungsansätze zu formulieren. Dabei ist eine Interpretation oder Lesbarkeit
der Zwischenstadt mit traditionellen Bildern von Stadt und Landschaft nicht möglich
(Hauser, Kamleithner 2005, S. 46).
Wenngleich die Ursachen für die Entstehung der Zwischenstädte regional unterschiedlich sind, so ist doch ihre räumliche Ausprägung ähnlich. So finden sich zwischenstadtähnliche Erscheinungen zunehmend auch in den Randgebieten schrumpfender Städte.
Betrachtet man die Prozesse und entstehenden räumlichem Muster in schrumpfenden
Städten (Kapitel C.1.5) so werden Parallelen zur „Zwischenstadt“ deutlich (Dettmar
2005b, S. 271). Die Vorzeichen der Entstehung sind andere – dennoch sind auch
schrumpfende Städte durch eine heterogene Stadtstruktur, unterschiedlich genutzte
und ausgeprägte Stadtfelder und einen hohen Anteil an Freiflächen geprägt (vgl. Tabelle 9). Diese Ähnlichkeiten lassen die Übertragbarkeit freiraumplanerischer Ansätze
zur Qualifizierung der „Zwischenstadt“ auf schrumpfende Städte zu.
Merkmal
Zwischenstadt
Schrumpfende Stadt
räumliche
Dimension
Flächenverbrauch durch Ausdehnung und
Dispersion in die Stadtregion
„Hineinsickern“ der Landschaft und Dispersion in Richtung Stadtkern
Æ Disperse Stadtstruktur
bauliche
Nutzung
Nutzungsbedarfe werden durch Neubau
befriedigt
Freiraum
Reste der ursprünglich umgebenden Landschaft werden von neuen Nutzungen
umschlossen
nicht mehr benötigte Stadtfelder fallen aus
dem stadtstrukturellen Kontinuum der alten
Stadt heraus
Æ heterogenes Muster unterschiedlicher funktionaler und typologischer Felder
auf Brach- und Freiflächen, durch Nutzungsaufgabe und Rückbau entstehen
neue Freiräume
Æ flächenmäßig hoher Anteil an Freiräumen, Freiraum als Grundfigur der Stadtstruktur
Tabelle 9: Gegenüberstellung der räumlichen Merkmale und ihrer Entstehung der
„Zwischenstadt“ und der schrumpfenden Stadt (Eigene Darstellung).
SIEVERTS konstatiert, dass das Problem der „Zwischenstadt“ und vor allem dessen
Wahrnehmung künftig wieder mehr Bedeutung im Planungsalltag bekommen wird.
Denn die Folgen der Schrumpfung, die Forderung nach mehr Lebensqualität als
Standortfaktor im Rahmen der Globalisierung und die auch wieder dringenderen Um-
199
200
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
welt- bzw. Energieprobleme erfordern eine Anerkennung des Phänomens „Zwischenstadt“ und der Bedeutung der Aufgabe ihrer Gestaltung (Sieverts et al. 2005, S. 156).
Wenngleich die Rolle der Schrumpfung hier eher auf das Problem der „zu groß gewordenen“ Zwischenstädte zu beziehen ist, so sind doch auch schrumpfende Städte
teilweise parallel durch Suburbanisierung geprägt. Dies führt zu einer zusätzlichen
Ausdehnung zwischenstädtischer Strukturen ins Umland. Auch in schrumpfenden
Städten treten die Bestrebungen zum Erhalt der alten, europäischen, dichten und nutzungsgemischten Stadt deutlich zu Tage. Entsprechend müssen der notwendige Rückbau und die Entleerung, die der europäischen Stadt feindlich gegenüber stehen, in
anderen Stadtgebieten aufgenommen werden. Die Bilder, die dort entstehen, sind der
Zwischenstadt sehr ähnlich, wenngleich sie nicht durch Neunutzung, sondern Nutzungsaufgabe zu Stande kommen.
Für die „Zwischenstadt“ wird der Freiraum als tragende und tragfähige Grundfigur
heterogener Strukturen städtischer Elemente formuliert – für die schrumpfende Stadt
sollte dies ähnlich gelten können: „Die offene Landschaft ist zur Binnenfigur innerhalb
des ‚Hintergrunds’ einer Siedlungsfläche geworden; die besiedelte Fläche selbst könnte
als eine besondere Form von ‚Landschaft’ gelesen werden, die die Freifläche umgreift“
(Sieverts 2001b, S . 52). In der „Zwischenstadt“ wird dem Freiraum somit eine hohe
Bedeutung beigemessen: „Der Freiraum der Landschaft wird zu dem eigentlichen
Gestaltungsfeld, das die Identität, die Eigenart der Zwischenstadt bewahren und herstellen muß (!), das Bauen kann in seiner festen Typologie hierzu nur begrenzt beitragen“ (ebd., S. 139). Inwiefern dies hier nur notgedrungen und im Grunde als einziger
Lösungsansatz diskutiert wird, ist wenig transparent. Ähnliche Tendenzen sind auch in
der schrumpfenden Stadt erkennbar. Der an den Freiraum gestellte Problemlösungsanspruch ist hoch – die tatsächliche Unterstützung freiraumplanerischer Ansätze und
damit die Umsetzbarkeit dieses Anspruchs liegen dabei teilweise weit auseinander.
Ähnlich wie bei der wachstumsbedingten „Zwischenstadt“ ist die Voraussetzung einer
Qualifizierung der schrumpfenden Stadt der gesellschaftliche Wille dazu. Diesem muss
die Wahrnehmung des Qualifizierungsbedarfes voraus gehen (Hauser, Kamleithner
2005, S. 47; siehe Kapitel C.2.2.2 zum Landschaftsbewusstsein). In der schrumpfenden
Stadt ist dieser Anspruch politisch, ökonomisch und auch gesellschaftlich vordergründig – deutlich im Ansatz des Programms „Stadtumbau Ost“. Somit ist dies die beste
Voraussetzung, eine Qualifizierung auch tatsächlich zu erreichen. Die für die Gestaltung der „Zwischenstadt“ formulierten und teilweise auch schon erfolgreich umgesetzten freiraumplanerischen Ansätze können demnach auch Anhaltspunkte für die
räumliche Bewältigung von Schrumpfungsproblemen bieten (Kapitel C.2.2.3).
Hypothese
‚ Beide aktuelle Leitbilder – die „Europäische Stadt“ und die „Zwischenstadt“ – bieten teilweise Ansätze für die Leitbilddiskussion in schrumpfenden Städten.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
1.4
Kontinuitäten städtebaulicher Leitbilder
Die fachliche Diskussion über das jeweils richtige Leitbild schwankte in der Geschichte
pendelartig zwischen Bildern, die die Auflockerung städtischer Strukturen forderten,
und Bildern, die die Konzentration und Verdichtung städtischer Nutzungen und Elemente befürworteten (Kühn 2001; Abbildung 22; S. 174). Dies ist großteils auf unterschiedliche Auffassungen zur Trennung oder Mischung der städtischen Funktionen,
der Zentralität, des Verhältnisses von Stadt und Land und dem Verständnis von Freiraum als gliederndes oder abgrenzendes Element zurückzuführen. Die Positionen dazu
machten sich über die Zeit unterschiedliche räumliche Strukturvorstellungen zu eigen
(Becker et al. 1998, S. 14). Die städtebaulichen Leitbilder der Vergangenheit und der
Gegenwart zeigen vor allem zwei Dinge: Erstens gab es einen wiederkehrenden Wechsel gegensätzlicher städtebaulicher Leitvorstellungen. Zweitens zeichnen sich die Leitbilder trotz dieser Wechsel durch „… immer noch unterschätzt[e], in einer Vielzahl von
Fällen charakteristische systemübergreifende Kontinuitäten“ aus (Harlander 2006,
S. 24). Es ist zu erwarten, dass dies auch für städtebauliche Leitbilder schrumpfender
Städte gilt: „Mit den gleichen Parametern wie Dichte, Funktion, Zentrenverteilung und
übergreifende Erschließung werden nun bildhaft räumliche Aussagen über die beabsichtigte Richtung und Intensität nicht des städtischen Wachstums, sondern der
Schrumpfung getroffen“ (Jessen 2006, S. 36). Folgend werden die Gegensatzpaare im
Sinne von Systematisierungsansätzen (Streich 1988, S. 105 ff.) unter Bezug auf die in
den beiden vorherigen Abschnitten erläuterten Leitbilder beschrieben.
1.4.1 Funktionstrennung versus Funktionsmischung
Die Frage der Funktionstrennung bzw. der Funktionsmischung ist als eines der bedeutendsten Leitbildelemente (zumindest der Leitbilder der ersten Generation in der
1. Hälfte des 20. Jahrhunderts) anzusehen (Kuder 2004, S. 122). Ausgelöst durch das
Stadtwachstum und die Lebensbedingungen der Städte der Industrialisierung wurde
seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Debatte um die „richtige“ Entwicklung der Städte
befördert. Diese bewegte sich im Spannungsfeld zwischen Reformgeist und Großstadtkritik (von RIEHL, 1861; ARMINIUS, 1874; BAUMEISTER, 1876). Die sozialreformerische Kritik zielte auf die städtebauliche Lösung gesellschaftlicher und sozialer
Probleme. Kern des Ansatzes war die Trennung von Funktionsbereichen, welche auch
in Verordnungen festgeschrieben, allerdings selten tatsächlich umgesetzt wurde. Die
unterschiedlichen Ideen wurden in Form ganzheitlicher Konzepte gegen Ende des
19. Jahrhunderts weiterentwickelt: FRITSCH (1896) und HOWARD (1898) (Kuder
2004, S. 134 ff.).
In den 1920er Jahren hatte der Konflikt zwischen Großstadtbefürwortung und
-ablehnung bzw. zwischen Urbanismus und Desurbanismus seinen Höhepunkt. Die
konzeptionellen Richtungen bewegten sich zwischen historisierenden, landschaftsbezogenen und funktionalistischen Ansätzen. Manifestiert wurde der Richtungsstreit in
201
202
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
der „Charta von Athen“140. Deren grundsätzliche Aussagen zu den vier Funktionen
(Wohnen, Arbeiten, Erholen, Bewegen) und ihrer Schlüsselstellung im Städtebau sowie
zur Bestimmung der Stadtstruktur werden oft als Leitbild interpretiert (Kuder 2004,
S. 150 f.). Dabei waren die Grundgedanken der Charta sehr viel analytischer und umfassender als die später reduziert wiedergegebene Forderung nach der vermeintlichen
Trennung aller städtischen Funktionsbereiche (Reinborn 1996, S. 139). So wird der
„Charta von Athen“ der wohl größte Einfluss auf die städtebaulichen Formvorstellungen zugeschrieben (Fürst et al. 1996, S. 127).
Als Weiterführung des Gliederungsansatzes kann die Idee von Nachbarschaftseinheiten und Stadtzellen zur Größengliederung von Siedlungen in den USA gelten. Diese im
demokratischen Kontext entwickelten Ansätze wurden teilweise in der NS-Zeit zur
politischen Disziplinierung missbraucht (Kuder 2004, S. 159). Die „Gegliederte und
aufgelockerte Stadt“ (Göderitz et al. 1957) nahm die Ideen der Funktionstrennung
nach dem Krieg wieder auf. Grundgedanke war die Gliederung in Stadtzellen durch ein
System weitläufiger Grünverbindungen. Dieses Leitbild kann als ideologie-, länderund personenübergreifend eingeordnet werden und wurde mit anderen Bezeichnungen international angewendet und geschätzt. Bis in die 1960er Jahre herrschten die
Ideale der Funktionstrennung, Größengliederung, Auflockerung und der verkehrsgerechten Stadt vor – wenngleich eine Umsetzung nur in randstädtischen Großsiedlungen möglich war (Kuder 2004, S. 160 ff.).
Der gesellschaftliche Wandel in den 1970er Jahren führte auch zu neuen Ansichten im
Städtebau. Das Leitbild der „Gegliederten und aufgelockerten Stadt“ passte nicht
mehr zu den Wachstumsmechanismen der modernen Stadt. Weiterhin wurden mit der
Umsetzung dieses Leitbildes auch negative Erscheinungen wie der wachsende Verkehr,
die Landschaftszersiedelung, die zu starke Funktionstrennung und die trostlosen Neubausiedlungen in Verbindung gebracht: Als Gegenbewegung dazu wurde das städtebauliche Leitbild „Urbanität durch Dichte“ formuliert.141 Dies brachte allerdings nicht
die gewünschte Verdichtung im Sinne eines Zuwachses an Urbanität. Dabei liegt das
Problem weniger im Leitbild, sondern in seiner Umsetzung: Beim Bau der randstädtischen Großsiedlungen gab es zwar einen Maßstabssprung, vor allem was die Dichte
anbelangt, die grundsätzliche Auffassung der Funktionstrennung, der grün geglieder-
140
Gründungserklärung des CIAM – Congrès Internationaux d’Architecture Moderne 1933, Vorläufer
war die Erklärung von La Sarraz 1928. Veröffentlicht und bekannt wurde sie vor allem durch Le
CORBUSIER (1941).
141
Allerdings kann dies im Rückblick mehr als eine wenig ausgearbeitete Initiative betrachtet werden,
die relativ schnell wieder verworfen wurde. Fest steht, dass diesem Leitsatz eine nicht so ausführliche Diskussion und Positionsbestimmung vorausgegangen war, wie den vorherigen Leitbildern
(Kuder 2004, S. 170).
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
ten Siedlungen und der Autogerechtigkeit wurde aber weiter umgesetzt (Kuder 2004,
S. 170 ff.).142
Die Kritik an der Moderne, unterstützt durch Entmischung, Verlust von Urbanität sowie dem Mangel an Vielfältigkeit und Kommunikationsmöglichkeiten, äußerte sich
auch in kritischen Stimmen zur Stadtplanung.143 Die Nutzungstrennung wurde als
Ursache der wachsenden Unzufriedenheit mit den Städten ausgemacht (ebd., S. 173).
Die Abwendung von rein funktionalistischen bzw. organisatorischen Ansichten zu
mehr sozialen und ästhetischen bzw. architektonischen Aspekten der Stadtentwicklung
erreichte in den 1980er Jahren ihren Höhepunkt. Der Zerfall der Städte, der Verfall der
Innenstädte und die sich abzeichnenden Grenzen und auch geringeren Bedarfe des
Wachstums der Städte führten zu Ansätzen der „Stadterneuerung“. Begriffe wie
„Stadtreparatur“, „Kritische Rekonstruktion“ und schließlich die „Behutsame Stadterneuerung“ stehen nun für Altbausanierung, Nutzungs- und soziale Mischung, Partizipation, Wohnqualitäten in der Stadt, Verkehrsberuhigung und insgesamt für Urbanität. Zusammengeführt wurden diese Konzepte in den Leitbildern der „Kompakten
gemischten Stadt“ oder der „Stadt der kurzen Wege“ (ebd., S. 178 ff.). Das Ziel der
Funktionsmischung und Nutzungsdichte wird in den 1990er Jahren zentrales Element
einer nachhaltigen und anpassungsfähigen Stadtplanung, formuliert im Leitbild der
„Europäischen Stadt“, auch wenn die reale Stadtentwicklung stark gegensätzliche
Trends aufzeigt („Zwischenstadt“) (Sander 1998, S. 476).
Die Forderung nach einer Trennung der unterschiedlichen städtischen Funktionen
erforderte eine räumliche Abgrenzung der einzelnen Bereiche. Dies erfolgte auch mit
großzügig bemessenen Grünzügen. Im Resultat hatten diese tatsächlich eine trennende Wirkung und wurden nicht als integratives Element der Stadtstruktur wahrgenommen. Hinzu kam, dass der Freiraum die immer größer dimensionierte Verkehrsinfrastruktur aufnehmen musste. Mit der aufkeimenden Forderung nach mehr Mischung
und der damit erforderlichen Dichte wurde Freiraum wieder zum „raren“ Element der
Stadt, welches gegenüber anderen Nutzungsbedürfnissen verteidigt werden musste.
1.4.2 Zentralität versus Dezentralisierung
Die Frage nach der Konzentration von Nutzungen oder der dezentralen Verteilung war
in der Geschichte des Städtebaus vor allem eine Frage des Wachstums oder der Stagnation der Städte. Die auf die Bedingungen der gründerzeitlichen Städte reagierenden
142
Die Einführung von Baugesetzbuch (1960) und Baunutzungsverordnung (1962) manifestierte die
Idee der funktionalen Trennung rechtlich.
143
Als Wendepunkt kann die Publikation „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ von Jane
JACOBS (1963) angesehen werden. Ebenfalls in diese Argumentationsrichtung zielt die Publikation
von Alexander MITSCHERLICH (1965) „Von der Unwirtlichkeit unserer Städte“ (Kuder 2004,
S. 173 f.).
203
204
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Reformansätze zielten auch auf die Dezentralisierung und damit Entspannung der
dichten Städte. Die im Gartenstadtmodell erstmals formulierten Ansätze von Zentralsiedlungen mit Trabanten wurden auch in den 1920er Jahren weiter geführt. Wenngleich die städtebaulichen Bestrebungen vor allem der Verbesserung der stadthygienischen Situation dienen sollten, war der Schritt zur theoretisch formulierten Aufforderung einer Auflösung der Städte nicht weit (Harlander 2006, S. 27 f.).
Grundsätzliche Ideen zur Dezentralisierung bestimmen immer wieder den theoretischen Diskurs zur Stadtplanung. Der (erzwungene) Neuanfang nach den Zerstörungen
des Zweiten Weltkrieges ermöglichte die Umsetzung der noch immer geltenden städtebaulichen Ideale der Reformzeit der 1920er Jahre. So wurde der Prozess der Dezentralisierung der städtischen Nutzungen und Gebiete befördert (ebd., S. 34).
Das Konzept der Dezentralisierung ist eng verbunden mit den Ansätzen der „New
City“ (1930) und des „New Regional Pattern“ (1949) von HILBERSHEIMER. In Fortsetzung früherer Ansätze zu Trabantensiedlungen als Methode der Stadterweiterung
sowie der stadtreformerischen Überlegungen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelte er theoretische Planungskonzepte, die zunehmend von einer dezentralen Organisation städtischer Funktionen ausgingen (Kilian 2002, S. 18). Die städtebauliche Idee zeichnet sich durch die Durchdringung von Natur und Gebautem als
Resultat der Auflösung des städtischen Gefüges in die Landschaft aus. Die Ansätze
sind dabei weniger auf Grundlage einer – vielen Konzepten dieser Zeit innewohnenden
– uneingeschränkten Technikgläubigkeit entstanden, als vielmehr aus der Überzeugung heraus, die Elemente Stadt, Natur und Technik ganzheitlich und damit nachhaltig
zu verknüpfen (ebd., S. 88 f.): Selbstversorgung, Durchsonnung, kurze Wege und
Autarkie bestimmten die Siedlungsvorstellungen. Freiraum und landwirtschaftliche
Fläche haben eine hohe Bedeutung. Durch eine immer feiner werdende Verästelung
erweitern sich die Kontaktstellen zum Freiraum und zu den, den Siedlungsraum durchziehenden, agrarischen Flächen (Kilian 2005, S. 509).
Auch die ökonomisch, ökologisch und sozial begründete Hinwendung zu den (Innen-)
Städten seit den 1970er Jahren konnte die Suburbanisierung und damit den Trend zur
dezentralen Entwicklung nicht aufhalten. Es scheint, als sei Zentralität als eine ausschlaggebende Eigenschaft der europäischen Stadt nicht mehr notwendig (Harlander
2006, S. 37). Die Dezentralisierung städtischer Nutzungen ist ein kontinuierliches Phänomen, welches unabhängig von planerischen Bestrebungen und Leitbildern mit der
Stadtentwicklung der Moderne verbunden ist (Jessen 1998, S. 499). In der „Zwischenstadt“ wird dies besonders deutlich.
Allerdings deuten sowohl die Vorstellungen zur Zukunft schrumpfender Städte als
rezentrierte und kompakte Städte als auch die vermehrt beschriebenen Reurbanisierungstendenzen auf einen Gegentrend hin. Schrumpfende Städte oder der Wunsch
nach einem Gegenmittel zur ungesteuerten Siedlungsausbreitung rücken aktuell das
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Bestreben nach mehr Zentralität, vor allem ausgedrückt durch das Festhalten am Leitbild der „Europäischen Stadt“ in den Fokus (Harlander 2006, S. 23).
1.4.3 Stadt versus Land
Bauliche Elemente und Freiräume waren und sind die konstituierenden Strukturen von
städtebaulichen Leitbildern (Albers 2007, S. 31). So hatten städtebauliche Leitbilder
zum einen Auswirkungen auf die freiraumplanerische Gestaltung, oder wurden zum
anderen ganz bewusst auch über freiraumplanerische Elemente und Vorstellungen
geformt.
Ansätze, die auf einem nicht mehr gegensätzlichen Verständnis von Stadt und Land
beruhen, sind in der Geschichte des Städtebaus tief verankert.144 Bereits im Barock
wurden Stadt und Freiraum formal gemeinsam geplant. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden bewusst Grünflächen in den entstehenden, dichten Wohngebieten des
Industriezeitalters angelegt: „Mit der Sorge um die Freiflächen beginnt die strukturelle
Planung der Stadt im industriellen Zeitalter: hier zuerst wurde deutlich, daß (!) der
Markt, das freie Spiel der Kräfte, nicht alle Bedürfnisse zu erfüllen vermag, daß (!)
vielmehr Freiflächen nur durch Planung, durch Handeln der öffentlichen Hand gegen
die auf Ertragssteigerung gerichtete Tendenz der Grundeigentümer zu sichern sind“
(Albers 1975, S. 65).145 Dabei waren es nicht nur die sanitären und stadthygienischen
Vorteile, die der Schaffung von Grünflächen Auftrieb gaben: der Wunsch nach erlebbarer Natur, ästhetischem Genuss, Erholungsangeboten und das Bestreben der Strukturierung von Siedlungen, war auch in den frühen Ansätzen mehr oder weniger stark
ausgeprägt (ebd., S. 66). Neuen Antrieb bekam der „alte Traum von der Aufhebung
des Gegensatzes von Stadt und Land“ durch den Wunsch nach der Überwindung des
Traumas der industriellen Großstadt am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein wesentlicher
Kern der Reformbestrebungen im Städtebau war die „Versöhnung der Stadt mit der
Natur“ (Häußermann 2002, S. 270). Wobei die Großstadtfeindlichkeit weniger „… nur
eine ideologische Position der Agrarromantik gewesen [ist], sondern ein Gemisch aus
Fortschrittskritik, Angst vor dem sozialen Chaos und wirklicher Überlebensangst“
(ebd., S. 272). Dabei ist zu unterscheiden zwischen Forderungen nach der „Auflösung“ und der „Auflockerung“ der Stadt (ebd., S. 272).
Basierend auf einem nicht mehr gegensätzlichen Verständnis von Stadt und Land wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Stadtmodelle entwickelt, die Bezugs144
So führt HENNEBO beispielsweise das Konzept des Architekturtheoretikers FILARETE für die Stadt
Sforzinda aus dem Jahr 1465, die Utopie von MORUS für die Stadt „Utopia“ aus dem Jahr 1516,
aber auch den konkreten Erlass des englischen Parlaments von 1593 zur Begrenzung der Hauptstadt London auf (Hennebo 1979, S. 425 ff.).
145
Frühe Ansätze von BRUCH, ARMINIUS, BAUMEISTER und FRITSCH zur Freihaltung von Bauplätzen für die Anlage von Parks und Promenaden bis hin zur Forderung nach begrenzenden Grüngürteln oder die Stadt gliedernden Grünradialen.
205
206
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
punkte zur Neudefinition von Stadt aus der Landschaft heraus formulierten: Le
CORBUSIER entwickelte in den 1920er Jahren die Vision des „paysage urbain“ – geprägt von einer Durchdringung landschaftlicher und städtischer Elemente. Auch
WRIGHT’s „Broadacre City“ folgte der Grundidee der Stadtlandschaft (Bormann et al.
2005, S. 134; Fritzen 2005, S. 45). Neben diesen teilweise utopischen, abstrakten bzw.
generellen Ideen wurden einige neuartige Konzepte auch sehr spezifisch für einzelne
Städte bzw. Regionen entwickelt (ebd., S. 46 ff.).146 Die in dieser Zeit formulierten
Konzepte wirkten sich bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Städtebau aus
(Albers 1996, S. 60).
In den aktuellen Leitbildern schwingt die Frage nach der Abgrenzung vom oder der
Auflösung ins Land mit. Insbesondere die „StadtLandschaft“ geht von einem immer
weiter negierten Gegensatz aus: Stadt und Land(-schaft) sind heute nur noch ästhetische Kategorien, eine Dialektik existiert nicht mehr und eine Unterscheidung ist nicht
mehr notwendig.147 An ihrer statt treten eine Vielzahl differenzierterer Kategorien
(Hoffmann-Axthelm 2001, S. 213). Vor dem Hintergrund, dass die „… Dialektik von
Stadt und Landschaft, nach der die zukünftige Siedlungsentwicklung weder durch die
These eines (neuen) Gegensatzes von Stadt und Landschaft noch durch die Antithese
seiner völligen Aufhebung bestimmt werden wird“ (Kühn 1998, S. 495), können stadttypologische oder stadtstrukturelle Zielvorstellungen, die auf dieser Unterscheidung
beruhen, in ihrer Zukunftsfähigkeit angezweifelt werden. Dies bedeutet gleichzeitig
aber auch, dass nicht „irgendwelche Landschaftsvorstellungen zu Strukturvorstellungen der Planung“ gemacht werden können (Hoffmann-Axthelm 2001, S. 217). Vielmehr sind es die Zwischenkategorien, die erkannt und zur Gestaltung genutzt werden
müssen. Als Inwertsetzungsansatz sollte die Komplementarität der Elemente auf allen
Maßstabsebenen konsequent angewendet werden (Kühn 1998, S. 495).
1.4.4 Freiraum als Gliederung versus Freiraum als Begrenzung
Die Industrialisierung führte zu zahlreichen Reformvorstellungen bezüglich der künftigen Stadtentwicklung. Immanent zu sein scheint den Reformansätzen ein mehr oder
weniger stark ausgeprägtes „Gründenken“ auf Seiten der Planer (Benz-Rababah
1999b, S. 595): Rückblickend können drei Strömungen im Städtebau des
20. Jahrhunderts ausgemacht werden, die eine „intensive Verbindung mit privaten
oder gemeinschaftlichen Außenräumen bzw. mit der Landschaft selbst“ anstrebten
(ebd., S. 595): Gartenstadt (ab 1900), Neues Bauen (ab 1920), Stadtlandschaft (ab
1940). „Die Angleichung von Stadt und Land war spätestens mit der Ära der Garten-
146
Freiraumstruktur für das Ruhrgebiet (1912, Robert SCHMIDT), Generalsiedlungsplan für Köln
(1923, Fritz SCHUMACHER), Regionalplan Frankfurt (1930, Leberecht MIGGE, Ernst MAY), Hamburg Generalbebauungsplan (1944, GUTSCHOW, WORTMANN, REICHOW)
147
Zur Rezeption in neuen Landschaftskonzepten siehe auch Kapitel C.2.2.2.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
städte das erklärte Leitbild des humanitären Städtebaus“ (Reinborn 1996, S. 303).
ALBERS formuliert im Rückblick auf die sozialreformerisch intendierten städtebaulichen
Leitbilder der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: „Die Metapher des Gartens gibt
zu denken – die Beschwörung eines Bildes von Blüte, Harmonie und Ordnung […]“
erwies sich als nicht tragfähig (Albers 1996, S. 58). Die Hoffnung, die an die Kraft
Freiraumplanung in schrumpfenden Städten geknüpft wird, ähnelt in Teilen diesen
Visionen, wenngleich die Intension eine gänzlich andere ist.
Die Hinwendung zu stärker freiraumplanerisch geprägten städtebaulichen Leitbildern
begründet SIEVERTS mit der „… Suche nach der Auflösung des grundlegenden Paradoxes der Verbindung von städtischer Zentralität und Landschaftskontakt …“ (Sieverts
2001b, S. 19). Betrachtet man die städtebauliche Realität vor allem nach dem Zweiten
Weltkrieg, dann wird deutlich, dass sich in den Innenstädten doch mehr an den traditionellen städtebaulichen Auffassungen orientiert wurde, hingegen wurden in den
Stadterweiterungen durchaus moderne, funktionalistische Ideen umgesetzt (Sieverts
1998b, S. 34).
Entsprechend lassen sich zwei konkurrierende Leitbildkategorien mit jeweils kontrastierenden Vorstellungen der urbanen Landschaft und der Rolle des Freiraums unterscheiden (Kühn 2000): Es kann zwischen (1) „ringkonzentrischen Strukturmodellen148 der
Abgrenzung von Großstadt und Landschaft“ und (2) „netzartigen Strukturmodellen
der Entgrenzung von Großstadt und Landschaft“ unterschieden werden. (1) Für ersteren Ansatz stehen das Leitbild der „Gartenstadt“ und die verschiedenen Bestrebungen,
stadtbegrenzende Grüngürtel im gesamtstädtischen oder stadtregionalen Kontext zu
entwickeln. Das Bestreben zur klaren Abgrenzung der Stadt zum Land vermutet KÜHN
im Wunsch begründet, die ideale und arkadische Natur- und bäuerliche Agrarlandschaft möglichst intakt und nah zur Stadt und damit erlebbar zur erhalten (ebd.,
S. 19 f.). (2) Gegensätzlich dazu stehen Ansätze der „Entgrenzung bzw. Durchdringung von Grossstadt (!) und Landschaft […] als Ausdruck der Moderne“ (ebd., S. 20).
Manifestiert hat sich dieser Ansatz im Modell der „Stadtlandschaft“ und aktuell auch
in der „Zwischen- und Netzstadt“. Beide Pole der Diskussion verdeutlichen neben
städtebaulichen Vorstellungen das unterschiedliche Verständnis von Landschaft (ebd.,
S. 21 ff.).
Die Entwicklung eigenständiger Grünsysteme für Städte verdeutlicht das Bestreben, die
Stadt nach den Vorstellungen der Freiraumplanung zu gliedern und so auf die städtebauliche Struktur einzuwirken. Grün- und Freiraumsysteme stehen für „eine auf das
Stadtganze [und das unmittelbare Stadtumland] bezogene formale Anordnung von
Stadtgrünformen [im Sinne von Freiräumen, Anm. d. Verf.] …“ (Richter 1981,
148
Wenngleich KÜHN an dieser Stelle bewusst den Begriff „Modelle“ im Sinne eines „deskriptiven
Abbildes“ verwendet, so steht sein Ansatz im Zusammenhang dieser Arbeit eher für städtebauliche
Leitbilder und wird entsprechend an dieser Stelle erörtert (Kühn 2000, S. 18).
207
208
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
S. 34, 37). Der Ursprung der auch noch heute angewendeten Freiraumsysteme liegt in
den unterschiedlichen Modellen der Grünen Ringe (Richter 1981, S. 34 ff.; Hennebo
1979, S. 429 ff.):
(1) Stadtbegrenzende Grüngürtel können zum einen ein oft ästhetisch verstandenes
Randelement von Idealstädten sein. Meist wurden sie nach der Schleifung der
Wallanlagen umgesetzt, um das Wachstum der Städte zu begrenzen.149 Auch
wenn diese als Begrenzung im Zeitalter der Industrialisierung meist nicht lange
wirksam waren, sind sie heute noch mehr oder weniger gut als stadtgliedernde innere Grünringe sichtbar.
(2) In der Folge wurden stadtumgebende Freiraumzonen ausgewiesen, die weiträumig und stadtregional begrenzende Puffer- und Versorgungsfunktionen für die
wachsenden Städte übernehmen sollten.
(3) Schließlich sind die aus beiden Entwicklungen hervorgehenden stadtgliedernden
Grünringe zu nennen, die zumeist in den Städten liegen und damit für die eigentliche Stadtfigur raumwirksam werden. Diese Ansätze wurden erstmals im Gliederungssystem für die Großstadt von ARMINIUS (1874) theoretisch beschrieben
(ebd., S. 424). Neben den gliedernden Funktionen sind diese Freiräume vor allem
zum Zweck der Produktion und Reproduktion angedacht. Das dem Leitbild der
„Gartenstadt“ zugrunde liegende Raummodell zeigt den Bezug zu diesen Ansätzen, ebenso wie die Ideen zu dezentralisierten Stadtentwicklung.
Die Funktionen von Grüngürteln als Freiraumelemente veränderten sich im Laufe der
Stadtentwicklung: Zunächst sollten sie das Wachstum der Städte räumlich begrenzen
und die stadtnahe Produktion von Lebensmitteln absichern. Mit der Erkenntnis, dass
sich Grüngürtel kaum als Wachstumsbegrenzung eignen und das idealisierte Landschaftsbild nur noch schwer widerspiegeln, wurden sie immer mehr zu stadtgliedernden Elementen. Heute werden sie in Reinform kaum noch angestrebt – meist sind sie
mit anderen Elementen zu Freiraumsystemen weiterentwickelt worden (Kühn 2000,
S. 19 f.). Die in den Städten in unterschiedlicher Art und Weise vorhandenen grünen
Ringe fügen sich zusammen mit den übrigen Freiräumen der Stadt zu einem Freiraumsystem, welches zunächst vor allem „räumlich-additiv“ wirkt (Richter 1981, S. 37).
Dieses ist stark beeinflusst von den topografischen und naturräumlichen Gegebenheiten, der historischen Stadtentwicklung sowie den Umsetzungsmöglichkeiten der Planungsansätze (Paul 2000, S. 22).
149
Schwerpunkt in Deutschland um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Der Ansatz der Grüngürtel findet sich in theoretischen Überlegungen zur Stadtentwicklung bereits seit dem 16. Jahrhundert (Wiegand 1976, S. 20).
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Der Erkenntnis der Bedeutung von Freiräumen als Elemente der Stadtfigur folgend,
gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts150 verstärkt Bestrebungen, Freiraumsysteme
als gliedernde Ordnungssysteme in den Städten zu entwickeln. So gab es verschiedene
theoretische Ansätze einer optimalen Verteilung und Vernetzung von Freiräumen in
der Stadt. Daneben wurden auch in Strukturmodellen für einige Städte dieser Zeit
Freiraumsysteme integriert (z. B. Generalbebauungsplan Köln, SCHUMACHER, 1923).
Die Zusammenschau unterschiedlicher sowohl theoretischer, als auch für einzelne
Städte konkret konzipierter und teilweise umgesetzter Freiraumsysteme zeigt folgende
Kategorien, welche auch heute noch grundsätzlich Anwendung finden (Richter 1981,
S. 39):
‚ Ringförmige Freiraumsysteme spiegeln meist eine konzentrische Stadtentwicklung
wider und bauen auf einem, das Zentrum umgebenden, inneren Promenadenring
auf.
‚ Band- oder kammförmige Systeme finden sich oft bei stark von topografischen oder
naturräumlichen Gegebenheiten geprägten Stadtstrukturen (Höhenzüge, Flussläufe).
‚ Radialförmige Systeme spiegeln, oft planerisch weiterentwickelt, naturräumlich
vorgegebene Freiraumsituationen oder sternförmige Stadtgrundrisse wider.
‚ Eine punktuelle oder patchworkartige Verteilung von Freiräumen basiert auf einer
rasterförmigen Stadtentwicklung.
In vielen Fällen findet man in der Realität und auch in entsprechenden Planungsansätzen Kombinationen dieser schematischen Systeme. Heute werden Aussagen zu Freiraumsystemen oft von Seiten der Landschaftsplanung – im Zuge von Biotopverbundbestrebungen – formuliert. Diese macht oft auch Aussagen zur Freiraumentwicklung –
eine tatsächlich gleichbedeutende Verwendung beispielsweise zu städtebaulichen
Strukturmodellen, findet sich allerdings nicht.
1.4.5 Kompakte versus gegliederte Stadt
Letztendlich läuft die Diskussion in Geschichte und Gegenwart immer wieder auf das
alte Gegensatzpaar zwischen kompakter und gegliederter Stadt hinaus.
Das Stadtmodell der kompakten Stadt ist die am deutlichsten favorisierte strukturelle
Voraussetzung für die Realisierung des Leitbilds der „Europäischen Stadt“. Allerdings
droht der, der Nachhaltigkeitsdiskussion folgende, stark normative Ruf nach der kompakten Stadt – gemessen an der Realität von Suburbanisierung und Zersiedelung und
der deskriptiven und präskriptiven Akzeptanz der Zwischenstadt – zu verhallen, vor
allem, da der dafür diskutierte Lösungsansatz der dezentralen Stadtlandschaft ebenfalls
150
Freiraumplanerisch intendierte Überlegungen zu Stadtfiguren gab es vereinzelt bereits seit dem
17. Jahrhundert (Richter 1981, S. 37).
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210
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
den Nachhaltigkeitsgedanken beansprucht. So herrscht über die Zukunftsfähigkeit der
beiden vermeintlich ambivalenten Modelle ein „tiefgreifender (!) Dissens“ (Kühn
2000, S. 18). Erkennt man die tatsächliche räumliche Entwicklung in den Stadtregionen
– unabhängig davon ob schrumpfend oder wachsend – an, so zeigen sich doch die
Grenzen des Flächensparziels und der Innenentwicklung als Hauptaugenmerk einer
nachhaltigen Stadtentwicklung (Hesse, Schmitz 1998, S. 448).
Entsprechend der grundsätzlichen Entscheidung zu einer kompakten oder gegliederten
Stadtstruktur ist das Freiraumverständnis gelagert: Zur Absicherung der Kompaktheit
ist einerseits eine begrenzende Funktion des außen liegenden Freiraums von Nöten.
Andererseits spielt Freiraum innerhalb der kompakten Stadt eine untergeordnete Rolle,
weil eben diese Kompaktheit auch durch Nachverdichtung erreicht werden muss. Die
gegliederte Stadt kann nur zu einer solchen werden, wenn es gliedernde Elemente gibt
– dies sind in der Regel Freiräume.
1.4.6 Fazit: Kompakte Kerne in der StadtLandschaft – städtebauliches Leitbild der
Zukunft?
Auch wenn die „traditionelle Gestalt der europäischen Stadt […] sowohl räumlich wie
sozial nur noch als Insel zu haben [ist], so wird die Innenstadt auch weiter Bedeutung
und Berechtigung für ausgewählte Funktionen und Nutzer haben“ (Siebel 2000,
S. 30). Dies wird aber einhergehen mit einer eher polyzentralen, netzförmigen Struktur. Einzelne Orte und Räume in größeren Siedlungsstrukturen werden also durchaus
heterogenen Leitbildern oder Modellen folgen. Dies scheint nicht nur unter Wachstums-, sondern auch unter Schrumpfungsbedingungen realistisch zu sein.
Indem JESSEN die Frage nach der „Kompakten Stadt oder Knotenpunkt der Netzstadt“
stellt und mit dem gleichen Bild beantwortet, wird die Notwendigkeit und Chance der
Verknüpfung beider – vermeintlich konträrer – Stadtmodelle deutlich (Jessen 1998,
S. 501; vgl. auch Sulzer 2005, S. 381 f.). Dies setzt vor allem eine Veränderung des
Maßstabs und der Körnung voraus. Da dies in schrumpfenden Städten sowieso geschieht, beinhalten diese Modelle durchaus Ansatzpunkte und evtl. sogar größere
Umsetzungschancen für die Stadtentwicklung unter den zunächst gegenläufig anmutenden Rahmenbedingungen.
Die offensichtlich immer weniger notwendige Zentralität und der Bedarf an neuen
städtebaulichen Bausteinen scheinen ein Gegensteuern zu zwischenstädtischen Strukturen zum realitätsfernen Unterfangen zu machen (Jessen 1998, S. 500). Weder das
vehemente Festhalten an der „Kompakten Stadt“ noch das resignierende Hinnehmen
der „Zwischenstadt“ haben Zukunftspotenzial. Eine nachhaltige Stadtentwicklung
scheint nach jetzigen Erfahrungen nur möglich, wenn das Ziel und die Notwendigkeit
der Kompaktheit, aber auch die Grenzen der Beeinflussbarkeit und Steuerbarkeit dieses
Ziels anerkannt werden. Spezifische und weniger dogmatische Lösungen, die Ziel und
Realität vereinen, beinhalten wahrscheinlich Inhalte und Elemente beider Stadtmodelle.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Wird die Kernstadt nicht mehr als Zentrum einer Region, sondern als Knoten in einem
Netz verstanden, ließe sich damit Kompaktheit und Stadtlandschaft in einem Raum
verbinden (Durth 1999, S. 33).
Der Qualifizierungsansatz der Konzentration von Nutzungen auf Kerne, um Zentralität
als städtische Qualität zu erhalten, gilt nicht nur beim Wachstum, sondern ist insbesondere auch beim Schrumpfen qualitätsstiftendes Merkmal. So realitätsnah die StadtLandschaft der „Zwischenstadt“ auch ist – die ihr innewohnende „Indifferenz gegenüber Siedlung und Freiraum“ erschwert eine normative Anwendung (Kühn 2000,
S. 23). Um überhaupt noch eine Chance auf planerische Handhabe gegen die mitnichten befürwortete planlose Zersiedlung zu wahren, scheint es notwendig, den Landschaftsbegriff auf die Freiräume der Stadtregion zu begrenzen (ebd., S. 23). Dies zeigt
sich auch in schrumpfenden Städten: Räumliche Schrumpfung, die auf eine Fragmentierung der Siedlungsstruktur abzielt, braucht den Freiraum, als die einzelnen Siedlungselemente deutlich voneinander unterscheidende Zäsur. Gleichzeitig soll dieser
Freiraum aber das verloren gehende städtebauliche Kontinuum aufrechterhalten und
die Stadt zusammenhalten. Die Herausforderung ist dabei in schrumpfenden Städten
nicht kleiner als in wachsenden Städten.
In der Zusammenschau der historischen Entwicklung und aktuellen Debatte um das
richtige Stadtmodell und damit auch Leitbild der Stadtentwicklung sollte die Diskussion
nicht auf das mit neuen Begrifflichkeiten modernisierte, aber doch manifeste Gegensatzpaar reduziert werden. Eine stärkere Orientierung an den realen Siedlungsstrukturen und eine differenzierte Anwendung städtebaulicher Ideale, auch zwischen den
beiden Extremen, scheint zukunftsfähiger (ebd., S. 23 f.). Mögen auch die Leitvorstellungen der Stadtentwicklung Konsens sein (z. B. nachhaltige Stadtentwicklung), so
kann ein einheitliches Strukturmodell, aufgrund der spezifischen Voraussetzungen
einer jeden einzelnen Stadt, kaum erstrebenswert sein. In Bezug auf die Freiraumplanung bedeutet dies: „… auf den verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen sowohl
die Elemente von ‚Landschaft in der Stadt’ wie Gärten, Parks, Brachen und
Waterfronts als auch die ästhetisch und ökologisch wertvollen Bereiche der ‚Stadt in
der Landschaft’ in ihren komplementären Qualitäten zu sichern und weiter zu verbessern“ (ebd., S. 24).
Hypothese
‚ Städtebauliche Leitbilder, die zugleich Elemente der bisher gegenläufigen Ansätze –
kompakt oder gegliedert – aufnehmen, scheinen für die Stadtentwicklung zukunftsfähige Ansätze zu sein.
211
212
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
1.5
Stadtmodelle für schrumpfende Städte
Die Diskussion um Stadtmodelle und die Formulierung neuer städtebaulicher Leitbilder
in schrumpfenden Städten kann nicht ohne Überlegungen zur räumlichen Umsetzung
des erforderlichen Rückbaus erfolgen. Diese strukturell wahrnehmbaren Auswirkungen
von Schrumpfungsprozessen werden von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst:
‚ Planungstheoretische Überlegungen und Vorstellungen über Modelle der Stadtentwicklung können der konzeptionellen Diskussion über die räumliche Steuerung von
Schrumpfungserscheinungen zu Grunde liegen.
‚ Die historisch gewachsene Stadtstruktur, die räumliche Verteilung der Wohnungsmarktsegmente und Stadtstrukturtypen sowie die topografischen Gegebenheiten
setzen die physischen Rahmenbedingungen für die Verortung des Rückbaus.
‚ Die Stadtumbaupraxis mit ihren ökonomischen und rechtlichen Zwängen sowie der
Einfluss der Wohnungsmarktakteure wirken sich auf Planungsentscheidungen und
vor allem auf die Umsetzung des Stadtumbaus aus.
‚ Darüber hinaus spielen die stadtpolitisch konsensfähigen Entwicklungsziele und die
Steuerungskraft entsprechender Konzepte und Instrumente eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung des Stadtumbaus.
Insofern können abstrakte Modelle und städtebauliche Leitbilder, die Grundlage übergeordneter planerischer Entscheidungen sind, eine grobe Entwicklungsrichtung vorgeben. Ihre Anwendung muss aber immer im Hinblick auf die spezifische Situation einer
Stadt erfolgen (Giseke, Spiegel 2007, S. 254). Die Diskussion um die entstehenden
Stadtstrukturen ist in der Regel geprägt von der Frage nach den Anpassungserfordernissen bzw. -möglichkeiten sowie nach den anwendbaren Leitbildern. Die Frage, welche Entwicklungsrichtungen wahrscheinlich sind und was sie für die künftige Morphologie der Stadt bedeuten, spielt meist eine untergeordnete Rolle. Dabei fehlt bisher
eine systematische Untersuchung zur Veränderung der Stadtstruktur unter Schrumpfungsbedingungen bzw. einer Typologie schrumpfender Städte (Jessen 2007,
S. 39 ff.).
Bevor der Frage der Leitbilder für schrumpfende Städte und in diesem Zusammenhang
der Frage nach der künftigen Bedeutung der Freiräume nachgegangen wird, ist eine
Analyse und systematische Beschreibung der räumlichen Schrumpfungsprozesse und
deren Konsequenzen für die Stadtstruktur erforderlich. Vorliegende Beschreibungen
der Prinzipien räumlicher Schrumpfung und daraus resultierender Stadtmodelle basieren auf verschiedenen Zugängen und Systematisierungsansätzen:
Stadtstrukturmodelle können, basierend auf geometrischen Grundformen, welche die
idealtypischen Stadtgeometrien widerspiegeln, beschrieben werden. So unterscheidet
WEIDNER drei Grundprinzipien der räumlichen Schrumpfung: Konzentrischer Rückzug
bzw. Rezentrierung, axiale Vernetzung von Stadt und Landschaft und punktuelle Per-
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
foration. Diese entsprechen den Geometrien: punktueller Siedlungskörper, Bandstadt
und flächenhafte Stadtstruktur (Weidner 2005, S. 157 ff.).
Wie oben dargelegt, orientiert sich die Diskussion um Stadtmodelle häufig an Anpassungserfordernissen und der tatsächlichen Anwendbarkeit in konkreten städtebaulichen Leitbildern. So spricht DOEHLER-BEHZADI von zwei nahe liegenden – allerdings
idealtypischen – und einer dritten eher pragmatischen städtebaulichen Reaktion auf
das Überangebot an baulichen Strukturen: (1) Eine gleichmäßige Kontraktion vom
Rand her und eine Konzentration der Nutzungen spiegelt die Intention der kompakten,
europäischen, dichten und gemischten Stadt wider. (2) Eine stärker gegliederte Stadt
mit „neuen Zäsuren, Grenzen und inneren Rändern“ böte die Chance, das bisherige
System des öffentlichen Raumes zu „modernisieren“ und damit einen Beitrag für eine
höhere Lebensqualität zu leisten. Beide Idealvorstellungen der städtebaulichen Entwicklung fordern eine hohe Eingriffs- und Steuerungsintensität, die angesichts der
Rahmenbedingungen in schrumpfenden Städten zu hinterfragen ist. (3) In der Konsequenz wird die Strategie der Perforation als realistischer – sowohl was die strukturellen
Voraussetzungen vor allem in Gründerzeitquartieren als auch was die Umsetzbarkeit
betrifft – eingeschätzt (Doehler-Behzadi 2005, S. 173).
Darüber hinaus gibt es zahlreiche vor dem Hintergrund einer einzelnen Stadt formulierte Modellvorstellungen, die teilweise auch einen Beitrag zur theoretischen Diskussion leisten. Im Rahmen einer Studie zum Stadtumbau in Dessau151 wurden beispielsweise die folgenden drei räumlichen Strategien zur Umsetzung des Stadtumbaus genannt:
(1) Perforation als kleinteiliges Bewerten und Aushöhlen des Stadtkörpers, (2) Reformation als Um- oder Neuansiedlung suburbaner Nutzungen in der Kernstadt und
(3) De-formation als konsequente Differenzierung von Freiräumen und Stadtinseln.
Dieser Überblick über die unterschiedlichen Ansätze zeigt die teilweise Vermischung
und wenig systematische Beschreibung der ablaufenden Prozesse, der entstehenden
räumlichen Muster der Schrumpfung und der zuzuordnenden Modelle der Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen. Im Folgenden werden die stadträumlichen
Konsequenzen der Schrumpfung bezüglich der „Prinzipien“ und „Modelle“ betrachtet
und ein Systematisierungsansatz erarbeitet. Basierend auf Überlegungen zu grundsätzlichen Schrumpfungsprinzipien (Kapitel C.1.5.1) werden verschiedene Ansätze der
theoretischen Diskussion über Stadtmodelle unter Schrumpfungsbedingungen erörtert
(Kapitel C.1.5.2). Deren Systematisierung ermöglicht Aussagen zu den Auswirkungen
auf die Freiraumentwicklung in schrumpfenden Städten (Kapitel C.1.5.3).
151
http://www.bauhaus-dessau.de/de/projects.asp?p=stadtstudie am 22.09.06
213
214
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
1.5.1 Prinzipien räumlicher Schrumpfung
Nutzungsaufgabe und Rückbau und damit die Reduktion von Bausubstanz kann
grundsätzlich in zwei Richtungen erfolgen: als Konzentration und als Perforation.
Konzentration
Konzentration bezieht sich zum einen auf die konzentrierte Beseitigung der überschüssigen Bausubstanz und zum anderen auf die Bündelung und bewusste Lenkung verbleibender und neu hinzukommender Nutzungen auf zu erhaltende Bausubstanz bzw.
Quartiere. Die Konzentration von baulichen Strukturen und Funktionen bei einem
insgesamt kleiner werdenden Nutzungsdruck mit dem Ziel der Verdichtung, Effizienzsteigerung und der Nutzung von Synergien kann in verschiedenen Formen erfolgen
(Blume 2005, S. 107 ff.): So kann sich die Bildung von dichteren, nutzungsgemischten,
aber auch nutzungsspezialisierten Kernen (1) sowohl auf den ursprünglichen Kernstadtbereich (2) als auch auf mehrere dezentrale Kernbereiche beziehen.
(1) Konzentration des Stadtkörpers auf den Kernstadtbereich:
Der Rückzug auf einen – zumindest noch in Teilen – kompakten oder neu zu verdichtenden Kernbereich in Anlehnung an das Bild der kompakten Stadt wird möglich durch
den Rückbau und die Aufgabe randstädtischer Quartiere und die Definition neuer
Grenzen. Konsequent umgesetzt würde dies auch bedeuten, dass der Stadtkern Funktionen und neue Nutzungen des Stadtrandes aufnehmen muss (z. B. Einfamilienhausbebauung, Gewerbe).
Dem Wunsch nach der Erhaltung bzw. teilweise auch Schaffung der kompakten Stadt
liegt zum einen die Vorstellung der „Europäischen Stadt“ und der damit verbundenen
Urbanität zu Grunde (Doehler-Behzadi, Schiffers 2004, S. 45). Zum anderen spiegelt
sich hier auch der Gedanke der „Nachhaltigen Stadt“ mit den Merkmalen der Reduzierung der Flächenneuinanspruchnahme im Umland, der Nachverdichtung, der Flächenkreislaufwirtschaft, der Verkehrsvermeidung durch kurze Wege, aber auch der sozialräumlichen Qualitäten wider.
(2) Konzentration auf urbane Inseln:
Die Konzentration auf mehrere ebenfalls noch dichte oder neu zu verdichtende Kerne
kann vor allem in größeren Städten mit historisch gewachsenen Stadtteilzentren oder
auch neuen urbanen Inseln im Randbereich eher realistisch sein, als die Konzentration
auf einen Innenstadtkern. Dabei kann genutzt werden, dass stadträumliche Artefakte
(Einzelhandel, Industrie) zur Konzentration neigen. Somit wird es auch in sich „auflösenden“ Städten Netzknoten nach den Prinzipien von Dichte und Kompaktheit geben
(müssen) (Hesse 2005, S. 183). Die verschiedenen Kernzonen sind durch eine spezifische Kompaktheit und die entsprechenden Funktionen sowie die Abgrenzung vom
umgebenden Freiraum durch ausformulierte Ränder geprägt. Potenzielle Kerne stellen
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
dabei Orte dar, die eher aufgrund raumökonomischer und funktionaler Erfordernisse
als aufgrund stadthistorischer Bezüge künftig zentrale Funktionen übernehmen. Sie
sind multifunktional, kompakt, übersichtlich und vielfältig (Blume 2005, S. 107).
Perforation
Perforation beschreibt den „Einzelabbruch von Gebäuden und den sich auflösenden
städtebaulichen Zusammenhang von einstmals geschlossenen städtebaulichen Strukturen in Folge von Substanzschwäche, fehlender Nachfrage und zu hohem Investitionsrisiko“ (Stadt Leipzig 2003b, S. 85). Die Löcher oder Lücken entstehen nicht erst durch
aktuell ablaufende Prozesse der Stadtentwicklung. Sie sind Resultat unterschiedlicher
plötzlicher oder permanenter Einwirkungen: Kriegszerstörung, Katastrophen, wirtschaftlicher Niedergang, Aufgabe alter Nutzungs- und Eigentumsverhältnisse. Ergebnis
von Perforationsprozessen ist, dass das „Stadtgewebe […] aufgrund der räumlich
unterschiedlich intensiv ausgeprägten Verdünnung der Nutzung lockerer [wird] […]
[und] die amerikanisierte, Partchwork-artige (!) Peripheriestruktur beginnt in die Stadt
einzusickern.“ (Lütke Daldrup 2001a, S. 42). Perforation bedeutet aber auch, dass
„… sich eine neue, geringere Dichte einpegelt, zu der mehr oder weniger Lücken gehören“ (Doehler-Behzadi 2005, S. 185).
Der Begriff der Perforation in Zusammenhang mit der Stadtentwicklung unter
Schrumpfungsbedingungen tauchte erstmals in einer Ausgabe der Zeitschrift „Stadtbauwelt“ auf: Der damalige Leipziger Stadtbaurat beschrieb unter dem Titel „Die perforierte Stadt: Eine Versuchsanordnung“ allerdings eher den gegenwärtigen Zustand
bzw. Prozess der stadträumlichen Wirkungen der Schrumpfung als ein städtebauliches
Modell oder anzustrebendes Leitbild (Lütke Daldrup 2001a). Seitdem herrscht ein
Diskurs zwischen der Verwendung des Begriffs als Realitätsmodell, als Negativszenario
oder als (Leipziger) Raumstrategie zum Umgang mit Schrumpfung (Stadt Leipzig
2003b, S. 7). An dieser Stelle soll eine Interpretation des Perforationsbegriffs als räumliche Ausprägung des Rückbauprozesses und damit als Zustand von (räumlicher)
Schrumpfung betroffener Stadtquartiere verstanden werden.
1.5.2 Modelle der Stadtentwicklung unter Schrumpfungsbedingungen
Der Diskurs über raumstrukturelle Vorstellungen zur Entwicklung von Stadtregionen
bewegt sich seit den 1990er Jahren zwischen Modellen, die auf eine polyzentrische,
und Modellen, die auf eine kompakte Stadtentwicklung hinauslaufen. Es kann vermutet werden, dass darin in Zukunft weniger konkurrierende Stadtmodelle gesehen werden, sondern beide Ansätze in Verbindung zukunftsfähige Aussagen treffen können
(Bose 2001, S. 249 ff.). Dies kann auch unter Schrumpfungsbedingungen gelten: Die
folgende Typologie städtebaulicher Modelle unter Schrumpfungsbedingungen zeigt,
dass sich sowohl Konzentration als auch Perforation wechselseitig beeinflussen und
teilweise auch gegenseitig bedingen.
215
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C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Ausgehend von den Prozessen der Konzentration und der daraus (teil-)räumlich folgenden Kontraktion von Baustruktur auf der einen Seite und der Perforation von gebauter Stadt und einer daraus resultierenden Dispersion des Stadtkörpers auf der anderen Seite, werden im Folgenden vier abstrahierte Modelle künftig möglicher Stadttypen beschrieben. Sie beziehen sich lediglich auf das Verhältnis und die Verteilung von
bebautem und unbebautem Raum, als „… einem der wichtigsten Aspekte der strukturellen Ordnung“ (Albers 1975, S. 54). Aspekte wie Verkehrsinfrastruktur oder Art und
Dichte der Nutzungen werden nicht betrachtet. Die Modelle treffen so Aussagen zur
Körnung der bebauten und freien Bereiche und zu ihrer, die räumliche Struktur der
Stadt bestimmenden, Verteilung.
Kontrahierte Stadt
Die konsequenteste Ausprägung von Konzentrationsprozessen wäre die Kontraktion
des Stadtkörpers auf einen stabilen Kern. Diese Vorstellung spiegelt sich im häufig
formulierten Rückbauziel von außen nach innen wider. Beweggründe sind, neben der
gesellschaftlichen Wertschätzung der dichten und kompakten europäischen Stadt, vor
allem die als nachhaltig bewertete Stadtform und die, insbesondere in schrumpfenden
Städten, deutlich hervortretenden Auslastungsschwierigkeiten der stadttechnischen
Infrastruktur in sich entdichtenden Siedlungseinheiten. Der historisch verwurzelte Gegensatz zwischen Stadt und Land wird in diesem Stadtmodell verstetigt und ist ein
ganz entscheidendes Merkmal dieses Stadttyps.
Fragmentierte Stadt
Die Perforation führt zur kleinräumigen Entdichtung von Stadtstrukturen. Auch in
schrumpfenden Städten finden parallel dazu Suburbanisierungsprozesse statt. Beides
sind kaum aufhaltbare Prozesse, die zu einer Fragmentierung der Stadt führen können.
Die Akzeptanz der „Fragmentierung des urbanen Gewebes“ (Venturi 2003, S. 21) und
der Anspruch der Gestaltung und Steuerung erfordert eine „… kritische Neuinterpretation des Kernstadt-Modells in Form eines Gefüges aus mehreren kleineren Stadtkernen“ (Blume 2005, S. 107).
Die bewusste Inszenierung von sowohl Konzentration als auch Perforation von Nutzungen und baulichen Strukturen in schrumpfenden Städten kann Möglichkeiten zur
räumlichen Neugliederung der Stadt bieten. Dies setzt die Umverteilung von Nutzungen voraus. Dieses Modell der Stadt aus dicht besiedelten „Schollen“ und dünn oder
nicht besiedelten „Bruchstellen“ (Doehler-Behzadi, Schiffers 2004, S. 43) entspricht
einer fragmentierten Stadtstruktur. Die einzelnen Fragmente zeichnen sich dabei durch
eine gewisse Kompaktheit sowie spezifische bauliche und funktionale Dichten aus und
stehen miteinander in Verbindung. Die Stadt ist – wenngleich nicht als bauliches Kontinuum – als funktionales und sozialräumliches Gefüge wahrnehmbar.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Die Konzentration auf urbane Inseln kann verschiedenen Modellen folgen:
(1) In der Band- oder Ringstadt sind die (verbleibenden und neu entstehenden) urbanen Inseln bandförmig an der Verkehrsinfrastruktur angeordnet. Dabei übernehmen die vorhandenen Verkehrsachsen Transport-, aber auch Kommunikations-,
Informations- und Kulturfunktion im Sinne eines öffentlichen Raumes (Blume
2005, S. 108).
(2) Die Konzentration auf urbane Kerne bzw. Bänder oder Ringe kann auch auf ganze
Stadtregionen im Sinne netzartiger Strukturen ausgedehnt werden. Um dabei
wahrnehmbare Zusammenhänge zu erhalten, spielen die Freiräume dieser Stadtlandschaft eine wichtige Rolle (ebd., S. 109).
Zentrale Eigenschaft fragmentierter Stadtstrukturen ist die räumliche Dominanz des
zwischen den baulich geprägten Fragmenten liegenden Freiraums. Je kleiner die Körnung, desto höher ist der Anteil der Randzonen. Fragmentierte Stadtmodelle lassen
sich so auch als fraktale Strukturen beschreiben. Dies ist ein ubiquitär auftretendes
Phänomen in Agglomerationen und charakterisiert den Trend der Stadtentwicklung zur
„… Maximierung der Randlänge zwischen Bebauung und Freiraum …“ (Sieverts
2001b, S. 19). Der durch Perforation entstehende fraktale Stadtraumtyp ist gekennzeichnet durch „… wachsende, überschüssige Freiflächen in sehr unterschiedlicher und
planerisch nicht exakt vorherzubestimmender Größe und Verteilung“ (DoehlerBehzadi 2005, S. 185).
Perforierte Stadt
Eine fortschreitende Durchlöcherung und Ausdünnung des bestehenden Siedlungskörpers kann in einer perforierten Stadt münden. Dabei spielen zum einen die Größe und
Verteilung dieser Lücken und zum anderen die Umwidmung dieser Flächen in eine
positiv besetzte Nutzungsform eine große Rolle bei der Wahrnehmung von Perforation
(ebd., S. 183). Werden die Lücken mit Zwischennutzungen, einfachen Begrünungen
oder künstlerischen Eingriffen belegt, so bietet sich zunächst ein positives Bild der Perforation. Fallen die Flächen hingegen einfach nur brach und wird die Wahrnehmung
eines geschlossenen Stadtkörpers stark und kontinuierlich unterbrochen, kann dies in
eine negative Wahrnehmung umschlagen (Christiaanse et al. 2007, S. 165). Sichtbare
und gefühlte Leere lassen sich dabei kaum objektiv bestimmen, und so liegen Chancen
und Grenzen der Perforation oft nah beieinander.
Disperse Stadt
Die Aufgabe von Flächennutzungen in der Stadt ist nicht nur mit einem gesunkenen
Bedarf, sondern teilweise auch mit einer Auslagerung von Nutzungen an den Stadtrand erklärbar. Insofern kann Perforation auch als „innerstädtisches Pendant der äußeren Siedlungsentwicklung in städtischen Agglomerationen bei deutlich geringeren
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C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Dichten als im historischen Stadtkontext“ (Doehler-Behzadi 2005, S. 178) betrachtet
werden. In der Konsequenz führt die Parallelität dieser Prozesse zur Dispersion städtischer bzw. baulicher Elemente in das Stadtumland. Dieser Prozess ist vor allem in bisher noch wachsenden Stadtregionen zu beobachten: „Die schon fragmentierten Metropolregionen werden zusätzlich kleinteilig perforiert durch ‚Wüstungen’, durch innere
Freiflächen, für die zurzeit keine Nutzer in Sicht sind“ (Fritzen 2005, S. 46). Dies bedeutet eine Entdichtung der alten Stadtstruktur und gleichzeitig eine gering verdichtete
Verstädterung des Stadtrandes.
Überlagert sich der Prozess der Perforation mit der zunehmenden Dispersion der Nutzungen im Raum als Folge fortschreitender Suburbanisierung und finden gleichzeitig
keine nennenswerten Konzentrationsprozesse statt, kann sich ein Archipel152 aus neuen
und alten Siedlungsfragmenten unterschiedlicher Kompaktheit, Nutzung und Baustrukturen im Raum bilden. Abhängig von der Körnigkeit und Dimension dieses Prozesses
können die Fragmente ihre Zusammenhänge verlieren. Dieses Szenario kann zu einer
Auflösung der Stadt führen – es ist an dieser Stelle eher hypothetisch und in der weitergedachten Konsequenz der Perforationsprozesse als ein tatsächlich anzutreffendes
bzw. angestrebtes Stadtmodell zu verstehen.
1.5.3 Fazit: Systematik von Stadtmodellen in schrumpfenden Städten und
Bedeutung für die Freiraumstruktur
In der Abbildung 23 sind die oben beschriebenen möglichen stadträumlichen
Schrumpfungsprozesse und -muster sowie deren räumliche Konsequenzen in Stadtmodellen zusammenfassend dargestellt.
Zur Vermeidung von Perforation und Entdichtung als Gefährdung der Effizienz von
Siedlungsstrukturen und der Daseinsvorsorge sind vermutlich Modelle, die eine stärkere Gliederung und polyzentrale Ausrichtung des Stadtgefüges anstreben, zukunftsweisend. Ein künftiges Stadtverständnis, welches sich ausschließlich an den traditionellen
Strategien der Kontraktion und der Gliederung orientiert, wird sowohl unter den gegenwärtigen Bedingungen auch als in Hinblick auf die Stadtumbaupraxis als unzureichend eingeschätzt. Das Modell der Kompakten Stadt bietet auch in der Realität sich
zunehmend fragmentierender und perforierender, wachsender und schrumpfender
Städte Anknüpfungspunkte: Denn das Prinzip der Konzentration und Kontraktion und
damit auch der – bis zu gewissen Grenzen – Kompaktheit gilt auch für fragmentierte
152
Hier lassen sich auch Zusammenhänge mit den bereits in den 1970er Jahren entwickelten Stadtmodellen für schrumpfende Großstädte entdecken: UNGERS entwickelte als Gegenpart zur IBA in
West-Berlin das (theoretische) Konzept des „grünen Stadtarchipels“, welches auf die sich abzeichnenden Schrumpfungstendenzen und die heterogene Stadtstruktur reagierte. Die Idee der „Stadt
in der Stadt“ geht von vielen, in Nutzung und Morphologie unterschiedlichen Stadtinseln oder urbanen Fragmenten aus, die sich als Archipel in einem grünen Naturraum befinden. Der Freiraum
sollte dabei die Stadtinseln voneinander trennen, als Raster die Stadtstruktur definieren, verschiedenartige Freiraumtypen ausbilden und temporäre Einrichtungen aufnehmen (Cepl 2005).
219
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Stadtregionen: „Die kompakte Stadt ist dann nicht mehr Zentrum und Kristallisationspunkt, sondern ein Baustein unter vielen im Mosaik der Stadtlandschaft“ (Hesse 2005,
S. 183). Die Bewältigung „… einer sich ausdünnenden, auflockernden Stadt und ihren
dispersen Strukturen“ muss wohl mit der Perforation als „Realitätsmodell“ und Beschreibung der Störung des Programms der europäischen Stadt leben und bewusst
arbeiten (Doehler-Behzadi 2005, S. 178, 182). Unter diesen Voraussetzungen scheint
auch die Akzeptanz der Perforation als städtebauliche Strategie unausweichlich.
Ausgangssituation Stadt
Bebauung
Freiraum
Perforation
Prinzipien räumlicher
Schrumpfung
Konzentration
Modelle der Stadtentwicklung
+ Suburbanisierung
Kontrahierte Stadt
Fragmentierte Stadt
Perforierte Stadt
Disperse Stadt
Abbildung 23: Schematische Darstellung möglicher räumlicher Auswirkungen von
Schrumpfungsprozessen auf die Stadtstruktur und Modelle der Stadtentwicklung (Eigene
Darstellung u. a. nach Reuther 2002b, S. 15; Ringel et al. 2006; Doehler-Behzadi, Schiffers
2004, S. 32 ff.; Doehler-Behzadi 2005, S. 174).
Konzentration und Perforation beeinflussen sich wechselseitig und bedingen sich teilweise auch gegenseitig. Erwartet werden Mischformen, die am ehesten mit mehr oder
weniger fragmentierten Stadtmodellen beschrieben werden können: In der heutigen
Stadt wirken gleichzeitig „disperse“, aber auch „zentrifugale Kräfte“. „Ein breites
Spektrum von unterschiedlichen, oft auch gegensätzlichen Tendenzen – in zunehmendem Maße auch Tendenzen selektiver Rekonzentration – ist bestimmend für die gegenwärtige Entwicklung“ (Sieverts et al. 2005, S. 28). In der Praxis ist von einer wechselseitigen Durchdringung der teilweise gegenläufigen Stadtideen auszugehen, in den
meisten Fällen wird aber doch eine Form die jeweilige Stadtentwicklung dominieren
220
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
(Reuther 2002b; Kühn 2000; Doehler-Behzadi 2005, S. 173). Geht man von einer –
empirisch durchaus zu beobachtenden – Gleichzeitigkeit der Prozesse aus, ist das Modell der Fragmentierten Stadt das wahrscheinlichste Zukunftsmodell für schrumpfende
Städte – wenngleich auch hier eine Vielzahl von Ausprägungen möglich ist.
Bedeutung der Stadtmodelle für die Freiraumstruktur
Modelle der Stadtentwicklung
Die sich aus den Schrumpfungsprozessen ableitenden Stadtmodelle bieten unterschiedliche Rahmenbedingungen für die Freiraumstruktur und -entwicklung in
schrumpfenden Städten bzw. Stadtregionen. In Abbildung 24 sind die Stadtmodelle
und die entsprechend entstehenden Freiraumfiguren dargestellt.
Fragmentierte Stadt
Perforierte Stadt
Disperse Stadt
Lückenraum
Basisraum
Freiraumfragmente als
(temporäre) Lückenfüller
Freiraum als
Grundfigur
Freiraumstruktur
Kontrahierte Stadt
Außenraum
Freiraum als
Außenraum
Zwischenraum
Freiraum als konstanter
Rahmen
Abbildung 24: Bedeutung der Stadtmodelle unter Schrumpfungsbedingungen für die
Freiraumstruktur (Eigene Darstellung).
In der Kontrahierten Stadt stellt sich Freiraum vor allem als Außenraum dar. Der Gegensatz von Stadt und Land wird verstetigt. In den Randbereichen würden durch Renaturierung neue Landschafts- und Erholungsräume entstehen. Parallel können vorhandene oder auch durch Umstrukturierung neu entstehende Freiräume in den Städten durch die Notwendigkeit baulicher Innenentwicklung verloren gehen. So entstehen
Nutzungskonkurrenzen bei der Versorgung mit wohnungsnahen Freiräumen im Innenbereich. Dem Verlust der kleinen, wohnungsnahen Freiräume steht dabei die Erhaltung und evtl. auch Neuschaffung von Freiräumen am Stadtrand bzw. im Außenbereich gegenüber. Sowohl die Freiräume im Innenbereich als auch im Außenbereich
werden vermutlich mit „konventionellen“ Nutzungen und Gestaltungen belegt. Das
heißt, das klassische Freiraumrepertoire wird für die innere Stadt angewendet, und am
Stadtrand wird Land- und Forstwirtschaft sowie Naturschutz betrieben.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
In Fragmentierten Städten erfolgt die innere Gliederung der Stadt durch das öffentliche
Raumsystem und vor allem durch Grünzüge. Für die Freiraumentwicklung bietet sich
zunächst die Chance einer guten (quantitativen) Freiraumausstattung in der Nähe der
Wohnorte. Im Hinblick auf fehlende Verwertungsideen und -mittel kann Nichtnutzung
bzw. -gestaltung allerdings schnell den Eindruck der Verwahrlosung und des Niedergangs erwecken. Diese diffizile Gratwanderung stellt in vielen Bereichen eine große
Herausforderung für die Stadtentwicklung dar. Abhängig von der Körnigkeit und Vehemenz der Fragmentierung stellt sich die Frage, wie sich die randstädtischen Bereiche
entwickeln (BBR 2004, S. 117): Entstehen „Landschaftshybride“, durchsetzt mit Resten von Infrastruktur oder gelingt ein konsequenter Rückbau zugunsten der Landschaftsentwicklung und Bildung zusammenhängender Landschaften? Ob dabei nur
„… die Dimension des Landschaftlichen an Bedeutung …“ (Giseke 2004, S. 670)
gewinnt oder auch die Frage deren Gestaltung und Nutzung, wird die Wahrnehmung
der (freiräumlichen) Qualitäten der schrumpfenden und fragmentierten Stadt stark
beeinflussen. Bei der Ausprägung der Freiräume zwischen den urbanen Inseln wird es
zum einen um landwirtschaftlich genutzte Flächen und zum anderen um (neuartige)
Erholungslandschaften gehen. Es ist zu erwarten, dass je nach funktionaler Zuordnung
und städtebaulicher Ausprägung auch innerhalb dieser Kerne verschiedenartige Freiräume entstehen. Freiraum übernimmt hier die Funktion von Zwischenräumen, die
ganz entscheidend sind für die Wahrnehmung eines zusammenhängenden Stadtgefüges. Dabei verschwimmt in der Stadtregion teilweise der Gegensatz von Stadt und
Land, und die Bedeutung der Zwischenzonen wächst. Zunächst handelt es sich um
Resträume, die mehr oder weniger geplant im gesamten Stadtraum auftreten können.
Die funktionale Zuordnung beinhaltet Schwierigkeiten und erfordert neue Gestaltbilder. Darüber hinaus sind neue Zuständigkeiten und unkonventionelle Ansätze der
Landwirtschaft und der Landschaftsplanung notwendig.
In der Perforierten Stadt muss Freiraum entstehende Lücken im Stadtraum füllen. Die
zufällig entstehenden Freiräume bilden dabei Fragmente, ein zusammenhängendes
Freiraumsystem entsteht nur schwerlich. Kleinräumig können durch diese
eingesprenkelten Freiräume durchaus Wohnumfeldqualitäten entstehen und damit
eine verbesserte Versorgung mit wohnungsnahen Freiräumen im Innenbereich erreicht
werden. Allerdings stellt sich die Frage ihrer Dauerhaftigkeit. Eine langfristig strategische Freiraumentwicklung ist bei diesem Stadtmodell kaum möglich. Es ist fraglich
inwieweit Grün überhaupt „eine neue hinreichende Membran“ (Doehler-Behzadi,
Schiffers 2004, S. 37) zwischen den Räumen bilden kann. Für die freiraumplanerischen
Zwischennutzungen bedarf es neuer Freiraumformen und -nutzungen.
Löst sich die Stadt in die Region auf, so wird Freiraum zur eigentlichen Projektionsfläche städtischer Nutzungen. Dieser Basisraum wird kaum noch als städtisches bzw. die
Stadt konstituierendes Element wahrgenommen. Es wäre zu erwarten, dass sich seine
Ausprägung wieder an der ursprünglichen Landschaft anlehnt.
221
222
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Die Übersicht zeigt, dass insbesondere bei Modellen, die der Idee der Fragmentierung
des Stadtkörpers folgen, von einem hohen Gestaltungsbedarf, aber auch -anspruch
des Freiraums ausgegangen werden kann. Räumlich und quantitativ kommt dem Freiraum durchaus eine wachsende Bedeutung zu. Allerdings gehen die (theoretischen)
Modelle nur selten bewusst von der Beschreibung des Freiraums aus und liefern so
auch wenig Anhaltspunkte für Funktion und Gestalt dieser Räume. Soll Freiraum mehr
als nur das Weichbild der Bebauung sein, sind Zukunftsaussagen zu seiner Funktion
und Gestalt notwendig. Denn nur durch seine Präsenz kann er noch keine strukturellen
Funktionen übernehmen. Die städtebaulichen Realitäten in schrumpfenden Städten
machen deutlich, dass die aktuelle Planung gar nicht machbar ist ohne eine explizite
Einstellung zur Landschaft. Städtebau und Landschaftsarchitektur müssen sich annähern bei einer gleichberechtigten Behandlung der jeweiligen Eigenarten (Bormann et
al. 2005, S. 136). Dies setzt eine Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Landschaft vor allem hinsichtlich der Beziehung von Freiraum und Gebautem voraus (Kapitel B.2).
Hypothese
‚ Die räumliche Schrumpfung kann in betroffenen Städten nach unterschiedlichen
Mustern ablaufen. Entsprechend der Prinzipien der Schrumpfung sind vier Stadtmodelle – Kontrahierte, Fragmentierte, Perforierte und Disperse Stadt – denkbar. Diese
unterschiedlichen Stadtmodelle bilden grundlegende räumliche Rahmenbedingungen für die Verteilung und Struktur der Freiräume in schrumpfenden Städten.
1.6
Städtebauliche Leitbilder unter Schrumpfungsbedingungen
Die Diskussion um schrumpfende Städte scheint die Leitbilddebatte erneut angefacht
zu haben. Ein Schwerpunkt liegt dabei – begründet durch die enormen
Leerstandszahlen und die sich daraus ergebenden stadträumlichen Problemstellungen
– auf sektoralen und physisch-räumlichen Zielvorstellungen (Lang, Vogler 2004, S. 74).
Die bestehenden städtebaulichen Leitbilder können dabei nicht einfach auf Schrumpfung umgemünzt und in ihrer Entwicklungsrichtung umgekehrt werden. Sowohl in der
Literatur als auch in der Planungspraxis finden sich eine Reihe von theoretischen Ansätzen, die versuchen, die neuen Raumgefüge und Stadtstrukturen zu begreifen und
zu entwickeln.
Die im Folgenden dargestellten Ansätze unterscheiden sich untereinander und im Vergleich zu historischen städtebaulichen Leitbildern deutlich hinsichtlich der Tiefe der
Diskussion, der Prägnanz ihrer Aussagen, ihres Maßstabes und ihrer Allgemeingültigkeit. Nichtsdestotrotz können sie herangezogen werden, um die Bandbreite der städtebaulichen Leitvorstellungen, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit
Schrumpfungsbedingungen, im Spannungsfeld theoretischer Überlegungen und der
Anwendbarkeit in betroffenen Städten zu verdeutlichen. Städtebauliche Leitbilder, wie
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
sie in dieser Arbeit verstanden werden (siehe Kapitel C.1.1), sind schon immer eng mit
der städtebaulichen Realität verzahnt und häufig auch auf konkretere Stadtsituationen
bezogen gewesen. Insofern können auch Ansätze, die gegenwärtig nur für eine einzelne Stadt entwickelt wurden – insofern sie theoretische Bezüge aufweisen und abstrakt genug sind, um auch in anderen Städten anwendbar zu sein – an dieser Stelle
dargestellt werden. Dies sagt nichts über ihre Robustheit und Langfristigkeit aus – auch
die heute als historische Leitbilder diskutierten, wurden erst im Nachgang als solche
bezeichnet. Insofern handelt es sich hierbei um eine Momentaufnahme, die weder
vollständig ist, noch etwas über den Bestand der einzelnen Leitbilder in Zukunft voraussagen kann. Sollte die Feststellung, dass „… die wirkmächtigsten Raumbilder des
20. Jahrhunderts alle in Zeiten der Not und fundamentaler ökonomisch-technischer
Umbrüche geboren wurden …“ (Christ 1998, S. 475) zutreffend sein, so haben unter
Schrumpfungsbedingungen entwickelte Leitbilder vielleicht auch das Potenzial, ähnlich
grundlegende Ansätze, wie die „Gartenstadt“, die „Stadtlandschaft“ oder den „Sozialistischen Wohnkomplex“, in die Städtebaudiskussion einzubringen.
LANG und VOGLER unterscheiden bei unter Schrumpfungsbedingungen entwickelten
Leitbildern (1) „sektoral städtebaulich motivierte“ und (2) „integrierte“ Leitbilder
(Lang, Vogler 2004, S. 76 ff.). Erstgenannte folgen den drei grundsätzlich möglichen
Handlungsoptionen: der „passiven Sanierung“ im Sinne eines Vertrauens auf sich
selbst regulierende Prozesse, der „Konzentration“ im Sinne des Schrumpfens des
Stadtkörpers von außen nach innen oder der „Auflockerung“ bzw. „Dispersion“ im
Sinne der dezentralen Entwicklung des Stadtkörpers. Diesen Optionen zuzuordnen
wären demnach die Leitbilder auf der Meso-Ebene: die „Perforierte Stadt“ und die
„Hybride Stadt“. Daneben gibt es integrierte Leitbilder als gesamtgesellschaftlich orientierte Lösungsansätze, verstanden als Meta-Leitbilder, die allerdings noch nicht weit
verbreitet sind, wie z. B. die „Lean City“.
Die unter Schrumpfungsbedingungen diskutierten (städtebaulichen) Leitbilder lassen
sich erneut den bekannten Polen der Vorstellung des Stadtkörpers zuordnen: Leitbilder, die auf die kompakte Stadtform abzielen (Kapitel C.1.6.1), stehen eher gegliederten Strukturen gegenüber (Kapitel C.1.6.2). Eine kompakte Stadtform steht dabei in
den meisten schrumpfenden Städten nach wie vor im Vordergrund der Bemühungen.
Allerdings ist die Vielfalt der Ansätze, insbesondere in stark schrumpfenden Städten, in
der Kategorie der gegliederten Stadt ungleich größer. Die für Schrumpfungsbedingungen entwickelten städtebaulichen Leitbilder werden, insbesondere im Hinblick auf
Aussagen zur Freiraumentwicklung dargestellt und hinsichtlich ihrer Eignung und Anwendung in schrumpfenden Städten erörtert (Kapitel C.1.6.3).
1.6.1 Leitbilder in Orientierung am Modell der Kompakten Stadt
Die Ansätze zu einer Kompakten Stadt unter Schrumpfungsbedingungen zeugen von
der Persistenz des Bildes der „Europäischen Stadt“ mit seiner klar definierten räumli-
223
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C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
chen Ausprägung. Es besteht die Hoffnung, nun die reale Chance einer Umsetzung zu
haben.
Rezentrierte Stadt
Die „Rezentrierte Stadt“ – zunächst als Alternative zur „Perforierten Stadt“ diskutiert,
steht für einen offensiven Umgang mit räumlichen Schrumpfungsprozessen (Eichstädt
2001, S. 38). Durch das kontrollierte Schrumpfen des Stadtkörpers von außen nach
innen“ soll eine Konzentration städtischer Nutzungen und baulicher Strukturen erreicht
werden. Randstädtische Siedlungen sollen dabei aufgegeben und abgerissen werden.
Frei werdende Flächen der inneren Stadt bieten Potenziale, Nutzungen aus den Randbereichen aufzunehmen (Lang, Vogler 2004, S. 77). In der inneren Stadt droht dabei
wiederum der Verlust von Freiraumpotenzialen. Konsequent wird das Zurückziehen
der Stadt aus ihren Randbereichen durch die Renaturierung der Flächen (Reuther
2002b, S. 15).
Schlanke Stadt
Das Konzept der „Lean City“ wird als umfassender Stadtentwicklungsansatz unter
Schrumpfungsbedingungen verstanden. Als Gegenmodell zur „Schrumpfenden Stadt“
stehen vor allem stadtgesellschaftliche und prozessuale Aspekte der Stadtentwicklung
im Mittelpunkt. Darüber hinaus werden auch Aussagen zur räumlichen Entwicklung
formuliert (Lang, Tenz 2003, S. 137 ff.). Städtebauliches Ziel der „Lean City“ ist es,
historische Stadtstrukturen und wichtige funktionale Zusammenhänge zu erhalten und
diese als kulturelles und baugeschichtliches Potenzial anzuerkennen und zu nutzen.
Eine Auflösung und Zerstückelung gewachsener Stadtstrukturen soll vermieden werden. Unvermeidbare Abrisse dienen der nachfrageorientierten baulichen Entwicklung
oder Wohnumfeldverbesserung. Dies soll durch die Maßgaben Innen- vor Außenentwicklung, Bestandsentwicklung, Entwicklung eigentumsorientierter und freiraumbezogener innerstädtischer Wohnstandorte, Anpassung des Wohnungsbestandes an Nutzerbedürfnisse und insgesamt die Erhöhung der Lebens- und Umweltqualität unterstützt werden. Neben der Orientierung auf Wohnqualitäten steht die Freiraumentwicklung – auch vor dem Hintergrund zu entwickelnder ökologischer Qualitäten – im
Mittelpunkt des Interesses. Es wird eine Fokussierung auf eine kompakte Stadtstruktur
deutlich, wobei besonderes Augenmerk auf die Entwicklung des Stadtzentrums und
der Stadtteilzentren gelegt wird (ebd., S. 141 ff.).
Ähnliche Ansätze werden in dem Szenario „Bad Schlankstadt“ zu Grunde gelegt
(Fuhrich 2003, S. 600 ff.). Rückbau nicht mehr zukunftsfähiger Baubestände, die Renaturierung nicht mehr benötigter Flächen, die Fokussierung auf die Kernstadt und
neu geschaffene (frei-)räumliche Qualitäten führen zur Herausbildung einer Stadt, die
sich mit neu gewonnenen Lebens- und Umweltqualitäten trotz Schrumpfungserfahrungen und -erfordernissen stabilisiert. Die Idee, Schrumpfung als positiven Entwick-
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
lungsimpuls umzudeuten und damit eine schlankere, langsamere (im Sinne einer lebenswerteren Stadt) und am Ende nachhaltigere Stadt zu entwickeln, geht dabei natürlich über städtebauliche Fragestellungen hinaus. Dies kann in diesem Sinne als Leitbild auf der „Meta-Ebene“ gedeutet werden, welches integrierte und stadtgesellschaftliche Intensionen verfolgt (Lang, Vogler 2004, S. 81).
1.6.2 Leitbilder in Orientierung am Modell der Gegliederten Stadt
Die Akzeptanz des Wegfallens von Nutzungen und Gebäuden im Stadtkörper geht
meist einher mit dem Anspruch, verbleibende und teilweise auch neu hinzukommende
Nutzungen in Kernen zu bündeln, um diese zu stabilisieren. Zentral ist in der so gegliederten Stadt der Ansatz, auf brachgefallenen Flächen in der Stadt (grüne) Freiräume zu
etablieren (ebd., S. 78). „Es sind vielleicht eher Schollen und dazwischen ist Landschaft
– außen und innen, alte und neue. […] Insbesondere an den freigewordenen und
heute untergenutzten Flächen des Industriezeitalters können wir neue innere Peripherien ausmachen (und gestalten). Sie entschädigen uns für den Verlust der Landschaften an den vermeintlich äußeren Peripherien. Das ist eine Bereicherung. Vielleicht ist es
irgendwann sogar das Gegenbild zu extensivem Wachstum“ (Oswalt, Overmeyer
2001, S. 5). Die aktuell formulierten Ansätze haben ihren Ursprung in den Auflockerungsbestrebungen des Städtebaus, welche im Leitbild der „Gegliederten und aufgelockerten Stadt“ bzw. der „Stadtlandschaft“ gipfelten.
Perforierte Stadt
Oben wurde dargelegt, dass der Perforationsbegriff anfangs nicht als Leitbild diskutiert
wurde (Kapitel C.1.5.1). Im Verlauf der Diskussion kann aber doch ein Wandel hin zu
einer städtebaulichen Zielvorstellung beobachtet werden: Im Hinblick auf die künftige
Entwicklung kann der Begriff der perforierten Stadt zum einen als „konkrete Gefährdung“ und zum anderen als die Möglichkeit des Wandels (meist gründerzeitlicher)
Stadtquartiere beschrieben werden. „So wird die perforierte Stadt vom Realitätsmodell
zur Zukunftsaussage“ (Doehler-Behzadi, Schiffers 2004, S. 37) und ist gleichzeitig
„… kein generelles Leitbild des ostdeutschen Stadtumbaus, sondern […] nur eine
begrenzte Strategie für besondere innerstädtische Räume“ (Lütke Daldrup 2003,
S. 10).
Das Konzept der „Perforierten Stadt“ wie es ursprünglich beschrieben und für Leipzig
als Lösungsansatz diskutiert wurde, verfolgt grundsätzlich das Ziel einer nachhaltigen
Stadtentwicklung. Unter der Anerkennung notwendiger Abrisse und Entdichtung wird
weiter an den Zielen einer kompakten, europäischen und gemischten Stadt festgehalten. Trotz Perforation sollen „keine zu großen Löcher in der inneren Stadt entstehen“
(Lütke Daldrup 2001a, S. 43). Es wird deutlich, dass das Leitbild der „Perforierten
Stadt“ für Leipzig nie ein Plädoyer für die Auflösung der Stadt war: „In der so ‚perforierten’ alten Stadt soll der Baublock als stadträumliche Syntax nicht aufgegeben wer-
225
226
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
den, allerdings in geringerer Dichte und in Richtung offenerer Strukturen weiterentwickelt werden“ (Lütke Daldrup 2001a, S. 44). Darüber hinaus ist man sich aber durchaus bewusst, dass in einigen Stadtgebieten diese Form der Bestandsreduzierung nicht
ausreichen wird. In diesen Gebieten wird dann auch von flächigeren Rückbauansätzen
ausgegangen.
„Ökologisch und sozial begründete“ Freiräume stellen dabei ein mögliches Element
zur Besetzung der Perforationsflächen dar (ebd., S. 44). Der auch in perforierten Städten weiter vorhandene städtische Kontext und der Anspruch der Erhaltung des städtischen Kontinuums im Sinne städtebaulich definierter Räume und Kanten erfordert
Freiräume, die dies trotz finanzieller Schwierigkeiten bei der Gestaltung und Unterhaltung leisten können. Auch hier spielen Zwischennutzungen eine große Rolle – allerdings eher im Sinne der schnellen Besetzung der Flächen, als mit der klaren Option
baldiger Bebauung im Sinne der „Europäischen Stadt“.
Stadtinseln
Ausgehend von der Frage, wie eine Stadt in Zukunft aussehen wird, die in einem Zeitraum von 25 Jahren 50 % ihrer Bevölkerung verlieren wird, wurde für Dessau die Idee
einer städtischen Neugliederung entwickelt. Aufgrund des Modellcharakters kann
dieser konkrete Ansatz an dieser Stelle auch als mögliches städtebauliches Leitbild
eingeordnet werden. Die Dimension des Schrumpfungsprozesses in Dessau erfordert
eine „… radikale räumliche Neukonfiguration des städtischen Gefüges …“ (Brückner
2007, S. 8). Die historisch entstandene Stadtstruktur – gekennzeichnet durch mehrere
Siedlungskerne, große Kriegsschäden, Wohnungs- und Gewerbeentwicklung während
der DDR-Zeit und vernachlässigte Altbausubstanz – ist sehr heterogen und lässt kein
ausgeprägtes Stadtzentrum erkennen. „Ein ‚konzentrisches Schrumpfen’ kommt deshalb nicht in Frage“ (IBA-Büro 2007, S. 134).
Damit der notwendige Rückbau nicht als
beliebige Perforation des ohnehin schon
fragmentierten Stadtraums erfolgt, wurde eine Umbau- bzw. Schrumpfungsstrategie entwickelt, die der Idee der
„Stadtinseln“ folgt – räumlich ausgeprägt als urbane Kerne und landschaftliche Zonen (Abbildung 25). Durch die
Verdichtung offener Stadtstrukturen
wird auf die Erhaltung und Schaffung
neuer Qualitäten abgezielt.
Abbildung 25: Verinselungsstrategie Dessau
(Brückner 2007, S. 11).
Dabei wird formuliert: „In der Ausdifferenzierung von großzügigen Freiräumen und
urbanen Kernen sieht Dessau eine Chance, durch Massstabsgewinn (!), Verzahnung
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
mit der Landschaft, Konzentration von Ressourcen, vielleicht auch Rückbau von Bauund Siedlungsfehlern an urbaner Qualität zu gewinnen“ (Brückner 2004, S. 6). Der
„gestaltende Rückbau“, verstanden als ein zeitlich und räumlich flexibles Planungskonzept, kann über einen Zeitraum von bis zu 30 Jahren einen ca. 90 ha umfassenden
Landschaftszug entstehen lassen. Diese neue „Stadtlandschaft“ soll zum einen die
Stadt neu gliedern und durch Nähe zum Grün neue Wohnlagen schaffen und bietet
zum anderen neue Möglichkeiten für Freiraumnutzungen, die bisher eher am Stadtrand oder im suburbanen Raum denkbar waren. Zusammen mit einer Konzentration
auf die urbanen Kerne soll dies zur Stabilisierung der gesamten Stadt beitragen
(Brückner 2007, S. 8). Durch die Stärkung der Kerne soll die Entstehung des Landschaftszugs indirekt mit gefördert werden: Dabei soll „… einmal nicht vom Freiraum,
also vom ‚Freiräumen’ der Fläche durch Abriss her …“ gedacht werden (Brückner
2004, S. 21).
Diese Methode erfordert die Auseinandersetzung damit „welche Landschaft wir wollen“, um die neuen Freiflächen zu besetzen.153 Dabei erhält die Landschaft „… durch
ein Repertoire an klar definierten und begrenzten Modulen von Wald, Wiesen, Feldern, Blumen oder Ruderalflächen ein eigenes Bild“ (ebd., S. 8). Dieses deutliche Bild
schafft eine neue Identität des entstehenden Freiraums. Der Landschaftszug soll dabei
aus drei definierten Modulen entstehen: (1) Wiesen mit Eichengruppen als übergeordnete Struktur, die den Landschaftszug deutlich erkennbar machen sollen, (2) Pflegestreifen, die naturnahe und Sukzessionsbereiche als kultivierte Landschaft erkennbar
machen sollen und (3) Flächen, die durch unterschiedliche Akteure in Kultur genommen werden (claims) (ebd, S. 8).
Im Diskussionsprozess wurde das Potenzial des umgebenden Landschaftraums des
Dessau-Wörlitzer Gartenreichs genutzt und der Leitgedanke „Das Gartenreich in die
Stadt holen“ formuliert: Bilder des umgebenden Dessau-Wörlitzer-Gartenreiches – die
typischen Auenwiesen mit den Eichengruppen (Quincunx) – werden aufgenommen
und neu interpretiert. Einschürige Wiesen mit Pflegestreifen und „Stempel“ aus Eichengruppen markieren den neuen Landschaftszug. Dieses Bild soll „… zunächst als
Marke, später […] vielleicht auch als Programm“ etabliert werden (ebd., S. 40).
Gleichzeitig kann mit dieser Ausprägung der Landschaft und dem Pflegeansatz über
Gestattungsverträge mit einzelnen für Module zuständigen Paten ein Weg der dauerhaften und tragfähigen Unterhaltung der Flächen gefunden werden: „… denn die
‚billigste’ gestaltete Landschaft ist eine durch Nutzung kultivierte Landschaft“ (ebd.,
S. 49). Erste Nutzungen verdeutlichen die Breite der Ansätze: Kräuter-Apothekergarten, interkulturelle Gärten, Experimente mit nachwachsenden Rohstoffen (Brückner
2007, S. 10).
153
Brückner, Heike: Vortrag auf der BDLA-Tagung „Best Practice im Stadtumbau“ am 07.11.07 in
Leipzig.
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C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Freiraum wird hier eine starke und Stadt konstituierende sowie imagebildende Bedeutung und Aufgabe zugesprochen. Man bedient sich schon vorhandener, außerhalb des
Städtischen verwendeter Landschaftselemente, wenngleich auch diese nicht natürlich,
sondern aufgrund menschlicher gestalterischer Eingriffe zu diesen geworden sind. Der
Anspruch des Stadtumbaus ist dabei nicht weniger als die Ausbildung einer neuen
„Stadt-Landschaft“ (Brückner 2004, S. 9).
Kern und Plasma
Dies hier als Leitbild eingeordnete Modell der Stadtschrumpfung wurde für die Bewältigung der starken Schrumpfungsauswirkungen im Leipziger Osten entwickelt.154 Trotz
seiner Ortsbezogenheit kann es als prägnantes und allgemein gültiges Leitbild und
damit im Sinne eines theoretischen Ansatzes erörtert werden. Einem radikalen Szenario
des flächenhaften Rückzugs und dem Erhalt weniger vitaler Kerne folgend, können
zwei Stadtbereiche – „Kern“ und „Plasma“ – gekennzeichnet durch eine unterschiedliche Regelungsintensität, unterschieden werden. Erweitert wird dies durch das „freie
Band“ als konzentrierte Rückbauzone (Stadt Leipzig 2003a, S. 14; Oswalt 2005b,
S. 220):
‚ In den „Kernen“ sollen städtische Nutzungs- und Baustrukturen in der heutigen
Dichte als „Inseln der Europäischen Stadt“ erhalten werden.
‚ Das „Plasma“, gekennzeichnet durch einen besonders hohen Bedeutungs- und
Funktionsverlust, besteht aus Verfügungs- und Entwicklungsräumen, die sich weitgehend frei von Regeln und Planungsvorgaben entwickeln sollen. Je nach Verteilung und Lage werden „lautes“ (starke Verkehrsbelastung) und „leises“ Plasma
(lichte Haine mit neuen Wohnformen) unterschieden. Die Brachflächen im „lauten
Plasma“ werden mit Wald bepflanzt („Waldstadt mit Gewerbe“). Im „leisen Plasma“ entstehen auf Brachen Gärten, die bei einer möglichen Aktivierung der Gebiete
als Wohnstandorte auch wieder aufgegeben werden können.
‚ Das „Freie Band“ soll aus weiten, benutzbaren und aktivierenden Freiräumen als
neue Ränder für die zu erhaltenden Kerne entwickelt werden.
Die Bedeutung des Freiraums in diesem Ansatz tritt vor allem in den unterschiedlichen
Kategorien des Plasmas und des freien Bandes hervor. Verschiedene Parkelemente
tragen dabei das Konzept und qualifizieren die einzelnen Räume. Deutlich wird das
Verwenden konventioneller Freiraumtypen (Parks), vor allem in unmittelbarer Nähe zu
Wohngebieten. Auf neuartige Gestalt- und Nutzungstypen wird in Räumen des
„Plasmas“ zurückgegriffen, die auch einen neuen städtebaulichen Typus darstellen.
Hier kommen Elemente der – vermeintlich vor der Stadt liegenden Landschaft – zum
154
Im Rahmen eines kooperativen Gutachterverfahrens wurden unterschiedliche Ideen zum Umgang
mit einschneidenden räumlichen Schrumpfungsprozessen im Leipziger Osten entwickelt. „Kern
und Plasma“ ist der Beitrag der Leipziger Architektengruppe L 21.
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
Tragen. Wald, Hain und Wiese zeugen zum einen vom Verständnis der Neuartigkeit
dieser städtischen Räume und zum anderen von der direkten Adaption naturräumlicher
Elemente – stärker als es klassische städtische Freiräume bisher taten. Wenngleich die
Verwendung der Begriffe, und an diese Bilder angelehnte freiraumplanerische Projekte,
nicht allzu viel mit den ursprünglichen Landschaftselementen zu tun haben. Darüber
hinaus wird das Verwenden verschiedener Freiraumtypen für unterschiedliche Zeithorizonte deutlich.
Hybride Stadt
Die Vision der „Präriestadt“ reagiert auf die „doppelte Dispersion der Siedlungsstruktur“ (Perforation und Suburbanisierung) mit der Folge, dass „überkommene Stadtstrukturen erodieren“. Das Leitbild soll eine Antwort auf die Frage darstellen, wie eine
Stadt mit geringerer Dichte aussehen und welche Qualitäten sie haben kann. Dieser
Ansatz schafft ein Gegenbild zum klassischen Stadtverständnis. Die Präriestadt wird
dabei als „Hybrid von extensivem Landschaftsraum (Prärie) und Stadt als kompakte
Siedlungsform“ entwickelt (Oswalt, Overmeyer 2001, S. 50 ff.). Sie ist dabei gekennzeichnet durch eine kleinräumige Durchmischung unterschiedlicher Bebauungs- und
Freiraumtypen. Die bisher bekannten Typologien werden dabei verändert und damit
die Nutzungsangebote erweitert. Einige Nutzungen werden räumlich auf Kerne konzentriert, andere können sich ausdehnen oder neue Räume besetzen. Diese hybride
Stadt ist vor allem charakterisiert durch eine Vielzahl von Rändern, die Übergänge
markieren. Das dynamische Flächennutzungsmuster bezeichnen die Autoren als „urbane Dreifelderwirtschaft, in der Brachen nicht Zeichen des Verlustes, sondern Zonen
des Zukünftigen sind“ (ebd., S. 55).
Dieses Leitbild erfordert eine ganze Reihe von Freiraumtypen, die Antworten auf die
unterschiedlichen Dimensionen geben und Anforderungen der freien Flächen erfüllen:
Die fragmentierte Blockrandbebauung der Gründerzeitviertel „wird durch parkartige
Gärten zum Stadtpalais umgedeutet“ (ebd., S. 57). „Flurwärter pflegen die agrarisch
geprägten Freiräume“ und „neue Gebäudetypen wie Baumhäuser kolonisieren die
extensive Stadtlandschaft“ (ebd., S. 58 f.). Im Gegenzug können in entdichteten
Quartieren „Vegetation und Tiere kolonisiert und somit zu einer touristischen Attraktion“ werden (ebd., S. 62). Diese Ansätze haben zwar einen utopischen Charakter,
verdeutlichen aber die Notwendigkeit, gänzlich neue Freiraumtypen zu denken.
1.6.3 Fazit: Neuorientierung städtebaulicher Leitbilder in schrumpfenden Städten
In der Phase des Stadtumbaus setzt die Planungspraxis verbreitet auf die Steuerungskraft städtebaulicher Leitbilder. Wenngleich die professionelle Diskussion die Wirksamkeit aktuell entwickelter Leitbilder in Frage stellt, ist dies derzeit noch nicht absehbar
(Jessen 2006, S. 40 f.). Leitbilder in schrumpfendem Städten dienen dabei weniger der
eigentlichen Steuerung, sondern sind eher „Referenz- bzw. Konsenspunkt innerhalb
229
230
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
des komplexen Prozesses von Stadtentwicklung“ (Sturm 2007, S. 54). Sie sind Ausdruck der Integration verschiedener Interessen und somit wichtiger Bestandteil einer
Konsensfindung in einer Stadt, enthalten aber auch normative Aussagen, welche wiederum auch räumlich verortet dargestellt werden (ebd., S. 54). Die Frage nach Leitbildern für die (schrumpfende) Stadt erübrigt sich nicht – allerdings geht es heute mehr
um einen „Qualitäts- und Quantitätskorridor als um ein konkretes, fertiges Leitbild“
(Doehler-Behzadi, Schiffers 2004, S. 47). Indem Leitbilder „… allen Akteuren dazu
verhelfen, eine gemeinsame Orientierung zu gewinnen und ihre Zielvorstellungen
aneinander anzugleichen“ (Naegler 2007, S. 19), sind sie, insbesondere in schrumpfenden Städten, geeignet, stadtplanerische Zielstellungen vor dem Hintergrund gegenläufiger Akteursinteressen zu formulieren. Weiterhin liegt in ihrer Zweckbestimmung,
auf (räumliche) Veränderungen zu antworten (Becker et al. 1998; Hahn 2001, S. 169),
ein explizites Anwendungsfeld in der schrumpfenden Stadt.
Während STREICH 1988 noch konstatiert: „Nun mag ein auf Schrumpfung ausgerichtetes städtebauliches Leitbild nicht sonderlich attraktiv erscheinen, weil damit die traditionellen Klischees des Größer, Höher, Mehr, mit denen sich die Stadtoberen allenthalben zu schmücken pflegten, langsam nicht mehr gelten“ (Streich 1988, S. 129), kann
man aktuell in den schrumpfenden Städten durchaus von einer weit verbreiteten Verwendung von Leitbildern sprechen. Wenngleich teilweise Schrumpfungsfolgen negiert
oder zumindest kaschiert werden sollen, so versucht man doch, die positiven Seiten
der Schrumpfung herauszuheben bzw. in ein positiv besetztes Merkmal zu wandeln.
Deutlich wird, dass viele Städte – nicht unbedingt chancenlos – das Leitbild der „Europäischen Stadt“ forcieren. Dieses scheint den Paradigmenwechsel von der wachsenden
zur schrumpfenden Stadt zu überdauern. Parallel gibt es aber auch zahlreiche Städte,
die sich eher an der gegliederten Stadt orientieren (Jessen 2006, S. 37). Insofern kann
man vermuten, dass die Epoche des Stadtumbaus räumlich unterschiedliche, und teilweise sogar in einer Stadt parallel anwendbare Leitbilder hervorbringt. Wachstum und
Schrumpfung und ihre jeweiligen freiraumplanerischen Antworten sind in der Städtebaugeschichte tief verankert – unabhängig ob als „natürliche“ Entwicklung oder in
städtebaulichen Leitbildern definiert. Es ist davon auszugehen, dass auch künftige
Stadtentwicklung und die formulierten Strukturmodelle von beidem ausgehen müssen
und stadtspezifische Ansätze von Nöten sind (Nagel 2007, S. 219).
Kompakte Stadt?
Bedeutet Schrumpfung eine Renaissance der kompakten Stadt? So sehr wie Kompaktheit vor allem unter Schrumpfungsbedingungen sinnvoll zu sein scheint, so kritisch
wird deren Realisierbarkeit eingeschätzt: „Es wäre zu einfach, Schrumpfung per se als
physisch-geometrisches ‚Zurückziehen auf den Kern’ zu interpretieren“ (Hesse 2005,
S. 181). Dies ist vor allem mit den auch unter Schrumpfungsbedingungen (noch) vorhandenen Mechanismen des Bodenmarktes, dem Mobilitätsverhalten und den Wohn-
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
präferenzen der Bevölkerung zu begründen. Die Erhaltung bzw. Neuschaffung einer
kompakten Stadt mit einer effizienten Infrastrukturversorgung wird im Stadtumbau
von vielen schrumpfenden Städten forciert (BMVBW, BBR 2003a, S. 23). Die fortschreitende Stadtumbaupraxis verdeutlicht aber die Schwierigkeiten der Umsetzbarkeit
dieses Leitbildes. Die Umsetzungshemmnisse liegen dabei vor allem in den (wohnungs)wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese ergeben sich aus dem Alter und der
Verteilung der Wohnungsbestände und den Belangen der Eigentümer sowie den
Wohnpräferenzen und einer Innenentwicklung noch immer konträr gegenüberstehenden Förderbedingungen. Betroffene Städte betrachten ihre Stadtentwicklung daher
zunehmend differenzierter und lösen sich zumindest teilweise von diesem dogmatischen und kaum realisierbaren Leitbild für den Stadtumbau.
Vermutlich werden Fragmente der kompakten Stadt weiter Bedeutung haben und als
Netzknoten der gegliederten Stadt erhalten bleiben. Parallel werden sich aber der
Trend zur Ausdehnung und Entdichtung der Siedlungsstruktur fortsetzen. Dabei stehen
verschiedene heterogene Fragmente funktionaler und baulicher Struktur – dies schließt
auch Freiräume ein – nebeneinander (Hesse 2005, S. 182).
Die „Perforierte Stadt“ erkennt die Entdichtungsnotwendigkeiten in der schrumpfenden Stadt an, ohne das Bewusstsein für die nachhaltige und damit meist auch „Europäische, kompakte Stadt“ ganz aufzugeben. In der Konsequenz wird dann auch ein
Bild „… stabilisierbarer Kerne und libertär und flexibel entwickelten ‚Plasmas’ der großen Zwischenfelder zwischen der ‚Traditionsinseln’ …“ gezeichnet (Lütke Daldrup
2001a, S. 45). So findet sich in der schrumpfenden Stadt vermutlich beides: „Das traditionelle Leitbild zum Erhalt subsistenter Stadtstrukturen, abgebildet in den urbanen
Kernen […] [und das] Pendant der sich entleerenden Stadt, dem Plasma der perforierten Stadt“ (Doehler-Behzadi 2005, S. 181). In Leipzig scheint man sich darüber einig
zu sein, dass die „ ‚Perforierte Stadt’ als Reproduktionsform und neue Spielart der
‚Europäischen Stadt’ zu verstehen ist“ (ebd., S. 182) – und weniger als eigenständiges
städtebauliches Leitbild.
Gegliederte Stadt?
Schrumpfung als Möglichkeit der Gliederung und Durchgrünung der Stadt zu nutzen,
ist kein neuer Ansatz (Kilian 2005). Die Herausforderungen der Weltwirtschaftskrise
oder die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, verbunden mit teilweise erheblichen
Bevölkerungsverlusten, waren oft auch mit der Hoffnung verbunden, die Ideen des
modernen Städtebaus umzusetzen. Die „Schrumpfungspläne“ (z. B. für Dessau und
Magdeburg von HOFFMANN) folgten pragmatisch der Idee der „Gegliederten und
aufgelockerten Stadt“ und sahen vor, die Stadtfläche mit Grün zu gliedern und aufzulockern (Kilian 2005, S. 511; Durth 1990, S. 14).
231
232
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
In der Zusammenschau der aktuell diskutieren Leitbilder wird deutlich: Das Ziel der
Kompaktheit spiegelt sich im Leitbild der „Europäischen Stadt“ wider. Perforation wird
im Grunde kaum als eigenständiges Leitbild formuliert. Die Ansätze, die dem Modell
der Gliederung zugeordnet werden können, sind zahlreich. Ihre Grundannahmen und
Planungsaussagen unterscheiden sich dabei weniger als ihre Benennung. Den Ansätzen sind zwei Dinge gemein: (1) Sie beruhen auf der Annahme der parallelen Entwicklung der Konzentration von Nutzungen und baulichen Strukturen einerseits und der
Entleerung und Entdichtung in Zusammenhang mit einer Neunutzung einiger Stadtfelder anderseits. (2) Sie gehen von einer hohen Bedeutung des Freiraums in den fragmentierten Städten sowohl in einem räumlich-quantitativen Sinne als auch in einem
identitätsprägenden, gestalterischen und funktionalen Sinne aus. Vereinzelt klingen
bereits auf der Leitbildebene Überlegungen zur Nutzung bzw. Nutzbarmachung und
der ästhetischen Ausformung dieser neuen Freiräume an.
Erste Erfahrungen in der Stadtumbaupraxis
Die bisherige Praxis des Stadtumbaus zeigt, dass bezüglich der städtebaulichen Leitbilder je nach den stadträumlichen Voraussetzungen verschiedene Tendenzen erkennbar
sind: „Die ‚Traditionalisten’ scharen sich um die inneren, meist noch eng und alt bebauten Viertel und sind entschlossen, wenigstens diese gegen alle Auszehrung bis aufs
Letzte zu verteidigen. Als Referenz an die große europäische Stadtkultur [Herv. i.
Orig.]. Auf der anderen Seite wollen die ‚Pragmatiker’, abgehärtet durch ihre Auseinandersetzung mit der wuseligen und disparaten Zwischenstadt [Herv. i. Orig.] draußen vor den Toren, einem wohl unvermeidlichen Wandel auch des ‚inneren’ Stadtbildes offensiv entgegen sehen; sie haben sich schnell auf den neuen Begriff der perforierten Stadt [Herv. i. Orig.] geeinigt, an dessen positiver Auslegung intensiv gearbeitet
wird“ (Kil 2004, S. 141).
In der Auswertung der Wettbewerbsbeiträge im Rahmen des Programms Stadtumbau
Ost zeigte sich deutlich, dass die verfolgten räumlichen Modelle eng mit der städtebaulichen Charakteristik der Ausgangsstädte zusammenhängen (Doehler-Behzadi
2004, S. 26). Die Beiträge des Wettbewerbs „Stadtumbau Ost“ zeigen vor allem
Stadtentwicklungsstrategien mit einem „… eindrucksvollen Bekenntnis zur gewachsenen Stadt“ (Brenner 2005, S. 46). Dies verdeutlicht den Wunsch der Mehrzahl der
städtischen Akteure, eine kompakte Stadt, als Modell der nachhaltigen Entwicklung
und im Bekenntnis zur „Europäischen Stadt“, zu entwickeln. Zusammenfassend kann
festgestellt werden, dass sich die städtebaulichen Leitbilder schrumpfender Städte
durchaus an den traditionellen Formen städtischer Strukturmodelle orientieren (Jessen
2006, S. 36).
(1) Historisch gewachsene Städte mit funktional und historisch bedeutsamen Stadtzentrum und Altstadtringen früherer Stadterweiterungen und damit mit einer starken
Alt- bzw. Kernstadtorientierung verfolgen das Leitbild der „Europäischen Stadt“ mit
C.1 Freiraum in Modellen und Leitbildern der Stadtplanung
einer Stärkung der Innenstadt, dem Erhalt des Altbaubestandes und einem Rückbau
von außen nach innen (Gefken, Brenner 2004; BMVBW, BBR 2003a, S. 23; DoehlerBehzadi 2004, S. 26). Diese Strategie folgt der Konzentration und Kontraktion mit dem
Ziel der kompakten Stadt. Erneuerungsstrategien und Stadtumbaunotwendigkeiten
werden hier oft parallel verfolgt, wobei sowohl klassische Stadtreparatur als auch Auflockerung eine Rolle spielen. Brachen, Baulücken und Zwischennutzungen werden als
Bestandteil zu erhaltender Altstadtquartiere akzeptiert (BMVBW, BBR 2003a, S. 39 ff.).
Die meisten Städte tendieren in ihren Leitbildern deutlich zum Bekenntnis zur historischen Stadt und dem Rückbau von außen nach innen (BMVBW, BBR 2003b, S. 23).
(2) Städte mit topographischen Besonderheiten und Stadterweiterungen der klassischen und sozialistischen Moderne verfolgen auch in ihren Leitbildern das Modell der
„Gegliederten Stadt“. Ziele sind die Wiederherstellung historischer Raumzusammenhänge oder die Neuformung kleinerer städtebaulicher Einheiten. Der Rückbau wird
entsprechend an siedlungsstrukturellen, topgrafischen, industriellen oder verkehrstechnischen Schneisen verortet. Dabei wird die Selbstständigkeit der Stadtteile hervorgehoben. Bei dieser Strategie wird Perforation und Konzentration bewusst eingesetzt mit
dem Ziel, eine begründete und geordnete fragmentierte Stadtstruktur zu entwickeln.
Die Entwicklung des Freiraums als verbindendes oder identitätsstiftendes Element spielt
eine große Rolle, auch zur Füllung bestehender oder durch Rückbau neu entstehender
Leerräume (BMVBW, BBR 2003a, S. 24).
(3) Zusammengefügte Städte mit heterogenen Strukturen, bestehend aus alter Bausubstanz im historischen Zentrum und neuerer Bausubstanz in DDRErweiterungsgebieten, stehen meist vor sehr unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen in den städtischen Teilgebieten. Die räumliche Verknüpfung und Profilierung der
Teile der Stadt sowie oft erheblicher Rückbaubedarf prägen die Entwicklungslinien
dieser Städte (ebd., S. 25). Typisch ist hierbei, dass für einzelne Bereiche der Stadt
verschiedene Stadtmodelle verfolgt werden.
Hypothesen
‚ In städtebaulichen Leitbildern schrumpfender Städte spiegeln sich die bekannten
Linien der Stadtentwicklung wider.
‚ Das Leitbild der „Europäischen Stadt“ in Orientierung am Modell der Kompakten
Stadt ist auch in schrumpfenden Städten stark vertreten.
‚ Eine Vielzahl städtebaulicher Leitbilder orientiert sich an der „Gegliederten Stadt“,
einem Modell, in dem Freiraum eine wichtige Rolle spielt.
233
234
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
2
Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden
Städten
Die aktuelle Stadtentwicklung und die in sowohl wachsenden als auch schrumpfenden
Städten feststellbaren Änderungen der Flächennutzungsmuster zeigen die Notwendigkeit, aber auch die Chance, über das Verhältnis von Stadt und Land neu nachzudenken: „Das urbane besetzt die Landschaft, die Natur zieht in die Stadt. Die entstehenden Mischformen lassen eine eindeutige Zuweisung zu den klassischen Kategorien
‚Stadt’ und ‚Landschaft’ kaum noch zu“ (Bormann et al. 2005, S. 133). Was bedeutet
dies für die Funktion und Gestalt städtischer Freiräume? Die Durchdringung von Stadt
und Land erfordert neue konzeptionelle Herangehensweisen im Umgang mit den
veränderten Stadtformen. Zentral ist dabei die Hoffnung, die neuen Stadtstrukturen
aus dem Freiraum heraus zu ordnen, zu gliedern und ihnen eine neue Identität zu
verleihen. Dies resultiert aktuell im planungstheoretischen Diskurs in einem „städtebaulichen Höhenflug“ des Freiraums (Dettmar 2005c, S. 146). GANSER postuliert gar:
„Wir befinden uns am Beginn einer Epoche der Landschaft“, in der Landschaft dann
mehr ist als „… der Rest der übrig bleibt“ (Ganser 2001, S. 35).
Dem städtischen Freiraum, der Landschaft oder auch der Natur in der Stadt wird zur
Bewältigung der aktuellen Phänomene der Stadtentwicklung, sei es als wachstumsbedingte „Zwischenstadt“ oder als schrumpfungsbedingte „Perforierte Stadt“, offensichtlich ein gewaltiges Gestaltungspotenzial zugesprochen. Gleichzeitig wird dem
Freiraum eine hohe Erwartungshaltung zur Lösung der Probleme des Flächenzuwachses bei gleichzeitigem Nutzungs- und Finanzierungsmangel zuteil. Inwiefern dies ein
Anzeichen tatsächlich neuer Chancen und einer neuen Bedeutung von städtischen
Freiräumen, von Perspektivlosigkeit des Städtebaus oder eines Verständnisse des
„Grünen“ als Lückenbüßer ist, gilt es zu analysieren.
Der Umgang mit diesen neuen Planungs- und Gestaltungschancen, aber auch Herausforderungen erfordert dabei „… eine vorbehaltslose Analyse des in Naturschutz, Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur zum Teil unterschiedlich ausgelegten landschaftlichen Ideals …“ (Sieverts et al. 2005, S. 51). Wenn Freiraum in der schrumpfenden Stadt nicht nur physisch, sondern auch kulturell tatsächlich eine größere Bedeutung beigemessen wird, so müsste dem auch ein neues Verständnis des Verhältnisses
der Stadt und der Landschaft zu Grunde liegen. Zu vermuten wäre, dass dies einhergeht mit „einem tiefgreifenden (!) funktionalen Wandel der Freiräume“ (Sieverts
2001a, S. 37).
Diesen Annahmen folgend, werden in diesem Kapitel unterschiedliche Denkansätze
zum Natur- und Landschaftsverständnis diskutiert und hinsichtlich ihrer Relevanz und
Aussagekraft für schrumpfende Städte erörtert (Kapitel C.2.1, C.2.2). Dies bietet Anregungen für mögliche Handlungsansätze zur Bewältigung der Entdichtung der Stadtstruktur. In der Diskussion der letzten Jahre zu diesen Aspekten ist zunehmend die
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Tendenz zu erkennen, dass diese Beziehung im Wandel ist und von einer Durchdringung beider Strukturen ausgegangen wird: „Die Trennung in Stadt und Landschaft
macht jedenfalls – vor allem was die funktionalen Zusammenhänge anbelangt – für
das urbanisierte Mitteleuropa immer weniger Sinn“ (Dettmar, Weilacher 2003, S. 1).
Neue Ansichten von Landschaft und letztendlich das (veränderte?) Naturverständnis
spielen bei der künftigen Ausprägung der Stadtstruktur und der Bedeutung, die den
Freiräumen beigemessen wird, eine große Rolle. Inwiefern ein neues Freiraumverständnis auch neue Freiraumtypen mit sich bringt bzw. erfordert, wird in Kapitel C.2.3
erörtert.
2.1
Natur in der schrumpfenden Stadt
Dem Zuwachs an freien Flächen in schrumpfenden Städten wird in den meisten Fällen
mit freiraumplanerischen Ansätzen zur Gestaltung und Nutzung dieser Flächen begegnet. In diesem Bewusstsein setzen einerseits Stadtumbaustrategien bewusst auf Lösungsansätze der Freiraumplanung. Andererseits wird auch von Seiten der Freiraumplanung versucht, diese neuen Handlungsspielräume für die Umsetzung ihrer Belange
zu nutzen. Die Integration von Freiräumen in Städten hat lange Tradition und folgte
unterschiedlichen Zielen. Städtische Freiraumplanung arbeitet dabei mit Naturelementen (1) als Relikte innerhalb der Städte und (2) als bewusst eingesetzte Gestaltungselemente. Die Schaffung oder Erhaltung von grünen Räumen in gebauten Strukturen
ist dabei auch Ausdruck unseres Verhältnisses zur Natur. Wird in dieser Arbeit von
einem Bedeutungswandel der städtischen Freiräume unter Schrumpfungsbedingungen
ausgegangen, ist dies unter anderem von der Rolle und dem Verständnis der Natur in
Freiräumen der Stadt abhängig.
Aufbauend auf einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Natur und ihres Verständniswandels ermöglicht die Analyse unterschiedlicher Zugänge zur „Natur“ die
Einordnung aktueller stadt- und freiraumplanerischer Ansätze. Dabei soll insbesondere
das Konzept der Stadtnatur hinsichtlich möglicher Gestaltungsansätze für Freiräume in
schrumpfenden Städten diskutiert werden. Denn Freiraumentwicklung als ein Aspekt
der Stadtentwicklung steht als Stadtumbaustrategie im Kontinuum der historischen
Entwicklung der Stadtnatur.
2.1.1 Naturbegriff
In der Ableitung des Begriffs von dem lateinischen „natura“ bezeichnet „Natur“ etwas, was wesensgemäß von selbst da ist und sich selbst reproduziert (Brockhaus 1991,
S. 372). Unscharf wird der Begriff, wenn Natur nicht nur als Objekt menschlichen
Erkennens und Handelns, sondern auch der Mensch als Teil von ihr aufgefasst wird. In
der Philosophie wird entsprechend ein ideeller und ein materieller Zugang unterschieden: (1) Natura naturans als unbewusste schöpferische Kraft, verstanden als ihr Wesen
und (2) Natura naturata, als Werke dieser Kraft und somit ihre Substanz. Hierin liegt
235
236
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
die Schwierigkeit einer klaren Definition begründet. Denn Natur beschreibt „… keinen
fest umrissenen Gegenstand […], sondern [ist] als eine kulturell und individuell ausgeformte Idee zu begreifen […], die sich je nach historischem und gesellschaftlichem
Kontext ändert“ (Heiland 2006a, S. 33). So erfolgt die Definition des Naturbegriffs
häufig über einen im jeweiligen Kontext enthaltenen Gegenbegriff (Schöbel 2003b,
S. 107). Historisch betrachtet ist unser Naturbegriff vor allem durch Entgegensetzungen zum Menschlichen, in Form von Kultur, Technik, Setzung usw., entstanden
(Böhme 1992, S. 11): „Wer Natur sagt, der benennt keinen Gegenstand oder Gegenstandsbereich, sondern trifft bzw. ‚markiert’ eine Unterscheidung, nämlich eine Unterscheidung zwischen ‚Natur’ und ‚Nichtnatur’ […], so ist auch die [Unterscheidung, d.
Verf.] von Natur und Nicht-Natur höchst instabil, weil ganz kontext-, z. B. kultur-,
praxis- und interessensbezogen, in differenzierten Gesellschaften also so differenziert
wie diese Gesellschaft insgesamt“ (Hard 2001, S. 257 f.). Gleichwohl der Begriff eine
Unterscheidung markiert, kann er kaum exakt definiert werden (Heiland 2006a, S. 33).
„[…] Im landläufigen und nicht exakt abgrenzbaren Sinne [sind als Natur, d. Verf.] die
von menschlicher Einwirkung weitgehend unabhängig ablaufenden Prozesse und Erscheinungen, wildlebende Tiere und Pflanzen sowie Boden, Wasser, Luft und Klima
und deren Wechselwirkungen gemeint“ (Heiland 1999, S. 14 f.). Angelehnt an diese
unscharfe Definition empfiehlt HEILAND die Verwendung des Begriffs natürliche Umwelt als Einschränkung der Natur auf die Umwelt des Menschen (ebd., S. 15).
Versteht man als „Äußere Natur“ etwas, was wir nicht selbst sind, was von sich aus da
ist und dem in dieser Existenz ein Wert zugeschrieben wird, also als etwas, was auch
ohne den Menschen sein kann, so kann diese Natur heute im Grunde nicht mehr existieren, da menschlicher Einfluss überall auf der Welt vorhanden ist. Dies kommt insbesondere im Naturschutz, aber auch bei der Befriedigung unserer ästhetischen Bedürfnisse zum Tragen, im Hinblick darauf, welche Natur wir denn wollen (Böhme 1992,
S. 16 f., 21). Dies wiederum verdeutlicht, dass es bei dem verbreiteten umfassenden
Naturbegriff, um eine kulturelle Wahrnehmung, um ein soziales Konstrukt geht. Demnach ist „das Naturverhältnis [auch] […] nur als gesellschaftliches denkbar …“ (Ipsen
1998, S. 181).155
KOWARIK unterscheidet zwei unterschiedliche Natur-Definitionen basierend auf einer
vegetationskundlichen Sichtweise. Insbesondere für Städte kann davon ausgegangen
werden, dass der menschliche Einfluss überall wirksam ist und somit ursprüngliche
Vegetation nicht mehr vorhanden sein kann: (1) „In historischer Perspektive wird als
Natur der Zustand definiert, der vor einem Wirksamwerden menschlichen Einflusses
155
Allerdings hat sich die (Stadt-)Soziologie diesem Thema kaum explizit gewidmet (Ipsen 2002,
S. 33). Als Ausnahmen nennt IPSEN: HÄUßERMANN und SIEBEL (1989) mit ihrer Auffassung des
Widerspruchs von Urbanität und Ökologie sowie HARVEY (1996) mit seinem Ansatz der Dialektik
von Naturbeherrschung und -entfremdung (Ipsen 1998, S. 182).
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
existierte und mit vegetationsgeschichtlichen Methoden rekonstruiert werden kann.“
In diesem Sinne kann dies mit der ursprünglichen Vegetation gleichgesetzt werden. (2)
„Dagegen wird in aktualistischer Perspektive als potentielle (!) natürliche Vegetation
(TÜXEN) derjenige Zustand beschrieben, der bei Aufhören menschlichen Einflusses
denkbar wäre“ (Kowarik 1991).
Obwohl der Naturbegriff in seiner Definition und seinem Verständnis umstritten ist, so
scheint seine Verwendung unumgänglich. Seine Bedeutung in der Diskussion um die
Stadt und ihre Freiräume macht eine Positionierung notwendig: Natur wird in dieser
Arbeit als biotische (floristische und faunistische) und abiotische Substanz unserer
Umwelt verstanden.
2.1.2 Stadt versus Natur
Seit dem es die Stadt gibt, gibt es auch Positionsbestimmungen gegenüber der Natur.
Insofern reiht sich diese Diskussion in die oben dargestellte Formulierung von Gegensatzpaaren zur Beschreibung der Natur ein. In der historischen Entwicklung hat sich der
Gegensatz Stadt – Land156 nicht nur auf die bauliche Struktur bezogen, sondern wurde
auch ganz entscheidend von der Lebensform und den gesellschaftlichen und alltäglichen Rahmenbedingungen geprägt (Chilla 2005, S. 180). Durch die Etablierung urbaner Lebensformen – das heißt die bürgerliche Zivilisation und die gebaute Stadt – wurde die Natur aus dem Raum und dem Bewusstsein des „Städters“ verdrängt. Die
grundlegende Dichotomie von Natur und Mensch wurde somit in der Stadt bzw. in
Bezug auf das städtische Leben noch verstärkt (Böhme 2001, S. 162). Nach BÖHME
wandelte sich so die Mensch-Natur-Beziehung in eine „Außenbeziehung“ im Sinne
des Verständnisses von Natur als „… das, was draußen ist“ und in Form des „Ländlichen“ oder der „Landschaft“ wahrgenommen wird (ebd., S. 162). Diese wiederum
verspricht kompensatorische Wirkungen für das (selbst gemachte) von Naturentfremdung und (neuen) Zwängen gekennzeichnete Stadtleben. Daneben gab und gibt es (in
allerdings kleinerem Umfang) noch immer Mensch-Natur-Beziehungen, die sich nicht
als „Außenbeziehung“ darstellen. Die Arbeit mit und in der Natur (z. B. Landwirte)
lässt eine anders geartete Beziehung erwarten. Durch die Auslagerung von landwirtschaftlichen oder auch gärtnerischen Produktionsflächen aus der Stadt konnte diese
Form der Naturbeziehung in Städten nicht mehr stattfinden (ebd., S. 163).
156
Die Verwendung des Begriffes Land in diesem Zusammenhang verdeutlicht die Unschärfe der
Begriffe. Land wird hierbei nicht nur als Natur (im Gegensatz zur Stadt als Produkt der Kultur),
sondern auch als Ort der Landwirtschaft und des bäuerlichen bzw. dörflichen Lebens und damit als
die agrarisch geprägte Kulturlandschaft verstanden. Zum Begriff der ländlichen Landschaft siehe
Abbildung 28.
237
238
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Natur in der Stadt
Das Verhältnis von Natur und Stadt bzw. der Stadt zur Natur hat die Stadtentwicklung
immer geprägt und beschäftigt. Die Suche nach dem „richtigen“ Verhältnis war dabei
von einer Dialektik zwischen dem Wunsch nach Naturbeherrschung auf der einen und
Naturentfremdung auf der anderen Seite geprägt (Ipsen 1998, S. 183; vgl. auch Trepl
1992, S. 31). Mit dem Wachstum der Städte stieg der Anspruch, die Natur zu beherrschen mit dem Ergebnis, dass Stadt phänomenologisch als „naturfreier Raum“ erscheint. Bald wurde erkannt, dass sich diese Naturbeherrschung gefährdend auf die
menschliche Existenz auswirkt, denn zugleich kommt die Stadt nicht ohne Natur aus
(in Bezug auf Stoffströme, z. B. in Form von Lebensmitteln, Wasserver- und entsorgung). „Der Protest gegen die Verwandlung der Landschaft im Zuge der Industrialisierung artikuliert sich zunächst im Namen der Natur, und der ästhetisch (oder
später auch ökologisch) motivierte Widerstand pocht auf Massnahmen (!) im Sinne
eines ‚Schutzes’ der Natur“ (Sieferle 2003, S. 61). IPSEN beschreibt diesen Verlauf als
„Triade der Naturwahrnehmung“ aus „Naturbeherrschung, Distanz und kompensatorischer Natursehnsucht“ (Ipsen 1998, S. 188). Das Naturverständnis und davon abgeleitet dann auch das Naturverhältnis aus Sicht der Stadt ist demnach ganz entscheidend für ihre Existenz und den Umgang mit ihr (ebd., S. 186).
Stadt als Natur
Die Argumentation, dass das neue Naturverständnis sich weniger materiell ausprägt,
sich aber in einer „naturbezogenen Zugangsweise“ (ebd., S.184) oder auch einer
„… stärkeren Fokussierung auf die Entwicklungsprinzipien der Natur …“ (Dettmar
2005c, S. 150) zeigt, scheint zunächst plausibel. In dieser Folge steht auch die Auffassung, „Städte als Natur“ (ebd., S. 150) anzusehen. Dies ist insofern nachvollziehbar,
als das man das Entstehen städtischer Strukturen als quasi selbst bestimmte, „natürliche“ Entwicklung versteht (Hard 2003; Sieverts 2001b, S. 90). In diesem Verständnis
ist es nicht möglich, dass sich der Mensch über die Natur hinaushebt oder sich aus ihr
ausgrenzt. Folglich ist die Stadt nur eine – vom Menschen geschaffene – Form, mit der
Natur zu leben und diese zu gestalten (Böhme 2001, S. 168).
Die Einordnung der Stadt als Nichtnatur oder Gegenpol zur Natur kann im Grunde nur
plausibel sein, als es auf der anderen Seite so etwas wie eine ursprüngliche, vom Menschen unbeeinflusste Natur gibt. Dass diese, zumindest dort, wo es auch Städte gibt,
nicht mehr existiert, verdeutlicht, dass die Natur, auf die wir uns beziehen, eher „historisches und soziales Produkt“ ist (ebd., S. 169). Für BÖHME ist die Stadt, ebenso wie
der Wald oder das Feld, ein „ökologisches Gefüge“, welches er definiert als „… ein
Stück Natur, dessen Grenzen und dessen Einheit sozial definiert sind und dessen Zustand durch menschliche Nutzung und Arbeit reproduziert wird“ (ebd., S. 169). Gelänge es tatsächlich, die Stadt als Natur zu begreifen, dann wäre das Verhältnis von
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Stadt und Natur kein „äußerliches“ mehr, sondern ein „inneres“ geworden (Böhme
2001, S. 168 f.).
Trotzdem greift die Feststellung, dass Stadt Teil von Natur bzw. Stadt eine Form von
Natur ist, in der städtischen Praxis nicht (Chilla 2005, S. 180). Dies kann damit zusammenhängen, dass „… Stadt […] so sehr Ergebnis einer Emanzipation von Natur ist
[…], dass man mit Recht die Alternative ‚Urbanität oder Ökologie’ stellen konnte“
(Ipsen 1998, S. 183). Insofern ist ein neues Naturverhältnis ganz entscheidend von der
Wahrnehmung der Stadt abhängig. IPSEN schreibt den „… Bedingungen und Möglichkeiten der Wahrnehmung der ‚Stadtnatur’ als dem urbanen Naturverhältnis zentrale Bedeutung …“ zu (ebd., S. 182). Verändert sich die Stadt räumlich und strukturell
so stark wie unter Schrumpfungsbedingungen, so hat ein neues Naturverhältnis zum
einen eine größere Chance, aber zum anderen auch eine größere Berechtigung. Dies
wiederum erfordert die Anerkennung der „… Natur als eine [Herv. d. Verf.] Dimension
des Städtischen …“ (Ipsen 1998, S. 188 f.). Wird die oben getroffene Definition von
Natur zu Grunde gelegt, so kann diesem Ansatz gefolgt werden. Auch unter Schrumpfungsbedingungen kann die Naturwahrnehmung in der Stadt nicht losgelöst von anderen gesellschaftlichen Prozessen und Wahrnehmungen betrachtet werden, denn „die
Stadt ist kein Wald und auch kein Garten, sondern ein dichter sozialer Prozess“ (ebd.,
S. 183).
2.1.3 Stadtnatur
Die unterschiedlichen Zugänge zur Natur in der Stadt spiegeln sich in der Verwendung
des Begriffs „Stadtnatur“ wider: „Während die stadtökologische Analyse die ‚natürliche’ Natur als Ausgangs- und Bezugspunkt nimmt, geht die sozialwissenschaftliche
von der funktionalen Anlage und Gestaltung [im Sinne von Freiräumen, Anm. d. Verf.]
aus“ (Rink 2003, S. 8). Dies entspricht dem Selbstverständnis der Freiraumplanung.
Auch wenn der Zugang zur Natur in der Stadt über die Vegetation ausgehend von der
Disziplin der Stadtökologie besonders häufig ist (Heiland 2006a, S. 34) – „Natur ist,
was grün ist […] doch ist Natur grün?“ (Böhme 2001, S. 170) – so sind von natürlichen Elementen geprägte Räume in der Stadt doch weitaus mehr als das. Der Begriff
der Stadtnatur kann somit (1) für die Natur in der Stadt, als besondere Form der Natur
(KOWARIK, s. u.) stehen und (2) im Sinne des in dieser Arbeit bevorzugten Begriffs
„Freiraum“ verwendet werden. So schreibt RINK, dem Verständnis (2) folgend, dass
Stadtnatur überwiegend dem 3. und 4. Typ der Naturformen nach KOWARIK zuzuordnen ist. Dies begründet er mit den Eigenschaften der Stadtnatur als stark menschlich beeinflusst, angelegt für Erholung und Freizeit, mit symbolischer Bedeutung und
prägender Wirkung auf die Stadtgestalt (Rink 2003, S. 4).
239
240
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Städtische Freiräume als Stadtnatur
KOWARIK (z. B. Kowarik 1993, S. 15 f.)157 teilt die Natur in der Stadt in vier Kategorien ein (siehe Tabelle 10). Die Typen werden zunächst nach ihrer Naturausstattung
unterschieden und um eine kulturhistorische Dimension bzw. ihre Entstehungsgeschichte erweitert (Kowarik 1991).
4 Arten von Natur
Charakterisierung nach KOWARIK
Natur der ersten Art
Verinselte Reste ursprünglicher Naturlandschaften, meist am Stadtrand
(Feuchtgebiete, Wälder)
Veränderungen durch städtische Einflüsse, aber der Bezug zur ursprünglichen
Natur ist noch vorhanden
Natur der zweiten Art
Landwirtschaftlich geprägte Flächen der Kulturlandschaft
Nahtstellen zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen einzelnen Stadtteilen
Veränderungen durch städtische Einflüsse
Natur der dritten Art
Gärtnerisch (bewusst) angelegte Natur
Natur der vierten Art
Urban-industrielle Vegetation
Spontan entstanden in Anpassung an städtische Standort- und Nutzungsbedingungen
Tabelle 10: Die vier Arten von Natur in der Stadt nach KOWARIK und ihre Charakterisierung
(Eigene Darstellung nach Kowarik 1991, 1993, S. 15 f.).
Bei der Beschreibung der vier Naturtypen geht es nicht nur um die biotischen Bestände
und damit materiellen Tatbestände, sondern auch um „konträre kulturelle Bedeutungen und Bewertungen“ und damit um Symbole (Hard 2001, S. 359; Hard 2003,
S. 352). KOWARIK empfiehlt, innerhalb dieser vier Grobtypen, Rangfolgen nach verschiedenen Kriterien zu bilden, so z. B. hinsichtlich des Grads ihrer Störung oder Entwicklungszeit (Kowarik 1993, S. 16). Alle vier Arten von Natur haben ihre Bedeutung
und Berechtigung in der Stadt – keiner der Typen sollte einen anderen ersetzen. Dabei
hat nur der 4. Typ einen spezifisch städtischen Charakter, das heißt ohne Entsprechung
in Natur- oder Agrarlandschaft, welcher auch das aktuelle städtische Naturpotenzial
ausdrückt (Körner 2005b, S. 70). Die Akzeptanz einer Natur der 4. Art kann dabei
auch die Abkehr vom traditionellen Gegensatz zwischen Natur und Stadt kennzeichnen (Kowarik 1993, S. 16).
Nach HARD ist eine Auseinandersetzung mit städtischen Freiräumen nur auf der Ebene
des dritten und vierten Typs der Stadtnatur nach KOWARIK notwendig (Hard 2001,
157
KOWARIK publizierte 1991 erstmalig diese Einteilung (http://www.berlin-gleisdreieck.de/
Seiten/projekte/kowarik.htm am 11.12.06). 1992 gab es eine Publikation des Konzeptes in der
Schriftenreihe des Deutschen Rats für Landespflege (Kowarik 1992). Hier wird sich vor allem auf
die darauf aufbauende, als Druck vorliegende, Publikation von 1993 bezogen (Kowarik 1993).
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
S. 260). Gleichzeitig proklamiert er – in der Argumentationsfolge des aus seiner Sicht
fragwürdigen Umgangs mit Grünanlagen (Natur der dritten Art) und Naturschutzes in
der Stadt – Natur in der Stadt als „Nebenprodukt“ menschlicher Nutzung zu akzeptieren und jegliche Schutz- und Gestaltungsbestrebungen sein zu lassen (Hard 2001,
S. 267 f.). Als einziges Gestaltungsmittel empfiehlt er Stadtbäume und die Konzentration auf die Schaffung nutzbarer Freiräume für die Bewohner der Stadt, für die das
„… Grün nur eines der Mittel zu diesem Zweck ist“ (ebd., S. 262). Nach KÖRNER
hingegen sind alle Naturtypen (in Bezug auf KOWARIK), die in einer Stadt vorkommen, „… authentischer Ausdruck der Heterogenität und Wertepluralität moderner
Gesellschaften …“ und somit auch zu akzeptieren (Körner 2003, S. 360).
Indem KOWARIK das Naturelement der Vegetation in den Mittelpunkt seiner Einteilung stellt, schließt sich diese der oben angedeuteten verbreiteten vegetationskundlichen Sichtweise an, welche eine Gleichsetzung von Stadtnatur mit Stadtgrün impliziert (Heiland 2006a, S. 33; Hard 2003, S. 349). In diesem Verständnis wird Stadtgrün
verstanden als Vegetationsinventar einer Stadt oder als „domestizierte Naturelemente“
(Chilla 2005, S. 181). In der Stadtplanung ist der Begriff Stadtgrün als Bezeichnung für
die Gesamtheit überwiegend begrünter städtischer Freiräume verbreiteter (Richter
1981, S. 5). Dies schlägt sich in der oft anzutreffenden Bezeichnung städtischer Verwaltungen und Ämter für diesen Bereich nieder. Es ist davon auszugehen, dass, wenn
gemeinhin von Stadtnatur gesprochen wird, darunter meist das Stadtgrün verstanden
wird (Hard 2003, S. 350).
Zur Vermeidung begrifflicher Überschneidungen wird in dieser Arbeit der Begriff der
Stadtnatur nur im Sinne des Ansatzes von KOWARIK verwendet. Stadtgrün wird ebenfalls gemieden, da städtischer Freiraum nicht per se tatsächlich „grün“ (im Sinne von
mit Vegetation geprägt) ist. In dieser Arbeit wird sich auf den Begriff städtischer Freiraum beschränkt.158
158
Inwiefern eine Unterscheidung des Naturbegriffs jeweils für den städtischen und den ländlichen
Raum sinnvoll ist, ist insbesondere vor dem Hintergrund sich transformierender Stadtregionen zu
überdenken. Geht man davon aus, dass selbst die heute „ländliche Natur“ ihre Gestalt im Grunde
der Stadt zu verdanken hat, so kann man den Begriff der Stadtnatur natürlich ausweiten (Heiland
2006a, S. 36). Ebenso ist die Auslagerung der Definitionsfrage auf die Unterscheidung urban –
ländlich nicht unbedingt klarer. Denn beide Naturen sind mehr oder weniger anthropogen beeinflusst.
241
242
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Abbildung 26 stellt das dieser Arbeit
zu Grunde liegende Verständnis
vom Verhältnis von Stadt und Natur
und der Stellung städtischer Freiräume im Zusammenhang dar.
Natur
im umfassenden Sinne
Stadt
als kulturelle Formung
Freiraum
Stadtnatur
Natur
im Sinne der natürlichen Umwelt
abiotische Faktoren
biotische Faktoren
Abbildung 26: Verständnis vom
Verhältnis von Stadt und Natur in dieser
Arbeit (Eigene Darstellung).
Natur als Dimension des Städtischen – Freiraumentwicklung in der Stadtentwicklung
Städtischer grüner Freiraum konnte erst durch die mittelalterliche Trennung von Haus
und Parzelle entstehen, denn erst dadurch blieb nicht bebautes Land als verstädterte
Natur übrig (Hoffmann-Axthelm 1993, S. 209). CHILLA erklärt diese bewusste Schaffung von städtischen Grünflächen als Versuch, durch „… Implementierung von Naturelementen …“ sich der Natur auch in der Stadt anzunähern. Dieses Bestreben unterlag
in der historischen Entwicklung zum einen unterschiedlichen Antriebskräften und Begründungen, welche sich zum anderen auch in unterschiedlichen funktionalen und
gestalterischen Ausprägungen widerspiegelten (Chilla 2005, S. 180 ff.). Auch BÖHME
beschreibt die Stadien des „Hineinholens der Natur in die Stadt“ anhand der „kulturell
ausgeprägten Naturbeziehungen“ (Böhme 2001 S. 164 ff.). Für TREPL ist diese Natur
symbolischer Art und jegliche Auseinandersetzung mit Natur in der Stadt ein Ergebnis
aus der Dichotomie zwischen Naturbeherrschung und -entfremdung. Im Rahmen der
Bestrebungen einer Ökologisierung der Stadt ist es allerdings notwendig, vor allem die
materielle Natur mit ihren kompensatorischen Eigenschaften in die Stadt zu integrieren
(Trepl 1992, S. 31).
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Die historische Entwicklung der Stadtnatur verlief in folgenden Phasen:
(1) Feudale Gartenkunst
Das feudale (vorbürgerliche) Schloss mit dazugehörigem Park wird ergänzt durch die
Villa als ländliche Wohnform des Städters und als Ausdruck eines parabürgerlichen
Lebensstils. Beides ist zunächst eher Ausdruck von Natur als Bestandteil der jeweiligen
Lebensform und nicht Ausdruck einer Naturbeziehung in Form von Arbeit (Landwirtschaft) oder als Außenbeziehung (Stadt) (Böhme 2001 S. 164 ff.). Eine Annäherung an
die Natur erfolgte bereits mit der Hinwendung zum landschaftlichen Gestaltungsstil in
den Englischen Gärten, die die stark formalisierten Barockgärten im französischen Stil
ablösten. IPSEN sieht in der Gartenkunst seit der Renaissance „… die Einübung eines
Umgangs mit der Natur, der diese als formbaren Stoff versteht“ (Ipsen 1998, S. 187).
(2) Freiraum als Antithese zum Stadtwachstum
Der gesellschaftliche Wandel und letztlich schlicht die räumliche Ausdehnung der Städte hatten zur Folge, dass (ehemals) feudale Parks und bürgerliche Landsitze und damit
auch „deren Natur“ Teil der Stadt wurden und sind. Ergänzt wurden diese historischen
Anlagen dann durch Bürger- und Volksparks, die im Grunde mit einem ähnlichen Formenrepertoire neue Nutzungsmöglichkeiten und vor allem Zugänglichkeiten schufen
(Böhme 2001 S. 164 ff.; Wiegand 1976, S. 13 ff.). Die Entwicklung der Städte und die
zum einen damit einhergehenden schlechteren Lebensbedingungen und zum anderen
die sich abzeichnende Verstädterung und Verwischung der Grenzen zwischen Stadt
und Land hatten Überlegungen zur Folge, Stadt und Natur (mit ihren ihr zugesprochenen positiven Wirkungen) wieder näher zusammenzubringen. Die Gartenstadtidee
(Kapitel C.1.2.1) als durchaus progressiver Gegenentwurf zu den unwirtlichen Städten
des Industriezeitalters baute auf die „… dominante gestalterische Bedeutung …“ der
Grünelemente. Die Gartenstadtbewegung zielte ursprünglich sogar darauf ab, die
Stadt in die Natur zu legen. Dieser Grundansatz zur lebenswerten und grünen Gestaltung des Wohnumfeldes ist bis heute, zumindest was die Kriterien der visuellen Gestaltung und der Nähe von Wohnung und Grünraum betrifft, aktuell. Dies führt allerdings
weniger zu einer ursprünglich beabsichtigten Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes
als zu einem angenehmen, grünen Erscheinungsbild (Chilla 2005, S. 181).
(3) Freiraum als Gliederungselement wachsender Städte
In der Konsequenz der „Charta von Athen“ (Kapitel C.1.4.1) sollte die Stadt landschaftlich gegliedert werden. Die ursprüngliche Intention, durch städtebauliche Verdichtung (Hochhäuser) wohnungsnahe Erholungsräume, aber auch landwirtschaftlich
nutzbare Flächen zur Verfügung zu stellen, konnte allerdings in den wenigsten Fällen
umgesetzt werden. „Die Natur um Hochhauskomplexe verkümmert zum Abstandsgrün, weil außer der inadäquaten Parkidee kein Konzept der Naturgestaltung existierte, und die Landwirtschaft verschwand, weil sie entweder unrentabel oder hygienisch
243
244
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
nicht tragbar war. Die Architekten und Planer der modernen Stadt verstanden in der
Regel wenig von Natur. Obgleich sie im Konzept der modernen Stadt der Natur eine
gewichtige Rolle und viel Platz einräumten, entwickelten sie kaum Ideen zu ihrer Form,
ihrem Aussehen und ihrer Zusammensetzung. Über die geographische Formation hinaus war sie einfach nur grün“ (Böhme 2001, S. 166). Diese zunehmend funktionalistisch geprägte Auffassung von Stadtgestaltung und der Rolle des Grüns als Gliederungs- und Abgrenzungselement spiegelt sich bereits in den nach der Gartenstadtidee
tatsächlich umgesetzten Stadtteilen wider. Sie hatte ihren Höhepunkt in der Mitte des
20. Jahrhunderts, manifestiert durch das städtebauliche Leitbild der „Gegliederten und
Aufgelockerten Stadt“ (Kapitel C.1.2.3). Das Resultat war meist nur grünes Abstandsgrün, dies aber in großer Menge und im privaten Bereich durch Ziergärten und konventionelle Pflanzenarrangements erweitert (Reulecke 1985, S. 181).
(4) Freiraum in der Stadterneuerung und im ökologischen Stadtumbau
Die in den 1970er Jahren meist wenig sensible Stadtsanierung ablösende Stadterneuerungspolitik maß auch den Naturelementen eine gesteigerte Bedeutung bei. Die generelle Forderung nach „Mehr Grün“ wurde dabei durch soziale und neu auch ökologische Erfordernisse untermauert. Diese neuen Funktionen sollten auch durch neue und
vor allem naturnähere Gestaltungsformen umgesetzt werden. Gestärkt wurde dies
durch die Etablierung der Stadtökologie zum einen als naturwissenschaftlicher Ansatz
zur Erforschung der Stadt als spezieller Naturraum und zum anderen als normativer
Ansatz zur Verbesserung der Lebens- und Umweltqualität in der Stadt (Wittig, Sukopp
1998). Im Gegensatz zum bis dahin gültigen Gestaltungsanspruch städtischen Grüns
wurde die „Stadtnatur“ nun eigenständiger Bestandteil von Stadtentwicklung (Chilla
2005, S. 183). Viele von der Stadtökologie vermeintlich geforderte Maßnahmen schlugen sich in Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen zur Steigerung des ökologischen
Potenzials (z. B. Hofentsiegelung, Fassadenbegrünung) nieder. Die Stadt sollte bewusst
auch Lebensraum für Elemente der Natur und gleichzeitig großzügig begrünt werden.
(5) Brachen und Spontanvegetation
Die Anerkennung eigenständiger urbaner Natur erfolgte erst gegen Ende des
20. Jahrhunderts (ebd., S. 183 f.). Teilweise initiiert, aber auch mehr oder weniger von
selbst eingestellt, haben sich Naturformen in der Stadt, die spontan, natürlich und
vielfältig sind (Brachen und Spontanvegetation). Wenn diese auch unterschiedlich
bewertet werden – als schützenswerte und ökologisch wertvolle Naturenklave in der
Stadt oder als Bekenntnis zu Naturprozessen innerhalb der Stadt – so sind sie doch
Ausdruck eines Wandels (Böhme 2001 S. 164 ff.).
Die historische Entwicklung der vier Arten von Natur lässt sich zusammenfassen mit
drei „Wellen kollektiven Kultur-Interesses am Gegen-System der Natur“ (Hard 2003,
S. 356 f., nach GROSSKLAUS): (1) Die (vor-)romantische Bewegung hat Urnatur und
Landschaft zu anerkannten und positiv besetzten Symbolen erhoben. Der englische
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Landschaftsgarten ist Ausdruck dieser Bestrebungen. (2) Um 1900 wurde, durch die
zunehmend negativen Folgen der Industrialisierung, die Heimat- und Kulturlandschaft
ein Symbol für Natur- und Heimatschutz. In diesem Zusammenhang wurde auch das
Stadtgrün neu interpretiert: Nicht mehr nur städtebauliches, architektonisches und
dekoratives Grün, sondern Grün mit sozialen und hygienischen Funktionen wurde
gefordert. Konsequent umgesetzt wurde die Forderung nachfolgend in der Formung
von Stadtlandschaften und Grünsystemen zur Begrenzung und Gliederung von Großstädten. (3) Seit der Umweltbewegung der 1970er Jahre kann man von einer 3. Welle
der Wieder- bzw. Einkehr von Naturidealen in die Stadt sprechen. Dies wird vor allem
in der Akzeptanz und teilweise sogar Förderung der urbanen Stadtnatur der 4. Art
deutlich.
Die Beziehung von Stadt und Natur hat sich über die Zeit von der Villa, dem Park, dem
modernen Grünraum hin zur Spontanvegetation auf Stadtbrachen geändert – man
kann sie nicht mehr über die Dichotomie „innen“ und „außen“ charakterisieren.
Trotzdem ist sie eine „äußerliche Beziehung“ geblieben, da sie noch keine Beziehung
der Stadt auf sich ist (Böhme 2001, S. 167). Dies äußert sich darin, dass Natur in der
Stadt als Material, Instrument und vor allem als Kompensation für die städtischen
Funktionen (Wohnen, Arbeit, Mobilität) dient. Es wird deutlich, dass „Natur in der
Stadt“ schon immer und aktuell ganz besonders ein soziales Konstrukt vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Zielstellungen und gesellschaftlichen Interessen ist
(Chilla 2005, S. 185). Hier soll diesem konstruktivistischen Ansatz gefolgt werden und
das Verhältnis zur Natur als gesellschaftliche Fragestellung, beeinflusst von den jeweiligen Konstitutionsmerkmalen, verstanden werden (Ipsen 1998, S. 181).
2.1.4 Fazit: Natur in der schrumpfenden Stadt
Die Unterschiedlichkeit der urbanen und ruralen Lebensform ist heute einem breitem
Spektrum unterschiedlicher Lebensstile gewichen, die sich nur noch bedingt dem vermeintlichen Gegensatzpaar Stadt – Land zuordnen lassen. Auch die Gegensätzlichkeit
der baulichen Strukturen ist von der Kernstadt, zum Stadtrand, zum suburbanen Raum
und schließlich zur Zwischenstadt verschwommen und lässt eine deutliche Unterscheidung von Stadt und Natur kaum noch zu. Für BÖHME ist diese Entwicklung allerdings
lediglich eine Wandlung der „Außenbeziehung“ in eine „äußerliche Beziehung“, denn
„das Hineinholen der Natur in die Stadt überwindet […] die Entfremdung von der
Natur keineswegs …“, da es „… nicht einfach bürgerliche Natursehnsucht, sondern
[…] zum Teil einfach ein Produkt der sozioökonomischen Entwicklung der Stadt selbst
dar[stellt]“ (Böhme 2001, S. 164).
Die schrumpfende Stadt bietet die Möglichkeit, der Naturentfremdung entgegenzuwirken und Ökologie als tatsächlichen Bestandteil der Stadt zu begreifen, indem Natur
in der Stadt sichtbar wird. Allerdings ist es entscheidend Formen zu finden, die anerkennen und vermitteln, dass „… die Natur in der Stadt städtische Natur ist, [und] es
245
246
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
nicht um eine Ruralisierung der Stadt gehen kann“ (Ipsen 1998, S. 189). Dies hebt die
Bedeutung der Ästhetik und des Kontextes der Natur in der Stadt hervor.
Naturbestimmte Entwicklung
Die Flächennutzungsdynamik in der schrumpfenden Stadt – das heißt das Herausfallen
von Flächen aus dem Nutzungskreislauf – verbunden mit den eingeschränkten Möglichkeiten, für all diese Flächen eine freiraumgestalterische Nachnutzung zu finden,
führt zur logischen Konsequenz einer (automatischen) „naturbestimmten Entwicklung“ vieler dieser Flächen. Unabhängig von ihrer Widmung, ihrem baurechtlichen
Status und den Eigentumsverhältnissen führt Sukzession zu mehr oder weniger grünen
Freiflächen in der Stadt. Dieses eher zufällige und wenig steuerbare Prinzip kann auch
als ein Konzept zum Umgang mit Brachen angewendet werden: Damit ist zum einen
die „Fokussierung auf Entwicklungsprinzipien der Natur“ gemeint (Dettmar 2005c,
S. 150) und zum anderen, die Brachflächen der Sukzession zu überlassen (ebd.,
S. 144).
Indem „Brachen mit naturbestimmter Entwicklung als Bausteine der Stadt“ (ebd.,
S. 144) begriffen werden, kann dies auch von einer „… wachsende[n] Bedeutung der
biologischen Dynamik als ein zentrales Prinzip der Landschaftsarchitektur […} und von
dem neuen Naturverständnis in städtischen Freiräumen“ (eig. Übersetzung, Dettmar
2005d, S. 94) zeugen. Naturbestimmte Freiräume können mit ihrem ökologischen,
ästhetischen und sozialen Wert große Bedeutung als einmalige und dynamische Orte
in der „totalen Landschaft“ (Kapitel C.2.2.2) haben. Dies erfordert ein Verständnis
dieser Räume mehr als Struktur gebende Elemente und weniger als nicht zu vermeidende Entwicklungen (ebd., S. 94 f.).
Naturtypen
Das Vorhandensein und vor allem die Akzeptanz einer von KOWARIK als Natur der
vierten Art benannten Kategorie, zeugt für BÖHME von einer neuartigen Verbindung
von Stadtökologie und Naturästhetik, die eine „… Überwindung des klassischen Gegensatzes von Stadt und Natur …“ erwarten lässt (Böhme 2001, S. 170). Denn diese –
wenn auch noch immer kulturellen – Formen, die sich besonders in schrumpfenden
Städten vor allem quantitativ bemerkbar machen, sind nicht mehr eine Domestizierung
von vermeintlichem Nichtstädtischen, sondern können Zeichen für einen Bewusstseinswandel sein (ebd., S. 171). Inwiefern ein Zuwachs an Freiflächen und ein offensichtlicher Bedarf an einer Gestaltung mit – im weiteren Sinne – natürlichen Elementen
einhergeht, mit einer veränderten Rolle der Natur in der Stadt oder einem neuen Naturverhältnis, wird anhand der empirischen Befunde erörtert. Es kann vermutet werden, dass dieses neue Naturverhältnis eher notgedrungen als Lösungsansatz proklamiert und evtl. auch initiiert wird – ein tatsächlicher und bewusster Wandel der Einstellung zur Natur in der Stadt findet wahrscheinlich nicht einfach nur dadurch statt, dass
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
in der schrumpfenden Stadt mehr freie Flächen und damit potenzielle Stadtnatur zur
Verfügung stehen.
Die räumlichen Möglichkeiten für die Natur sind in der schrumpfenden Stadt besonders groß, gleichwohl besteht auch die Gefahr, die beschriebenen Fehler der „Stadtlandschaft“ und der „Gegliederten und aufgelockerten“ Stadt zu wiederholen (Kapitel
C.1.2.7). Ist (Stadt-)Natur dann, wenn sie nicht mehr offensichtlich gegen etwas anders verteidigt werden muss, noch immer symbolisch aufgeladene Antithese zum Städtischen? Wird ihr, wenn sie zum allgegenwärtigen und normalen Bestandteil schrumpfender Stadtstrukturen wird, die gleiche Aufmerksamkeit zuteil? Oder verliert sie gar
ihren Reiz und verstärkt die Wahrnehmung der Auflösung der Stadt? All dies ist sicherlich von ihrer Verteilung, Gestaltung und Nutzbarmachung abhängig. Denn mehr und
größere Flächen, wahrgenommen als Abstandsgrün und nicht nutzbare grüne Räume,
stellen noch keine Qualitätsverbesserung des Städtischen dar.
Hypothesen
‚ Stadtnatur wandelt sich von einer domestizierten Natur in der Stadt zu einem
gleichwertigen – weil notwendigen – Bestandteil der Stadt in Form städtischer Freiräume.
‚ Ein weites Naturverständnis erweitert die Palette möglicher Gestaltungs- und Nutzungsansätze für neu entstehende Freiräume in schrumpfenden Städten.
2.2
Landschaftsverständnis in schrumpfenden Städten
In der Folge des im vorangehenden Kapitel erörterten Naturbegriffs und verständnisses erfolgt in diesem Abschnitt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff
und dem Verständnis von Landschaft. Wenn „Landschaft […] zum Synonym für Natur
und zunehmend ästhetisch symbolisch besetzt [wird]“, so ist eine Auseinandersetzung
mit ihrem Verständnis dringend erforderlich (Dettmar 2005c, S. 147). Für die schrumpfende Stadt bietet diese Diskussion Anhaltspunkte zur künftigen Auffassung und zum
Umgang mit Landschaft und zur veränderten Rolle des Freiraums. Es herrscht in der
Profession159 genauso wenig wie unter Laien Einigkeit darüber, was Landschaft ist –
insofern sind eine Erörterung unterschiedlicher Zugänge und eine Positionierung im
Sinne der Arbeit erforderlich.
159
Zum gegenwärtigen Diskurs über die Frage „Was ist die Landschaft der Landschaftsarchitektur?“
siehe Lohrberg 2008; Eisel 2008; Schöbel-Rutschmann 2007; Eisel 2007; Körner 2006.
247
248
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
2.2.1 Landschaftsbegriff
Der Begriff der Landschaft wird im historischen160 und aktuellen Kontext unterschiedlich definiert. Das Wort „Landschaft“ ist schon seit langer Zeit im Sprachgebrauch des
Deutschen verankert.161 Landschaft bezeichnet ein „… geographisch zusammenhängendes Gebiet mit einem bestimmten Charakter, mit bestimmten Eigenschaften“
(Steinhardt 2001, S. 101). Zunächst wurde der Begriff zur Abgrenzung einer bestimmten Gegend mitsamt ihren Bewohnern genutzt. Seit der Renaissance wird der Begriff
auch in einem ästhetischen und kulturellen Verständnis gebraucht – so auch bei der
künstlerischen Darstellung von Landschaftsbildern (Steinhardt 2001, S. 101). Somit
folgt der historische Landschaftsbegriff zwei Bedeutungssträngen (Prominski 2004,
S. 52 f. unter Bezugnahme auf andere Autoren; siehe auch Ipsen 2002, S. 35):
„Regio“ steht als politisch-räumliche Bezeichnung für einen Raumausschnitt und
„Szenerie“ bezeichnet das Bild eines Mensch-Natur-Verhältnisses. Der Begriff wird von
den einzelnen Disziplinen mit jeweils eigenen Definitionen belegt. Entsprechend vielfältig ist auch sein Gebrauch in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Durch das
Alter des Begriffs „Landschaft“ und seine unterschiedliche Belegung ist er semantisch
aufgeladen, dadurch unbestimmt und damit im Grunde für eine wissenschaftliche
Diskussion untauglich und auch in der Planungspraxis schwer zu handhaben (Schenk
2006, S. 9 ff.).
IPSEN verweist auf die – in der bisherigen Verwendung – deutliche Doppelseitigkeit
des Landschaftsbegriffes, zum einen als Materialität des Raumes und zum anderen als
Konstruktion eines Bildes von einem Raum (Ipsen 2002, S. 34). Beides korrespondiert
miteinander, ist aber mitnichten das Gleiche (ebd., S. 42). Entsprechend lassen sich
zwei grundsätzliche Verständnisse von Landschaft festhalten:
(1) Der positivistische Zugang versteht Landschaft als konkrete, objektiv und physisch vorhandene Raumeinheit im Sinne eines Teils der Erdoberfläche: Nach EISEL
haben „alle Objekte räumlicher Ausdehnung im Sinne von konkreter (irgendwie
erdräumlicher) Regionalität […] eine Chance so [Landschaft, d. Verf.] genannt zu
werden.“ Auch ist Landschaft „… kein universelles oder gar ‚raumloses’ (rein
funktionales) Gebilde, sondern eine besondere Gegend …“ (Hard 2003, S. 52).
(2) In einem konstruktivistischen Zugang wird Landschaft als Konstrukt des menschlichen Bewusstseins und der Wahrnehmung auf der Grundlage von Beobachtung
160
Auf eine ausführliche und etymologische Herleitung wird an dieser Stelle mit Verweis auf andere
Autoren verzichtet (vgl. u. a. Heiland 2006b; Steinhardt 2001).
161
Althochdeutsch: lantscaf (8. Jahrhundert), lantscaft (10. Jahrhundert) = Landesteil oder Gegend.
Mittelhochdeutsch: lantschaft (1050-1350) = auch für Bewohner einer Gegend. Zur Verwendung
und zur Bedeutung des Begriffs im europäischen Sprachraum siehe Steinhardt 2001, S. 101 f.
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
definiert. Diesem Zugang folgend, soll hier auch die gegenwärtige Stadt- und
Landschaftsentwicklung betrachtet werden.
Wird Landschaft zum einen als „… Produkt eines kulturellen Prozesses“ (Overmeyer
2004) und zum anderen „… keinesfalls [als] ein beobachterunabhängiges materielles
Objekt im Sinne der Naturwissenschaften, etwa der Ökologie, sondern […] bei der
‚Beobachtung’, also bei der Landschaftswahrnehmung erst vor diesem Hintergrund
durch das Subjekt konstituiert[es]“ aufgefasst (Körner 2005b, S. 19), so wird deutlich,
dass Wahrnehmung und Verständnis von Landschaft außerhalb der Naturwissenschaften nur auf einem konstruktivistischen Ansatz basieren können. Die (kontroversen)
Meinungen und Überlegungen dazu, was Landschaft nun eigentlich ist, lassen im
Grunde keine andere Annäherung zu. Da dieser Ansatz in der modernen Landschaftstheorie bereits als weit verbreitet gelten kann, soll auch in dieser Arbeit der konstruktivistischen Sichtweise von Landschaft gefolgt werden.
Voraussetzung für „eine auf konstruktivistischen Überlegungen beruhende Landschaftsbefassung [ist] die Aufgabe des Paradigmas der strikten Trennung von Kultur
und Natur – oder, in Bezug auf Landschaft, der Trennung von Kulturlandschaft und
Naturlandschaft …“ (Kühne 2006a, S. 149). Verschiedentlich wird darauf hingewiesen, dass das Landschaftsverständnis von Landschaftslaien sehr stark durch Naturräume und -elemente geprägt ist. Hierin ist sicher auch die Ursache für die „… Nähe von
Landschaft zum Naturbegriff“ zu sehen (Ipsen 2006, S. 158).
Das konstruktivistische Landschaftsverständnis basiert auf der Annahme, dass Landschaft nicht objektiv und allgemein gültig definiert werden kann, sondern „[…] ein
durch Sozialisierung geprägtes individuelles Konstrukt“ dar[stellt] (Kühne 2006a,
S. 146). Die Wahrnehmung von Landschaft ist dabei nicht einheitlich, sondern „ … ist
auf ein Vorabverständnis angewiesen, das auf historischen Voraussetzungen beruht“.
Der Betrachter vollbringt dabei eine „konstruktive Leistung“, indem er durch eine
Synthese aus „ästhetischer Schulung“ und Distanzierung und Entfremdung von anderen lebensweltlichen Realitäten (z. B. Stadt) die Wirklichkeit interpretiert und somit
eine „kulturelle Vorleistung“ erbringt (Sieferle 2003, S. 61; siehe auch Landschaftsbewusstsein Kapitel C.2.2.2).
Die Konstruktion von Landschaft kann somit als „[…] eine Systembildung [verstanden
werden, die] mit einer Verringerung von Komplexität [verbunden ist]“ (Kühne 2006a,
S. 149). Basierend auf dieser Annahme führt KÜHNE die „gesellschaftliche Landschaft“ „… als ästhetisierte bewusstseinsinterne, sozial begründete Zusammenschau
relational im Raum angeordneter Objekte und Symbole […]“ ein (ebd., S. 149). Daneben existiert das Konzept der „angeeigneten physischen Landschaft“, welche sich
249
250
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
konstituiert aus der relationalen Anordnung physischer Objekte im Raum162, die bei der
individuellen Konstruktion von Landschaft relevant sind (Kühne 2006a, S. 149).
Die Konstruktion von Landschaft, das heißt Beobachtung vor dem Hintergrund verschiedener Bewusstseins- und sozialer Systeme, ist aber nicht nur subjektiv selektiv,
sondern auch von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig. So wird die Subjektivität
dieser Konstruktion noch ausgedehnt durch die aus Fragmentierung, Individualisierung
und Wertewandel der Gesellschaft hervorgehenden individuellen Konstruktionen und
unterschiedlichen Ansprüche an die physischen Grundlagen (ebd., S. 151). Generalisiert kann man aber durchaus ableiten, dass emotionale und ästhetische Annäherungen bei (1) „Landschaftslaien“ und im Gegensatz dazu kognitive und decodierende
Bezüge bei (2) „Landschaftsexperten“ vorherrschend sind. Erschwerend kommt hinzu,
dass auch diese Gruppen sehr heterogen sind: (1) Eine zunehmend heterogene Gesellschaft bringt auch unter Laien differenzierte Landschaftskonstruktionen hervor. (2)
Obwohl z. B. Naturschützer und Landwirte beide als Landschaftsexperten gelten, haben sie natürlich sehr unterschiedliche kognitive und damit selektive Zugänge zu diesem per se schon individuellen Konstrukt. Dies erklärt die – somit nicht nur auf unterschiedlichen Zielvorstellungen beruhenden – Missverständnisse und Konflikte zum
einen zwischen Planern und Beplanten und zum anderen auch zwischen mehr oder
weniger „aktiven Landschaftsakteuren“. Dies wird – in Bezug auf das Forschungsfeld
dieser Arbeit – auch in der Diskussion darüber deutlich, ob Städte Landschaft sind bzw.
zu ihr gehören (ebd., S. 150 f.).
Natur
In dieser Arbeit soll Landschaft als
kompositorischer Begriff verwendet werden, der eine Beziehung
zwischen Mensch und der durch
Natur und Arbeit geformten Umwelt beschreibt (Ipsen 1998,
S. 190; Ipsen 2006, S. 74; siehe
Abbildung 27).
Abbildung 27: Landschaft als
kompositorischer Begriff (Eigene
Darstellung nach Ipsen 1998, S. 190;
Ipsen 2002).
162
biotische und abiotische Ressourcen
Kultur
Kultur
Landschaft
Mensch
Soziales System
Arbeit
Kultur
Landnutzung
Im Unterschied dazu wird als „physischer Raum“ die unabhängig von der Beobachtung und damit
Konstruktion vorhandene relationale Anordnung von Objekten im Raum angesehen (Kühne
2006a, S. 149).
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Kulturlandschaft
Der Begriff der Kulturlandschaft hat seit den 1990er Jahren Konjunktur (Schenk 2006,
S. 11), auch wenn die verschiedenen raumbezogenen Disziplinen unterschiedliche
Zugänge zur Kulturlandschaft und ihrem Begriff entwickeln. Der etablierte Begriff der
Kulturlandschaft begreift Landschaft zwar in Abhängigkeit von der zeitgenössischen
Form der Bewirtschaftung, aber meist doch im Gegensatz zur Stadt: HEILAND leitet
aus der Analyse einer Fülle von Ansätzen zum Verständnis von Kulturlandschaft ab,
dass „… zumindest implizit eine (mehr oder minder unreflektierte) Konzentration auf
landwirtschaftliche geprägte Landschaften der gängige Mainstream zu sein [scheint]“
(Heiland 2006b, S. 61). Dies ist insofern erstaunlich, dass die gegenwärtige stadt- als
auch landschaftstheoretische Diskussion mehrheitlich die Aufhebung des Gegensatzes
städtischer und ländlicher Landschaft konstatiert (Kapitel C.2.2.2).
Kulturlandschaft ist „… die Bezeichnung für das Zusammenwirken natürlicher Gegebenheiten und menschlicher Tätigkeit“ (HAUSER in BMVBS, BBR 2006b, S. 41). Dabei
gilt: „Kulturlandschaften […] waren und sind nicht das Resultat der gezielten Planung
einer Landschaft. Sie sind entstanden aus unzählig vielen Einzelentscheidungen und
Anpassungsleistungen, die erst in der Summe das Bild ergaben, das wir, die einzelnen
Teile zusammen sehend, als Landschaft betrachten“ (Hahn 2005, S. 10). Auch diese
Annäherung macht die oftmals auftretende synonyme Verwendung der Begriffe
„Landschaft“ und „Kulturlandschaft“ deutlich. Da in Mitteleuropa „ursprüngliche
Landschaft“ kaum mehr vorhanden und die gesamte Umwelt kulturell geprägt ist, ist
der Begriff „Kulturlandschaft“ zur Abgrenzung von „Landschaft“ im Grunde hinfällig.
Denn der Begriff der Kulturlandschaft erfordert sein Pendant der Naturlandschaft,
welche es in der Form –zumindest in unseren Breiten – nicht mehr gibt (Apolinarski
et al. 2004, S. 5 in Bezugnahme auf u. a. HABER 2001, SCHENK 2002). Zusammenfassend lässt sich definieren: Kulturlandschaft ist „… jede anthropogen veränderte
Landschaft unabhängig von qualitativen Aspekten und normativen Festlegungen unter
Einbezug aller historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Ergebnisse anthropogener
Landschaftsveränderungen“ und „ … umfasst ländliche und stadtregionale Bereiche“
(ebd., S. 9, 27).
Entscheidend ist hierbei ein umfassendes Verständnis unserer gesamten Umgebung als
Kulturlandschaft – ob als stark vom Menschen beeinflusste städtische Landschaft oder
251
252
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
als weniger (sichtbar) vom Menschen angeeignete ländliche oder gar natürliche Landschaft. Insofern ist der Begriff Kulturlandschaft umfassend, aber auch uneindeutig.163
Stadt als Landschaft
Der alte Gegensatz von Stadt und Land löst sich immer mehr auf – zumindest was die
Situation in Agglomerationsräumen anbelangt. Insofern scheint die Forderung verständlich, „… die Bindung des Landschaftsbegriffs an das Land im Gegensatz zur Stadt
zu lösen“ (Ipsen 2002, S. 36). Der zwar weit verbreitete Dualismus der Raumkategorien Stadt und Land(schaft) (Kühn 2002, S. 5) entspricht nicht der Dynamik der aktuellen Siedlungsentwicklung. Parallel ist aber auch weiterhin von einer „… Dialektik von
Stadt und Landschaft [als Synonym für Land, Anm. d. Verf.] [auszugehen], nach der
die künftige Siedlungsentwicklung weder durch die These eines Gegensatzes von Stadt
und Landschaft noch durch die Antithese seiner völligen Aufhebung bestimmt wird“
(Kaltenbrunner 2004, S. 631).
Die Diskussion um Landschaft in Bezug zur Stadt kann von zwei Zugängen erfolgen:
Zum einen kann Stadt als Teil von Landschaft angesehen werden und zum anderen
wird Stadt als eine eigene Art von Landschaft betrachtet (Seggern 2005, S. 86). Darin
spiegelt sich eine in der aktuellen professionellen Diskussion deutliche Tendenz wider,
Landschaft als unbebauten und bebauten Raum im Sinne eines umfassenden Landschaftsverständnisses zu verstehen. Dies rechtfertigt auch die Verwendung beispielsweise der Begriffe „urbane Landschaft“ oder „StadtLandschaft“. „Die Landschaft der
Stadt ist in einem besonders dichten Ausmaß bearbeitet und belegt mit Artefakten
dieser Arbeit, und sie ist in einem komplexeren Maße als die Landschaft des ländlichen
Raumes sozial strukturiert. Aber immer noch steht alles auf Böden und Gestein, immer
noch gibt es Klima und Pflanzen, es gibt Wasser und eine spezifische Topographie, das
heißt, es gibt die Natur der Stadt. […] Von der Stadt als Landschaft zu sprechen, öffnet dabei den Blick für das Ganze der Stadt und bezieht die Naturseite der Stadt – sei
sie noch so geformt und versteckt – bewußt (!) mit ein“ (Ipsen 1998, S. 191).
Diesem Verständnis kommt auch die folgende Definition der Landschaft aus den drei
Kategorien nahe: (1) Natur, (2) deren kulturelle Formung und (3) die Wahrnehmung
163
Dem konstruktivistischen und kompositorischen Zugang folgend, wird Landschaft in der Europäischen Landschaftskonvention als „…ein Gebiet, wie es vom Menschen wahrgenommen wird, dessen Charakter das Ergebnis der Wirkung und Wechselwirkung von natürlichen und/oder menschlichen Faktoren ist“ bezeichnet (ELC Art. 1). Als Geltungsbereich werden „…natürliche, ländliche,
städtische und verstädterte Gebiete“ benannt. Weiterhin schließt die Konvention alle Landschaften
ein, „… die als außergewöhnlich betrachtet werden können, ebenso wie als alltäglich zu bezeichnende oder beeinträchtigte Landschaften“ (ELC Art. 2). Auch wenn die Konvention in Deutschland
nicht ratifiziert wurde, zeugt diese Definition von der mittlerweile im politischen Raum Europas
verbreiteten Auffassung eines breiten Landschaftsverständnisses (Bruns 2006, S. 16). Das Bundesnaturschutzgesetz macht über das zu Grunde liegende Landschaftsverständnis hingegen keine
Aussagen. Die Begriffe „Natur“ und „Landschaft“ werden teilweise als komplementäre Begriffe
verwendet.
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
von beidem in einem ästhetischen Konzept (Wolfrum 2002, S. 17 nach RITTER,
SIEFERLE). Der Unterschied der Landschaft zur Stadt scheint dabei nur im Ursprung
der Natur zu liegen, wobei eben diese objektiv zu definieren das Problem ist (ebd.,
S. 17, siehe Kapitel C.2.1.1). Im ursprünglichen Verständnis von Natur als Antithese zu
dem vom Menschen Gemachten wird auch die Gegensätzlichkeit zur Stadt deutlich.
Begreift man Natur (1) nun aber nur als ein Element der Landschaft, welche sich zusätzlich aus (2) und (3) definiert, wird deutlich, dass Landschaft nicht per se Antithese,
sondern auch Bestandteil von Stadt (oder eben andersherum) sein kann (ebd., S. 18).
Dieser relativ neue Landschaftsbegriff basiert dabei auch auf einer veränderten Wahrnehmung der Natur in der Stadt. IPSEN spricht von drei Wahrnehmungsebenen der
Landschaft in der Stadt (Ipsen 1998, S. 191 f.):
‚ Phänomenologisch: Platzierung der (Stadt-)Landschaft im räumlichen Gefüge, Elemente der Natur in der Stadt
‚ Dialogisch: Thematisierung der landschaftlichen Eigenarten und Naturelemente im
städtebaulichen Gefüge der Stadt, aber auch in jedem Einzelbauwerk
‚ Kompositorisch: Wahrnehmung der Landschaft als Stimmung oder Bild, abhängig
von den tatsächlich sichtbaren Elementen (die sich aus dem phänomenologischen
und dialogischen ergeben), individuellen Erfahrungen
Das Landschaftliche in der Stadt präsentiert sich (auch) in Freiräumen – als ursprüngliche oder geplante und mehr oder weniger von Vegetation geprägte Räume. Die Verwendung des Begriffs „Landschaft“ in solcher Art Argumentation basiert auf einem
traditionellen Landschaftsverständnis. Dass „die [städtische, Anm. d. Verf.] Freiraumplanung […] den Begriff Landschaft einfach abgeschafft [hat], weil angesichts verstädterter Räume nur noch von verbauten und unverbauten Räumen ausgegangen werden
sollte“ (Körner 2005b, S. 23), ist folgerichtig und konsequent. Dies resultiert sicher
auch aus der Schwierigkeit der Definition des Begriffs der „Landschaft“, im Gegensatz
zu dem doch relativ klar definierbaren städtischen Freiraum. Auch in dieser Arbeit soll
daher von Freiräumen in der Stadt gesprochen werden.
Landschaft als umfassendes Konzept
Die aktuelle Diskussion um den Landschaftsbegriff verdeutlicht die Vielfalt der Zugänge und gleichzeitig die Schwierigkeit der Definition. Die Verwendung des Begriffs
Landschaft impliziert heute nicht mehr eine dichotome Auffassung als Natur- oder
Kulturlandschaft. Im Gegenteil: Gerade unterschiedliche Landschaften werden von
einer sehr differenzierten Komplementarität von Natur und Kultur gekennzeichnet
(BMVBW, BBR 2005, S. 5). Wendet man ergänzend den konstruktivistischen Landschaftsbegriff an und erkennt Landschaft als das vom menschlichen Bewusstsein konstruierte Bild eines bestimmten Raumes der Erdoberfläche an, so ist die Bezeichnung
Naturlandschaft an sich schon ambivalent. Zumal es die tatsächlich unberührte Natur
im Grunde – zumindest in Mitteleuropa – nicht mehr gibt. Bei Themen, wie dem der
253
254
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
globalen Erwärmung, wird deutlich, dass jeglicher Naturraum menschlichen Einflüssen
ausgesetzt ist – auch wenn diese Art der Beeinflussung sicher nicht der bewussten
„Inkulturnahme“ zuzurechnen ist. So ist sämtliche überkommene Landschaft in ihrem
Naturcharakter zu hinterfragen, da die „angebliche Naturlandschaft“ in unterschiedlichem Maße künstlichen oder kulturellen Charakter hat und „… keine Naturlandschaft
im strengen Sinne mehr“ ist (Sieferle 2003, S. 61). Geht man parallel davon aus, dass
Landschaften „ … in vielfältiger und tiefgründiger Kulturarbeit aus Naturräumen hervorgegangen [sind] und […] somit eindeutig durch den Stoffwechsel zwischen Mensch
und Natur bestimmt [werden]“ (Steinhardt 2001, S. 105), wird zunächst die Überflüssigkeit der Unterscheidung von Natur- und Kulturlandschaften deutlich.
Im gängigen Gebrauch wird der Begriff „Natur“ zur Kennzeichnung der älteren Kulturlandschaft verwendet, entspricht aber auch hier keinesfalls der eigentlichen Bedeutung. Dennoch empfiehlt SIEFERLE eine Differenzierung der Begriffe, da auch Kulturlandschaften (als konsequent verwendeter Begriff) ein sehr großes Spektrum aufweisen können (Reichweite von im 19. Jahrhundert forstwirtschaftlich geplanten Wald bis
zum Gewerbegebiet neuer Zeit). Er begründet dies mit dem – zwar streng genommen
nur auf einem funktionalen Formenwandel beruhenden – offenbar aber existierenden
ästhetischen Unterschied zwischen der älteren, bäuerlichen Kulturlandschaft und der
Landschaft der Industrialisierung und Urbanisierung (Sieferle 2003, S. 62 f.).
Die Abkehr von dem Begriff der Naturlandschaft resultiert in der Tautologie der Begriffe Landschaft und Kulturlandschaft (BMVBW, BBR 2005, S. 4). Denn Landschaft ist
somit Kulturlandschaft, welche selbstverständlich auch immer mehr oder weniger Bestandteil von Natur ist bzw. Bestandteile von Natur inne hat (Ipsen 1998, S. 190).
Gleichzeitig spiegelt die Verwendung des Begriffs Kulturlandschaft zwei Wesenszüge
menschlichen Einflusses wider: Zum einen ist der menschliche Einfluss (in Form jedweder Kultur) – in welcher Intensität ist zunächst unerheblich – auf die „physische Landschaft“ nicht zu leugnen. Zum anderen bedeutet die Wertung eines bestimmten Gebietes als Landschaft einen kulturellen Akt menschlichen Bewusstseins. Die Verwendung des Begriffs Kulturlandschaft erscheint dahingehend plausibel. Bisher wurde der
Begriff aber meist in Zusammenhang mit der bäuerlichen, ländlichen Agrikulturlandschaft vergangener Jahrhunderte verwendet und ist somit sowohl bei Landschaftsexperten als auch bei Landschaftslaien mit bestimmten Bildern und Wertvorstellungen
verbunden. Da dies der gegenwärtigen Diskussion und vor allem hinsichtlich der integrierten Betrachtung urban geprägter Räume nicht dienlich ist, soll in dieser Arbeit auf
den Begriff der Kulturlandschaft verzichtet und der umfassende Begriff Landschaft
verwendet werden. Auch der Begriff der „Stadtkulturlandschaft“ (Sieverts 1998a,
S. 464) wird – wenn auch im Kern richtig – als nicht sonderlich praktikabel eingeschätzt. „Die Verallgemeinerung des Landschaftsbegriffes und seine Anwendung für
ländliche und städtische Räume (sowie für alles, was unsere Wahrnehmungskonzepte
weder dem einen noch dem anderen zuordnen) folgt […] einer objektiven Entwicklung
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
und ist […] kein willkürlicher Begriffstransfer“ (Ipsen 1998, S. 190; in Bezugnahme auf
die Zwischenstadt). Eine differenzierte Betrachtung und sicher auch eine alltagspraktische Verwendung erfordert gegebenenfalls Attribute, die aber immer nur als Unterkategorien zu verstehen sind (Abbildung 28), und der „Pluralisierung moderner Landschaften“ Rechnung tragen (Ipsen 2006, S. 96). Denn die Unterschiede liegen in der
Ausprägung der Landschaften, nicht aber in der generellen Zuordnung (Ipsen 1998,
S. 190 f.). JACKSON beispielsweise spricht von urbanen und ländlichen Landschaften
(Jackson 2005, S. 37). SIEVERTS empfiehlt – ausgehend von der Wahrnehmung der
Landschaft in der Zwischenstadt als Hybride und der Schwierigkeit der Zuordnung –
die Stadtlandschaft nach dem Grad ihrer Künstlichkeit bzw. Natürlichkeit zu typisieren
(Sieverts 2001a, S. 41).
In Bezug auf die schrumpfende Stadt soll Landschaft als unsere gesamte gebaute Umwelt verstanden werden, deren Entwicklung von einem „… Wechselspiel von Siedlungsentwicklung und Freiraumgestaltung“ geprägt ist (BMVBS, BBR 2006b, S. 26).
Auch wenn Freiraum in der schrumpfenden Stadt einen Bedeutungszuwachs erlangt,
so stehen die Elemente der (Stadt-)Landschaft – Gebautes und Freiraum – doch in
einer komplementären Beziehung (Kaltenbrunner 2004, S. 631). Es ändert sich dabei
zwar die Körnigkeit auf den verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen – eine völlige
Aufhebung der Gegensätze kann jedoch nicht eintreten. Dies sollte immer im Bewusstsein sein, wenn vielerorts von Durchdringung oder Auflösung von bebautem und unbebautem Raum gesprochen wird.
In Abbildung 28 sind die vorhergehend erörterten theoretischen Ansätze im Sinne des
in dieser Arbeit zu Grunde liegenden Natur- und Landschaftsverständnisses zusammengefasst. Hervorgehoben ist dabei die Stellung des städtischen Freiraums als Forschungsgegenstand dieser Arbeit. Er wird verstanden als aus Elementen der natürlichen
Umwelt gebildeter Bestandteil der Stadt (oder synonym der urbanen Landschaft).
255
256
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Natur
im umfassenden Sinne
Kulturlandschaft = kulturelle Formung der ursprünglichen Naturlandschaft
Urbane Landschaft
Landschaft
= Wahrnehmung als ästhetisches Konzept
= geformte Umwelt
Stadt
als kulturelle Formung
Ländliche Landschaft
Landwirtschaft
als kulturelle Formung
Freiraum
Stadtnatur
Natur
im Sinne der natürlichen Umwelt
abiotische Faktoren
biotische Faktoren
Naturlandschaft = (weitgehend) vom Menschen unbeeinflusst; im Raumkontext schrumpfender
Städte nicht mehr vorhanden
Abbildung 28: Verständnis von Natur und Landschaft im Kontext schrumpfender Städte (Eigene
Darstellung unter Bezugnahme auf Jackson 2005; Hahn 2005; Wolfrum 2002; Heiland 1999;
Ipsen 1998; Kowarik 1993).
2.2.2 Landschaftsbewusstsein
Die Konstruktion von „gesellschaftlichen Landschaften“ durch das Bewusstsein kann
mit IPSEN und seinem Ansatz des „Landschaftsbewusstseins“ untermauert werden
(Kühne 2006a, S. 149). Dem liegt zu Grunde, dass Landschaft als integrierter Begriff,
der einen Raum mit seinen naturräumlichen Gegebenheiten, seiner Nutzung, seiner
sozialen Strukturierung und kulturellen Bedeutung anspricht, definiert wird (Ipsen
2002, S. 43; siehe Abbildung 27). Wirken diese Aspekte bei Akteuren handlungswirksam zusammen, kann man von „Landschaftsbewusstsein“ sprechen. Dieses wiederum
ist durch drei Dimensionen zu charakterisieren: (1) das Wissen um eine Landschaft, (2)
die ästhetische Wahrnehmung und Bewertung und (3) die emotionale Bedeutung und
Identität (ebd., S. 43; Ipsen 2006, S. 83 f.). Die Dialektik des Landschaftsbewusstseins
und der materiellen Landschaft (ebd., S. 84) kann die sehr unterschiedlichen Zugänge
und Wahrnehmungen von Landschaft erklären (Kühne 2006a, S. 149) und spielt auch
bei der Gestaltung schrumpfender Städte eine Rolle.
257
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
In Abbildung 29 wird dargestellt, wie das Bild von einer Landschaft mit der (materiellen) Landschaft korrespondiert und so auf ihre Bewertung, Nutzung und Gestaltung
wirkt: „Begriff und Realität von Landschaft sind sicherlich aufeinander bezogen, aber
keineswegs identisch“ (Ipsen 2006, S. 149). Dies bedeutet, dass sich eine Landschaft
verändern kann, ohne dass sich das Bild und in der Folge der Umgang damit ändern.
Diese „Diskrepanz von Bild und Wirklichkeit“ entsteht immer dann, wenn es eine
Ungleichzeitigkeit zwischen dem (langsam veränderlichen) Landschaftsbewusstsein
und der (sich meist schneller vollziehenden) realen Landschaftsentwicklung gibt. Diese
Problematik wird seit dem 20. Jahrhundert, und insbesondere auch aktuell deutlich:
Das im Landschaftsbewusstsein verankerte Festhalten an arkadischen Landschaftsbildern einerseits und die Schwierigkeiten der Akzeptanz der materiellen Landschaft beispielsweise in Form der Zwischenstadt oder auch schrumpfender Städte andererseits
macht es schwierig, planerisch oder gestalterisch auf die reale Landschaft einzuwirken
und damit tatsächlich auf die Realität zu reagieren (ebd., S. 84 f.). Parallel muss man
aber konstatieren, dass sich ohne diese Ungleichzeitigkeit, Heimat-, Landschafts- und
Naturschutz wahrscheinlich nicht hätten etablieren können (ebd., S. 85). Wobei dies
gleichzeitig auch das Dilemma dieser Schutz- und im konventionellen Verständnis
Konservierungsbestrebungen ist. Aus diesem Grund empfiehlt IPSEN, bei der Untersuchung und Steuerung von Landschaftsentwicklung Begriff (Abbild des Landschaftsbewusstseins) und Materialität zu unterscheiden, da beide Zugänge zwar korrespondieren, aber in der Regel nicht das Gleiche bedeuten (ebd., S. 149).
Prägung
genetisch, kulturell, regional, soziostrukturell, biographisch
Landschaftsbewusstsein
Dimensionen
kognitiv, ästhetisch und emotional
Dialektik
Korrespondenz
Materialität der Umwelt
Landschaft
Gestaltung
Nutzung oder
politische Regulation
Abstraktion und Reduktion
Landschaftsbewusstsein
Konstruktion eines Bildes
Abbildung 29: Verhältnis des Landschaftsbewusstseins zur materiellen Landschaft (Eigene
Darstellung nach Ipsen 2006, S. 84, 87).
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Ein veränderter Umgang mit den aktuell real vorzufindenden Landschaften
würde eine Änderung des Landschaftsbewusstseins voraussetzen, welches
sich wiederum über seine Prägungen
strukturiert und konstituiert. Dies ist ein
langwieriger Prozess, der zudem eine
(sowohl inhaltliche als auch zeitliche
und vielleicht sogar räumliche) Distanz
zum Gegenstand, also der materiellen
Landschaft erfordert (Ipsen 2006,
S. 86). IPSEN beschreibt drei Möglichkeiten für die Veränderung des Verhältnisses von der Materialität und des
Bewusstseinskonstruktes der Landschaft
(ebd., S. 149 ff.; Abbildung 30):
l
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Konzept, Bild, Konstrukt der
Lansdschaft im Bewusstsein
258
siv
res
reg
Materialität der Landschaft
Abbildung 30: Veränderungsmodi von Bild
und Materialität der Landschaft (Ipsen 2006,
S. 152).
(1) Von einem synchronen Wandel könnte man sprechen, wenn sich das Landschaftsbewusstsein gleichermaßen wie die Landschaft selbst verändert und somit ein ästhetisch positiv bewertetes Landschaftsbild entstehen würde. Dieser Modus ist jedoch in
der Regel nur theoretisch vorhanden.
(2) Die immer wiederkehrende Ungleichzeitigkeit von Bewusstsein und Wandel wird
durch das regressive Anpassungsverhalten widergespiegelt: Für die „Normalität“ dieses Modus spricht die im Verlauf der Entwicklung in neuen Zusammenhängen immer
wiederkehrende Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen: z. B. die Großstadtkritik
zur Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, Kritik an den ausgeräumten Ackerfluren
moderner Agrikulturlandschaften in den 1970er Jahren und aktuell die Kritik an verstädterten Agglomerationsräumen mit Siedlungsbrei und Naturraumzerschneidung.
Dieser Umstand führt dazu, dass nicht mit „… Begriffe[n], Bilder[n] oder ästhetische[n]
Urteil[en] …“ argumentiert wird, „… sondern im Gegenstand selbst die Störung identifiziert [wird], die man als Verlust empfindet“ (Ipsen 2006, S. 150). Beispiel hierfür ist
die vermeintlich höhere ökologische Wertigkeit von traditionellen bäuerlichen Agrarlandschaften im Gegensatz zur Stadt. Dieser ist auch im Zusammenhang mit der Formulierung von Leitbildern (Kapitel C.1) von Bedeutung: „Müssen Leitbilder nicht von
vornherein unter Ideologieverdacht gestellt werden, weil sie als regressive Bilder nur
‚falsches’ Bewusstsein vermitteln können?“ (Sieverts 1998b, S. 24).
(3) Werden zunächst die Bilder und Begriffe der Landschaft verändert, ohne dass sich
die Landschaft ändert, kann man aktiv in die materielle Landschaft eingreifen und
diese entsprechend der neuen Bilder in Wert setzen. Dieser als hyperreal bezeichneter
Veränderungsmodus scheint im Rahmen der IBA Emscher Park gelungen zu sein. Auch
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
für die IBA Fürst-Pückler-Land zeichnen sich ähnliche Erfolge ab. Die negativ besetzte
und so auch wahrgenommene industriell geprägte Landschaft konnte nach einer gewissen Distanzierung in Wert gesetzt werden (Ipsen 2006, S. 91, 150 f.). Insofern ist
ein verändertes Landschaftsbewusstsein vor allem Ausdruck einer sozialen Distinktion –
das heißt Abgrenzung von bisherigen Wahrnehmungsmustern (Kühne 2006b). Inwiefern Distanzierung auch dadurch erreicht wird, indem sich „ortsfremde“ und nicht von
der Entstehung der Landschaft geprägte Planer einer Landschaft annehmen, kann hier
nur vermutet werden. Aber auch die Wertschätzung der bäuerlichen Agrarlandschaft
ist erst entstanden, nachdem ein Großteil der Bevölkerung in dieser Landschaft nicht
mehr arbeitete und lebte (Tessin 2002, S. 38 f.). Die ästhetisch-ideologische
Inwertsetzung städtischer Brachflächen seit den 1970er Jahren ist ein weiteres Beispiel
für ein verändertes Bewusstsein und in der Folge einer veränderten Wertschätzung,
wenn auch vor allem auf professioneller Seite (ebd., S. 35 f.). Wobei auch hier davon
ausgegangen werden kann, dass dieses Bewusstsein nicht in allen Bevölkerungsteilen
gleichermaßen vorhanden ist – die Akzeptanz und die Aneignung von Brachflächen ist
nach wie vor oft Kindern bzw. bildungsnahen Menschen zuzuschreiben (vgl. u. a.
Hannig 2006).
2.2.3 Landschaftskonzepte
In der aktuellen Diskussion um das Verständnis von Landschaft vor dem Hintergrund
der Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land werden verschiedene Zugänge
und Konzepte entwickelt. Es können vier Interpretationsformen von Landschaft als
Grundlage für den architektonisch-planerischen Umgang mit Landschaft unterschieden
werden (Hahn 2005, S. 8 ff.):
(1) Bei der Auffassung einer ästhetischen Landschaft steht der zweckfreie und kontemplative Umgang mit („schöner“) Landschaft im Vordergrund. Problematisch
gestaltet sich hierbei der Gegensatz von objektivem Planungsverständnis und subjektiver Ästhetikempfindung.
(2) Der Wahrnehmung von Landschaft als Natur liegt ein Verständnis von Natur in
einem vorkulturellen Urzustand zu Grunde. Landschaft wird hier verstanden als
Lebensraum von Pflanzen und Tieren, der vor menschlichen Eingriffen geschützt
werden soll. Das Ziel ist das „Intaktbleiben“ der „wahren“ Natur. Dabei wird
Landschaft als Ökosystem betrachtet, was naturwissenschaftlich untersucht werden kann und somit wird die sinnliche Wahrnehmung auf das visuelle Landschaftserlebnis reduziert.
(3) Nähert man sich der Landschaft als historische Kulturlandschaft so steht hier die
Bewahrung und Präsentation von Landschaft als geschichtliches Zeugnis gesellschaftlicher (industrieller) Entwicklung im Vordergrund. Dabei sind die historischen
Landschaftsbilder „kulturelle Interpretationen unserer Welt“ und „Ausdruck einer
259
260
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
bestimmten Epoche der Umweltaneignung“ (Hahn 2005, S. 10). Dies äußert sich
in einer musealen Wahrnehmung von Freizeitlandschaften.
(4) Der Ansatz der verstädterten Landschaft oder Zwischenstadt interpretiert Landschaft als Umfeld einer vollständig verstädterten Gesellschaft. Somit bekommt
Landschaft einen gesellschaftlichen – und auch ökonomischen – Wert als
Wohnumfeldqualität. Dies erfordert eine zugängliche Landschaft, basierend auf
der Anerkennung „‚milieutypischer’ Wohnumgebungen gewisser Lebensstile“ und
der Wahrnehmung dieser nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung (städtischen) Wohnens (ebd., S. 11).
Seit einigen Jahren wird der – auf der vorindustriellen oder ländlichen (Kultur-) Landschaft beruhende – idealisierte Zugang zu Landschaft angesichts der, von Zersiedelung
und Verstädterung sowie landwirtschaftlicher Intensivierung geprägten, realen Situation im Hinblick auf seine Wahrnehmbarkeit und Gestaltungsfähigkeit in Frage gestellt.
Inwiefern damit tatsächlich neue Ansätze und Zugänge zu Landschaft verbunden sind
bzw. notwendig werden, wird derzeit intensiv theoretisch diskutiert. Im Folgenden
werden die dieser Arbeit zu Grunde liegenden Denkmodelle, Begriffsbestimmungen
und Annäherungen hinsichtlich ihrer Relevanz für die Entwicklung der schrumpfenden
Stadt erörtert. Diese Landschaftskonzepte stehen allesamt für die von HAHN formulierte vierte Kategorie: Bei diesen Landschaftskonzepten handelt es sich um Beschreibungen gegenwärtig zu beobachtender Tendenzen in der Raumentwicklung und weniger um Konzepte zum Umgang mit dem Phänomen der Verstädterung der Landschaft bzw. Verlandschaftlichung der Stadt. Sie repräsentieren die Diskussionsrichtung
der jüngeren Landschaftstheorie, dass heute sämtlicher Raum vom Menschen beeinflusst ist, und die Unterscheidung von Natur- und Kulturlandschaft nicht mehr trägt.
Die unterschiedlichen Ansätze bieten dabei Anregungen für den Umgang mit Freiraum
in schrumpfenden Städten.
Totale Landschaft nach SIEFERLE
SEFERLE differenziert die Kategorien der historischen „Agrikulturlandschaft“ und der
sich gegenwärtig ausbreitenden „Totalen Landschaft“. „Die totale Landschaft folgt
dem eigentümlichen Vorbild einer systemverhafteten Individualisierung. Sie ist mobilisiert und konstruiert, doch nicht geplant, im Gegenteil: Sie gehorcht dem Prinzip sekundärer Naturwüchsigkeit“ (Sieferle 2003, S. 71). „Die Totalität der totalen Landschaft ist ein Residualprodukt einer Vielzahl von Handlungen, die jeweils eigene Zwecke verfolgen“ (ebd., S. 74). Als Folge von Industrialisierung, Modernisierung und
Urbanisierung ist sie gekennzeichnet durch einen permanenten Wandel, der auf nur
flüchtigen Differenzierungen beruht und gewissermaßen beliebige und standardisierte
Bauformen hervorbringt, die weitestgehend von ihrem Errichtungsort emanzipiert sind
(ebd., S. 63 ff.). Trotz ihrer Komplexität sind die Elemente der totalen Landschaft (und
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
hier vor allem die in der Sache begründete Dauerhaftigkeit des Gebauten) von schneller Vergänglichkeit (Sieferle 2003, S. 72).
Gleichzeitig gibt SIEFERLE zu bedenken, dass die gegenwärtige „Totale Landschaft“
eine Transformationslandschaft ist, die keinesfalls eine stabile endgültige Form, sondern die „Signatur der Vorläufigkeit“ besitzt (ebd. S. 75). Wie allerdings die „Landschaft der Zukunft“ – vermutlich gekennzeichnet durch Informationsüberfluss und
Energie- und Ressourcenknappheit – entstehen und aussehen wird, bleibt „vollständig
im Dunkeln“ (ebd., S. 76). Der Anspruch der „Totalität“ bei SIEFERLE wird auch in
Frage gestellt. Ausgehend davon, dass Landschaft nicht komplett in Kultur genommen
werden kann, da natürliche Elemente immer mehr oder weniger eine Rolle spielen
(und wenn als Natur nur noch der Mensch übrig bleibt), ist auch künftig eine Differenzierung unterschiedlicher Landschaften möglich und nötig (Berr, Friesen 2007).
Die wachsende Anzahl an Freiflächen und Freiräumen in der schrumpfenden Stadt und
damit ihre Angleichung an Raumbilder der Zersiedelung sprechen für die Passfähigkeit
des Konzeptes der „Totalen Landschaft“ für die schrumpfende Stadt. Dabei bedeutet
die von SIEFERLE beschriebene Unsicherheit und Unplanbarkeit der gegenwärtigen
Transformationslandschaft für die schrumpfende Stadt zum einen, dass die fortschreitende räumliche Sichtbarkeit der Schrumpfungsprozesse nicht aufzuhalten ist und zum
anderen, dass der endgültige Zustand noch nicht erreicht ist und evtl. auch nie erreicht
werden kann und somit evtl. auch kaum zu gestalten ist.
Landschaft Drei nach JACKSON164
Voraussetzung einer Annäherung an Landschaft ist für JACKSON, sie als „Konzept“
(Jackson 2005, S. 29) zu betrachten, in der Gesamtheit von Ursprung, Funktion und
mit Bezug zur menschlichen Existenz als schöpferische Kraft (ebd., S. 31). Dabei soll
Landschaft „… als eine Form der Organisation des Raumes …“ (ebd., S. 34) wahrgenommen werden, wobei sie mehr ist als „… räumlicher Ausdruck einer gegebenen
sozialen Ordnung …“, denn sie entwickelt sich auch nach ihren eigenen Gesetzen
(ebd., S. 31).
JACKSON165 benennt zwei vergangene und einen gegenwärtig anzutreffenden Landschaftstypen (ebd.). Die Landschaft Eins ist für ihn die tatsächlich mittelalterliche bäu-
164
In Fortführung der Gedanken JACKSONs entwickelt PROMINSKI sein Verständnis der „Landschaft
Drei“ (Prominski 2004). Aufgrund des ähnlichen Grundgedankens und der wenig konkreten weiteren Ausdifferenzierung wird dieser Ansatz an dieser Stelle auch unter Verweis auf kritische Anmerkungen bezüglich der Eignung als neues Konzept (Körner 2005b, S. 105 ff.; Eisel 2007, S. 50) nicht
erörtert.
261
262
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
erliche Agrarlandschaft, die die Zugehörigkeit zu einer arbeitenden Gemeinschaft verdeutlicht und durch viele verschiedene Räume, von kleiner und unregelmäßiger Form,
schnell veränderlich in Nutzung, Eigentumsverhältnissen und Ausdehnung geprägt ist.
Die Umkehrung dieses Konzeptes ist für ihn die Landschaft Zwei, die sich seit der Renaissance durch eindeutig definierte, in sich abgeschlossene, wohlgeformte und schöne Räume kennzeichnet, deren Nutzung auf einen Zweck gerichtet und homogen
erscheint.
Die sich gegenwärtig ausformende Landschaft Drei ist momentan kaum zu beschreiben und vereint Wesenszüge und Ursprünge der Landschaft Eins mit dem noch immer
als Idealzustand geltenden Bild der Landschaft Zwei (Jackson 2005, S. 37 ff.). Voraussetzungen für die Wahrnehmung und damit auch Gestaltbarkeit der gegenwärtigen
Landschaft sind für JACKSON einerseits die Akzeptanz der Mobilität als Ausdruck des
Vernakulären (und damit ein wichtiges Merkmal der Landschaft Eins) und andererseits
das Bekenntnis zu einer stabilen sozialen Ordnung (als Merkmal der Landschaft Zwei)
(ebd., S. 41). Eine ideale Landschaft ist dabei eine, in der „… Beständigkeit und Wandel im Gleichgewicht sind“ (ebd., S. 32).
Entsprechend des Ansatzes von JACKSON kann – unter Anerkennung der aktuellen
Entwicklung und der entstehenden Raummuster – Freiraum als ordnendes und sichtbares Element genutzt werden, um weiterhin Gestaltqualitäten in der schrumpfenden
Stadt zu entwickeln.
Zwischenstadt nach SIEVERTS
Die an anderer Stelle als städtebauliches Konzept beschriebene „Zwischenstadt“ (Kapitel C.1.3.2) bietet durch die große Rolle, die dem Freiraum beigemessen wird, auch
Ansätze zum Verständnis der urbanen Landschaft. Auch wenn die Aussage, dass die
„... Landschaft zum eigentlichen Bindeelement der Zwischenstadt werden …“ muss
(Sieverts 2001b, S. 20) verdeutlicht, dass die Zwischenstadt nicht als neues Landschaftskonzept gedacht war, lassen sich doch Anknüpfungspunkte für ein verändertes
Landschaftsverständnis finden (Körner 2006, S. 18).
165
JACKSON ist ein Vertreter der „cultural landscape studies“, einem in den USA seit den 1950er
Jahren verankerten Forschungsfeld, welches sich mit einem theoretischen Ansatz zum Verständnis
der Landschaft beschäftigt. Im Rahmen der „cultural landscape studies“ wird Landschaft als Erweiterung des herkömmlichen Begriffs der Kulturlandschaft um andere alltagskulturelle Praktiken verstanden und als bebauter und unbebauter Raum aufgefasst. Diese Auffassung ist angelehnt an einen Kulturbegriff der „… verstanden [wird] als Praktiken, die an handelnde Personen innerhalb einer Gesellschaft gebunden sind“ (Franzen, Krebs 2005, S. 8). Dabei kann dieser (amerikanische)
Ansatz Impulse für die Wahrnehmung und Lesbarkeit sich auch in Europa verstetigender Agglomerationen, Zwischenstädte und Stadtlandschaften bieten, da bebauter und unbebauter Raum gleichsam in die Betrachtungen einbezogen werden (ebd., S. 309).
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
In der Zwischenstadt wird eine zentrale Rolle der Landschaft erwartet. Die Verwendung des Begriffs Landschaft ist dabei ambivalent: Zum einen beschreibt er den Gegensatz zum Städtischen und zum anderen auch die gegenseitige Durchdringung von
Stadt und Land. Landschaft versteht er zunächst als identitätsstiftende Raumgestalt mit
der Möglichkeit der ökologisch-funktionalen Qualifizierung der Zwischenstadt. Dies
setzt einen tief greifenden Wandel der Landschaft, die in der Stadt liegt, voraus. Durch
die zunehmende „Verästelung“ und „fraktale Struktur“ des Stadtgefüges (Sieverts
2001a, S. 38) ändert sich allerdings das Raumgefüge: „Die fragmentierten Freiflächen
bilden nicht mehr den Grund, auf dem die Siedlungsfragmente als eine Figur ablesbar
wären“. Er revidiert damit ursprüngliche Ansätze der tragenden Funktion des Freiraums. Ob sie noch als räumliches Bindeglied für die Siedlungen fungieren können,
bleibt fraglich …“ (Sieverts et al. 2005, S. 99). Trotzdem ist die Freiraumentwicklung
ein für die Zwischenstadt „konstitutives Thema“ (ebd., S. 36). SIEVERTS proklamiert,
dass wir unser Verständnis von Kulturlandschaft ändern müssen, um angemessene
Antworten auf die Phänomene der Zwischenstadt zu finden: „Diese Kulturlandschaft
wird in den Ballungsräumen eine verstädterte Landschaft sein, eine Zwischenstadt
zwischen Kultur und Natur“ (Sieverts 2001b, S. 55). Hier wird zwar einerseits die undifferenzierte Verwendung des (Kultur-)Landschaftsbegriffs deutlich. Andererseits
beschreibt er so mit der Zwischenstadt einen Landschaftstyp, der Natur und ihre kulturelle Prägung in Form des Städtischen vereint.
Bei der Zwischenstadt handelt es sich nicht um ein singuläres Landschaftskonzept –
interessant sind allerdings die Ansätze zu ihrer Gestaltung, die auf schrumpfende Städte teilweise übertragbar sind. Die Notwendigkeit einer neuen Form für die Landschaft
wird erkannt: „Die Landschaft in der Zwischenstadt verändert sich durch das Wachstum der Siedlungsflächen und der technischen Infrastruktur und muss neu begriffen
werden, um gestaltet werden zu können“ (Sieverts et al. 2005, S. 27). Für diese neuen
Ansätze bedarf es zunächst, diesen neuen Landschaftstyp anzuerkennen und die konventionellen Vorstellungen von Landschaftsgestalt und vor allem Schutzbestrebungen
zumindest teilweise abzulegen. Denn die „… Ablehnung der neuen Formen urbaner
Landschaften und der neuen, damit verbundenen Naturformen beruht zu einem Gutteil auf den Sichtweisen des traditionellen Natur- und Landschaftsschutzes …“
(Sieverts 2007, S. 10). Die freiraumplanerischen Ansätze für die Gestaltung der Zwischenstadt sind oftmals regionale Grünzüge und Freiraumverbundsysteme. Die Planung folgt hier „… meist bekannten Zielvorstellungen von Sicherung, Bewahrung,
Ordnung und Gestaltung“ (Dettmar 2005c, S. 146). Die Freiräume der typischen Zwischenstadt sind als Restflächen der ursprünglichen, agrarischen Landschaft der Stadtränder land- und forstwirtschaftlich geprägt – trotz der anhaltenden Flächeninanspruchnahme. „Die Natur in der Zwischenstadt – lange Zeit vom herkömmlichen Naturschutz als nicht bedeutsam und schutzwürdig angesehen – hat eigene spezifische
Qualitäten, die auch in der Gestaltung eingesetzt werden können“ (Sieverts et al.
263
264
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
2005, S. 27). Freiraum wird nicht nur zum gestalterischen Element der Zwischenstadt,
er erfüllt auch drei wesentliche Funktionen: Freiraum wird gebraucht als Produktionsort von Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen, als Ort des ökologischen
Ausgleichs für die städtischen Nutzungen und er bietet Raum für Erholung „… in einer
als schön begriffenen Stadtlandschaft“ (Sieverts 1998a, S. 464). All dies erfordert die
Integration von Land- und Forstwirtschaft in die Gestaltung und Nutzung der zwischenstädtischen Freiräume (ebd., S. 465). Aktuelle Tendenzen der Ausprägung der
Freiräume in schrumpfenden Städten zeigen die Verwendung ähnlicher Gestaltungsund Nutzungsformen.
Landscape Urbanism nach WALDHEIM
Die Landschaft als ein Mittel die Stadt zu begreifen und in sie einzugreifen (Waldheim
2006, S. 16), bietet für schrumpfende Städte zahlreiche Ansatzpunkte einer Gestaltung, die auf eine hohe Bedeutung des Freiraums abzielt. Die Strömung des
„Landscape Urbanism“ – vor allem vertreten durch WALDHEIM seit Ende der 1990er
Jahre – fasst Ansätze bzw. Auffassungen der Stadtgestalt(ung) zusammen, bei denen
die Wechselbeziehungen und das Zusammenspiel von baulichen und landschaftlichen
Strukturen die Stadtgestalt bzw. Stadtlandschaft bestimmen. Landscape Urbanism
beschreibt eine gegenwärtige Neuausrichtung der Disziplinen, welche die Architektur
als das grundlegende Element der Stadtplanung ablöst. Quer durch die Disziplinen ist
„Landschaft“ sowohl die Brille durch die sich die zeitgemäße Stadt darstellt als auch
das Medium, welches die Stadt konstituiert (Ü. d. A., Orig., S. 11). Suburbanisierung,
Schrumpfung, architektonische Beliebigkeit, Entdichtung, Verlust öffentlicher Räume
und der Verlust städtischer Form in den amerikanischen Städten führt zu einer neuen
Bedeutung und Funktion der Landschaft: Sie stellt ein vielfältiges Medium für die Gestaltung und Ausformung der Stadtstruktur (urban form) dar, insbesondere im Zusammenhang mit der natürlichen Umwelt, altindustrialisierten Räumen und öffentlicher Infrastruktur (ebd., S. 15). Insofern scheint er auch als Planungsansatz für die für
den deutschen bzw. mitteleuropäischen Raum beschriebenen „Zwischenstädte“ geeignet. Der Begriff des „Landscape Urbanism“ wird in der aktuellen Diskussion sehr
unterschiedlich verwendet: wenn er eine Planungsdisziplin oder konkrete Entwurfsmethode beschreibt, entspricht er am ehesten den von WALDHEIM intendierten Inhalten.
Indem solch vermeintlich dialektische Begriffe wie „landscape“ und „urbanism“ gemeinsam verwendet werden und sogar zu einer praktischen Anwendung kommen,
kann eine Neuausrichtung der Disziplinen vermutet werden. Eine Anerkennung der
weiter vorhandenen Unterschiedlichkeit der architektonischen und landschaftlichen
Materialität ist notwendig – neu ist dabei nur die Maßstäblichkeit: Die gleichzeitige
Betrachtung der beiden städtischen Elemente kann durchaus zukunftsfähig sein, aber
nur wenn die spezifischen Eigenarten anerkannt und genutzt werden (Corner 2006,
S. 24, 32 f.). Damit sollte der „Landscape Urbanism“ weniger als ein Modell oder
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Leitbild angesehen werden, denn die städtebauliche Ausformung seiner Grundgedanken kann durchaus unterschiedlich sein. Er stellt ein „operatives Landschaftsmodell für
die Stadtregion“ dar, welches auch begründet ist durch die Notwendigkeit neuer Impulse für den Urbanismus, die offensichtlich nur aus landschaftlichen Themen gezogen
werden können (Tischer 2004, S. 19).
2.2.4 Fazit: Schrumpfende Stadt als Landschaft – Auswirkungen auf die Rolle des
Freiraums
IPSEN beschreibt die, den neuen Begriffen zu Grunde liegende Realität als „Verflüssigung von Landschaft“, die dazu geführt hat, dass man den „… Begriff der Landschaft,
das Bild der Landschaft verloren [hat]“ (Ipsen 2006, S. 152 f.). Er proklamiert: „Indem
man alte Begriffe von Landschaft verwendet, um neue Landschaften zu beschreiben
und zu bewerten, wird das Neue als Verlust empfunden. … Es fehlt ein neuer Begriff
für eine neue Landschaft“ (ebd., S. 150). Die neuen Namen (Landschaft Drei, Totale
Landschaft, Zwischenstadt) dieser konsequenteren Sichtweise spiegeln die Notwendigkeit der Abgrenzung vom bisherigen – und sicher auch noch weiter im breiten Sprachverständnis verankerten – Begriff der Landschaft wider. In dem in dieser Arbeit zu
Grunde liegenden Verständnis wird von diesen analytischen Begriffen Abstand genommen und „Landschaft“ als übergreifender Begriff verwendet, der per Definition
und Attribut differenziert werden kann.
Die gestalterische Bewältigung gegenwärtig anzutreffender Landschaften – und hier
sind vor allem suburbanisierte Zwischenstädte, aber auch Wohnfolgelandschaften in
schrumpfenden Städten gemeint – braucht ein Bild von Landschaft. Es bestehen jedoch
Zweifel, dass sich dieses tatsächlich von den tief verankerten Vorstellungen der Landschaft Zwei unterscheiden kann und wird (Hard 2003, S. 52). Dies liegt zum einen an
der Verwurzlung der arkadischen Idee der Landschaft (Zwei) und zum anderen an der
geringen Signifikanz und dem Mangel an Qualitätsmerkmalen und damit Qualifizierungsansätzen der (neuen) Landschaft (ebd., S. 52; Körner 2006).
Sowohl das Wachsen als auch das Schrumpfen von Städten ist mit einer Auflösung der
traditionellen Städte und der Urbanisierung der (ursprünglichen) Landschaft verbunden, was eine Trennung in Stadt und Landschaft (in ihrem herkömmlichen Verständnis) erschwert und im Grunde auch nicht mehr rechtfertigt (Dettmar 2005a, S. 58).
Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich die Bausteine an sich auflösen: „… Die Identität der Stadt [basiert] gleichermaßen auf Gestalt und Funktionsweise der bebauten
und auch der unbebauten, ‚vegetativen’ Flächen …“ (Kaltenbrunner 2004, S. 636). So
durchmischt die städtische Landschaft auch ist, auf der Mikroebene sind trotzdem
scharfe Abgrenzungen erforderlich. Die unterschiedlichen Cluster von Städtischem und
Natürlichem brauchen eine architektonische bzw. räumliche Bestimmung und Gestaltung. Wird bei der Beschreibung der künftigen Stadtform von ein- und ausgelagerten
Landschaftsräumen gesprochen (ebd., S. 636), so sollen darunter hier Freiräume ver-
265
266
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
standen werden. Unter der Annahme, dass die Substanz von sowohl Stadt als auch
Natur weiterhin vorhanden ist und sich nicht völlig ineinander auflöst, gibt es einen
Gestaltungsbedarf der Konturen. Diese „Re-Konturierung“ kann „… über das planmäßige Vorantreiben der Landschaft gegen die Siedlung herbeigeführt …“ werden
(Ganser 2002, S. 89).
Auch wenn die neuere theoretische Auseinandersetzung mit Landschaft und deren
Ausprägung nicht explizit Anhaltspunkte für den künftigen Umgang mit diesen Landschaften bietet, so verdeutlicht sie doch die Notwendigkeit der Anerkennung dieser
Aufgabe als freiraumplanerisches Handlungsfeld. Ob sich neue Stadt in die agrarische
Landschaft oder neue landschaftliche Elemente in die alte Stadt ausbreiten, ändert
kaum die räumliche Konfiguration der urbanen Landschaft. Die räumlichen Bilder sind
ähnlich, wenngleich sich räumliche Ausdehnung und natürlich die Vorzeichen unterscheiden. Insofern ist die Herausforderung der Anerkennung beider Entwicklungsrichtungen ebenso ähnlich wie wichtig. Erst die Akzeptanz dieser städtischen Formen bzw.
urbanen Landschaften als solche macht sie auch mit freiraumplanerischen Mitteln
gestaltbar. Ein bewusstes Einwirken auf den Verlauf der räumlichen Schrumpfungsprozesse, ausgehend von einer neuen Vorstellung der Figur der schrumpfenden Stadt,
setzt notwendigerweise ein verändertes Landschaftsbewusstsein – bezogen auf die
urbane Landschaft – nach IPSEN voraus.
Notwendigkeit eines veränderten Blicks auf die schrumpfende Stadt
Die Akzeptanz stark räumlich schrumpfender oder bereits geschrumpfter Stadtgebiete
als Ausprägung von urbaner Landschaft ermöglicht Sichtweisen, die die Voraussetzung
für eine Anerkennung und später Qualifizierung sind.
Die Beschreibung der „Zwischenstadt“ (Sieverts 2001b) setzt in diesem Spannungsfeld
ein: Sie „… hat genau diese Beschreibung als Grundlage für das Verstehen geliefert.
“… Indem er sie [Siedlungsstruktur der Ballungsräume, d. Verf.] zur „Stadtlandschaft“
deklariert und sie semantisch auf eine Ebene bringt mit anderen, etwa Gebirgs- Flussoder Heidelandschaften“ ist der erste Schritt für eine Inwertsetzung der „Zwischenstadt“ gemacht (Tessin 2002, S. 38). Die „Zwischenstadt“ ist ein gutes Beispiel einer
ästhetisch-ideologischen Inwertsetzung eines bisher alles andere als positiv besetzten
Phänomens der Stadtentwicklung. Durch diese „Blickveränderung“ und die Verwendung des positiv besetzten Landschaftsbegriffs zur Beschreibung der „verstädterten
Landschaft“ oder der „verlandschafteten Stadt“ kann ein neues Landschaftsbewusstsein entstehen, was wiederum Voraussetzung einer Qualifizierung ist (ebd., S. 36 ff.).
Ob und wann dies gelingt, ist dagegen unsicher, denn die pure Anerkennung der
Realität bedeutet noch keine Qualität (Körner 2005b, S. 99). Auch wenn SIEVERTS die
Realität operationalisiert und die neue Siedlungsform mit Landschaft gleichsetzt, bedeutet eine Inwertsetzung doch mehr und braucht wahrscheinlich noch einige Zeit
(Tessin 2002, S. 40). Die ländliche Landschaft erscheint in der menschlichen Wahr-
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
nehmung – und damit Konstruktion – als ein „sinnvolles Produkt aus Kultur und Natur“. „Bei den verstädterten Räumen funktioniert aber offenbar diese ästhetische Syntheseleistung durch den ‚landschaftlichen Blick’, der das vorliegende Raumgebilde zu
einem sinnvollen Ganzen zusammenfasst, nicht mehr“ (Körner 2007, S. 6).
Der Umgang mit den landschaftlichen Potenzialen in der Zwischenstadt kann in Anlehnung an die Vorgehensweise in urban-industriellen Räumen, wie beispielsweise bei
der IBA Emscher Park, erfolgen. Dieser Ansatz kann im Nachhinein als erfolgreiche
Strategie der Inwertsetzung einer degradieren Landschaft mit (1) ökologisch orientierter Freiraumplanung und (2) sozial ausgerichteter Stadtgestaltung gewertet werden
(Sieverts 2001b, S. 127). Das Beispiel des Ruhrgebiets zeigt dabei, dass der „landschaftliche Blick“ – und damit ist der Blick gemeint, der „… aus einer kulturellen Idee
[Herv. i. Orig.] resultiert und eine ästhetische Distanz zu den real vorhandenen äußeren Landschaften benötigt, um sie als Landschaft begreifen zu können“ – auch bei
industriell geprägten Landschaften funktioniert (Körner 2006, S. 24; vgl. auch Tessin
2002, S. 40). Dies müsste auch für schrumpfende Städte gelingen.
Ausgangspunkt der Gestaltung ist dabei „… in dem zunächst zusammenhangslos
wirkenden Mosaik etwas Besonderes aufspüren, um durch die gestalterische Betonung
dieses Besonderen dem Ort einen Charakter, das heißt eine Eigenart zu verleihen“
(Körner 2005b, S. 93). Damit dies gelingen konnte, musste zunächst der ländlicharkadische Blick abgelegt und die Industriekultur anerkannt werden. So konnten die
Reste der industriellen Prägung der ursprünglichen agrarischen Landschaft als zentrales
Element einer landschaftlichen Eigenart werden. Im Sinne der Theorie des Landschaftsbewusstseins nach IPSEN konnte dieser gestalterische Umdeutungsprozess erst
stattfinden, nachdem die Industrie durch den Strukturwandel historisch wurde und als
Basis der gestalterischen, ästhetischen und kulturellen Inwertsetzung fungieren konnte.
Somit war nicht die ländlich-harmonische Landschaft das Leitbild der Gestaltung, sondern der „Topos einer regionalen Einheit von Kultur und Natur“ in Form einer neuartigen „urban-industriellen Natur“ (ebd., S. 94). Die Lesbarmachung urban-industrieller
Räume als Landschaften (im Sinne großräumiger Kultur-Natur-Zusammenhänge) erfolgte dabei unter der Verwendung bekannter landschaftlicher Gestaltungselemente,
um sie als Kulturlandschaft zu kennzeichnen (ebd., S. 96).
Gestaltungsansätze für die schrumpfende Stadt
Oben wurde dargelegt, wie ähnlich die Raummuster im Schrumpfungsgürtel der
Raumkonfiguration der Zwischenstadt sind (Kapitel C.1.3.3). Nun gilt es zu erörtern,
inwiefern die diskutierten Qualifizierungsansätze der Zwischenstadt auch für ihre Anwendung in schrumpfenden Städten geeignet sind. Die quantitative Bedeutung des
Freiraums in der Zwischenstadt wird über den Ansatz, Freiraum und Gebautes als
gleichwertige Bestandteile anzuerkennen, in einen Gestaltungsansatz umgemünzt.
Dieser Argumentation folgen auch Ansätze in schrumpfenden Städten. Vermutlich
267
268
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
kann für beide Stadtmodelle gelten: „Bleibt die Hoffnung, das über die Hintertür der
Landschaft, auf den nicht bebauten Zwischenräumen eine Art stützendes grünes
Rückgrat aufgebaut werden kann“ (Dettmar 2003, S. 26).
Im Rahmen der Diskussion um die Zwischenstadt und ihre Qualifizierung wird deutlich,
welch große Rolle, aber auch welch großer Lösungsanspruch für die Freiräume formuliert wird: „Das größte Potenzial zur Qualifizierung der Zwischenstadt liegt jedoch in
den Freiflächen, die zu dem wichtigsten identitätsstiftenden Verbindungselement der
neuen Stadtform werden können: Hier muss die gestiegene Freizeit Raum finden, hier
muss der ökologische Ausgleich organisiert werden, hier muss aber auch die Verbundenheit und die Gebundenheit des Menschen an die Naturkreisläufe ihren Ausdruck
finden“ (Sieverts 2003b, S. 7). In der schrumpfenden Stadt kommt noch der Verwertungsanspruch langfristig nicht mehr zu bebauender Flächen hinzu. Überlegungen zur
Gestaltung städtischer Landschaften unter Schrumpfungsbedingungen können durchaus auch der Argumentation bezüglich der Gestaltung der Zwischenstadt folgen. Auch
wenn die Vorzeichen andere sind, da nicht die Stadt in die vermeintliche Landschaft
wächst, sondern Elemente der ursprünglichen Natur- oder Agrikulturlandschaft in das
Stadtgefüge eindringen, stellen sich ähnliche Flächennutzungsmuster ein: „Landschaft
ist heute in Stadtregionen […] Freiraum zwischen Siedlungskörpern“ (Wolfrum 2002,
S. 15).
Landschaft (im Sinne von Freiräumen) ist damit gut geeignet, den offensichtlichen
Qualifizierungsbedarf der „Zwischenstadt“, der Agglomerationsräume oder eben verstädterten Regionen zu erfüllen. Im Verständnis der Landschaft als ästhetisches Konzept, welches städtische und ländliche Strukturen umfasst, kann dieses über die Ebene
der Wahrnehmung heterogene Strukturen integrieren (Hauser 2005, S. 35). Parallel
wird ein hoher Anspruch an die ökologischen Ausgleichfunktionen dieser Freiräume
gestellt: „Die Stadtfelder in der Zwischenstadt müssen ebenso allen ökologischen Erfordernissen einer stabilen Einfügung in den Naturhaushalt gewachsen sein, weil es
außerhalb kaum noch ‚Ausgleichsräume’ geben wird“ (Sieverts 2001b, S. 23). Die
Gestaltungskraft dieser neuen ökologisch-funktionalen Anforderungen führt dann zu
einer neuen Eigenart im Sinne eines kulturell-gestalterischen, starken Nachhaltigkeitsverständnisses. Diese Idee verdeutlicht die unterschwellige Vorstellung einer ganzheitlichen, typischen Naturform der Landschaft in der Zwischenstadt (Körner 2005b,
S. 100). Allerdings muss man in der Zwischenstadt von einer sehr heterogenen Struktur der Natur bzw. der vorhandenen Freiräume ausgehen. „Die Landschaft“ oder „die
Natur“, die dann eine „einheitliche Grundmasse der diffusen Zwischenstadt ausmacht,
gibt es nicht – insofern sind einheitliche Gestaltungsansätze nicht sinnvoll. Das Problem
ist die Notwendigkeit der Anerkennung der Pluralität, das Finden der Eigenart und die
Umsetzung in gestalterischen Maßnahmen (ebd., S. 98 ff.).
Die gegenwärtige Beschreibung und Auseinandersetzung mit der Realität garantiert
nicht neue und geeignete Lösungsansätze, wenn es zugleich an „… klaren Vorstellun-
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
gen über die Struktur, Funktion, Gestaltung und Qualitäten der … urbanisierten Landschaft …“ fehlt (Dettmar 2005c, S. 146). Setzt man Denkansätze voraus, z. B.
SIEFERLE von einer sich permanent wandelnden, „Totalen Landschaft“, sind diese
Gestaltungsansätze in ihrer Pass- und Zukunftsfähigkeit eher fragwürdig. Der Wunsch,
das vermeintliche Chaos der suburbanisierten und auch der schrumpfenden Städte zu
ordnen, ist nachvollziehbar – allerdings ist es fraglich, ob diese „Ordnung“ bei der
Schnelligkeit des Wandels, und vor allem mit den bekannten Freiraumelementen,
möglich ist. „Der Rückgriff auf typische Landschaftselemente der vorindustriellen Phase oder die ästhetische Inszenierung der ebenfalls vergangenen Industrielandschaft
sind integrales Element einer mobilisierten Landschaft, in der musealisierte oder symbolische Inseln nur den totalen Konstruktionscharakter dieser Landschaft unterstreichen“ (ebd., S. 146).
In Anlehnung an die Charakterisierung von HAUSER (Hauser 2001, S. 177 ff.) zu Strategien für aufgegebene Industriegebiete und -regionen kann einer ihrer formulierten
Ansätze explizit für die schrumpfende Stadt gelten: Die Flächenverwertung wird derzeit am häufigsten mit „naturbezogenen Lösungen“ angestrebt. Hier kommt insbesondere der „ästhetisch und gestalterisch geprägte traditionelle Landschaftsbegriff“
zum Tragen (ebd., S. 180). Dabei reichen die Ansätze von der grundlegenden Umgestaltung, über Ansätze der Begrünung ohne genau definierte Nutzungsansprüche, bis
hin zu „konzeptionellen Umdeutungen“ des „Vorgefundenen als neue Natur“ (ebd.,
S. 181).
Ausgehend von der Auffassung, dass „es […] keinen Sinn [hat], nach einer neuen
eindeutigen Landschaftsgestalt für unsere heutige Kultur zu suchen, wie so oft gefordert wird“ (Körner 2005a, S. 106), entwickelt KÖRNER folgenden Gestaltungsgrundsatz: Ausgehend von den 4 Naturen in der Stadt (in Bezug auf KOWARIK), welche
sowohl historische Eigenart als auch sich ungerichtet entwickelnde Natur wertschätzen,
kommt die „… Pluralität von Schutz- und Gestaltungsoptionen […] dem heterogenen
Charakter der Zwischenstadt näher als jede Proklamation einer neuen Landschaft. Auf
dieser Basis heißt Landschaftsgestaltung in der Zwischenstadt, dass mit ihrem
uneindeutigen und unfertigen Zustand umgegangen wird: Es wird nicht eine Landschaftsgestalt verwirklicht […], sondern an einem Patchwork unterschiedlicher Raumtypen mit verschiedenen Charakteren und verschiedener Geschichte gearbeitet. […]
Dieses Patchwork zu gestalten heißt dann, in den landschaftlichen Zwischenräumen
(mindestens) die vier Naturtypen zu identifizieren, Prognosen über ihre künftige Dynamik in Abhängigkeit von den Nutzungen zu erstellen, um sie jeweils gestalterisch zu
betonen oder im Kontext neuer Nutzungen zu transformieren“ (Körner 2005b, S. 34).
Dabei ist vor allem die gestalterische Ausprägung der Nähte des Patchworks für dessen
Wahrnehmung entscheidend (ebd., S. 135). Im Kapitel C.2.3 wird eine daran orientierte Freiraumtypologie schrumpfender Städte dargestellt.
269
270
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Die daraus resultierende Feststellung, dass die Zwischenstadt keinen spezifischen
Naturtyp hervorbringt bzw. bedarf, lässt Körner folgern, dass „… nur mit dem gesteigerten Kontrast der Kombinationen von Naturen gearbeitet werden [kann], der offenbar in der Zwischenstadt eine neue Dimension erreicht.“ Dieses Ordnungsbestreben
zielt allerdings nicht darauf ab, „… durch Ordnungsstrukturen die Verhältnisse zu
harmonisieren“, sondern vielmehr die „… Kontrasterfahrung [zu] ermöglichen und
unter Umständen sogar [zu] steigern“ (Körner 2005b, S. 136). Dies schließt allerdings
nicht aus, „… dass man versucht […] einen neuen Naturtyp zu entwickeln, der gestalterisch in der Zwischenstadt zum Einsatz kommen kann.“ Er beschreibt dafür als Beispiel aktuelle Ansätze in der Pflanzenverwendung. Die Adaption nordamerikanischer
Prärien samt Arteninventar zur Gestaltung urbaner Hochstaudenfluren stellt einen
Ansatz der Transformation traditioneller Kontexte zur Schaffung neuer Naturtypen dar
(ebd., S. 136 f.). Dieser Gestaltungsansatz stellt damit den realistischen Gegenpart zur
Sukzession und letztendlichen Bewaldung auch in schrumpfenden Städten dar.
Die Forderung nach Eigenart, Identität und Gestaltung sich immer ähnlicher werdender
Stadtregionen erfordert die Nutzung des Freiraums als Qualifizierungspotenzial:
„Landschaft [im Sinne von Freiraum, Anm. d. Verf.] mit ihrer langsamen Veränderlichkeit, ihren historischen Spuren und ihrer topographischen Basis birgt noch den Kern
der Unverwechselbarkeit“ (Wolfrum 2002, S. 18). Aktuell ist eine zunehmende Bedeutungsvielfalt städtischer Naturelemente und ein heterogener Umgang mit Natur, Grün
und Ökologie in der Stadt festzustellen: Dem auf der einen Seite ausgeprägtem Nachhaltigkeitsanspruch stehen auf der anderen Seite eher künstliche Naturinszenierungen
und stark ästhetisierende Freiräume gegenüber. Beiden Ansätzen liegen dabei auch
mehr oder weniger stark ausgeprägte ökonomische Triebkräfte zu Grunde: In Zeiten
von Stadt-Umland-, aber auch Städtekonkurrenzen spielen grüne Leitbilder, Slogans
und eine hohe Lebens- und Umweltqualität eine große Rolle (Chilla 2005, S. 184).
Trotzdem ist vor allem auch im Hinblick auf die in schrumpfenden Städten zu erwartenden Quantitäten eine veränderte Wahrnehmung verbunden mit einem anderen
Wertedenken notwendig: „Die Abkehr vom scheinbar „Nützlichen“ und die Zuwendung zur scheinbaren Verschwendung durch Gestaltung von Landschaft wird nur auf
dem Weg der ökonomischen Rationalität nicht gelingen“ (Ganser 2001, S. 36). Der
Gestaltungsanspruch des Freiraums wird auch kritisch reflektiert: Insbesondere die
Dynamik der Änderungen und das zunehmende Versagen herkömmlicher Planungsansätze lassen (berechtigte) Zweifel an der „Ordnungskraft“ des Landschaftlichen (im
Sinne sich durch Naturelemente auszeichnender urbaner Freiräume, Anm. d. Verf.)
aufkommen (Dettmar 2005a, S. 58).
Hypothesen
‚ Das Verständnis von urbaner Landschaft bildet die Grundlage für die freiraumplanerische Inwertsetzung von unter Schrumpfungsbedingungen entstehenden Stadtstrukturen.
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
‚ Ein verändertes Landschaftsbewusstsein ermöglicht zum einen neue Stadtmodelle
und städtebauliche sowie freiraumplanerische Leitbilder und zum anderen neue
Handlungsansätze für die Gestaltung der frei werdenden Flächen.
‚ Pluralität, Eigenart, Attraktivität und Identität der Freiräume in schrumpfenden
Städten sind die Voraussetzung für einen freiraumplanerischen Beitrag zur Qualität
des Stadtumbaus.
2.3
Freiraumtypologie in schrumpfenden Städten
Die Anforderungen an künftige Freiräume in der schrumpfenden Stadt sind vielfältig:
Ihre Funktion und Gestalt soll auf gewandelte Nutzerbedürfnisse reagieren, die Herausforderungen einer steigenden Anzahl von Flächen und geringer werdender Geldressourcen bewältigen, Ausdruck einer veränderten Rolle in städtebaulichen Leitbildern
und evtl. eines neuen Natur- und Landschaftsverständnisses sein: „Der alte Park als
Gegenbild zur Stadt mit seinen letztlich kompensatorisch motivierten Gestaltungen
einer an Arkadien orientierten Ideallandschaft hat hier nun wirklich endgültig ausgedient“ (Dettmar 2003, S. 30). Vor allem aber geht es um die Verwertung von in dieser
Menge nie da gewesenen freien Flächen in der Stadt. So selbstverständlich wie im
Stadtumbau von der Freiraumplanung Verwertungsansätze für diese Flächen gefordert
werden – so verbreitet scheint innerhalb der Profession Konsens zu sein, dass die aktuellen Aufgaben nicht mit dem konventionellen freiraumplanerischen Repertoire und
Vorgehen zu bewältigen sind (vgl. u. a. Giseke 2007b; Böhme et al. 2006; S. 30 ff.):
Das Mehr an Freiräumen, verbunden mit deren temporärer Natur kann zu neuen,
selbst bestimmten Freiraumnutzungen führen – abseits von funktionalen, gestalterischen und gesellschaftlichen Konventionen (Hoelscher 2004, S. 116).
Die bisher in Städten vertretenen Freiraumtypen sind nur teilweise geeignet, der steigenden Zahl an Freiflächen, den veränderten Ansprüchen der Bevölkerung und den
Anforderungen knapper öffentlicher Mittel gerecht zu werden sowie die Anwendung
innovativer Eigentums- und Nutzungsformen zu ermöglichen. Neue „Nutzungsstrukturen und Gestaltbilder“ werden erforderlich (Giseke 2003, S. 13). Intensiv gestaltete
Stadtteilparks, aufwendig gepflegte historische Parkanlagen, vielseitig nutzbare Sportund Spielanlagen usw. werden künftig vielleicht durch waldartige Pflanzungen, Sukzessionsflächen auf Brachen und größere agrarisch genutzte Flächen in der Stadt –
wenn auch nicht ersetzt – aber doch ergänzt werden müssen (Becker, Giseke 2004,
Giseke 2002a, 2002b). Hierbei gilt es zu prüfen, in welchen Bereichen der Stadt diese
pflegearmen und damit leichter zu finanzierenden landschaftlichen Gestaltbilder akzeptable freiraumplanerische Antworten für durch Rückbau entstehende Freiflächen
sein können. Das Festhalten an herkömmlichen Gestaltungsweisen, Freiraumtypen und
Nutzungsmöglichkeiten hemmt die Entwicklung von Freiräumen, die den neuen Rahmenbedingungen auch in Gestalt und Funktion angepasst sind. Veränderungen der
Nutzung und Gestalt städtischer Freiräume – vor allem im Hinblick auf das wachsende
271
272
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Missverhältnis zwischen Aufgaben und Budget der Grünverwaltung – sind kein neues
Thema. Allerdings wurde die Debatte bisher eher von neuen Pflegeansätzen sowie
alternativen Organisations- und Finanzierungsformen geprägt (siehe Kapitel B.6), als
dass tatsächlich das bekannte Freiraumrepertoire in Frage gestellt wurde: Bei den derzeit entwickelten Freiräumen handelt es sich größtenteils um „… extensiv gestaltete,
kostengünstig zu unterhaltende Grünflächen alten Typs“ (Dettmar 2005c, S. 147).
Vereinzelte Ansätze zu gänzlich neuen Freiraumtypen bekommen in der aktuellen
Schrumpfungsproblematik aber verstärkt Auftrieb.
Die Forderung nach neuen Freiraumtypen muss differenziert betrachtet werden. Die
aktuelle Diskussion stellt nicht das bisher bekannte Repertoire städtischer Freiräume –
repräsentiert durch die Freiraumkategorien, in denen beispielsweise Grünverwaltungen
denken und handeln – in Frage. Diese Kategorien, z. B. Stadtpark, Stadtwald, Kleingarten(-anlage), Spielplatz, Quartierpark und -platz, Sportanlage, Gewässer- und Uferbereich, Grünzug und Promenade, historische Parkanlage, Friedhof, sollen an dieser Stelle
eher als Elemente des gesamten Freiraumbestandes einer Stadt, mit einem jeweils
weitgehend festgelegtem funktionalen und gestalterischen Programm sowie klarer
Zuständigkeit und Widmung verstanden werden. Diese Freiraumkategorien werden
auch in der schrumpfenden Stadt ihre Berechtigung behalten und sich – zumindest was
ihre Funktion anbelangt – kaum verändern. Die neuen Rahmenbedingungen ändern
eher Quantität und Qualität der einzelnen Freiräume. Insofern ist es vielmehr die Frage
nach der Veränderung der „typischen Ausprägung“ bzw. des zu Grunde liegenden
Entstehungsprinzips, was neue Freiraumtypen unter Schrumpfungsbedingungen ausmacht. Die Freiraumtypen oder Freiraumprinzipien – Wald, Feld, Garten, Wildnis –
stehen für diese spezifische Ausprägung von Freiräumen und werden im Folgenden
diskutiert.
2.3.1 Urbaner Wald
Wird eine dauerhafte Umwidmung einer Abrissfläche in eine Grünflächen gewünscht,
so ist die Entwicklung von Wald i. w. S. die am häufigsten angestrebte Nachnutzung
(BBR 2004, S. 110). Die Form der Anlage und die Nutzung sowie die angestrebten
Bilder sind dabei recht unterschiedlich. So wird der Begriff des Waldes im Rahmen des
Stadtumbaus in unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht.
Verständnis
Der Begriff „Wald“ lässt sich im allgemeinen Sprachgebrauch nicht eindeutig abgrenzen. Das Verständnis ist stark von den spezifischen und individuellen Waldbildern abhängig. Dabei unterscheidet sich die individuelle Wahrnehmung sehr deutlich von der
Definition im Waldgesetz oder gar der planerischen Vorstellung als Freiraumtyp
(Burkhardt, Schoder 2007, S. 3).
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Das Sächsische Waldgesetz definiert Wald als: „… jede mit Forstpflanzen (Waldbäumen und Waldsträuchern) bestockte Grundfläche, die durch ihre Größe geeignet ist,
eine Nutz-, Schutz- oder Erholungsfunktion auszuüben“ (§ 2, Nr. 1). Im Gegensatz
dazu sind „… im bebauten Gebiet liegende […] kleinere Flächen, die mit Bäumen oder
Hecken bestockt sind, Parkanlagen, Obstgärten, […] Flurgehölzstreifen und -gruppen
[…] nicht Wald im Sinne dieses Gesetzes“ (§ 2, Nr. 2). Treffen diese Merkmale auch
auf Flächen zu, ohne dass diese explizit als Forstflächen gewidmet sind, das heißt bauleitplanerisch oder im Grundbuch verankert bzw. entsprechend genutzt werden, ist
trotzdem davon auszugehen, dass diese Flächen im Sinne des Waldgesetzes behandelt
werden müssen (Stadt Leipzig, Burkhardt Landschaftsarchitekten 2008, S. 27 ff.). Dies
kann zu Problemen bei Bestrebungen zu Flächennutzungsänderungen auf Brachen
oder temporär bewaldeten Flächen führen.
Betrachtet man Wald als Vegetationsform, so ist diese durch das Vorherrschen von
Bäumen, die einen mehr (> 60 %) oder weniger (40-60 %) geschlossenen Bestand
bilden, gekennzeichnet (Kowarik et al. 2003, S. 5). Hinsichtlich ihrer räumlichen Nähe
zur Stadt werden urbane, peri-urbane und non-urbane Wälder unterschieden (Kowarik
2005, S. 4 f.). Die hier relevanten urbanen Wälder sind dabei (1) Waldbestände innerhalb des bebauten Bereichs oder (2) Wälder am Stadtrand, mit direktem Kontakt zur
Bebauung und als Zwischenlage zum Außenbereich (Kowarik et al. 2003, S. 5 f.). Zusätzlich dazu kann die Naturnähe unterschieden werden. Einerseits können urbane
Wälder anthropogen beeinflusste Relikte der ursprünglichen Naturlandschaft sein,
entsprechend der 1. Art der Stadtnatur – beispielsweise Auwälder entlang städtischer
Flüsse. Andererseits kann sich der Vegetationstyp Wald auch als spezifisch urbane
Natur auf der Sukzession unterliegenden Industrie- und Wohnbrachen ausbilden, entsprechend der 4. Art der Stadtnatur. Darüber hinaus kommen waldartige Bestände
auch als ehemals forstwirtschaftliche Nutzwälder (Natur der 2. Art) oder als Bestandteile bewusst angelegten städtischen Grüns, beispielsweise als größere Gehölzbestände
in großen Parkanlagen (Natur der 3. Art) vor (ebd., S. 6 ff.). Für die Verwendung des
urbanen Waldes als Freiraumtyp und nicht als Freiraumkategorie (wie beispielsweise
der Stadtforst) spricht auch, dass Wald in seinen unterschiedlichen Definitionen in allen
vier Stadtnaturtypen vorkommt (ebd., S. 9).
Erfahrungen
Anknüpfungspunkte für die aktuellen Herausforderungen bieten die Erfahrungen, die
im Ruhrgebiet mit dem „Industriewald“ gemacht wurden. Allerdings handelt es sich
hierbei in der Regel um größere Flächen und einen anderen städtebaulichen Kontext.
Die Flächen sollen sich unter weitgehendem Verzicht auf landschaftsarchitektonische
Gestaltung naturbestimmt entwickeln. Sie werden als Forstfläche gewidmet und stehen nicht unter Naturschutz. Damit kann gleichzeitig die spontane Vegetation und die
weitere Nutzbarkeit gesichert werden (Körner 2005b, S. 96). Durch die „pflegende
273
274
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
Entwicklung“ und soziale Kontrolle entstehen Freiräume, die ökologische Potenziale,
naturbestimmte Entwicklung und soziale Nutzbarkeit verbinden (Dettmar 2005c,
S. 144 f.).166
Zum Thema Wald im städtischen Kontext gibt es weiterhin Erfahrungen aus Großbritannien (community forests) und Skandinavien (Stadt Leipzig, Burkhardt Landschaftsarchitekten 2008, S. 7, 33; Konijnendijk et al. 2005). Der Entwicklungsansatz der urban forestry vor allem im skandinavischen Raum unterscheidet sich von den Rahmenbedingungen des Stadtumbaus. Bezüglich der Gestaltungsansätze für unterschiedliche,
den Topos Wald thematisierende Freiraumtypen in schrumpfenden Städten gibt es
aber einige lohnenswerte Anknüpfungspunkte. Neben den stadtökologischen Wirkungen, spielt insbesondere die Verknüpfung von Ansätzen der Forstwirtschaft als Bewirtschaftungsmethode und der Landschaftsarchitektur mit ihren Gestaltungsansätzen eine
Rolle: Davon ausgehend, dass urbaner Wald eines spezifischen Bildes bedarf, wird
sowohl dem Rand und den Übergängen als auch der inneren Wirkung des Bestandes,
der Textur der einzelnen Pflanze sowie der Bestandsstruktur, gebildet aus horizontalen
und vertikalen Mustern, Bedeutung beigemessen (Gustavsson 2004, S. 201 ff.). Es
wird deutlich, dass urbaner Wald mehr ist als die Sukzessionsfolge auf städtischen
Brachen. Unter Beachtung der oben genannten Gestaltungsprinzipien lassen sich sehr
unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten und attraktive Bilder erreichen, die den spezifischen Zielstellungen auf jeder einzelnen Fläche gerecht werden können (Abbildung
31, Abbildung 32).
Wald stellt für die neuen Herausforderungen des Stadtumbaus in vielerlei Hinsicht
einen geeigneten freiraumplanerischen Ansatz dar (Stadt Leipzig, Burkhardt Landschaftsarchitekten 2008, S. 38 f.; BBR 2004, S. 110):
‚ Wald gilt als dominantes, vegetationsbestimmtes städtebauliches Element, welches
bauliche Strukturen ersetzen und somit einen Beitrag zum Erhalt der europäischen
Stadt leisten kann (Dettmar 2005c, S. 147). Durch die räumliche Wirkung wird das
Stadtbild sowohl im Innenbereich als auch an den Rändern deutlich geprägt.
‚ Wald ist ein sich quasi selbst einstellender, langfristig pflegearmer und damit preiswerter Freiraumtyp, welcher in dieser „Naturwüchsigkeit“ naturschutzwürdig und
stadtökologisch wertvoll ist. Im Vergleich zu den geringen Herstellungs- und Unterhaltungskosten wird ein großes Nutzungsspektrum eröffnet.
‚ Wald ist eine konsequente und nahezu endgültige Flächennutzung auf Stadtflächen, auf denen eine bauliche, aber auch urbane freiraumplanerische Nutzung nicht
in Aussicht steht.
166
Das Projekt „Industriewald Ruhrgebiet“ – getragen durch die Landesforstverwaltung NordrheinWestfalen – geht auf die IBA Emscher Park zurück. Im Rahmen eines „Restflächenprojektes“ wurden Versuche unternommen, eine naturbestimmte Nachnutzung bis hin zum Wald zu initiieren
(Otto 2007, S. 1 ff.; Dettmar 2005b).
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
‚ Wald steht für einen in Zuständigkeit und Verantwortung gesetzlich klar geregelten
Nutzungstyp. Eine Bodenneuordnung ist nicht zwingend erforderlich, da Wald sowohl im öffentlichen als auch privaten Besitz sein kann. Trotz geringerer Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht bleiben die Flächen öffentlich zugänglich.
Die langfristige Trägerschaft ist gewährleistet.
Abbildung 31: Waldstrukturtypen im Landschaftslabor
Alnarp, Swedish University of Agriculture.
Abbildung 32: Wirkung von
Baumpflanzungen (Beide Fotos:
Franziska Schoder, Irene Burkhardt
Landschaftsarchitekten 2007).
Eine Studie zu den Einsatzmöglichkeiten urbaner Wälder im Stadtumbau der Stadt
Leipzig geht von folgender Definition aus: „Urbane Wälder sind Waldflächen im innerstädtischen, häufig dicht bebauten Bereich. Sie stellen eine eigene Freiflächenkategorie
mit besonderer Bedeutung für den Stadtumbau, die Stadtökologie (speziell Klimawandel) und die Erholung dar. Die Anpassung an die innerstädtischen Anforderungen
verlangt eine Verknüpfung von traditioneller Forstwirtschaft mit moderner Landschaftsarchitektur bei der Planung, Anlage und Bewirtschaftung“ (Stadt Leipzig, Burkhardt Landschaftsarchitekten 2008, S. 8). Konkret für den Stadtumbau bedeutet dies,
dass es sich dabei um heimische und/oder fremdländische Gehölzformationen auf
anthropogen überformten Standorten handelt, die wesentlich kleiner als klassische
Waldstandorte sind. In Hinblick auf die Funktionen und ökologische Stabilität wird
davon ausgegangen, dass die Flächen mindestens 0,5 ha groß sein bzw. einen Durchmesser vom 50 m haben sollten. Dem Anspruch eines städtischen Freiraums entsprechend wird von einem Mindestmaß an Ausstattung und Unterhaltung ausgegangen
(ebd., S. 8).
2.3.2 Urbane Landwirtschaft
Einige freiraumplanerische Strategien setzen auf agrarisch intendierte Handlungsansätze. Der Begriff der Landwirtschaft ist ähnlich dem des Waldes auch hier dehnbar. Die
urbane Landwirtschaft hat durchaus Tradition und hat in den unterschiedlichen Epo-
275
276
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
chen der Stadtentwicklung immer eine mehr oder weniger große Rolle gespielt. Obwohl der Anteil landwirtschaftlich genutzter Flächen am gesamten Stadtgebiet in der
Regel sehr hoch ist (durchschnittlich ein Viertel), wurde Landwirtschaft in der städtischen Freiraumplanung eher als untergeordnetes Thema behandelt (Lohrberg 2001a,
S. 17). Landwirtschaft wurde vor allem als konkurrierende Nutzung aus der Perspektive der Baulandentwicklung in wachsenden Städten wahrgenommen. Auftrieb bekam
das Thema bei der Diskussion um die Qualifizierung der Zwischenstadt, vor allem vor
dem Hintergrund der steigenden Bedeutung regionaler Märkte, des Biolandbaus und
der Direktvermarktung sowie der Wahrnehmung als wichtiger Erholungsraum (Sieverts
et al. 2005, S. 91 ff.).
Verständnis
„Urbane Landwirtschaft ist die Produktion von Agrargütern innerhalb von Stadtgrenzen“ (Lauinger 2005, S. 156). Die „stadtnahe Landwirtschaft“ hingegen schließt neben den Flächen, die innerhalb der Stadtgrenzen liegen, auch die Landwirtschaft des
Stadtrands bzw. des Agglomerationsraumes ein. Damit wird deutlich von den agrarischen Flächen des ländlichen oder peripheren Raumes unterschieden (Lohrberg 2001b,
S. 5). LOHRBERG unterteilt die stadtnahe Landwirtschaft in Anlehnung an ihr Innovationsvermögen und ihre ökonomische Dynamik. Urbane Landwirtschaft kann dabei
unterschiedliche Formen intensiver Landnutzung ausbilden: wilder Kleingarten, Feldgemüseanbau auf Grabeland, Baumschulen und Maislabyrinthe. Die Flächen liegen
verteilt im städtischen Raum mit nur geringem Bezug zu natürlichen Gunstlagen. Im
Gegensatz dazu gibt es zwei rurale Formen der Landwirtschaft. Einerseits existiert
kleinteilig die „rezente“, von der wachsenden Stadt einverleibte Landwirtschaft eher
agrikultureller Prägung im Sinne des 2. Typs der Stadtnatur nach KOWARIK als wichtiger Bestandteil vieler städtischer Freirausysteme. Anderseits liegt vor den Toren der
Stadt die moderne Landwirtschaft industrieller Prägung (Lohrberg 2001a, S. 21). Dementsprechend kritisch wird die Übertragbarkeit der Ansätze der ruralen Landwirtschaft
auf die urbane gesehen (ebd., S. 21): Bisher wurde von stadt- und freiraumplanerischer Seite für die stadtnahe Landwirtschaft meist das Ziel verfolgt, „… Natur symbolisierende, ländlich wirkende Landschaften am Stadtrand herzustellen“ (Lohrberg
2001b, S. 164). Dies kann für die urbane Landwirtschaft nicht übertragen werden.
Insbesondere in schrumpfenden Städten sollte die Gestaltung dieser Flächen im Hinblick auf eine spezifische städtische Prägung und entsprechende räumliche und funktionale Qualitäten als städtebauliche bzw. freiraumplanerische Aufgabe begriffen werden.
Erfahrungen
Weltweit gibt es in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedlichen Antriebskräften beruhende Formen gartenbaulicher oder kleinlandwirtschaftlicher Nutzung von
Stadtgrundstücken (Lauinger 2005, S. 158 ff.). Insbesondere in städtischen Krisen
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
(z. B. Überbevölkerung, Hungersnöte) gab es Ideen, Selbstversorgungsansätze in den
Städten zu verwirklichen. Modelle, wie die „Gartenstadt“ und die „Broadacre City“
(Kapitel C.1.2), wollten über die Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes bewusst eine
Form des „ruralen Urbanismus“ (Lauinger 2005, S. 156; Lohrberg 2001a) oder „stadtlandschaftliche ‚produktive’ Hybriden“ (Sikiaridi 2005, S. 7) etablieren. „Produktive
Grünanlagen“ sollten dabei das Stadtbild bereichern, ohne den Kommunalhaushalt zu
belasten und gleichzeitig die Selbstversorgung und Betätigung der Stadtbewohner
unterstützen (Migge 1926).
Es zeigen sich durchaus Parallelen zur jetzigen Situation in den schrumpfenden Städten, die ebenfalls nach pragmatischen Lösungen für den Zuwachs an Freiflächen suchen (Lauinger 2005, S. 158). Sollte urbane Landwirtschaft tatsächlich Bestandteil der
städtischen Ökonomie werden, so ist die Forderung verständlich, die Städte schon
heute auf diese „urbane Facette“ vorzubereiten – denn die diese Möglichkeit nicht
bietende kompakte Stadt wäre unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten eher unsozial
und vielleicht auch wirtschaftlich weniger stabil (ebd., S. 158).167
2.3.3 Garten
Der Garten als privater Freiraum ist bereits seit dem Mittelalter Bestandteil der Stadt
(Hennebo 1970, S. 33 ff.). Die Idee des Gartens erfährt in schrumpfenden Städten, vor
allem in Bezug auf die private Aneignung und damit Verwertung von Flächen, Auftrieb. Überlagert wird dies durch soziodemografische und sozioökonomische Bedürfnisse der Integration, Selbstversorgung und Selbstverwirklichung.168
Verständnis
Der Garten wird definiert als ein umgrenztes Stück Land, welches überwiegend zum
Zweck der Nahrungsmittelproduktion mit einfachen gestalterischen Elementen angelegt wird. Der Garten als Freiraumtyp steht für die mehr oder weniger private Nutzung
eines abgegrenzten Freiraums im Stadtraum. Dabei steht die gartenbauliche Nutzung
im Vordergrund (Richter 1981, S. 104). In der mittelalterlichen Stadt gab es neben
Marktplätzen oder Kirchhöfen keine öffentlichen Freiräume. Allerdings lagen innerhalb
der Stadtmauern oft großzügige Gärten und sogar Felder und Weinberge zum Neben-
167
Im der stark von Schrumpfung betroffenen Stadt Detroit wird die Gründung kommunaler Gartenbaubetriebe befördert, die auf den umfangreichen Brachflächen der Stadt biologisch erzeugtes
Gemüse direkt vermarkten (Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2008, S. 35;
http://www.detroitagriculure.org).
168
Grabeland: nach Bundeskleingartengesetz §1(2) ein Grundstück, welches nur mit einjährigen
Pflanzen bestellt werden darf. Selbsterntegärten: auf ungenutzten Grundstücken für eine Saison
professionell von Landwirten angelegte größere Gemüsegärten, die in Parzellen zur Pflege und
Ernte verpachtet werden (Spitthöver 2007). Mietergärten: private Gärten in (unmittelbarer) Nähe
zur Wohnung, meist verpachtetes Land von Wohnungsgenossenschaften.
277
278
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
erwerb als bäuerliche Komponente oder auch als Repräsentations- oder Erholungsgarten. Öffentlich nutzbare Freiräume (z. B. Allmendewiesen, Festplätze) lagen meist vor
der Stadt (Hennebo 1970, S. 35 f.). Seit dem 16. Jahrhundert wurden die bäuerlich
geprägten Gärten vor die Städte gedrängt. Als neue Form des Stadtgrüns kamen die
Privatgärten an den bürgerlichen Anwesen hinzu, die allerdings eher der Erholung und
der Befriedigung der Natursehnsucht dienten (ebd., S. 61). Die darauf folgenden herrschaftlichen Gärten der Barockzeit spielen zwar für die Entwicklung des Stadtgrüns
eine wichtige Rolle, für den Freiraumtyp des (Nutz-)Gartens im Sinne dieser Arbeit sind
sie aber weniger relevant. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es (theoretische) Überlegungen zur Gestaltung und Nutzung von Hausgärten – als Garten des
Bürgertums, in enger formaler und funktionaler Verbindung mit dem Wohnhaus
(Wiegand 1976, S. 23 f.). Anknüpfungspunkt für heutige Gärten stellt vor allem die
sozialpolitisch intendierte Entwicklung der Kleingärten, als gärtnerisch genutzte wohnungsferne Pachtgärten dar (Richter 1981, S. 122).
Erfahrungen
Basierend auf dem Kleingartengedanken entwickelte MIGGE vor dem Hintergrund der
schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Situation im ersten Quartal des vorigen Jahrhunderts seinen Ansatz des „Sozialen Gartens“. Die zunehmende Schwierigkeit der
Unterhaltung öffentlicher Volksparks auf der einen Seite und der von ihm konstatierte
Bedarf nach Kleingärten auf der anderen Seite ist Ausgangspunkt seiner Forderung
nach einer neuen städtischen Grünpolitik. Das Bedürfnis nach einem Garten ist dabei
sowohl subsistenzwirtschaftlich begründet als auch Ausdruck des menschlichen Verlangens nach eigenem Freiraum und Betätigung im Freien. Über die Produktion von
Lebensmitteln im gartenbaulichen anstatt landwirtschaftlichen Betrieb kann darüber
hinaus die Wertschöpfung städtischen Landes gesteigert werden (Migge 1926,
S. 33 ff.). Insofern sind die Grundgedanken MIGGEs auch teilweise in schrumpfenden
Städten relevant.
Die aus nordamerikanischen Städten seit den 1970er Jahren bekannten Community
Gardens basieren auf dem Ansatz, Anwohnern auf städtischen Grundstücken kleine
Gartenparzellen zum Gemüseanbau zur Verfügung zu stellen. Die Idee ist zum einen
eine bessere Versorgung der benachteiligten Bevölkerung mit frischen und gesunden
Nahrungsmitteln und zum anderen die Förderung lokaler Netzwerke. Seit den 1990er
Jahren werden diesem Ansatz folgend auch in Deutschland Nachbarschaftsgärten oder
Migrantengärten etabliert. Hinter der Bezeichnung „Bunte Gärten“, „Internationale
Gärten“ oder „Interkulturelle Gärten“ steht vor allem der Kommunikations- und Integrationsanspruch dieser Angebote (Müller 2007, S. 58). Zahlreiche Projekte interkultureller Gärten in Deutschland zeugen vom Wunsch und Bedarf der Nahrungsmittelproduktion im städtischen Umfeld und gleichzeitig vom Nutzen der Gemeinschaft, des
Austauschs und der Integration. Gleichzeitig entlastet dieses bürgerschaftliche Enga-
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
gement die Stadthaushalte nicht nur hinsichtlich der Bewirtschaftung der Flächen,
sondern auch in erhofften geringeren Kosten für Sozial- und Integrationsprojekte für
Ausländer (Lauinger 2005, S. 162).
2.3.4 Stadtwildnis
Als eine mögliche Antwort auf die „wachsende Verzahnung von Stadt und landschaftlichen Elementen“ (Becker, Giseke 2004, S. 23) werden Konzepte zur Entwicklung von
Stadtwildnis bzw. Wildnis in der Stadt diskutiert: Dabei kann Wildnis als ein grüner
Alptraum, als Begleiterscheinung des Niedergangs der Stadt, als ein Zeichen für die
Resignation der Planungsprofession, als eine unvermeidliche Konsequenz der wirtschaftlichen Situation oder auch als eine zuversichtlich stimmende ökologische Alternative betrachtet werden (Dettmar 2005d, S. 80).
Die Idee der Stadtwildnis als sekundäre Wildnis kann als Ausprägung des spezifischen
urbanen Grüns und als neuer Typus städtischen Freiraums betrachtet werden. Sich von
selbst einstellende, natürliche Prozesse auf Stadtbrachen – Ruderalvegetation und
Sukzession – oder geplante, vermeintlich wildnisartige freiraumplanerische Maßnahmen zeugen von der Akzeptanz dieser Freiraumformen. Dies mag Spiegel und gestalterischer Ausdruck des aktuellen Naturverständnisses sein, vor allem aber ist es ein
pragmatischer Lösungsansatz vor dem Hintergrund großer Flächenpotenziale und
eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten.
Verständnis
Der Begriff Wildnis wird ähnlich den Begriffen Natur und Landschaft in unterschiedlichen Perspektiven verwendet (Brouns 2004, Dettmar 2002, Rink 2003, Kowarik 2004,
Henne 2004). Grundsätzlich kann unterschieden werden in (1) Wildnis als physische
Form im Sinne ursprünglicher Naturlandschaft und (2) Wildnis als Idee und kulturelles
Phänomen (Abbildung 33). Dabei wird deutlich von der Wildnisidee des Prozessschutzes im Rahmen des Naturschutzes differenziert: Wildnis soll hier nicht als naturschutzfachlich besetzter Begriff verwendet werden. Für die Beschreibung eines neuen Freiraumtyps in der schrumpfenden Stadt ist eine andere Dimension nötig.
Die Konkretisierung der Stadtwildnis kann dabei hinsichtlich der Wildnis in der Stadt
oder auch des Verständnisses der Stadt als Wildnis erfolgen. Davon ausgehend, dass
die ursprüngliche Naturlandschaft im Kontext dieser Arbeit nicht mehr existiert, kann
im Grunde nur noch von einer sekundären Wildnis gesprochen werden (Vicenzotti
2007, S. 16): „Der unübersehbare Wildnischarakter urban-industrieller Wälder ist als
Urwaldeigenschaft wahrnehmbar, ihre Entstehung resultiert jedoch aus kulturellen
Prozessen unter Einschluss einer zumeist lange zurückliegenden Urwald-Zerstörung“
(Kowarik et al. 2003, S. 6). KOWARIK spricht von einer „Paradoxie gleichzeitiger Natürlichkeit und Kulturbedingtheit urbaner Wildnis“ (ebd., S. 6).
279
280
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
physisch - naturwissenschaftliches
Wildnisverständnis
Wildnis als kulturelle Idee
Wildnis als ...
gegensätzlich,
sehnsuchtsvoll, arkadisch
urzeitlich
Kulturlandschaft
historisch
Wildnis als ...
ursprünglich, naturwüchsig,
bedrohlich, fremd
primäre Wildnis,
durch den Menschen unbeeinflusste Natur
Verdrängung der Wildnis,
durch den Menschen beeinflusste Natur
aktuell
Naturlandschaft
sekundäre Wildnis,
urbane Natur
Stadt
Inwertsetzung
städtischer Wildnis
Schutz, Erhaltung
und Planung
Wildnis als ...
natürlich,
ökologisch,
metaphorisch (Stadt als Wildnis)
Abbildung 33: Verständnis von Wildnis in dieser Arbeit (Eigene Darstellung).
Erfahrungen
Wildnis als städtisches Element wird vor allem im Rahmen der Qualifizierung der „Zwischenstadt“ diskutiert (Kangler, Vicenzotti 2007; Henne 2005). Da konventionelle
Ansätze der städtischen Freiraumplanung hier nicht mehr greifen, ist man sich der
Notwendigkeit neuer Formen und Typen für die Gestaltung der Zwischenräume der
„Zwischenstadt“ bewusst. Dabei lassen sich zwei konkurrierende Vorstellungen erkennen, die sich auch in der schrumpfenden Stadt, welche unter ähnlichen Flächenverwertungsproblemen leidet, abzeichnen: Vorstellungen der agrarischen Kulturlandschaft
stehen Landschafts- und Naturbildern, die bestimmt sind von Wildnis – als ästhetischen Topos von Natur – gegenüber (Henne 2004, S. 29). Bekannte Projekte städtischer Wildnis sind an die „kulturelle Inszenierung überkommener Areale der Industriegesellschaft gekoppelt“ (Giseke 2007b, S. 198).
Das Verständnis von Wildnis als kulturelles Konzept basiert vor allem auf der visuellen
Wahrnehmung (Abbildung 33). Für die Akzeptanz und Legitimation städtischer Wildnis ist entsprechend auch nicht ihr ökologischer Wert, sondern ihre ästhetische Wahrnehmung entscheidend. Um die symbolische Bedeutung der Wildnis sichtbar zu machen, sind entsprechende Gestaltungsmaßnahmen nötig. HENNE schlägt zwei Entwurfsansätze vor: (1) Die bewusste Herausstellung eines Kontrastes zu konventionellen
Freiraumtypen bzw. Gestaltbildern wird beispielsweise möglich, in dem bekannte Elemente (z. B. Brunnen, Spielgeräte) in der Wildnis platziert werden. (2) Die deutliche
Abgrenzung artifizieller, gestalterischer Eingriffe und der naturwüchsigen Vegetation
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
durch geradlinige Wege, harte Kanten und fremde Materialien bietet Orientierung
(Henne 2005, S. 256 ff.).
Wird Wildnis in der schrumpfenden Stadt als Gestaltungsansatz thematisiert, sind die
Fragen berechtigt: „Handelt es sich dabei um eine Rückeroberung der Stadt durch die
Natur, um kompensatorische Gegenwelten oder um eine neue Korrespondenz von
Stadt und Natur?“ (Becker, Giseke 2004, S. 22): Wildnis kann für die schrumpfende
Stadt dabei eine, aber keinesfalls die einzige Antwort sein: „An vielen Stellen wird dem
Freiraum in der sich auflösenden Stadt die Aufgabe zukommen, nicht Wildnis in die
Stadt zu bringen, sondern das städtebauliche und sozialräumliche Kontinuum aufrecht
zu erhalten. […] Wildnis nicht auf die Rückeroberung der Stadt durch die Natur zu
verkürzen, sondern als konzeptionellen Baustein in den gegenwärtigen Umstrukturierungsprozessen zu verstehen, kann eine zeitgemäße Antwort sein.“ (ebd., S. 23).
Abbildung 34: Stadtwildnis in Dresden-Striesen.
Die als Wildnis bezeichneten, verwilderten oder renaturierten Areale werden
schnell als Allheilmittel für arme Grünflächenämter und mangelnde Ideen für
den Freiraum gesehen: „Die Vision der
Stadtwildnis erscheint angesichts des
Abrisses ganzer Quartiere, fehlender
Umbaukonzepte und leerer Haushaltskassen als pfiffige und wohlfeile Planungsidee“ (Rink 2004, S. 16).
Bei diesem vermeintlich preiswerten und schnellen Weg für die benötigten grünen
Lösungen beim Stadtumbau darf jedoch die bisher meist eher gering ausfallende Akzeptanz der Bevölkerung solcher Bereiche nicht vergessen werden.169 Eine Untersuchung von RINK zeigte, dass Spontanvegetation auf Brachen und Baulücken seitens
der Bevölkerung nicht als Freiraumtyp im Sinne der bekannten Stadtnaturformen
wahrgenommen bzw. geschätzt wurde. Wenngleich naturnahe Bereiche und auch
„wilde“ Natur von einigen Bevölkerungsgruppen durchaus geschätzt werden, so
konnte die Bezeichnung „Stadtwildnis“ nicht eingeordnet werden und wurde kaum
akzeptiert (ebd.). Insofern ist die ästhetische Wertschätzung und Aneignung durch die
Bewohner wohl eher eine Wunschvorstellung von Planern, als Realität in den Städten
(Becker, Giseke 2004, S. 22 f.).
169
Zur Akzeptanz und Nutzung von Brachen siehe Untersuchungen von Ungeheuer 1996; Breuste
2001; Konopka, Wüstendörfer 1995.
281
282
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
2.3.5 Fazit: Neue Freiraumtypen in schrumpfenden Städten
Die aktuelle Situation stellt eine ganz wesentliche Umkehr von Planungs- und vor
allem Entwurfsmechanismen dar: Einen offensichtlichen Bedarf an (gestalteter) Natur
in der Stadt besteht in einigen Teilen der Stadt nicht. Dies hat zum einen zur Folge,
dass zunächst nach Nutzungen oder Funktionen gesucht wird, welche dann eine gestalterische Ausformung im Freiraum erfahren (Hauser 2001, S. 186). Zum anderen
kann dieser nicht vorhandene Bedarf auch dazu führen, dass künftig zwar Gestaltbilder
für Freiräume in der schrumpfenden Stadt existieren, aber beispielsweise waldartige
Strukturen, welche nicht mit bekannten (städtischen) Nutzungsmustern belegt sind, in
Akzeptanz-, aber auch Legitimationsproblemen resultieren.
Über die Forderung nach neuen Typen hinaus, wird die Forderung nach einer Freiflächenkultur formuliert, die „…die Gestalt- und Nutzungsintensität der gewohnten städtischen Freiräume überwindet und dennoch städtebaulich wirksam ist …“ sowie
„…einen Beitrag zur städtischen Kultur und nicht allein zur ökologischen Anreicherung
…“ leistet (Giseke 2003, S. 13). Dies verlangt stadträumlich differenzierte Funktionsund Gestaltungskonzepte sowie neue Freiraumtypen.
Wird das zu erhaltende „städtebauliche und sozialräumliche Kontinuum“ und die
Vermeidung von großflächiger Wildnis gefordert (Becker, Giseke 2004), wird deutlich,
dass die alten Ordnungsmuster und Stadtbilder noch immer präsent sind. Allerdings
soll jetzt ein anderes Medium, nämlich der Freiraum in seinen bekannten Bildern und
Formen, die Stadtstruktur in ihrer herkömmlichen Auffassung erhalten (Dettmar
2005c, S. 147). Neu entstehende Freiräume sollen die verbleibende Stadtstruktur ordnen, Raumkanten bilden und Baustrukturen ersetzen und damit das Stadtgefüge retten
und die Auflösung der Stadt verhindern. Mit diesem vermeintlich „freiraumbasierten
Städtebau“ (Lohrberg 2002) wird eben dieser gemacht und damit die Idee der „Europäischen Stadt“ noch immer verfolgt (Dettmar 2005c, S. 147). Die beschriebenen
Freiraumprinzipien – Wald, Landwirtschaft, Garten und Wildnis – spiegeln gewissermaßen auch die 4 Typen der Stadtnatur nach KOWARIK wider (Kapitel C.2.1.3). Für
diese sind durchaus Veränderungen in der schrumpfenden Stadt zu erwarten bzw.
bereits sichtbar. Sie können nach den Kriterien: (1) Ursprung und Idee, im Sinne ihrer
ursprünglichen Aufgabe bzw. Triebkraft, (2) Funktion, im Sinne der Nutzung und Aneignung und (3) Gestalt, im Sinne ihrer ästhetischen Ausprägung beschrieben werden.
Tabelle 11 stellt die Freiraumtypen hinsichtlich ihres Charakters und Verständnisses
bisher und der Veränderungen in der schrumpfenden Stadt gegenüber. Insbesondere
kann ein Trend zu Freiräumen vermutet werden, die sich am 4. Typ der Stadtnatur
orientieren: „Es zeichnet sich ab, daß (!) dieser Typus sich enorm ausdifferenziert nach
unterschiedlichen Nutzungsprofilen zwischen Naturschutz und intensiver Zwischennutzung, nach unterschiedlicher Eingriffstiefe, nach unterschiedlichem Gestaltungsanspruch und Unterhaltungsaufwand zwischen urbaner Wildnis, urbaner Landwirtschaft
C.2 Grundlagen des Freiraumverständnisses in schrumpfenden Städten
und neuer Parklandschaft, in der eine eigene Ästhetik kultiviert wird“ (Jessen 2007,
S. 57).
Freiraumtyp/
Freiraumprinzip
„Alte“ Stadt
Ursprung,
Idee
Stadtwald als Relikt bzw. Element der
(ursprünglichen) Naturlandschaft
Adaption des (1) Bildes und/oder der
(2) Funktion
Funktion
Erholungswald, Schutzwald, Nutzwald
(1) dominantes räumliches Element
zum Erhalt der städtebaulichen Struktur
(2) Aufforstung als Verwertungsansatz
mit Wertschöpfungsanspruch und
Naturschutzbestreben, Beitrag zum
Klimaschutz
Gestalt
ursprünglich, zunehmend Schutzbestrebungen im Sinne des Natur- und
Prozessschutzes
(1) bewusst artifiziell, städtischer Freiraum
(2) Forstfläche, Sukzession
Ursprung,
Idee
urbane und stadtnahe (rezente) Landwirtschaft als Relikt der bäuerlichen
Agrarlandschaft
Flächenverwertung und Wertschöpfung
Verbindung von Nahrungsmittelproduktion, Erholungsangeboten und Naturschutzbestrebungen
Funktion
stadtnahe Produktion von Nahrungsmitteln
Direktvermarktung und Biolandbau
Biomasseanbau
Gestalt
bäuerlich, arkadisch
differenziert, erschlossen, gestaltet
Ursprung,
Idee
typisches und originäres Element der
Stadt
(temporäre) Aneignung freier Flächen
durch bestimmte Lebensstilgruppen
Funktion
private Aneignung u. Selbstversorgung
(Nutzgärten), Repräsentationsgärten
Subsistenz, Integration, Kommunikation
Gestalt
klare Gestaltungs- und Nutzungsregeln,
Kleingartenparzelle, wohnungsnaher
Mietergarten, Hausgarten
unterschiedliche Formen (Grabeland,
Anwohnergärten, Interkulturelle Gärten,
Bunte Gärten, Migrantengärten), tw.
unkonventionelle Gestaltungsansätze
Ursprung,
Idee
Stadtbrache als (temporäre) Restflächen des städtischen Flächenkreislaufs
sekundäre (Stadt)Wildnis zugelassen
oder bewusst geplant
Funktion
schützenswerter Lebensraum für Pflanzen und Tiere, stadtökologischer Ausgleichsraum und zur freien Entfaltung
und Aneignung durch die Bewohner,
Naturerleben in der Stadt
preiswerter Verwertungsansatz großer
Rückbauareale, mangels finanzieller
Möglichkeiten
ökologischer Ausgleichsraum, Naturerleben
Gestalt
Ruderalvegetation, Sukzession, Spontanvegetation
Gestaltungsanspruch durch Kontraste,
Grenzen
Urbaner Wald
Urbane Landwirtschaft
Garten
Stadtwildnis
Schrumpfende Stadt
Tabelle 11: Hintergrund, Funktion und Gestalt der Freiraumtypen im Vergleich der alten zur
schrumpfenden Stadt (Eigene Darstellung).
283
284
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Hypothesen
‚ In schrumpfenden Städten wird das bekannte Freiraumrepertoire durch neue Freiraumtypen ergänzt. Dabei ändern sich weniger die städtischen Freiraumkategorien
hinsichtlich ihres funktionalen Programms als ihre typische Ausprägung im Sinne ihrer Gestalt.
‚ Die bekannten Freiraumprinzipien in Anlehnung an die 4 Typen der Stadtnatur
(KOWARIK) – Wald, Landwirtschaft, Garten, Stadtwildnis – werden hinsichtlich
Funktion und Gestalt neu interpretiert.
3
Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Auf der Grundlage der Analyse der Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung in
schrumpfenden Städten im Teil B der Arbeit können folgende Annahmen formuliert
werden, unter denen auch die Fallbeispiele untersucht wurden:
‚ Die Wahrnehmung von Freiraum als Element der Stadtstruktur verändert sich unter
Schrumpfungsbedingungen – auch im Zusammenhang mit dem an ihn gestellten
Lösungsanspruch.
‚ Die Bedeutung der Freiraumplanung als Fachplanung der Stadtentwicklung steigt.
‚ Freiraumplanung hat in schrumpfenden Städten Grenzen, was ihr Lösungsvermögen betrifft.
‚ Es gibt Hemmnisse der Integration und gleichwertigen Stellung der Freiraumplanung im Planungsprozess.
Die Diskussion verschiedener theoretischer Ansätze im vorangegangen Kapitel C wird
in Hypothesen zusammengefasst, die im Folgenden gebündelt dargestellt sind:
‚ Die räumliche Schrumpfung kann in betroffenen Städten nach unterschiedlichen
Mustern ablaufen. Entsprechend der Prinzipien der Schrumpfung sind vier Stadtmodelle – Kontrahierte, Fragmentierte, Perforierte und Disperse Stadt – denkbar. Die
unterschiedlichen Stadtmodelle bilden grundlegende räumliche Rahmenbedingungen für die Verteilung und Struktur der Freiräume in schrumpfenden Städten.
‚ Historische städtebauliche Leitbilder mit hohem Freiraumbezug bieten Anknüpfungspunkte für die Anwendung unter Schrumpfungsbedingungen – eine kritische
Übertragung vorausgesetzt.
‚ Beide aktuelle Leitbilder – die „Europäische Stadt“ und die „Zwischenstadt“ – bieten teilweise Ansätze für die Leitbilddiskussion in schrumpfenden Städten.
‚ Städtebauliche Leitbilder, die zugleich Elemente der bisher gegenläufigen Ansätze –
kompakt oder gegliedert – aufnehmen, scheinen für die Stadtentwicklung zukunftsfähige Ansätze zu sein.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
‚ In städtebaulichen Leitbildern schrumpfender Städte spiegeln sich die bekannten
Linien der Stadtentwicklung wider. Das Leitbild der „Europäischen Stadt“ in Orientierung am Modell der Kompakten Stadt ist auch in schrumpfenden Städten stark
vertreten. Eine Vielzahl städtebaulicher Leitbilder orientiert sich an der Gegliederten
Stadt, einem Modell, in dem Freiraum eine wichtige Rolle spielt.
‚ Stadtnatur wandelt sich von einer domestizierten Natur in der Stadt zu einem
gleichwertigen – weil notwendigen – Bestandteil der Stadt in Form städtischer Freiräume.
‚ Ein weites Naturverständnis erweitert die Palette möglicher Gestaltungs- und Nutzungsansätze für neu entstehende Freiräume in schrumpfenden Städten.
‚ Das Verständnis von urbaner Landschaft bildet die Grundlage für die freiraumplanerische Inwertsetzung von unter Schrumpfungsbedingungen entstehenden Stadtstrukturen.
‚ Ein verändertes Landschaftsbewusstsein ermöglicht zum einen neue Stadtmodelle
und städtebauliche sowie freiraumplanerische Leitbilder und zum anderen neue
Handlungsansätze für die Gestaltung der frei werdenden Flächen.
‚ Pluralität, Eigenart, Attraktivität und Identität der Freiräume in schrumpfenden
Städten sind die Voraussetzung für einen freiraumplanerischen Beitrag zur Qualität
des Stadtumbaus.
‚ In schrumpfenden Städten wird das bekannte Freiraumrepertoire durch neue Freiraumtypen ergänzt. Dabei ändern sich weniger die städtischen Freiraumkategorien
hinsichtlich ihres funktionalen Programms als ihre typische Ausprägung im Sinne ihrer Gestalt.
‚ Die bekannten Freiraumprinzipien in Anlehnung an die 4 Typen der Stadtnatur
(KOWARIK) – Wald, Landwirtschaft, Garten, Stadtwildnis – werden hinsichtlich
Funktion und Gestalt neu interpretiert.
Die empirische Untersuchung orientiert sich an diesen Hypothesen. Dafür werden
diese unterschiedlich operationalisiert (siehe auch Tabelle E.6 im Anhang).
Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder
Ausgehend von der Hypothese, dass räumliche Schrumpfungsprozesse nach unterschiedlichen Mustern ablaufen und diese als Rahmenbedingungen die künftige Stadtund Freiraumentwicklung beeinflussen, wird in den Fallbeispielen untersucht, auf welchen Modellen und Leitbildern der Stadtentwicklung die Umsetzung des Stadtumbaus
basiert. Dabei wird analysiert, welche Stadtmodelle und (städtebauliche) Leitbilder
unter Schrumpfungsbedingungen verfolgt werden und welche Rolle Freiraum in ihnen
spielt.
285
286
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Die Trennung von Stadtmodellen, städtebaulichen Leitbildern und Leitbildern der
Stadtentwicklung ist nicht immer klar zu vollziehen – weder in der theoretischen Diskussion noch in der praktischen Anwendung. Entsprechend der oben erläuterten Kategorien der Leitvorstellungen in der Stadtentwicklung und dem Verständnis städtebaulicher Leitbilder (Kapitel C.1.1; Abbildung 21; S. 168) werden die Fallbeispiele analysiert.
Dabei wird die Untersuchung auf (a) Stadtmodelle, (b) städtebauliche Leitbilder und
(c) Leitbilder der Stadtentwicklung beschränkt (Abbildung 35). Diese können Bestandteil sein von generellen Programmen und Konzepten, umfassenden Planwerken, Projekten und Maßnahmen mit definiertem Leitbildbezug und visuellen Darstellungen.
(a) Stadtmodelle
(b) Städtebauliche
Leitbilder
(c) Leitbilder der
Stadtentwicklung
Zukunftsaussage für das
Stadtgefüge
Slogans, Images =
teilweise mit räumlichen
bzw. städtebaulichen
Aussagen
Strukturmodell =
vereinfachte Darstellung
einer idealtypischen
grafisch
räumlichen Anordnung einprägsame Diagramme
Abbildung 35: Suchschema bei der Untersuchung der Fallbeispiele zu Leitvorstellungen der
Stadtplanung (Eigene Darstellung).
(a) Stadtmodelle werden verstanden als deskriptive, theoretische und in der Regel
grafisch dargestellte Strukturmodelle, die Aussagen zur Anordnung städtischer Elemente auf einer relativ abstrakten Stufe machen. Sie können einen eher normativen Charakter annehmen, indem sie als räumliche Zukunftsaussage für das Stadtgefüge Bestandteil städtebaulicher Leitbilder werden. Innerhalb dieser dienen sie dazu, komplexe
Vorstellungen einer konkreten Stadtentwicklung bildhaft umzusetzen.
(b) Die Art und Weise der Festlegung von städtebaulichen Leitbildern in der Stadtentwicklung kann in den einzelnen Städten sehr unterschiedlich erfolgen. Darauf wird
auch die empirische Untersuchung ausgerichtet: Trotz aller (theoretischer) Definitionsversuche des Begriffs (Kapitel C.1.1), wird dieser in der Praxis sehr uneinheitlich verwendet. Unabhängig von ihrer Bezeichnung werden aktuell in schrumpfenden Städten
städtebauliche Zielvorstellungen formuliert, die jeweils oder auch gleichzeitig Eigenschaften von Stadtmodellen, städtebaulichen Leitbildern und Leitbildern der Stadtentwicklung haben.
(c) Im Gegensatz zu den „Leitbildern der räumlichen Stadtentwicklung“ sollen auch
Leitbildformulierungen in Form von Thesen und Slogans als „Leitbilder der Stadtentwicklung“ und damit „nichträumliche Prinzipien“, analysiert werden. Teilweise ist
dabei die Grenze zu Leitbildern im Rahmen des Stadtmarketings fließend (Spiekermann
1999, S. 5).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Die Überprüfung der theoretischen Annahmen erforderte die Analyse von Stadtumbaukonzepten auf unterschiedlichen Maßstabsebenen und anderer stadtumbaurelevanter Planungen mit übergeordneten, modellhaften oder konzeptionellen Aussagen
zu Modellen und Leitbildern.170 Folgend werden jeweils für die drei untersuchten Städte – wenn vorhanden – (a) Stadtmodelle, (b) städtebauliche Leitbilder und (c) Leitbilder
der Stadtentwicklung beschrieben. Dabei wird unterschieden zwischen gesamtstädtischen und Ansätzen für ausgewählte teilstädtische (Stadtumbau)Gebiete. Es werden
die darin enthaltenen Aussagen zur Freiraumentwicklung bzw. die daraus ableitbaren
Rahmenbedingungen für die Freiraumplanung dargestellt.
Stadtumbaustrategien und freiraumplanerische Handlungsansätze
In Fortführung der historischen Entwicklung städtischer Freiräume und ihres Verständnisses als Natursubstitution stellt sich in schrumpfenden Städten die Frage, welche
Beweggründe und Ansätze es aktuell gibt, Freiraum als Element der Stadtentwicklung
in der Phase des Stadtumbaus einzusetzen. Die Rolle, die Freiraum in Stadtumbaustrategien spielt, zeugt dabei von der Bedeutung des Freiraums im Umgang mit den Herausforderungen der Schrumpfung. Die Untersuchung von Stadtumbaustrategien und
relevanten Konzepten auf gesamt- und teilstädtischer Ebene im Hinblick auf die Integration der Belange der Freiraumentwicklung kann Erkenntnisse dazu liefern, inwiefern
sich aktuell tatsächlich ein neues Natur- und Landschaftsverständnis entwickelt bzw.
manifestiert. Die praktischen Ansätze sind dabei vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Zugänge zu Stadtnatur, der Wahrnehmung von Natur und dem Landschaftsbewusstsein einzuordnen.
Die theoretisch diskutierten Ansätze (Kapitel C.2) lassen sich nicht explizit in der Planungspraxis schrumpfender Städte ablesen. Im Rahmen der empirischen Untersuchung
ist daher eine Operationalisierung der Hypothesen notwendig:171 Der Zugang zur Natur in der Stadt und das Verständnis städtischer Landschaft kann sich niederschlagen in
der Rolle, die Freiraum in Stadtumbaustrategien schrumpfender Städte spielt. Zum
anderen sind es auch explizit freiraumplanerische Strategien, die in ihrer Formulierung
und Umsetzung Anzeichen für umfassende Konzepte urbaner Landschaften darstellen.
Die konkrete Umsetzung freiraumplanerischer Projekte in schrumpfenden Städten
spiegelt das aktuelle Repertoire an Gestaltungs- und Nutzungsansätzen städtischer
Freiräume wider. Die Stadtumbaupraxis der in dieser Arbeit untersuchten Städte wird
im Folgenden anhand dieser drei Themenfelder dargestellt und abschließend hinsichtlich der Bedeutung des Freiraums im Stadtumbau der jeweiligen Stadt erörtert.
170
Die Aussagen beziehen sich auf Planungsdokumente und Stadtumbaugebiete, die in den Steckbriefen zu den einzelnen Städten (Teil A) als Übersicht dargestellt sind. Die Steckbriefe können ausgeklappt als parallele Lesehilfe verwendet werden.
171
Zur Operationalisierung der Hypothesen siehe auch Tabelle E.6 und Tabelle E.7 im Anhang.
287
288
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
3.1
Chemnitz – Freiraum im Stadtumbau
3.1.1 Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder
Übergeordnet wird für den Stadtumbau und die Stadtentwicklung der Stadt Chemnitz
das Ziel der „Nachhaltigen Stadt Chemnitz“ formuliert (Stadt Chemnitz 2002, Vorwort, o. S.). Auf gesamtstädtischer Ebene wurde ein raumstrukturelles und städtebauliches Leitbild entwickelt. Für die einzelnen Stadtteile bzw. -bereiche werden auf dieser
Abstraktionsebene keine Aussagen gemacht.
Innere Stadt
Im städtebaulichen Rahmenplan für die Innenstadt (1998)172 werden die städtebaulichen Leitvorstellungen für das Stadtzentrum deutlich. Ziel dieser Pläne war und ist es,
die mit vielen Problemen behaftete Innenstadt von Chemnitz als attraktiven Standort,
mit einem Mix aus Einzelhandel, Dienstleistungen, Freizeitfunktionen, Wohnen und
gewerblichen Nutzungen im Sinne „einer europäischen Stadt“ zu entwickeln (Stadt
Chemnitz 2006c, S. 4). Maßgeblich für die Neustrukturierung war und ist dabei die
„bewährte Struktur der europäischen Stadt“ (Dören 1998, S. 191). Die historisch
überkommene, sehr weitläufige Stadtstruktur soll mit dem Ziel einer höheren Urbanität, Mischung und Belebung verdichtet und neu organisiert werden. Dabei soll die
Struktur der europäischen Stadt aber hinsichtlich moderner Anforderungen modifiziert
werden. Neue Bauformen und attraktive Einzelbaukörper sollen sich an der Block- und
nicht an der Parzellenstruktur orientieren. Besonderes Augenmerk wird dem öffentlichen Raum geschenkt (ebd., S. 191).
Gesamtstadt
Im Integrierten Stadtentwicklungsprogramm von 2001 (INSEP), in dem die Schrumpfungsproblematik erstmals gesamtstädtisch und konzeptionell thematisiert wurde, wird
als Ziel die Erhaltung der kompakten Stadt als Beitrag zur Attraktivitätssteigerung und
Identitätsschaffung formuliert. Erreicht werden soll dies durch ein Zurückziehen der
schrumpfenden Stadt auf ihre Kernbereiche (Stadt Chemnitz 2002, o. S.). So wurde
auch in Chemnitz das in der aktuellen Stadtumbaudebatte häufig formulierte Ziel, den
Rückbau einzusetzen, um die Stadt entgegengesetzt zum historischen Stadtwachstum
von außen nach innen auf einen Kern schrumpfen zu lassen, verfolgt. Allerdings wird
auch in diesen anfänglichen Überlegungen deutlich, dass nicht von dem einen kompakten Stadtbereich ausgegangen wird. Vielmehr bezieht sich das Ziel der Kompaktheit auf mehrere Stadtbereiche.
172
Die Stadt Chemnitz hat in den Jahren 1993, 1998, 2000 und 2005 Rahmenpläne für die Entwicklung des Stadtzentrums erarbeitet, die vom Stadtrat beschlossen wurden.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Die Stadtplanungsverantwortlichen in Chemnitz mussten im fortschreitenden Stadtumbauprozess die Erfahrung machen, dass sich die „ ‚reine Lehre’ […; das heißt den
Stadtumbau von außen nach innen durchzuführen, Anm. d. Verf.] auf Chemnitz nicht
anwenden [lässt]“ (Butenop 2007; IC1, IC5). Durch Kriegszerstörung und DDRStadtentwicklung hat sich die Stadtstruktur so stark verändert, dass die Frage „Wo ist
innen, wo ist außen?“ nicht einfach zu beantworten ist (ebd.). Für den Stadtumbau
bedeutet dies, dass die einzelnen Stadtteile, Quartiere und Lagen individuell analysiert
und bewertet werden müssen, um zukunftsfähige Bestände und möglichst flächenmäßig zusammenhängende Rückbaupotenziale zu identifizieren (ebd.).
Entsprechend dieser Erfahrungen wird seit der Fortschreibung des Räumlichen Handlungskonzeptes Wohnen (RHK Wohnen) in den Jahren 2004/2005 offensiv eine veränderte räumliche Struktur diskutiert. Der Einsicht folgend, dass es über das eng begrenzte Zentrum hinaus keinen eigentlichen kompakten Innenstadtbereich gibt und
geben wird, wurde eine Stadtstruktur definiert, die sich durch eine klare Gliederung in
Wohnbereiche unterschiedlicher Dichte und in, die Stadt durchziehende, Grünzüge als
Rahmen für die verschiedenen Siedlungsinseln auszeichnet (Stadt Chemnitz 2005).
Diese Struktur spiegelt zum einen ein sehr präzises Stadtmodell wider und kann zum
anderen auch als städtebauliches Leitbild eingeordnet werden. Das in Abbildung 36
dargestellte Leitbild Wohnen 2020 ist als räumlich konkrete Verortung des stadtstrukturellen Modells der fragmentierten Stadt zu verstehen.
Das im RHK Wohnen formulierte städtebauliche Leitbild differenziert folgende Prinzipien der Strukturentwicklung (ebd., S. 39; Abbildung 36):
‚ Für die „Kompakte, gegliederte Innenstadt“ gilt das Motto „Urbanes Wohnen“.
Dazu soll das Zentrum gestärkt und (funktional) verdichtet werden. Die gründerzeitlichen Wohngebiete in den Kernbereichen sollen vorrangig stabilisiert und in den
Randbereichen aufgelockert werden. Die Abgrenzung der einzelnen Stadtgebiete
soll durch grüne Zonen erfolgen.
‚ In den „Durchgrünten Tallagen“ sollen durch die Auflockerung und Durchgrünung
der Gemengelagen in den Tälern Standorte für „Wohnen und Arbeiten im Grünen“
entwickelt werden. Im „Aufgelockerten Stadtrand mit stabilen Kernbereichen“ soll
durch die Auflockerung zum Rand der Großwohnsiedlungen hin zum Qualitätsgewinn des „Wohnens an der Landschaft“ beigetragen werden.
Zusammenfassend wird formuliert: „Dem kompakten gegliederten Innenstadtbereich
steht eine aufgelockerte, gegliederte Randstadt mit kompakten Kernen gegenüber.
Urbanes Wohnen in der Mitte wird gestärkt, naturbezogenes Wohnen am Rande wird
weiter entwickelt“ (Stadt Chemnitz 2005, S. 40).
289
290
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Abbildung 36: Stadtstrukturvorstellungen im Städtebaulichen Leitbild Wohnen 2020 (StadtBüro
Hunger in Stadt Chemnitz 2005, S. 43).
Im Prozess zur Erstellung des Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes (SEKo)173 wird
das Modell des RHK Wohnen weiterentwickelt. Dabei soll die Unterscheidung von
173
Das SEKo befand sich zum Abschluss der Recherchen im Rahmen dieser Arbeit (2007) im Prozess
der Erstellung und Abstimmung. Geplant ist eine Fertigstellung bis zum Jahresende 2008.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
„Innen“ und „Außen“ noch konsequenter umgesetzt werden: Eine kompakte und
gegliederte Innen- bzw. Kernstadt wird von einem aufgelockerten Gürtel umgeben.
Die in diesem Gürtel verbleibenden Inseln sollen kleiner, aber weniger entdichtet werden. Dabei wird klar festgestellt, dass die Siedlung an keiner Stelle der Stadt verschwinden soll, das heißt alle Stadtteile bleiben im Kern erhalten. Es gilt den Leerstand
in allen Stadtbereichen zu akzeptieren und dabei nicht den Rückbau als sofortige und
flächendeckend einsetzbare Lösungsstrategie anzuwenden. Denn zunehmend wird
erkannt, dass leerstandbezogener Rückbau zwar die wohnungswirtschaftliche Problemstellung löst, aber zur Auflösung städtebaulicher Strukturen führt. Darüber hinaus
erschwert die Perforation die sinnvolle Nachnutzung der Freiflächen. Weiterhin gilt es,
die Aufwertungschancen und damit die tatsächlichen Handlungsspielräume des Stadtumbaus in den einzelnen Gebieten genau zu prüfen.174 Die Innenstadt ist dabei klar im
Fokus der Stadtentwicklungsbestrebungen, welche nicht allein durch Stadtumbau
umgesetzt werden können.175
Auch wenn das nun „eher zerkrümelte“ (IC1) strukturelle Leitbild bisherige Stadtvorstellungen und die Verantwortlichen vor große Herausforderungen hinsichtlich der
Akzeptanz und Umsetzung stellt, so wird dieses Bild letztlich doch als das wahrscheinlichere akzeptiert und mittlerweile auch in Aushandlungsprozessen von Seiten der
Stadtverwaltung und -politik konsequent vertreten: Das „Spiel von Verdichtung und
Auflockerung“ gilt es dabei auch nach Außen zu kommunizieren (IC1).
Die Erfahrungen aus dem bisherigen Stadtumbauprozess und die Prognosen für die
Stadt machen dabei zukünftig eine noch konsequentere Auslegung dieses Ansatzes
notwendig: Bisher wurde zwar von einer deutlichen Schrumpfung an den Rändern der
einzelnen Stadtbereiche, aber von der Prämisse der Erhaltung aller Stadtteile ausgegangen. Der weiter sehr hohe Leerstand und Handlungsdruck äußert sich zunehmend
dahingehend, dass parallel zur deutlichen Verkleinerung einzelner Stadtteile langfristig
auch über die konsequente Aufgabe ganzer Siedlungsbereiche, vor allem am südlichen
Stadtrand (Plattenbaugebiete), nachgedacht wird (IC5).
Stadtumbaugebiete
Im INSEP wurden für die 39 Stadtteile Entwicklungsziele auf der Grundlage der Bestandssituation und der Prognosen definiert. Dabei wird für jeden Stadtteil ein „Leitgedanke“ formuliert. Diese werden in der Weiterentwicklung der Stadtteilkonzepte
174
Butenop, Börries: „Zwischenbilanz Stadtumbau ab 2000 – Kritische Reflexion“. Einführungsvortrag
zur 1. StadtWerkstatt im Rahmen des SEKo-Prozesses in Chemnitz, Thema „Stadtqualität“,
22.11.07, Chemnitz
175
Rasche, Klaus: „Bevölkerungsprognose und Wohnbedarf 2020“. Einführungsvortrag zur
1. StadtWerkstatt im Rahmen des SEKo-Prozesses in Chemnitz, Thema „Stadtqualität“, 22.11.07,
Chemnitz
291
292
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
aufgenommen, aber nicht mehr explizit und stringent für alle Stadtteile formuliert. Die
Leitgedanken werden mit fokussierten Entwicklungszielen untersetzt. Es werden städtebauliche Planungsabsichten und Problemschwerpunkte beschrieben und abgeleitet
sowie in Karten räumlich verortet (Stadt Chemnitz 2002). Diese Leitgedanken stehen
eher für die strategische Orientierung der Stadtentwicklung im jeweiligen Stadtteil und
thematisieren beispielsweise Wohnlagen, historische Bezüge, sozialräumliche Eigenschaften oder ökonomische Ziele. In einigen Stadtteilen sind die Aussagen aber auch
städtebaulich relevant. Häufig werden auch freiraumplanerische Qualitäten herausgestellt. Insbesondere für die – meist randlich gelegenen – Großwohnsiedlungen spielen
die Qualitäten der umgebenden oder angrenzenden Landschaftsräume eine große
Rolle. Dies gilt auch für einige innerstädtische Quartiere, die im Zuge des Stadtumbaus
vor allem eine freiraumplanerische Aufwertung erfahren sollen. Beispiele dieser Leitgedanken für einzelne Stadtteile mit explizit städtebaulichem und/oder freiraumplanerischem Bezug sind: „Wohnen an Park und Fluss“ (Schloßchemnitz), „Die Großwohnsiedlung am Zeisigwald“ (Yorckgebiet), „Die urbane Vielfalt“ (Sonnenberg), „Wohnen
am Stadtpark“ (Helbersdorf), „Wohnen am Stadtrand“ (Hutholz) (ebd.).
3.1.2 Stadtumbaustrategien
Integration freiraumplanerischer Belange in gesamtstädtische Entwicklungsstrategien
In der Zielstellung des Integrierten Stadtentwicklungsprogramms (INSEP) wird das
Potenzial freiraumplanerischer Qualitäten hervorgehoben: „Mit dem vorliegenden
Stadtentwicklungsprogramm soll der erfolgreiche Wandel von der Stadt ohne gebaute
Mitte, mit entleerten und zerfallenden Gründerzeitvierteln und Gewerbebrachen hin zu
einer grünen [Herv. d. Verf.] und erfahrbaren Stadt, mit neuem Stadtzentrum, bewohnten innerstädtischen Quartieren, einer innovativen Wirtschaft und einer Universität fortgesetzt werden“ (ebd., Vorwort). Dieses Ziel schlägt sich auch in den städtebaulichen Leitlinien nieder: Der Rückzug von Wohnfunktionen soll zur Ausbildung
stadtstrukturell bedeutsamer Grünzäsuren und tragfähigen Grünverbindungen von der
Innenstadt zur freien Landschaft genutzt werden, die Funktionen der Naherholung
erfüllen und der Verbesserung des Stadtklimas dienen (ebd., o. S.). Mit dem Stadtökologischen Handlungskonzept als Fachkonzept zum INSEP wird der hohen Bedeutung
freiraumplanerischer und stadtökologischer Belange Rechnung getragen.
Das Räumliche Handlungskonzept Wohnen im INSEP (RHK Wohnen) wurde auf
Grundlage der Analyse der städtebaulichen Strukturtypen und ihrer Qualität und der
Freiraumstrukturen sowie der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung formuliert.
Dabei wurde die Strategie verfolgt, punktuelle Eingriffe des Stadtumbaus zu bündeln
und in größeren Problemlagen auch großräumig abzureißen. Letzteres soll vor allem
durch einen flächenhaften Abriss von Wohngebäuden im Übergangsbereich zu ländlichen Siedlungsformen umgesetzt werden (Fischer 2001, S. 56). Im Rahmen der Entwicklungsziele für die 39 Stadtteile werden auch immer wieder freiraumplanerische
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Zielstellungen und Maßnahmen formuliert. Die Kategorie Grün- und Freiflächenentwicklung als Unterpunkt zu den städtebaulichen Planungsabsichten zeugt von der
Relevanz dieses Themas.
Resultierend aus der Dynamik des Schrumpfungs- und damit auch Stadtumbauprozesses wurde das RHK Wohnen im Jahr 2004/2005 fortgeschrieben. Die übergeordneten
Zielstellungen des Konzeptes verdeutlichen den Stellenwert freiraumplanerischer Aspekte im Stadtumbau (Stadt Chemnitz 2005, S. 5): Insbesondere das Ziel, die randstädtischen Wohngebiete mit weniger Dichte und weniger Wohnraum, aber mehr
Freiraum und Naturbezug zu stabilisieren, setzt auf freiraumplanerische Strategien.
Dabei erfüllen diese Ansätze mehrere Aufgaben: (1) Entwicklung einer nachhaltigen
Stadtstruktur, (2) klare Strukturierung des Stadtkörpers und (3) Verbesserung der
stadthygienischen und ökologischen Situation. So basieren die im RHK Wohnen formulierten Prinzipen der Stadtstrukturentwicklung sämtlich auf Aussagen zur Freiraumentwicklung (ebd., S. 38; Stadt Chemnitz 2006b):
‚ „Natur in der Stadt stärken“: Im Zuge des Rückbaus sollen Naturelemente zur Steigerung des Stadterlebnisses klar herausgearbeitet werden. Durch die Freilegung von
Gewässerläufen und die Begrünung ihrer Ränder können so grüne Finger im Stadtgebiet entstehen.
‚ „Grün vernetzen“: Grüne Inseln im Stadtbereich sollen zu grünen Ringen und Fingern verbunden werden.
‚ „Puffer zum Wohnen an Straßen“: Nach dem Abriss nicht mehr marktgängiger
Wohnbebauung an Haupteinfallstraßen sollen neue Raumkanten durch Begrünung
geschaffen werden.
‚ „Grün und Gewerbe an der Bahn“: Die für Chemnitz typischen Gemengelagen mit
Wohnungsbestand am Gleisnetz sollen abgerissen werden, um eine Weiterentwicklung als Gewerbestandorte und Grünbereiche zu fördern.
Das im RHK Wohnen in Ergänzung zum „Städtebaulichen Leitbild Wohnen 2020“
(Kapitel C.3.1.1) entwickelte Leitbild für die Grünraumentwicklung spiegelt die freiraumplanerisch dominierten Prinzipien der Stadtentwicklung wider (Abbildung 37).
Sichtbar wird das Netz aus bestehenden und neu durchgrünten Stadtbereichen und
Gemengelagen. Dabei sollen unterschiedliche Freiraumtypen je nach Bedarf und ökonomischen Möglichkeiten von der einfachen Begrünung über Sport- und Erholungsflächen hin zu Wald und Gärten sowie temporäre Lösungen eingesetzt werden (Stadt
Chemnitz 2005, S. 42).
293
294
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Im Detail sollen diese übergeordneten Zielstellungen in den Stadtteilen mittels unterschiedlicher Stadtumbaukategorien176 umgesetzt werden.
Abbildung 37: Leitbild Grünraum 2020 (StadtBüro Hunger in Stadt Chemnitz 2005, S. 44).
176
Urbane Kerne, stabile Kernbereiche des Geschosswohnungsbaus, zu stabilisierende Kernbereiche
des Geschosswohnungsbaus, stabile Bereiche mit geringer Wohndichte, Auflockerungsbereiche des
Wohnungsbaus, Beobachtungsbereiche des Wohnungsbestandes, Umstrukturierungsbereiche
„Grün“, Umstrukturierungsbereiche „andere Wohnformen“, Umstrukturierungsbereiche „Gewerbe“ (Stadt Chemnitz 2005, S. 48)
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Einige Gebietskategorien arbeiten mit explizit freiraumplanerischen Stadtumbaustrategien (Stadt Chemnitz 2005, S. 48): In „Auflockerungsbereichen des Wohnungsbaus“
wird der Abriss mit einer folgenden Aufwertung des Freiraums zur Erhöhung der
Wohnqualität der verbleibenden Bestände gefördert (ebd., S. 52). Eine freiraumplanerisch intendierte Stadtumbaustrategie wird in den „Umstrukturierungsbereichen Grün“
mit der Förderung von Gebäudeabrissen und Maßnahmen der Freiraumgestaltung
verfolgt. Diese Bereiche sind, insbesondere für die Entwicklung des gesamtstädtischen
Grünsystems bzw. für eine stadtstrukturell wichtige Zwischenbegrünung, von Bedeutung. Durch umfangreiche und teilweise flächenhafte Abrisse soll sich dort eine
durchgrünte Stadtlandschaft herausbilden. Die Nachnutzung dieser Rückbauflächen
soll dabei dauerhaft und pflegearm sein und durch eine Konzentration der öffentlich
geförderten Aufwertung von Freiräumen in diesen Stadtbereichen umgesetzt werden
(ebd., S. 52). In den Kategorien „Umstrukturierungsbereich andere Wohnformen“ und
„Umstrukturierungsbereich Gewerbe“ werden Zwischenbegrünungen bis zur Umsetzung von baulichen Folgenutzungen vorgeschlagen.
Für einzelne Stadtteile werden diese allgemein formulierten Stadtumbaukategorien
und Zielstellungen in konkrete freiraumplanerische Ansätze im Rahmen teilräumlich
erstellter Stadtumbaukonzepte übersetzt (Stadt Chemnitz 2006b):
‚ Im Gründerzeitstadtteil Sonnenberg sollen als Folgenutzung großer Abrissflächen in
schwieriger Lage an einer Ausfallstraße die „Bunten Gärten“ entstehen (siehe Kapitel C.3.1.4).
‚ Entlang der Ausfallstraße Leipziger Straße ist – dem Prinzip „Dunkler Wald“177 folgend – eine grüne Raumkante nach dem Abriss nicht mehr tragfähiger Wohngebäude und Gemengelagen geplant. Baumreihen in den Baulücken sollen abschnittsweise einen Allee-Charakter entstehen lassen. Daneben sind auch begrünte
Wände als Lärmschutz für dahinter liegende Wohngebäude denkbar.
‚ Im Lutherviertel soll durch Rückbau einer Arbeiterwohnsiedlung an der Bahntrasse
ein „Gleisgrünzug“ entstehen, der auch der Vervollständigung des Grünen Ringes
am Rande der kompakten Stadt dient.
Die Bearbeitung der freiraumplanerischen Kernaufgaben im Rahmen der Erstellung des
städtebauliche Entwicklungskonzepts (SEKo)178 erfolgt geteilt: Die gesamtstädtische
konzeptionelle Freiraumentwicklung, welche vorrangig durch die Abteilung Stadtökologie des Stadtplanungsamtes vertreten wird, erhält ein eigenes Fachkonzept und ist in
der Arbeitsgruppe 3 „Verkehr, technische Infrastruktur, Umwelt und Stadtökologie“
177
Die Bezeichnung ist vermutlich auf das Vorbild in Leipzig zurückzuführen (siehe Kapitel C.3.3.4).
178
In vier Arbeitsgruppen werden Inhalte und Konzepte zu allen relevanten Themen erarbeitet: (1)
Wirtschaft; (2) Wohnen, Städtebau, Denkmal, Bevölkerung, Finanzen; (3) Verkehr, technische Infrastruktur, Umwelt, Stadtökologie; (4) soziale Infrastruktur, Gemeinwesen.
295
296
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
integriert. Im Ergebnis soll ein Fachkonzept „Umwelt und Stadtökologie“ erstellt werden.179 Von Seiten der Stadtökologie und Freiraumplanung wurde zum stadtstrukturellen Leitbild ein „Stadtökologisches Grünkonzept“ zugearbeitet (IC2; siehe Kapitel
C.3.1.3, Abbildung 40). Damit soll die Entwicklung stadtstrukturellen Grüns und eines
übergeordneten und nicht nur ökologisch wirksamen Freiraumsystems gefördert werden (IC2). Die Entwicklung und Unterhaltung einzelner (wohnumfeldbezogener)
Grünflächen und vor allem Spielplätze, als Aufgabenbereich des Grünflächenamtes,
wird als Thema der sozialen Infrastruktur und Daseinsvorsorge betrachtet und ist entsprechend der Arbeitsgruppe 4 „Soziale Infrastruktur und Gemeinwesen“ zugeordnet
(IC3).
Freiraum in teilstädtischen Umbaustrategien
Im Rahmenplan für die Entwicklung des Stadtzentrums (2006) wird die Qualifizierung
und Vervollständigung des vorhandenen Grün- und Freiflächenbestandes als ein wichtiger Baustein für die Entwicklung eines Zentrums anerkannt, welches auch Erholungsmöglichkeiten und Aufenthaltsqualitäten im öffentlichen Raum aufweist. Neben
kleinräumigen Aufwertungen durch freiraumgestalterische Maßnahmen ist auch die
Umsetzung größerer Projekte geplant (Stadt Chemnitz 2006c, S. 4, 6; Abbildung 38).
Die Lage des Stadtzentrums am Flusslauf der Chemnitz wird als besondere Lagequalität, aber auch Gestaltungsaufgabe erkannt. Der unmittelbar an das urbane Zentrum
angrenzende Bereich der Chemnitzaue und der Hangkante stellen ein naturlandschaftliches Relikt dar, welches große Erholungspotenziale besitzt. Das für diesen Bereich per
Stadtratsbeschluss 2001 verabschiedete Strukturkonzept „Chemnitz-Uferpark“ (Kapitel C.3.1.3) wird entsprechend auch in den Rahmenplan Stadtzentrum integriert
(Abbildung 39).
179
Weiterhin werden Fachkonzepte erstellt zu den Themenbereichen: Städtebau und Denkmalpflege;
Wohnen; Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Handel und Tourismus; Verkehr; technische Infrastruktur; soziale Infrastruktur und Gemeinwesen; Finanzen und Förderung (IC3).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Abbildung 38: Nutzungs- und
Freiflächenkonzept, städtebaulicher
Gestaltungsplan des Chemnitzer
Stadtzentrums im Rahmenplan Innenstadt
2005 (Stadt Chemnitz 2006c, S. 7).
Abbildung 39: Uferparkkonzept für den
Zentrumsbereich (Stadt Chemnitz 2006c, S. 15).
3.1.3 Strategien der Freiraumplanung
Formelle Instrumente
In der Stadt Chemnitz existieren eine Reihe von Konzepten der Freiraum- und Landschaftsplanung, die fachplanerische Belange formulieren und die als Grundlagenplanungen in die Stadtumbauplanung einfließen.
Bereits 1994 wurde in Chemnitz ein ökologischer Begleitplan aufgestellt, um eine
bessere Einbeziehung ökologischer und Umweltvorsorgebelange sowie der Umweltverträglichkeitsbeurteilung von Eingriffen in die Bauleitplanung zu gewährleisten. Im
Hinblick auf die effiziente Umsetzung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung und
die Beschleunigung der Bauleitplanung wurde 1995 durch das Umweltamt in Ergän-
297
298
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
zung zum ökologischen Begleitplan die Ausgleichs- und Ersatzflächenkonzeption
erstellt (Stadt Chemnitz 2000b, S. 17).
Als eigenständiges Fachkonzept des Grünflächenamtes wurde im Jahr 1996 die Erholungskonzeption 2010 erstellt: „Die Stadtentwicklungspolitik, ausgerichtet auf Wirtschaftsentwicklung und Infrastrukturausbau „… verlangt nach Parallelentwicklungen –
so wird mit Bedacht auch der Sektor ‚Erholung und Freizeit’ in dem Planungsmosaik
städtebaulicher Entwicklung berücksichtigt“ (Stadt Chemnitz 1996, S. 1). Die Erholungskonzeption integriert zum einen vorhandene Konzepte für Teilbereiche und stellt
Daten bereit bzw. führt vorhandene Daten zusammen. Zum anderen liefert sie einen
Fachbeitrag bzw. Grundlagen zum Landschaftsplan für den Bereich Erholung, zum
Flächennutzungsplan und zum Integrierten Stadtentwicklungsprogramm Chemnitz
2010 (ebd., S. 1 f.). Die Erholungskonzeption umfasst dabei vier Teilkonzepte, wobei
das Erholungsgebietskonzept mit Aussagen zu öffentlich nutzbaren Grün- und Freiräumen in der Stadt, zu Naherholungsgebieten, zum Stadt- und Landschaftsbild und
zum Tourismus für die Freiraumentwicklung besonders relevant ist.180 Die dort getroffenen grundsätzlichen Aussagen zum Ausbau des Grünsystems (ebd., S. 7 f.) wurden in
den Landschaftsplan und folgend in den Flächennutzungsplan aufgenommen. Sie
liegen auch den aktuellen Stadtumbaukonzepten zu Grunde (Stadt Chemnitz 2000b,
S. 118).
Der Landschaftsplan wurde im Rahmen der Eingemeindungen bis 2000 schrittweise
fortgeschrieben (ebd., S. 16). Für das Schutzgut Erholung wird unter anderem das Ziel
der Vernetzung der Freiräume und die Schaffung von Grünzügen und Grünverbindungen formuliert. Weiterhin wird eine quantitative und qualitative Verbesserung des
Freiraumangebotes angestrebt (Stadt Chemnitz 2001, S. 82). In diesem Zusammenhang wurde auch das Grün- und Freiflächensystem weiterentwickelt.
Freiraumsystem
Das Freiraumkonzept der Stadt Chemnitz wurde erstmals in der Erholungskonzeption
1996 formuliert. Seitdem wurde es, veranlasst durch jeweils anstehende Planungsaufgaben (Landschaftsplan, Flächennutzungsplan, INSEP, SEKo), im Bewusstsein seiner
Bedeutung als weicher Standortfaktor kontinuierlich fortgeschrieben (IC2). Ziel ist die
Verknüpfung der Freiraumpotenziale am Stadtrand mit denen innerhalb des bebauten
Stadtgebietes. Das Grünsystem soll die Stadtstruktur dahingehend tragen, dass das
kompakte Stadtgebiet mit dem grünen Ring umgeben und durch Grünzüge und
-verbindungen strukturell gegliedert wird. Damit werden den Freiräumen auch städtebauliche Funktionen zugesprochen. Diese Zielstellungen wurden auch in den Flächennutzungsplan aufgenommen (ebd., S. 122; Stadt Chemnitz 2000a, Beiplan C.8.1).
180
Darüber hinaus gibt es Konzeption zu den Themen: Sportflächen, Wochenenderholungsflächen
und Landwirtschaftsflächen.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Das System setzt sich aus vier Hauptelementen zusammen, welche einem „abstraktnaturräumlichem Gliederungsprinzip“ folgen (Stadt Chemnitz 1996, S. 8 f.; Stadt
Chemnitz 2001, S. 21):
‚ Grüner Ring: Ein stadtumgebendes System landschaftlicher Naherholungsgebiete,
Wälder und Landwirtschaftsflächen übernimmt die Gliederung zwischen Stadt und
Landschaft. Dies soll als Instrument zur Eindämmung der Zersiedelung und zur Sicherung von Freiflächen am Stadtrand und im Übergang zur freien Landschaft dienen und Grünverbindungen zwischen neuen Baugebieten schaffen.
‚ Grünzüge: Keil- oder bandförmige Freiräume in Form städtischer Naherholungsgebiete, größerer öffentlicher Grünflächen, Kleingärten und Brachen sollen vom grünen Ring bis ins Zentrum führen. Sie haben dabei sowohl stadtgliedernde als auch
verbindende Funktionen und tragen so zur Sicherung des Freiraumbestandes bei.
Ihre Entwicklung ist langfristig angelegt und kann auch durch die Rücknahme von
Baustruktur und die Ausweisung von Suchkorridoren, vor allem an den Gewässerläufen, befördert werden. Später wird der Hauptgrünzug entlang der Chemnitz und
des Stadtparks definiert, was insbesondere im Stadtumbau zum Tragen kommt.
‚ Lineare Grünverbindungen: Sie dienen der Fortführung der Grünzüge, wo bauliche
Strukturen die Durchgängigkeit der Grünzüge behindern. Im Stadtinneren können
dies Wegeverbindungen entlang von Straßen oder kleine öffentliche Grünflächen
sein, die aber aufgrund ihrer mangelnden Erholungseignung ausschließlich Verbindungsfunktionen erfüllen.
‚ Einzelelemente (Parkanlagen, Stadtplätze, Anlagen im Wohnumfeld) ergänzen als
innerstädtisches Grundgerüst das Grünsystem.
Die Überlegungen zum städtischen Freiraumsystem finden sich auch im Stadtökologischen Grünkonzept wieder, welches im Rahmen der Erstellung des stadtstrukturellen
Leitbildes im SEKo erstellt wurde (Abbildung 40). Es enthält konzeptionelle Aussagen
zur Entwicklung des Hauptgrünzuges entlang der Chemnitz, zu Grünzügen mit gesamtstädtischen und teilräumlichen Funktionen, zu vorhandenen und geplanten dauerhaften Grünflächen sowie zum Grünen Ring. Darüber hinaus werden stadtbildprägende qualitätsvolle Straßenräume gekennzeichnet und Stadtkernklimatope sowie
Überschwemmungsbereiche ausgewiesen.
299
300
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Abbildung 40: Stadtökologisches Grünkonzept zum stadtstrukturellen Leitbild der Stadt
Chemnitz. Erarbeitung im Rahmen der Erstellung des SEKo (Stadt Chemnitz, Stadtplanungsamt).
Freiraumplanerische Konzepte für den Stadtumbau
Aufbauend auf den im Rahmenplan für das Stadtzentrum von 2000 formulierten planerischen Zielstellungen hinsichtlich der Innenstadtentwicklung und des Stadtumbaus
soll das Uferparkkonzept konzeptionelle Grundlage für die Entwicklung eines Grünzuges entlang des Flusses Chemnitz im Innenstadtbereich sein (Heckel, Lohrer 2001, S. 3;
Abbildung 39). „Ein Park entlang der wieder entdeckten Chemnitz – so die Idee –
könnte wie die Entwicklung des neuen Zentrums einen weiteren Beitrag zur Steigerung
der Attraktivität leisten und damit zur Identifikation der Chemnitzer mit ihrer sich
wandelnden Stadt beitragen“ (Lohrer 2002, S. 13).
Das Konzept aus dem Jahr 2001 zeigt, dass die Potenziale der Freiraumentwicklung
durch Leerstand, Brachen und Schrumpfung in Chemnitz schon früh erkannt und strategisch in stadtplanerische Entscheidungen integriert wurden: „Wenn Stadtumbau
nicht nur das Zurückweichen der Stadtränder, sondern auch Qualitätssteigerung im
Inneren bedeutet, so ermöglichen ausgeprägte und aus dem landschaftlichen Potential
(!) [hier die bewaldete Hangkante und der Flusslauf, Anm. d. Verf.] abgeleitete innerstädtische Grünzäsuren die Schaffung eines prägnanten Stadtgefüges mit: dichtem
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Zentrum, klar ablesbaren und gegliederten Quartieren, prägnanten, jedoch verbindenden Zäsuren …“ (Heckel, Lohrer 2001, S. 14).
Der Uferpark versteht sich dabei nicht im Sinne des Freiraumtyps des klassischen Parks.
Die Idee verfolgt vielmehr ein Nebeneinander „baulicher und grüner Dichte“ mit einer
„offenen sonnigen Mitte als ordnende Konstante“. So wird ein klarer Rahmen definiert, der flexible und zeitlich gestufte Entwicklungen ermöglicht. Die Gestaltung ist
gekennzeichnet durch klare und ablesbare Grenzen, erkennbare Eingänge, das Wechselspiel zwischen Dichte und Weite und Vegetation als dominantes Gestaltungselement (ebd., S. 3). Das Erschließungsnetz des Stadtraums bleibt erhalten und wird zum
Wegenetz im künftigen Park (ebd., S. 19 ff.).
Bei der Ausformung der einzelnen Räume setzt das Konzept entsprechend der Lage
und Verfügbarkeit der Flächen auf unterschiedliche Gestaltungsformen und Nutzungen, differenziert in offene (z. B. geschnittene Rasen, Wiesen, Wasserflächen, Magerrasen, Kiesflächen) und dichte Strukturen. Dichte Strukturen können beispielsweise
gebildet werden aus: vorhandener und neuer Bebauung, umgeben von Vegetation,
umgenutzten baulichen Elementen, temporären freiraumplanerischen Nutzungen
(nachwachsende Rohstoffe) und dauerhaft zu entwickelnden waldartigen Baumhainen. Dieses angestrebte Wechselspiel bedient sich dabei einer Vielzahl verschiedenartiger Freiraumtypen, wobei das klassische Freiraumrepertoire auch durch neue Typen
ergänzt werden soll (ebd., S. 36 ff.). Das Konzept weist demnach viele, sehr unterschiedliche Freiraum- und letztlich Stadtraumtypen auf: Ausgehend von den naturräumlichen Relikten – Hangkante und Flusslauf – wird über die historischen Schloßteichanlagen ein Freiraumsystem entwickelt, welches die Phasen der Stadtentwicklung
widerspiegelt und aktuellen Anforderungen an Freiraumnutzung und -unterhaltung
genügt.
Das Konzept wurde mittels der Förderkategorien des Stadtumbaus in entsprechende
stadtplanerische Entwicklungsziele übersetzt. In der Stadtumbaukategorie „Umstrukturierungsbereich Grün“ wird bevorzugt Geld für den Rückbau von Gebäuden bereitgestellt und die langfristig Umwidmung der Flächen in Grünflächen forciert. Mit der Umsetzung dieser Planungen werden zum einen „… die Spielräume und Chancen, die der
Stadtumbau für die Entwicklung eines Uferparks entlang der Chemnitz bietet, genutzt
…“ und zum anderen „… die positiven Veränderungen des neu gebauten Stadtzentrums durch eine attraktive und identitätsstiftende Parklandschaft in der unmittelbaren
Nachbarschaft ergänzt“ (Stadt Chemnitz 2006c, S. 14).
3.1.4 Freiraumplanerische Projekte
Parks
Die bislang im Rahmen des Uferparkkonzeptes umgesetzten freiraumplanerischen
Projekte basieren auf konventionellen Gestaltungs- und Nutzungsansätzen. Insbeson-
301
302
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
dere im Zentrumsbereich (Abbildung 39) werden Freiräume, welche dem klassischen
Parkprogramm verpflichtet sind, realisiert (Stadt Chemnitz 2006c, S. 14):
Der nordwestlich an das Zentrum angrenzende Bereich soll vor allem auch durch Maßnahmen des Stadtumbaus mit „… einer Infrastruktur in Form von vielfältig nutzbaren
Grünflächen …“ entwickelt werden (ebd., S. 14). Dabei stellt die Achse Brückenpark –
Schloßteichanlagen – Konkordiapark den Gegenpart zum entlang des Flusses in NordSüd-Richtung geplanten Uferpromenadenweg dar (Abbildung 39). So konnten der
Brückenpark181 und der Konkordiapark182 bereits erfolgreich umgesetzt werden
(Abbildung 41 und Abbildung 42).
Abbildung 41: Brückenpark auf Abrissflächen
früherer Gewerbebauten.
Abbildung 42: Konkordiapark.
Der am südwestlichen Rand des Zentrums gelegene „moderne Stadteingang“ um den
Falkeplatz soll „… künftig das grüne Pendant zur steinernen Stadt und den Vermittlungsraum zwischen dem Kernbereich der neuen Chemnitzer City und den innenstadtnahen Entwicklungsflächen […], markant strukturiert durch das Band des Grünzuges
Chemnitz-Fluss“ bilden (ebd., S. 6). Dabei soll die Erlebbarkeit des Flusses sowie die
Erreichbarkeit und Aufenthaltsqualität trotz der angrenzenden dominanten Straßenräume im Mittelpunkt der freiraumplanerischen Maßnahmen stehen (Abbildung 44).
Als erste Maßnahme wird der Fluss im Bereich Falkeplatz offengelegt183. Im Anschluss
ist die Gestaltung der angrenzenden Flächen geplant (Moritz- und Auepark).
181
Die langfristige Umsetzung des Brückenparks wird auch durch Änderungen im FNP und einen
Bebauungsplan dauerhaft abgesichert.
182
Das Projekt wurde 2000 vom Stadtrat beschlossen und im Rahmen des Programms Soziale Stadt
schrittweise umgesetzt. Es wurde mit ca. 767.000 € aus dem Kommunalhaushalt unterstützt und
2007 fertig gestellt. Ursprünglich als Projekt „Stadteingang“ angedacht, wurden Spiel- und Freizeitflächen für Kinder und Jugendliche angelegt. Schrittweise erfolgten eine Beräumung der verbleibenden Gebäudesubstanz und der Rückbau einer Straße.
183
Im Frühjahr 2008 wurde nach der Stilllegung der Straße mit der Offenlegung des Flusses auf einer
Länge von 220 m begonnen. Der gesamte Bereich soll bis zum Jahr 2012 komplett umgestaltet
werden.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Abbildung 43: Straßenraumsituation nach dem
Abriss von Altbausubstanz an der Mühlenstraße
als Schritt zur Umsetzung des Uferparks.
Abbildung 44: Stillgelegte Falkestraße kurz
vor der Offenlegung der Chemnitz als
Baustein des Uferparks.
Gärten
Im nordöstlich des Stadtzentrums gelegenen Gründerzeitstadtteil Sonnenberg gibt es
durch schwierige Lageverhältnisse und Sanierungsdefizite kleinräumig hohe Leerstände. Insbesondere der südliche, in einer Senke liegende Bereich entlang einer Ausfallstraße hat wenig Aussicht auf Revitalisierung. Der konzentrierte Rückbau der Wohngebäude in diesen Karrees soll genutzt werden, um im mit Freiräumen unterversorgten
Quartier neue Grünflächen zu entwickeln. Eine Abfolge verschiedenartig nutzbarer
und gestalteter Freiräume sowie generationenübergreifende Nutzungsangebote soll als
„Bunte Gärten von Chemnitz“ auch mit dem Engagement der Anwohner entstehen
(Stadt Chemnitz 2006a).
Wohnumfeldgestaltung in Großwohnsiedlungen
Anders als im Zentrum bzw. zentrumsnahen Bereich stellt sich die freiraumplanerische
Situation auf den Rückbauflächen in den Großwohnsiedlungen dar: Die Wohnungsunternehmen nehmen in der Regel einfache Rasenansaaten vor, welche in unterschiedlichem Maße gepflegt werden (Abbildung 45). Hierbei spielt zum einen der Anspruch
an ein gepflegtes Wohnumfeld auf Mieterseite eine Rolle. Zum anderen kann durch
eine regelmäßige Mahd Baumaufwuchs vermieden werden, welcher später eine
Grundstücksdegradierung und einen Werteverlust nach sich ziehen könnte (IC2). Teilweise nehmen insbesondere kleinere Wohnungsgenossenschaften im Umfeld ihrer
Wohnungsbestände recht hohe Investitionen auf sich, um ihre Bestände konkurrenzfähig zu halten (Abbildung 46). Die Flächengestaltung in Regie des Grünflächenamtes
folgt meist dem Anspruch, qualitätvolle öffentliche Räume anzubieten (IC3). So entsteht ein heterogenes Bild verschiedener Freiraumtypen und Pflegestufen in den
Großwohnsiedlungen.
303
304
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Abbildung 45: Einfach gestaltete
Nachnutzungsfläche im Heckertgebiet mit
deutlichen Qualitätsdefiziten.
Abbildung 46: Privates Engagement einer
Wohnungsgenossenschaft zur
Wohnumfeldgestaltung.
3.1.5 Bedeutung des Freiraums im Stadtumbau von Chemnitz
Der Stadtumbauprozess in der Stadt Chemnitz zeigt den Wandel grundsätzlicher stadtstruktureller Vorstellungen in einem relativ kurzen Zeitraum. Das Beispiel von Chemnitz steht für ein Stadtmodell, welches auf einer, aus der Kontraktion bestehender
Stadtbereiche hervorgehenden, Fragmentierung des gesamten Stadtkörpers beruht.
Daneben ist dies ein Beispiel für die parallele Anwendung bzw. Überlagerung der
Schrumpfungsprinzipien der Konzentration und der Perforation. Die einzelnen Fragmente zeichnen sich dabei durch eine gewisse Kompaktheit aus. Der zwischen den
einzelnen Fragmenten befindliche Freiraum rückt in den Fokus der Stadtumbauplanungen. Wenngleich das formulierte Modell für Chemnitz durch seine Realitätsnähe
eine gute Umsetzbarkeit erwarten lässt, zeugt die bisher beobachtbare Stadtumbaupraxis von der Schwierigkeit, dieses tatsächlich bei einzelnen Stadtumbauentscheidungen anzuwenden.
Die Leitaussagen zu einer „durchgrünten, aufgelockerten Stadt“ und die grafische
Festlegung der grünen Zonen im städtebaulichen Leitbild verdeutlichen die zu erwartende räumliche Dominanz des Freiraums. Die Flusstäler bieten sich dabei für die Ausbildung eines Grünsystems an (IC1). Die Freiräume übernehmen die eigentliche Gliederung der Stadt, in dem sie die Zwischenzonen füllen und die Abgrenzung der einzelnen Stadtbereiche ermöglichen. Somit sind Freiräume die einzige Nutzungsalternative,
wenn eine Kontraktion einzelner Stadtbereiche erfolgen soll – darüber, wie diese Bereiche tatsächlich aussehen sollen, werden kaum Aussagen getroffen. Verbal formulierte
Leitbilder für die Stadtteile beziehen sich teilweise explizit auf städtebauliche und freiraumplanerische Potenziale und Ziele. Dies zeugt vom Bewusstsein der räumlichen
Qualitäten als Imageträger einzelner Standorte.
Das Konzept für die Entwicklung des Zentrums verdeutlicht die enge räumliche Begrenzung der eigentlichen kompakten Innenstadt und die schon im Randbereich der
City geplanten freiraumplanerischen Maßnahmen im größeren Umfang. Der im Stadt-
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
umbau notwendige Rückbau wird einerseits als Potenzial anerkannt, um Grünflächen
und Freiraum als wichtigen Bestandteil auch des Innenstadtbereiches zu entwickeln.
Andererseits gibt es dazu auch kaum Alternativen. Die großzügige Ausweisung von
dauerhaften Grünflächen so nah zur City zeugt von der notwendigen Akzeptanz,
stadträumliche Qualitäten auch mit anspruchsvollen freiraumplanerischen Mitteln zu
schaffen.
Der Stadtumbau wird als Möglichkeit betrachtet, das grünordnerische Leitbild mit dem
Ziel der Herstellung von Grünvernetzungen durch die Umstrukturierung von Wohnquartieren zu verwirklichen (Stadt Chemnitz 2005, S. 42). Es ist bemerkenswert, dass
ein eigenständiges Leitbild für die Grünraumentwicklung Bestandteil des RHK Wohnen
ist. Dies betont die Bedeutung des Freiraums bei der künftigen stadtstrukturellen Gliederung. Freiraumplanerischen Ansätzen wird demnach das Potenzial, aber auch der
Anspruch zuteil, strukturell wirksam zu werden.
Die Verwendung der Begriffe „Stadtlandschaft“ und „Parklandschaft“ steht für die
Beschreibung der sich durch die Forcierung freiraumplanerischer Stadtentwicklungsansätze neu ausbildender städtischer Freiräume und Stadtstrukturen. Parallel dazu wird
aber, insbesondere bei den Vorstellungen zum Grünsystem, deutlich, dass klar zwischen der Stadt und der Landschaft (synonym für Umland) differenziert wird.
Im Bewusstsein, dass (1) freiraumplanerische Projekte in erster Linie ein Finanzierungsproblem darstellen und (2) im Sinne anderer Entwicklungsrichtungen auch nicht die
einzige Stadtumbaustrategie sein sollten, kommen diese Ansätze nicht flächendeckend
in der ganzen Stadt zur Anwendung. Es gilt einzelne „Leuchttürme“ auch finanziell
prioritär zu behandeln (IC1). Entsprechend setzen teilräumliche Stadtumbaukonzepte
in besonders von Leerstand und Rückbau betroffenen Stadtteilen ganz bewusst auf
freiraumplanerische Lösungsansätze (z. B. Sonnenberg).
Die Integration übergeordneter freiraum- und landschaftsplanerischer Belange auf
gesamtstädtischer Ebene wird durch die kontinuierliche Entwicklung des Freiraumkonzeptes im Rahmen unterschiedlicher Planungsprozesse von Seiten der Fachplanung
forciert. Auch wenn ein eigenständiges Freiraumkonzept mit strukturellen Aussagen
nur amtsintern existiert und bisher nicht Bestandteil einer politischen Entscheidung
wurde, so bildet es doch eine fundierte Grundlage, um im Rahmen der Beteiligung an
stadtplanerischen Entscheidungsprozessen die Belange der Freiraumplanung in die
Diskussion einzubringen (IC2, IC3). Spätestens seit der Integration der fachplanerischen Belange in die Diskussion um die Erstellung des SEKo kann der Stadtumbau als
Chance begriffen werden, freiraumplanerische Belange umzusetzen (IC2). Mit dem
305
306
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Ziel einer tatsächlichen Entwicklung des „stadtstrukturellen Grüns“184 wurden die geplanten freiraumplanerischen Maßnahmen der Förderstrategie im Rahmen des Stadtumbaus und damit den einzelnen Gebietskategorien zugeordnet (Abbildung 47).
Abbildung 47: Verortung des bestehenden und geplanten stadtstrukturellen Grüns entsprechend
der Fördergebietskulisse im Stadtumbau (Stadt Chemnitz, Stadtplanungsamt).
Denn insbesondere Umstrukturierungsgebiete bieten Potenziale, langfristig neue Grünflächen zu entwickeln. Eine Anpassung der Freiraumstrategie an die Fördergebietskulisse erhöht zum einen die Umsetzungschancen freiraumplanerischer Belange im Stadtumbau (IC2). Zum anderen verdeutlicht dies aber auch das Dilemma der Freiraumplanung, offensichtlich keine eigenständige Umsetzungsberechtigung zu haben. Die Fördermittelstrategie im Stadtumbau wird von den Prämissen der Wohnungsunternehmen
und der Stadtplanung dominiert. Übereinstimmungen mit freiraumplanerischen Zielstellungen sind somit meist zufälliger Natur. Hinzu kommt, dass die Fördergebiete oft
dort aufhören, wo aus freiraumplanerischer Sicht im Grunde langfristige Entwicklungen
notwendig sind (IC2). Trotz der noch immer schwierigen Lage der Freiraumplanung
wird versucht, auf den Stadtumbau dahingehend einzuwirken, dass die Schaffung von
184
Stadtstrukturelles Grün wird dabei definiert als: (1) ein vernetztes System von dauerhaften öffentlichen und privaten Grün- und Freiflächen, (2) welches sich an Topographie, Gewässerläufen, Luftleitbahnen sowie dem Freiraumbestand und den -potenzialen orientiert und (3) wesentliche gesamtstädtische Funktionen für Erholung, Stadtökologie, Stadtstruktur sowie die Wohn- und Lebensqualität erfüllt.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
„Verlegenheitsgrün“ vermieden wird und stadtstrukturell dauerhaft bedeutsame Grünflächen mit temporären Lösungen verknüpft werden (IC2).
Eine besondere Herausforderung kristallisiert sich an den viel befahrenen Ausfallstraßen heraus (Abbildung 48, Abbildung 49): Ein Großteil der Abrisse vor allem im Gewerbebereich findet an diesen Straßen statt. Unabhängig von den formulierten Zielstellungen, diese Schneisen als Grünzüge zu entwickeln, sickert niedrigschwelliges
Gewerbe ein (Autohändler, Supermärkte). Dem wäre nur entgegenzuwirken, indem
auf der Grundlage städtebaulicher Verträge (temporäre) Freiraumnutzungen vereinbart
würden. Dies gelingt in Chemnitz aber nur sehr zögerlich (IC2). Hinzu kommt, dass
straßenbegleitende Grünflächen zwar verträglicher für das Stadtbild als unterschiedlichste Kleingewerbeansiedlungen eingeschätzt werden, dies aber im Hinblick auf freiraumplanerische Ziele und die zur Verfügung stehenden Mittel für Anlage und Unterhaltung nur mit Einschränkung als erstrebenswerte Freiraumentwicklung akzeptiert
wird (IC2).
Abbildung 48: Perforierter Stadteingang an
einer Ausfallstraße (Leipziger Straße).
Abbildung 49: Abbruch ungenutzter
Gewerbebauten, Aufkauf der Grundstücke durch
die Stadt und aufwändige Freiraumgestaltung mit
Freilegung der Chemnitz (Zwickauer Straße).
Das Uferparkkonzept ist seit seiner Erstellung und stadtpolitischen Legitimation geschätztes und handlungsleitendes Konzept für die Freiraumentwicklung im Innenstadtbereich. Seine – wenn auch schrittweise – konsequente Umsetzung zeugt von einem
veränderten Verständnis von Stadt und der Rolle des Freiraums in ihr. Die Veränderungen der städtebaulichen Konfiguration unmittelbar am Stadtzentrum lässt vermuten, dass sich die Stadt, und insbesondere Chemnitz, „… immer mehr vom oft zitierten
Idealbild der Europäischen Stadt entfernen und zunehmend den Charakter einer ‚Zwischenstadt’ annehmen wird“ (Lohrer 2002, S. 14). Bisher wurde die Schaffung von
Grünzügen als „klassischer Städtebau“ auch unter Anwendung von Bebauungsplänen
vorangetrieben. Es ist zu erwarten, dass dies in Zukunft nicht mehr in der Breite angewendet werden kann (IC3).
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C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Die Umsetzung neuer Freiraumtypen spielt in Chemnitz derzeit nur eine untergeordnete Rolle. Die doch in einem erstaunlichen Umfang realisierten neuen Freiräume auf im
Eigentum der Stadt befindlichen Rückbauflächen im innerstädtischen Bereich zeichnen
sich durch eine recht intensive Gestaltung und Orientierung an klassischen Freiraumbildern aus. Der Versuch einer preiswerten Umsetzung trägt dabei den zunehmend
eingeschränkten Mitteln Rechnung (IC3). Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl vor
allem privater Flächen, welche nicht für Aufwertungsmaßnahmen verfügbar sind und
entsprechend in einem unbefriedigenden Zustand sind. Die bisher entstandenen Rückbauareale in den Großwohnsiedlungen bieten aufgrund ihrer Lage und Größe kaum
Möglichkeiten für die Anwendung neuer Freiraumtypen (IC2, IC3).
3.2
Halle (Saale) – Freiraum im Stadtumbau
3.2.1 Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder
Durch die relativ frühe und massive Betroffenheit von Bevölkerungsverlusten und die
damit verbundenen Herausforderungen des Stadtumbaus wurde in Halle bereits Ende
der 1990er Jahre das Thema Schrumpfung auf die politische Agenda gesetzt. Der
Stadtumbau wurde als Chance gesehen, die große Industriestadt nach der Vision einer
„… grünen Universitätsstadt am Fluss mit neuen und innovativen Unternehmen und
reichhaltiger Kulturlandschaft [im Sinne des kulturellen Angebotes, Anm. d. Verf.], wo
man gern arbeitet und wohnt, die man auch gern besucht“ zu entwickeln (Häußler
2002, S. 10).
Im Jahr 2001 wurden im Rahmen eines Planspiels sechs Leitbildvisionen für die Stadt
Halle entwickelt. Diese vor dem Hintergrund der Wirtschaftsförderung formulierten
Leitbildvisionen sollen Halle Orientierung für die Zukunft geben.185 Das landschaftsbezogene Leitbild „Fluss und Landschaft“ mit der Vision „Halle – die Saalestadt“ steht
für die Bedeutung der Flusslandschaft für Identität und Qualität der Stadt.
Gesamtstadt
Der Stadtentwicklung von Halle liegt ein idealtypisches Stadtbild zu Grunde: „Das Bild
der europäischen Stadt [Herv. d. Verf.] in ihrer Wechselwirkung zwischen dem bebauten Terrain der steinernen Stadt und der sie umgebenden Landschaft […] zu erhalten
ist ein wichtiges Ziel […].“ Denn dort, wo „… sich die Freiflächen neu komponieren,
besteht die Gefahr des Verschwimmens und des Verwischens der Stadtkontur“ (Merk
2006b, S. 40). Trotz dieses Festhaltens an traditionellen Vorstellungen der Stadt und
damit verbundenen Ängsten des Verlusts der Stadtform, wird das Raumbild der „Eu185
In den sechs Leitbildern wurden Ziele und Visionen beschrieben: (1) Wissenschaft und Technologie, (2) Umwelt und Soziales, (3) Jugend, Bildung und Sport, (4) Kunst und Kultur, (5) Fluss und
Landschaft, (6) Die neue Bürgergesellschaft (http://www.halle.de/index/asp?MenuID
=973&SubPage=7 am 22.05.08).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
ropäischen Stadt“ als nicht flächendeckend übertrag- und haltbar angesehen. Der
Stadtkörper muss an Wohnraumüberangebot und Leerstand angepasst werden: „Es
gilt, durch Wegnahme von nicht mehr Benötigtem, Freiraum für das Bleibende zu
schaffen“ (Weber 2006, S. 79). Diese Aussagen verdeutlichen die ambivalente Entwicklung zwischen großen Chancen, aber auch Grenzen der Freiraumplanung.
Der Stadtumbauprozess in Halle wurde, vor allem zu Beginn186, von einer intensiven
Diskussion um die künftige Stadtstruktur begleitet. In einer Studie wurden auf der
Basis theoretischer Rückbauszenarien modellhaft drei Szenarien erarbeitet, die Richtungen aufzeigen, wie sich die notwendige räumliche Schrumpfung im Stadtkörper
von Halle verorten lässt.187 Diese Szenarien verfolgen dabei weniger das Ziel, konkrete
Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, als ein Bewusstsein für die räumlichen Konsequenzen der Verortung des Rückbaus zu schaffen. Allerdings haben diese stark konzeptionellen Überlegungen nur teilweise explizit in Planungsdokumente Eingang gefunden (IH2).188
Im Rahmen des Beitrages zum Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ wurden „planerische
Zielsetzungen für den Umbau in Halle“ formuliert (Häußler 2002, S. 12). Unter dem
Motto „Halle baut um“ nehmen einige dieser Leitziele auch Bezug auf städtebauliche
und freiraumplanerische Aspekte (BMVBW, BBR 2003b, CD 1, Plan 1):
‚ Innenentwicklung vor Außenentwicklung
‚ Erhalt der Grundstrukturen der Wohngebiete
‚ Aufwertung und Ergänzung des Grünsystems zur besseren Neuordnung der Ränder
und bessere Einbindung der Stadtteile in das Umland
‚ Reduzierung des Überangebotes an Wohnungen
‚ Soviel Neuordnung wie nötig, nicht wie möglich!
Dem Stadtumbauansatz im Rahmen des Wettbewerbsbeitrages liegt das Szenario der
„Stadtinseln“ zu Grunde. Nach dem Prinzip des konzentrischen Rückzugs wird ein
186
Die Debatte wurde vor allem durch einige Mitarbeiter der Stadtverwaltung forciert, welche mittlerweile nicht mehr in der Stadt Halle arbeiten. Insofern ruht die Diskussion derzeit bzw. es werden
andere Wege des Stadtumbaus beschritten, die nicht mehr so deutlich auf diese Modellvorstellungen abzielen (IH2).
187
Den grundsätzlich denkbaren Rückbauprinzipen werden entsprechende Szenarien zugeordnet,
welche dann in ihren Wirkungen für den Stadtkörper und für den Freiraum beschrieben werden:
Punktuelle Perforation: „Halle – Stadt der grünen Einschlüsse“; Vernetzung zwischen Stadt und
Land: „Halle – Stadt der grünen Bänder“; Konzentrischer Rückzug: „Halle – Stadt der Inseln“
(Ringel et al. 2006, S. 26 ff.).
188
Die Rückbauszenarien und raumstrukturelle Leitbilder sollten ursprünglich auch in das ISEK 2007
übernommen werden. Letztendlich wurden diese theoretischen Modelle als zu wenig realistisch
und aussagekräftig eingestuft und flossen nicht in das offizielle Planungsdokument ein (IH2).
309
310
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Stadtmodell mit einem Kernstadtbereich und am Stadtrand verbleibenden urbanen
Inseln angestrebt (Abbildung 50).
Der Stadtkörper soll sich in Richtung
Innenstadt und urbanen Ursprungskern zurückziehen. Durch Rückbau
an den Rändern soll der Siedlungskern gestärkt werden. Die Siedlungskerne in peripheren Bereichen bleiben
erhalten und werden autonome
Stadtinseln. In der Umgebung der
verbleibenden inselhaften Siedlungskerne kann sich ein naturnaher Landschaftsraum etablieren. Es können
neue Grünzüge geschaffen und vorhandene Landschaftsräume ergänzt
werden. Im Gegenzug erfolgt eine
bauliche Nachverdichtung auf innerstädtischen Freiflächen (Ringel et al.
2006, S. 26 ff.).
Abbildung 50: Szenario Stadtinseln (BMVBW,
BBR 2003b, CD 1, Plan 1).
Für Halle liegt seit 2007 ein Integriertes Stadtentwicklungskonzept (ISEK) als Stadtratsbeschluss nach § 171b BauGB vor (Stadt Halle 2007b). Die Konkretisierung der Leitvorstellungen im ISEK nimmt nur noch wenig Bezug zu diesem Ansatz. Im ISEK werden
Leitbilder als Orientierungen und strategische Positionierungen verstanden, welche
Hauptziele und Rahmenbedingungen für die künftige Entwicklung vorgeben. Die
Funktion des Leitbildes bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch,
einerseits ein leitendes und gestaltendes Bild und andererseits visionär und utopisch zu
sein (ebd., S. 7). Unter der Überschrift gesamtstädtische Leitbilder werden strategische
Leitziele genannt, die in einem Zukunftsforum mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik entwickelt wurden (Stadt Halle 2007b, S. 7).189 Räumliche,
stadtgestalterische oder explizit freiraumplanerische Aspekte spielen auf dieser Ebene
keine Rolle.
189
Anfang 2006 setzte sich das „Zukunftsforum Halle“ mit dem Thema Leitbild auseinander. Zu
diesem Zukunftsforum gehören Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik. Sie erörtern
die
Entwicklung
Halles
als
Standort
für
Wissenschaft
und
Wirtschaft
(http://www.halle.de/index.asp?MenuID= 3872&SubPage =1 am 10.05.07). Die strategischen
Leitziele sind: Profilierung der Stadt Halle als unternehmerfreundliche Stadt; Profilierung der Stadt
Halle als Stadt der Wissenschaften, der Hochtechnologie und der Innovation; Profilierung der Stadt
Halle als familienfreundliche Stadt; Stärkung der Stadt Halle als Stadt der Kultur und Bildung, Erhöhung der überregionalen Wahrnehmung in diesem Bereich; Förderung des Imagewandels der Stadt
nach innen und außen; Förderung eines kreativen Klimas in der Stadt.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Als Leitbild des Stadtumbaus wird im ISEK formuliert: „Hauptziel ist […] die Entwicklung einer nachhaltigen Stadtstruktur. Dabei geht es vordringlich um die funktionelle
und strukturelle Stabilisierung der kompakten Stadt, einer Stadt der kurzen Wege
[Herv. i. Orig.]. Priorität hat die Innenentwicklung“ (Stadt Halle 2007b, S. 64). Als
wichtige Einzelziele werden genannt: die Stärkung der Innenstadt in Funktion, Struktur
und Gestalt, die Stärkung der städtischen Zentren und die Auflockerung/ Entdichtung
in den an die Innenstadt angrenzenden Stadtteilen. Hierbei handelt es sich um tatsächlich städtebauliche Aussagen, freiraumplanerische Ziele werden hier nicht formuliert.
Im Rahmen des ISEK werden Entwicklungsschwerpunkte bis 2015 (Abbildung 51)
definiert: Es wird „ein städtebaulicher und ein landschaftlicher Entwicklungskorridor
herausgebildet, in denen sich die einzelnen Leitbildvisionen zum größten Teil wieder
finden“ (ebd., S. 8). Die Korridore stellen dabei eine räumliche Verortung der strategischen Leitziele und deren Konkretisierung auf stadtplanerische Handlungsfelder und
weniger ein städtebauliches Leitbild im klassischen Sinne dar: „Die städtebauliche Entwicklung [der städtebauliche Entwicklungskorridor, Anm. d. Verf.] spiegelt die
Schwerpunkte der baulichen, städtischen Wahrnehmung wider, in der die Stadt künftig ihre Ausrichtung sieht“ (ebd., S. 8). In diesen Entwicklungskorridoren sollen die
Investitionsschwerpunkte bis zum Jahr 2015 liegen. Der Korridor der städtebaulichen
Entwicklung (rote Achse) ist begründet durch die Fokussierung auf die Innenstadt und
dem Gegengewicht von Halle-Neustadt zur historisch gewachsenen Stadt. Die historische Achse von Halle verläuft hingegen traditionell in Nord-Süd-Richtung. Die dort
verorteten Gründerzeitgebiete bilden den Schwerpunkt für Privatinvestitionen und sind
mittlerweile weitgehend stabilisiert. Das gegenwärtige Augenmerk der Stadtentwicklung und damit der öffentlichen Investitionen liegt somit auf der Entwicklung der
„Doppelstadt Halle“ mit den beiden Polen Innenstadt und Großwohnsiedlung, welcher
auch als Projekt der IBA Stadtumbau 2010190 prominent unterstützt wird (IBA-Büro
2005, S. 158).191 Der Korridor der landschaftlichen Entwicklung (grüne Achse) ist in
seinem Verlauf, vor allem durch die naturräumlichen Gegebenheiten des Saaletals und
190
Das Konzept der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 unterscheidet sich in ihrem Ansatz und in der Ausdehnung über ein gesamtes Bundesland von bisherigen Bauausstellungen. Ziel ist es Fachkompetenz auf staatlicher und kommunaler Ebene Stadtumbaupraxis zu bilden. Bis zum Jahr 2010 sollen in 17 teilnehmenden Städten modellhafte Projekte
entwickelt werden, die unter den Bedingungen des demografischen, wirtschaftlichen und sozialen
Wandels Zeichen für die internationale Stadtforschung und -gestaltung setzen. Dabei versteht sich
die IBA als Labor, in dem verschiedene Werkzeuge zum Umgang mit den Herausforderungen des
Stadtumbaus erprobt werden. Die Finanzierung der Projekte erfolgt aus vorhandenen Programmen.
191
Darüber hinaus kann diese Achse auch in ihrer Verlängerung in Richtung Leipzig (Flughafen, Bildung Metropolregion) gedacht werden. In diesem Bereich ist die Stadt entsprechend mit öffentlichen Investitionen tätig. Wichtig ist vor allem der Ausbau der Gewerbestandorte im Osten der
Stadt (IH2).
311
312
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
der vorhandenen Grünzüge, vorbestimmt (IH2). Insofern geht es vor allem um den
Erhalt dieser Qualitäten und weniger um neue Entwicklungen.
Abbildung 51: Entwicklungskorridore zur Verortung der Leitziele im ISEK 2007 (Stadt Halle
2007b, S. 9).
Stadtumbaugebiete
Im Folgenden werden zwei der insgesamt sechs ausgewiesenen Stadtumbaugebiete im
Hinblick auf die zu Grunde liegenden Leitvorstellungen näher betrachtet. Die Gebiete
Halle-Neustadt und Halle-Silberhöhe stellen derzeit die Schwerpunkte für Stadtumbauund vor allem Rückbaumaßnahmen dar.
Das 2001 für Halle-Neustadt erstellte Stadtteilentwicklungskonzept beinhaltete das
städtebauliche Leitbild, zentrale Bereiche zu erhalten und die Abrisse an den Rändern
zu konzentrieren, um das „… langfristige Ziel der flächenhaften Schrumpfung vom
Rand …“ zu erreichen (Stadt Halle 2007c, S. 82). Dieses Leitbild beruhte auf der Erkenntnis, dass sich städtebauliche Strukturen nicht beliebig ausdünnen lassen, und dass
die Frage der Nachnutzung der vielen Abbruchflächen nicht geklärt ist (ebd., S. 83).
Das Städtebauliche Leitbild von 2001 für Halle-Neustadt sah folgende Konkretisierung
vor (Stadt Halle 2001, Karte 7), in der auch deutliche Aussagen zur Freiraumentwicklung getroffen wurden:
‚ Erhalt der Grundstruktur des Stadtteils: Wohngebiete mit Zentren und Wohnfolgeeinrichtungen
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
‚ Erhalt und Aufwertung der zentralen Achse (Magistrale) und der diese prägenden
Großstrukturen
‚ Bauliche Abrundung der vorhandenen kleinteiligen Ortsstrukturen
‚ Aufwertung und Ergänzung des Grünsystems, Anreicherung und Vernetzung öffentlicher Grünräume, Verbesserung des Erscheinungsbildes des Stadtteils durch
neue Grünstrukturen
‚ Neuordnung der Ränder des Stadtteils in den Übergangsbereichen zur Landschaft
‚ Verbesserung der Beziehungen in die umgebende Landschaft, Überwindung der
Barrieren
Die 2001 für den Stadtteil formulierte Zielrichtung wurde in dem im Rahmen des ISEK
2007 erstellten Stadtumbaukonzeptes fortgeführt (Abbildung 52): „Mit dem Abbruch
nicht mehr benötigter Wohngebäude soll im Ergebnis des Stadtumbaus ein flächenmäßig verkleinerter, im Zentrum deutlich aufgewerteter und in Randbereichen aufgelockerter Stadtteil sichtbar werden“ (Stadt Halle 2007c, S. 84). Als städtebauliche Leitziele für den Stadtteil werden formuliert (ebd., S. 84):
‚ Schrumpfen der Siedlung vom Rand mit dem Ziel des Landschaftsgewinns, Verhinderung von Zersiedelung
‚ Erhaltung und Stärkung des zentralen Bereichs
‚ Aufgelockerte Bebauung, Ausweitung von Freiflächen und neue Baustrukturen im
Außenring
‚ Landschaftsachsen zur Gliederung von außen in die Siedlung hinein
Abbildung 52: Stadtumbaukonzept Halle-Neustadt: Städtebauliches Leitbild (Stadt Halle 2007c,
S. 96).
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C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Dieses Leitbild kann städtebaulich durchaus unterschiedlich und entsprechend der
Notwendigkeiten zur Bestandsreduzierung ausgeformt werden (Stadt Halle 2007c,
S. 84). Aufgrund des unsicheren und nur teilweise zu steuernden Stadtumbaus wird
das erklärte Ziel, vom Rand her zu schrumpfen, eher kritisch und als kaum realisierbar
betrachtet. Der flexiblere Ansatz der „Transformation“ verspricht, nicht modellhaft
Schablonen des Rückbaus über die Randgebiete der Großsiedlung zu legen, sondern
individuelle Lösungsansätze zu suchen (IH3).
Im 2001 erstellten Stadtteilentwicklungskonzept für Halle-Silberhöhe wurde bereits
die grundlegende Stadtumbaustrategie für die Großwohnsiedlung entwickelt. Im
Stadtumbaukonzept des ISEK 2007 wird auf dieser Grundlage der neue integrierte
Planungsansatz formuliert: Dieser zielt auf einen „geordneten Rückzug“ mit dem Entwicklungsziel „Waldstadt Silberhöhe“ (ebd., S. 66). Langfristig sollen die Siedlungsbereiche in den südlichen Landschaftsraum (Saaleaue) integriert werden, was landschaftsräumlich, stadtökologisch (Waldzuwachs) und zur Verbesserung der Naherholungsmöglichkeiten als sinnvoll erachtet wird. Um das neue Image der „Waldstadt“
sichtbar zu machen, ist eine konsequente Umsetzung des Leitbildes notwendig (ebd.,
S. 66). Dabei war dieses neue Image zu Anfang schwer zu vermitteln, erste Umsetzungserfolge tragen aber zu einer wachsenden Akzeptanz bei. Das Leitbild kann dabei
so flexibel eingesetzt werden, dass, angepasst an die Rückbauerfordernisse, die Landschaft schrittweise vom Rand her entwickelt werden kann (IH1).
3.2.2 Stadtumbaustrategien
Mit der Herausforderung des Stadtumbaus wurden die Parameter der Stadtentwicklung in Halle neu definiert und die Instrumente und Handlungsansätze der Stadtentwicklung überdacht. Die städtebaulichen Grundsätze der Stadt gelten dabei auch weiterhin für die aktuellen Aufgaben (Merk 2006a, S. 26): Priorität der Innenentwicklung
und der Nachnutzung von freiwerdenden Flächen; Sanierung und Erneuerung des
baukulturellen Erbes im Bestand; Funktionale Gliederung für die Entwicklungsschwerpunkte; Infrastrukturvernetzung; Erhaltung von Natur und Landschaftsressourcen.
Integration freiraumplanerischer Belange in gesamtstädtische Entwicklungsstrategien
Aufbauend auf den programmatischen Aussagen der „Leitlinien für die Zukunft des
städtischen Wohnens in Halle“ aus dem Jahr 2000 (Stadt Halle 2000) wurde die
Stadtentwicklungskonzeption (SEK) Wohnen erarbeitet. Maßgeblich war hierbei die
Festlegung räumlicher Entwicklungsschwerpunkte unter unterschiedlichen Prämissen,
wobei als ein Aspekt auch die „Verbesserung des (individuell nutzbaren) Grün- und
Freiflächenangebotes in den Wohngebieten“ genannt wird (ebd., S. 5). Für die Umsetzung des SEK Wohnen sollten auch Ideen und Konzepte zur Umnutzung von Gebäu-
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
den und Wohnungen sowie der Nachnutzung und Verwertung frei werdender Flächen
entwickelt werden (Stadt Halle 2000, S. 6).192
Im ISEK 2007 wurden freiraumplanerische Inhalte integriert, wenn auch die mit der
Erstellung befassten Arbeitsgruppen193 nicht explizit für städtebauliche oder freiraumplanerische Themenstehen. Die Entwicklungsschwerpunkte bis 2015 werden – abgeleitet aus der Leitbilddiskussion (Kapitel C.3.2.1) – zwei Korridoren zugeordnet. Es wird
räumlich und inhaltlich zwischen einem städtebaulichen und einem landschaftlichen
Entwicklungskorridor unterschieden (Abbildung 51, S. 312). Als Ziel wird formuliert,
„… eine landschaftsgeprägte, stark durchgrünte Stadt mit einer stärkeren Einbindung
des stadtbildprägenden Saaletals, einer Flusslandschaft von hohem kulturhistorischlandschaftsästhetischen Wert, für die Erholungsnutzung“ zu entwickeln (Stadt Halle
2007b, S. 8). Die Aussagen zur landschaftlichen Entwicklung zeugen von der Bedeutung, die der Freiraumentwicklung in der Stadt Halle beigemessen wird: „Sowohl die
landschaftliche Entwicklung wie (!) auch die städtebauliche Entwicklung stellen die
Bereiche der Stadt dar, die mit dem Begriff der ‚Stadtlandschaft’ zusammengefasst
werden können. So gilt es zum einen den Landschaftsraum sichtbarer und erlebbarer
zu machen und dessen Potenziale aus sich heraus zu entwickeln, zum anderen diese
Bereiche als Ausgangspunkt für das gesamtstädtische Landschaftsnetz zu sehen.“
(ebd., S. 8). Der landschaftliche Korridor orientiert sich dabei stark an den naturräumlichen Gegebenheiten des Saaleverlaufs. Insbesondere im südlichen Teil der Stadt wird
die Verknüpfung von Stadtumbau im Sinne von Rückbau und der freiraumplanerischen
Potenziale und Ziele deutlich. In der Großwohnsiedlung Silberhöhe entsteht durch
einen Rückbau vom Rand her die „Waldstadt“, die eine Anknüpfung an den Naturraum der Flussaue darstellt und gleichzeitig die Umsetzung neuer freiraumplanerischer
Ansätze ermöglicht (Kapitel C.3.2.4).
Für das Thema Aufwertung im Stadtumbau werden im ISEK Entwicklungsziele formuliert, die auch konzeptionelle städtebauliche bzw. freiraumplanerische Aussagen enthalten: „Insbesondere ist auf die Integration der Maßnahmen in den gesamtstädtischen Kontext zu achten. Durch die einzelnen Maßnahmen darf die räumliche Funktionalität sowohl innerhalb des Stadtteils als auch gesamtstädtisch nicht beeinträchtigt
werden“ (ebd., S. 70). Dabei wird der Freiraumentwicklung eine große Bedeutung für
die Wohnqualität und das Image der Wohngebiete zugesprochen. (Wenige) qualitative Aussagen konkretisieren den gestalterischen Anspruch an die freiraumplanerischen
Maßnahmen: „Es sollen keine nicht urbanen Räume innerhalb der Stadt entstehen. Ziel
192
Aufgrund des besonderen Problemdrucks wurden als Ergänzung zum SEK Wohnen für die Stadtteile Neustadt und Silberhöhe im Jahr 2001 Neuordnungskonzepte (NOK) erstellt (Stadt Halle 2001).
193
Neben gebietsbezogenen Arbeitsgruppen für die einzelnen Stadtumbaugebiete gab es die thematischen Arbeitsgruppen zu den Bereichen: soziale Infrastruktur, technische Infrastruktur und Verkehr,
Öffentlichkeitsarbeit, Flächenmanagement und Wohnungsmarktbeobachtung (Stadt Halle 2007b).
315
316
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
ist es, wichtige bauliche Raumkanten zu erhalten bzw. durch gestalterische Maßnahmen zu ersetzen (beispielsweise Baumpflanzung)“ (Stadt Halle 2007b, S. 70).
Die programmatischen Aussagen zur Freiraumentwicklung werden auf gesamtstädtischer Ebene im ISEK – im Gegensatz zu Themen wie demografische Entwicklung,
Wohnen, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, städtische Zentren, Infrastruktur und Verkehr –
nicht untermauert. In der Konkretisierung der Stadtumbauziele und -maßnahmen für
die Stadtumbaugebiete spielen freiraumplanerische Maßnahmen wiederum eine große
Rolle (ebd.; Stadt Halle 2007c).194 In den Leitbildern zu den einzelnen Stadtumbaugebieten werden immer auch Aussagen zu den Zielen im Bereich Wohnumfeld und
Grünvernetzung gemacht und in den einzelnen Handlungsfeldern mit Maßnahmen
konkretisiert und räumlich verortet.
Freiraum in teilstädtischen Umbaustrategien
Im Stadtumbaukonzept für Halle-Neustadt des ISEK werden sektorale Leitziele für die
Bereiche Städtebau/Transformation, soziale Struktur, Wohnen, Aufwertungsmaßnahmen/Wohnumfeld, Ausweitung von Grünräumen/Grünvernetzung, Verminderung der
Beeinträchtigung des Naturhaushaltes, Verkehr, soziale Infrastruktur/Versorgung und
technische Infrastruktur definiert. Entsprechend des Leitbildes (Kapitel C.3.2.1) wird für
die Freiraumentwicklung des Stadtteils formuliert: „Mit Blick auf den gesamtstädtischen Landschaftsraum […], [ist] die Siedlung von den Rändern zurückzubauen, [und
sind] dort die Übergänge zwischen Stadt und Landschaft zu verbessern und landschaftsgerechte Nutzungen zu ermöglichen. Grünverbindungen sind vorrangig in
nord-südlicher Richtung zu stärken, da sie so die großen Landschaftsräume am besten
miteinander verbinden“ (Stadt Halle 2007c, S. 79). Diese so genannten „Landschaftsachsen“ werden auch im Leitbild als „stadtnaher Landschaftsraum“ definiert. Gleichzeitig sollen sie zur Durchgrünung des Wohngebietes beitragen (ebd., S. 84). Die
Ausweitung von Grünräumen und die Grünvernetzung soll durch folgende Ansätze
umgesetzt werden (ebd., S. 85):
‚ Erhalt und Vernetzung von bestehenden Grünzügen
‚ Reduzierung von intensiv gestalteten und zu unterhaltenden Grünräumen vornehmlich auf das Stadtteilzentrum und die Erhaltungsbereiche
194
Die Stadtumbaukonzepte für die sechs Stadtumbaugebiete enthalten eine Darstellung der Ausgangssituation, der Probleme, Potenziale und Chancen, der Leitbilder, Ziele und Maßnahmen des
Stadtumbaus und eine Präzisierung für die räumlichen Handlungsfelder. Die Informationen sind
neben Texten auch in jeweils 3 Plänen zusammengefasst: städtebauliches Leitbild, Stadtumbaukategorien, Handlungsfelder (Stadt Halle 2007c). Ausnahme und Novum bildet hierbei das Konzept
für Halle-Silberhöhe: Für diesen Stadtteil wurde ein weiterer Plan erarbeitet, der erstmals auch die
Nachnutzungsabsichten der Umstrukturierungsgebiete im Stadtteil darstellt. Dies ist aufgrund des
fortgeschritten Umbau- und Diskussionsprozesses in diesem Stadtumbaugebiet möglich (Stadt Halle 2006a, S. 6; IH1).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
‚ extensive, landschaftsbezogene und standortspezifische Gestaltung und Pflege von
Grünräumen an der Peripherie
‚ Qualifizierung der Zugänge zu den Erholungs- und Naturräumen im Umfeld
In den einzelnen Gebietskategorien werden diese Ziele mit konkreten Vorhaben untersetzt und Aussagen zur Qualität sowie Art der Nutzung und Gestaltung der entstehenden Freiräume getroffen: In den Erhaltungsbereichen und teilweise auch in den
Umstrukturierungsgebieten ohne vorrangige Priorität kommt es zu Wohnungsabrissen.
Dort sollen die entstehenden Flächen zur kleinräumigen, teilweise temporären, aber in
der Regel intensiver gestalteten freiraumplanerischen Aufwertung des Wohnumfeldes
beitragen (Stadt Halle 2007c, S. 87). Am westlichen Rand der Siedlung (WK VI) wird
eine nahezu komplette Umwandlung des Quartiers in einen „stadtnahen Landschaftsraum“ angestrebt. In der Konsequenz wird hier ein größeres Umstrukturierungsgebiet
mit vorrangiger Priorität ausgewiesen.195 Durch den teilweise flächenhaften Rückbau
von Gebäuden, technischer und verkehrlicher Infrastruktur, soll der Landschaftsraum
ausgeweitet werden. Ziel ist die Entwicklung der „Pfännerwiesen“ als offene Landschaft. Geplant ist eine gartenbauliche oder landwirtschaftliche Nutzung (Kapitel
C.3.2.4). Über dieses Gebiet hinaus werden auch noch in anderen Randbereichen der
Siedlung Flächenarrondierungen und kleinere flächenhafte Abrisse vorgeschlagen, in
der Regel mit dem Ziel der Schaffung von Grünzäsuren und einer extensiven Landschaftsgestaltung (ebd., S. 88).
In der Großwohnsiedlung Halle-Silberhöhe ist vorgesehen, das bisher unzureichend
genutzte Freiraumpotenzial sowohl in der Siedlung als auch am Rand zu nutzen, um
den Stadtteil mit einer neuen Struktur und einem neuen Image – trotz erheblicher
Probleme und Leerstand – als attraktiven Wohnstandort zu erhalten: „Die Berücksichtigung einer differenzierten Ausprägung dieser Freiraumstruktur hat daher für die zukünftige Entwicklung einen zentralen Stellenwert“ (ebd., S. 64). Die Leitziele im Stadtumbaukonzept des ISEK sprechen für die große Bedeutung der Freiraumplanung bei
der Neuausrichtung des Stadtteils (ebd., S. 73):
‚ Bei der Verortung des Rückbaus spielen die gesamtstädtische Entwicklungsperspektive und die Potenziale der Vernetzung mit dem umgebenden Landschaftsraum eine
zentrale Rolle: Der Schrumpfungsprozess soll von Süd nach Nord – dies entspricht
von „Außen nach Innen“ – umgesetzt werden.
‚ Die konsequente Umsetzung des Leitbildes der Waldstadt zielt auf die Integration
der Siedlungsbereiche in den Landschaftsraum südlich der Stadt.
195
In den drei Handlungsfeldern „Am Niedersachsenplatz“, „Göttinger Bogen“ und „Braunschweiger
Bogen“ soll zum bereits erfolgten Rückbau schrittweise der komplette Rückbau des Wohnungsbestandes folgen (die Ausnahme bilden zwei sanierte Punkthochhäuser als städtebauliche Dominanten am Ende der Magistrale).
317
318
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
‚ Der bestehende, zentral verlaufende Stadtteilpark ermöglicht die unmittelbare Anbindung an den südlichen Landschaftsraum und in die nördlich angrenzende Südstadt. Im Sinn des Leitbildes der Waldstadt soll der Stadtteilpark im Süden durch
Forstflächen erweitert werden.
‚ Der Rückbau im zu stabilisierenden Kernbereich im nördlichen Zentrum des Stadtteils soll durch Einordnung ergänzender baulicher und freiraumplanerischer Nutzungen auf den frei werdenden Flächen aufgewertet werden.
Die übergeordneten Ziele des Stadtumbaukonzeptes werden in „räumlichthematischen Strukturelementen“ konkretisiert (Stadt Halle 2007c, S. 67): Für die
verbleibenden „Wohn-Inseln“ wird die Fortsetzung des Rückbaus auch von den inneren Rändern angestrebt. Durch einen stärkeren Landschaftsbezug und die Differenzierung unterschiedlicher Wohnlagen mit einem breiten Angebot für viele Bevölkerungsgruppen u. a. mit intensiv nutzbaren Freiräumen, Aufenthalts- und Rückzugsbereichen
wird das Quartier aufgewertet. Der zentrale Stadtteilpark soll als offener „Landschaftspark“ zum zentralen Verflechtungselement werden. Dazu soll eine konsequente
Öffnung zur südlichen Auenlandschaft, aber auch die Gestaltung intensiver Bereiche
erfolgen. Die Strategie, einen hoch verdichteten Stadtteil zur künftigen „Waldstadt“
zu entwickeln, basiert auf der Schaffung eines naturräumlichen Rahmens mit Wald
bzw. landschaftlich geprägten Grünverbindungen.
Aufgrund des fortgeschrittenen Stadtumbaus in Silberhöhe wird von den in den anderen Stadtteilkonzepten verwendeten Gebietskategorien abgewichen.196 Für den Erhaltungsbereich ist die Entwicklung des Landschaftsparks zentrales freiraumplanerisches
Handlungsfeld. Die Umstrukturierungsbereiche bilden die Maßnahmenschwerpunkte
für die Umsetzung des Ansatzes der „Waldstadt“. Angestrebt wird eine hohe Freiraumqualität mit räumlich und funktional differenzierten Gehölzpflanzungen (Stadt
Halle 2007c, S. 69). Im Handlungsfeld Wald soll ein Großteil der frei geräumten Baufelder sukzessive zu Mischwald-Beständen entwickelt werden (erste Erfahrungen bereits im südlichen Wohnkomplex 8, siehe Kapitel C.3.2.4).
3.2.3 Strategien der Freiraumplanung
In Halle existiert kein eigenständiges, explizit formuliertes Konzept zur übergeordneten
Freiraumentwicklung. Amtsinterne Vorstellungen zu freiraumplanerischen Zielstellungen haben über den Landschaftsplan in den Flächennutzungsplan und damit in die
Stadtentwicklung Eingang gefunden (IH2). Die Vorstellungen der Fachplanung werden
196
Konsolidierungsbereiche: Versorgungsstandorte, Wohnquartiere, Landschaftspark; Umstrukturierungsbereiche: Vorhaltefläche für bauliche Nachnutzung Wohnen, Vorhaltefläche für bauliche
Nachnutzung Handel, Entwicklungsfläche Wald, Entwicklung Landschaftspark, langfristige Vorbehaltsfläche bauliche Nachnutzung
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
somit weniger in eigenen Konzepten formuliert, sondern direkt und aktiv in den Diskussionsprozess zum Stadtumbau eingebracht (IH1).
Der Stadtumbauprozess in den einzelnen Stadtteilen stellt die Freiraumplanung vor
sehr unterschiedliche Herausforderungen. Entsprechend der prinzipiellen Verortung
des Rückbaus (Kapitel C.3.2.1) entstehen ganz unterschiedliche Freiraumpotenziale,
die im Sinne der übergeordneten räumlichen Entwicklungsvorstellungen spezifische
Anforderungen an Gestalt und Funktion künftiger Freiräume stellen. Im Bewusstsein
darüber, dass der Stadtumbau ganz entscheidend auch von den Ansätzen der Freiraumplanung getragen wird, charakterisiert MERK drei unterschiedliche freiraumplanerische Strategien in der Konsequenz der Rückbau- bzw. Leitbildvorstellungen (Merk
2006b, S. 40 ff.):
(1) Durch die gezielte Entkernung im Sinne einer punktuellen Perforation in den Blöcken der gründerzeitlichen Stadtquartiere und durch die Verknüpfung bereits existierender innerstädtischer Brachen kann die Blockstruktur mit einzelnen Auflockerungen
erhalten werden. „Grüne Inseln im Stadtgefüge“ können (temporär) zusätzliche Freiräume für Stadtquartiere und Nachbarschaften schaffen. Dabei können quartiersnahe
Einzelmaßnahmen auch gesamtstädtisch wirksam sein. Freiraum wird nicht als Verwertungsansatz gesehen, sondern als Qualität und Standortfaktor. Beispielhafte Projekte
sind die Umwandlung eines ehemaligen Güterbahnhofs in den Stadtteilpark „Thüringer Bahnhof“ (Kapitel C.3.2.4) und die Initiative der „Grünen Höfe“ zur Qualitätsverbesserung im direkten Wohnumfeld der Gründerzeitquartiere.
(2) Ein gezielter Rückbau in bestimmten Korridoren erfordert ein Umgehen nicht nur
mit „bewusstem städtischen Raum“, sondern auch mit dem „Raum der Zwischen- und
Restflächen“. „Grüne Korridore“ können die einzelnen Stadtquartiere großräumig
miteinander vernetzen. Darüber hinaus ist die Verbindung städtischer Grünräume mit
Landschaftsräumen möglich. Durch die Gestaltung der Naht- und Bruchstellen im
Stadtgefüge kann die Kontinuität des öffentlichen Raumes und die Zugänglichkeit von
Freiräumen verbessert werden. Großräumige freiraumplanerische Entscheidungen
führen zu einer Neudefinition von urbaner Landschaft mit einer großen Bedeutung
öffentlicher Freiräume. In den großzügigen Freiräumen sind vielfältige Nachnutzungsmaßnahmen denkbar, wie z. B. Anwohnergärten oder Kurzumtriebsplantagen (siehe
Kapitel C.3.2.4).
(3) Der Rückbau im Sinne eines konzentrischen Rückzuges spielt vor allem in den
Randbereichen der Großwohnsiedlungen eine große Rolle. Der „Landgewinn“ durch
großflächige Rückbauareale ermöglicht neuartige freiraumplanerische Maßnahmen.
Der Ansatz des Stadtwaldes bedeutet neue Wohnumfeldqualitäten und Identitäten für
verbleibende Bestände und ist gleichzeitig gesamtstädtisch bedeutsam für Naherholung und Naturschutz. Als Beispiel für diese freiraumplanerische Stadtumbaustrategie
319
320
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
steht die Entwicklung der „Waldstadt“ nach flächenhaftem Abriss im Stadtteil Silberhöhe (siehe Kapitel C.3.2.4).
3.2.4 Freiraumplanerische Projekte
Zur Umsetzung der freiraumplanerischen Strategien im Stadtumbau werden verschiedene Ansätze angewendet. Die im Innenstadtbereich entstehenden Freiflächen können
mit konventionellen Maßnahmen der Wohnumfeldgestaltung einen Beitrag zur Verbesserung der kleinräumigen Freiraumversorgung sein (Stadt Halle 2006b). Der
Schwerpunkt des räumlich wirksamen Stadtumbaus liegt in den Großwohnsiedlungen
der Stadt (Neustadt und Silberhöhe) – dort werden innovative freiraumplanerische
Ansätze geplant und umgesetzt.
Parks
Im Bereich der Innenstadt finden sich, für die Phase der städtebaulichen Sanierung und
Erneuerung typische, klassische Gestaltungsansätze. Nach der Stilllegung des Güterbahnhofs wurde ab 1998 der Stadtteilpark Thüringer Bahnhof in der südlichen Innenstadt auf einer Gesamtfläche von 6,5 ha mit Mitteln des EU-Programms URBAN angelegt (Abbildung 53 und Abbildung 54). Der Park ist einerseits ein wichtiger Bestandteil
im übergeordneten Freiraumverbund der Stadt Halle und andererseits Impulsgeber und
Infrastrukturmaßnahme für angrenzende Wohn- und Gewerbestandorte. Multifunktionale weite Rasenflächen werden durch vielfältige Sport- und Spielangebote in den
Randbereichen im Übergang zu revitalisierten Gewerbestandorten und durch einige
gärtnerisch intensiv gestaltete Bereiche ergänzt. Dabei wurden viele Elemente des alten
Standortes in die Gestaltung integriert.
Abbildung 53: Stadtteilpark Thüringer Bahnhof
(Gesamtansicht).
Abbildung 54: Stadtteilpark Thüringer
Bahnhof (Hauptachse).
Wald
Das freiraumplanerische Stadtumbaukonzept für den Stadtteil Silberhöhe firmiert unter
dem Ansatz der „Waldstadt“. Neben der Notwendigkeit eines neuen, positiven Images
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
für den stark von Leerstand und Rückbau betroffenen Stadtteil und der Aufwertung
des verbleibenden Wohnstandortes ist dieser Entwicklungsansatz auch aus natur- und
landschaftsräumlicher sowie stadtökologischer Sicht eine nahe liegende Stadtumbaustrategie. Mit der Schaffung von Waldflächen können das Walddefizit im Süden von
Halle ausgeglichen und neue Erholungsgebiete in der Elster-Saale-Aue geschaffen
werden (IH1). Für die Nachnutzung großer Rückbauflächen197 in Ergänzung zu einem
ohnehin schon großzügig bemessenen zentralen Grünzug in der Großwohnsiedlung
Silberhöhe wurde ein Gestaltungsansatz entwickelt, der mit drei Freiraumelementen –
offener Grünzug, Stadtwald und Forst – arbeitet (Stadt Halle 2007c, S. 66 ff.):
Rund um den Anhalter Platz soll ein offener Grünzug, umgeben von einem Hain
(Stadtwald), entstehen, der auch in Fortführung des bestehenden Stadtteilparks als
grüne Fuge und Rückgrat des Wohngebiets dient. Der sich an den Grünzug anschließende Stadtwald soll als rasterartige Pflanzung von Birken- und Kiefernhainen umgesetzt werden und durch Lichtungen und Baumdächer reich gegliedert sein (Abbildung
55).198 Im südlichen Wohnkomplex (WK VIII) soll Laubwald entstehen (Abbildung 56).
Für einen großen Teil der Flächen hat man sich für den konsequenten freiraumplanerischen Ansatz der Aufforstung und damit die dauerhafte Umwidmung von Abrissflächen zu Forstflächen entschieden (IH1).199 Dies kann als Renaturierung bezeichnet
197
Für den Stadtteil Silberhöhe werden von vormals ca. 26.000 EW für 2015 noch 9.600 EW erwartet. Die entsprechend notwendige Reduzierung des Wohnungsbestandes von ca. 15.000 WE
(1990) auf ca. 5.600 nachgefragte Wohnungen in 2015 ist in vollem Gange. Bis 2010 wird voraussichtlich ein Rückbau von ca. 7.000 WE erreicht.
198
Die Stadtwaldflächen sind über Gestattungsvereinbarungen zunächst temporär zu Grünflächen
umgewidmet worden, um die Fortführung des Waldkonzeptes auch in unmittelbarer Nähe zu verbleibenden Quartieren zu gewährleisten. Das Grünflächenamt übernimmt die Pflege der im Grunde als dauerhafte Freiräume angelegten, aber noch im Besitz der Wohnungsunternehmen befindlichen Baulandflächen. Es spekuliert dabei auf die Einsicht der Wohnungsunternehmen, dass eine
Wiederbebauung auch langfristig für diese Grundstücke nicht in Frage kommt, und sie später der
Umwidmung der Flächen oder dem Tausch zustimmen (IH1).
199
Im Jahr 2003 wurde nach dem Abriss von 549 WE am südwestlichen Rand der Siedlung mit der
Aufforstung begonnen. Dafür wurden ab 2004 Setzlinge (Höhe 50-80 cm) in 10 Baumarten gepflanzt und die Fläche zum Schutz vor Wild und Vandalismus eingezäunt (1 ha kostet ca. 11.000
€). Nach Ablauf der Frist für die Fertigstellungspflege werden die Flächen an das Forstamt zu Betrieb und Pflege im Auftrag der Stadt übergeben (BBR 2004, S. 64 f.). Die Umwandlung der Baulandflächen in Grünland stößt nicht auf Interesse der Wohnungsunternehmen, da mit einem Werteverlust von ca. 30 €/m² auf ca. 0,10 €/m² erhebliche Bilanzprobleme verbunden sind. Teilweise
ist es der Stadt aber gelungen, die Flächen für 1,50 €/m² zu kaufen. Denn die Stadt hat nach der
Wende die Grundstücke an die Wohnungsunternehmen, die bis dahin nur im Besitz der Gebäude
waren, für 3 DM/m² verkauft. Teilweise gelangen auch Flächentausche: Die Wohnungsbaugesellschaft bekam öffentliche Flächen in Erhaltungsgebieten mit eigenen Beständen und konnte dort
Wohnumfeldverbesserungsmaßnahmen durchführen. Die Finanzierung der Maßnahmen konnte
über Fördermittel aus den Programmen Soziale Stadt, LOS (Lokales Kapital für soziale Zwecke),
StWENG und Stadtumbau Ost unterstützt werden. Darüber hinaus sind zur 1200-Jahr-Feier der
Stadt 1.200 Bäume (auch über Spenden finanziert) im Stadtteil gepflanzt worden (IH1).
321
322
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
werden, denn es wurden auch Straßen200 und im Untergrund liegende technische Anlagen zurückgebaut (BBR 2004, S. 64 f.).
Abbildung 55: Baumhaine im Stadtteil
Silberhöhe.
Abbildung 56: Aufgeforstete Fläche im
südlichen Wohnkomplex des Stadtteils .
Landwirtschaftliche Nutzung
Zur Reduzierung des Wohnungsbestandes im Stadtteil Neustadt wird neben kleinräumigen Abbrüchen der fast komplette Rückbau des am westlichen Stadtrand liegenden
Wohnkomplexes (WK VI) angestrebt. In einem Zwischenschritt soll zunächst ein Quartier zurückgebaut werden mit dem Ziel, durch eine agrarische oder forstwirtschaftliche
Nachnutzung, „Landschaft in das Quartier hineinzuführen“ (IH3). Im Bewusstsein der
enormen Flächenzuwächse, der geringeren Nachfrage und der zunehmend schwierigen Finanzlage werden Freiraumformen angestrebt, die diese Herausforderungen
berücksichtigen (IH3).
Im Jahr 2007 konnte auf einer 8.000 m² großen Abrissfläche eine
Kurzumtriebsplantage201 als Pilotprojekt des abreißenden Wohnungsunternehmens
und der Stadtwirtschaft GmbH umgesetzt werden (Stadt Halle 2007a, S. 7; Abbildung
57). Der „Energiewald“ aus ca. 18.000 Balsampappelstecklingen soll nach 5 Jahren
geerntet werden und als Biomasse zur Energiegewinnung verkauft werden. Diese
schon im Ansatz einer Plantage verankerte Befristung dieser Nutzung ermöglicht zum
einen den Erhalt des Baulandes und zum anderen eine wirtschaftliche Nutzung der
200
Der Rückbau der Straßen hat sich als unerwartet großes Problem herauskristallisiert, denn ein
Straßenentwidmungsverfahren durch das Tiefbauamt dauert ca. ein Jahr. Der Rückbau als Entsiegelung kann aber als Ausgleichsmaßnahme gelten.
201
Kurzumtrieb wird als Produktionsrichtung der Landwirtschaft verstanden. Schnellwachsende und
schon jung einen großen Biomassezuwachs verzeichnende Baumarten (zumeist Pappeln oder Weiden), werden im 3-20-jährigen Umtrieb geerntet und als Roh- oder Brennstoff verwertet
(http:www.smul.sachsen.de/ de/wu/Landwirtschaft/lfl/inhalt/ 9369.htm am 06.02.08). Eine kurze
Umtriebszeit (3-5 Jahre) im allerdings engen Pflanzverband bietet sich für eine energetische Nutzung an. Eine längere Umtriebszeit mit deutlich größeren Bestandshöhen bietet sich vor allem für
die stoffliche Nutzung an (http://www.waldwissen.net/themen/holz_markt/holzenergie/
bfw_kosten_kurzumtriebsflaeche_ 2007_DE?start=0& am 06.02.08).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Flächen und ist somit sehr attraktiv für das Wohnungsunternehmen (IH1, IH3). Darüber hinaus stellt sich die Fläche gepflegt und genutzt dar und lässt zunächst keine
negative Wirkung für angrenzende Wohnquartiere erwarten (IH3).
Abbildung 57: Energiewald auf Abrissflächen
im Stadtteil Halle-Neustadt.
Inwieweit dies auch bei einem zunehmend dichteren und höheren Bewuchs
der Fall ist, kann bisher nicht abgeschätzt
werden. Der Ansatz des Energiewaldes
stellt in diesem Fall eine echte temporäre
Nachnutzung einer Abrissfläche dar, die
aufgrund der Größe und Lage der Fläche
am Quartiersrand auch städtebaulich gut
verträglich ist. Für Standorte innerhalb
von Quartieren wird dies kaum in Frage
kommen (IH1, IH3).
Gärten
Neben der landwirtschaftlichen Nutzung im WK VI des Stadtteils Neustadt wurde für
die Übergangszeit der Leerzüge und des Abrisses einzelner Gebäude der Ansatz der
Anwohnergärten umgesetzt (Abbildung 58, Abbildung 59).
Abbildung 58: Leere Mitte im WK VI von
Halle-Neustadt mit Gartenparzellen.
Abbildung 59: Anwohnergärten auf
Abrissflächen im Stadtteil Halle-Neustadt.
Die Idee, Gartenparzellen einzelnen Nutzern zur Verfügung zu stellen, um den Abriss
im Quartier mit positiven Signalen zu begleiten, wurde von einem Verein (Kulturblock
e. V.) entwickelt. Die Stadt konnte die Flächen im Tausch erwerben. Die „NeustadtGärten“ haben jedoch mit großen Akzeptanzproblemen seitens der Anwohner zu
kämpfen. Vorbehalte gab und gibt es vor allem aufgrund des äußeren Eindrucks der
Gärten und der (potenziellen) Nutzer (Migranten). Mittlerweile konnten einzelne Flächen vermittelt werden – ein Kampfsportverein hat einen Zen-Garten eingerichtet, der
323
324
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Seniorenverein einen Wildkräutergarten. Allerdings geht der Prozess sehr langsam
voran und gelingt derzeit nur über die (aufwändige) Zusammenarbeit mit weiteren
Vereinen oder Trägern (IH4).
3.2.5 Bedeutung des Freiraums im Stadtumbau von Halle
Die konsensfähigen Leitbilder und politisch orientierten Aussagen zu den Leitzielen der
Entwicklung zeigen ein Festhalten der Stadt Halle am Leitbild der „Europäischen
Stadt“, am Ziel der Kompaktheit und des Rückbaus von „Außen nach Innen“ (IH1).
Strategische Aussagen zur Stadtentwicklung (Entwicklungskorridore) reagieren dabei
auf Stadtumbau-, aber kaum auf Rückbauerfordernisse. Das Bewusstsein darüber, dass
„das raumstrukturelle Leitbild der Stadt Halle […] durch den Stadtumbau grundlegend
in Frage gestellt [wird]“, erfordert neue städtebauliche Vorstellungen (Merk 2006b,
S. 39). Als Stadtmodell ist dabei denkbar, den Großteil der Stadt auf einen kompakten
Kernbereich zurückzuziehen. Im Umfeld bleiben „Inseln im Landschaftsraum“ zurück.
Freiraum wird als der „Europäischen Stadt“ immanenter und unter Schrumpfungsbedingungen noch mehr ins Gewicht fallender Bestandteil akzeptiert – gleichzeitig wird
aber auch die Forderung nach einer bewussten Auseinandersetzung und Qualifizierung
formuliert.
Dabei wird auf gesamtstädtischer Ebene keine tatsächlich räumliche Leitvorstellung
geprägt. Anders in den Stadtumbauschwerpunkten: Die Umsetzung des Ziels des konzentrischen Rückbaus gelingt auf teilstädtischer Ebene (Halle-Silberhöhe). Unter
schwierigeren und komplexeren Rahmenbedingungen (Halle-Neustadt) sind diesem
Ansatz Grenzen gesetzt. Das Beispiel Silberhöhe zeigt dabei auch, dass ein sehr konkretes Leitbild wie die „Waldstadt“, welches nicht nur stadtstrukturelle Aussagen im
Allgemeinen macht, sondern die entstehenden Flächenpotenziale auch mit freiraumplanerischen Qualitäten untersetzt, erfolgreich in der Umsetzung und Akzeptanz ist.
Die formulierten Zielstellungen und übergeordneten konzeptionellen Ansätze für das
Verständnis des Stadtumbaus zeugen vom Bewusstsein der Herausforderungen und
der Wertschätzung freiraumplanerischer Potenziale. Die Fokussierung auf die landschaftliche und städtebauliche Achse spricht für eine hohe Bedeutung freiraumplanerischer Aspekte, der auch mit einer räumlichen Verortung und Festlegung im ISEK Rechnung getragen wird.
Die Verwendung des Begriffs Stadtlandschaft in der gesamtstädtischen Zielstellung des
ISEK lässt vermuten, dass dies für eine gleichberechtigte Wahrnehmung und Wertschätzung des Freiraums in der Stadt bzw. hier der „Landschaft“ als städtisches Element steht. Allerdings wird damit zwischen Landschaften anderer Räume, beispielsweise der Flusslandschaft oder der Umgebung, unterschieden. Insofern meint der Begriff
der Stadtlandschaft tatsächlich eine Addition städtischer und landschaftlicher Elemente
und steht weniger für ein umfassendes Landschaftsverständnis. Dies gilt ebenso für die
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Verwendung des Begriffs „urbaner Landschaft“ als freiraumplanerische Strategie für
großräumige Freiraumkorridore im Stadtgefüge.
Obwohl eine fundierte Untersetzung freiraumplanerisch relevanter Themen auf übergeordneter Ebene im ISEK fehlt, so spielen diese Themen in den Konzepten für die
Stadtumbaugebiete eine große Rolle. In den konkreten Stadtumbaukonzepten werden
in der Regel eine ganze Reihe freiraumplanerischer Maßnahmen vorgeschlagen. Dies
zeugt vom Bewusststein der Notwendigkeit freiraumplanerischer Lösungen in Stadtumbaugebieten und der entsprechenden Verantwortung und Unterstützung dafür.
Dabei wird versucht, den Stadtumbau so zu steuern, dass sinnvolle Handlungsmöglichkeiten für die Freiraumentwicklung entstehen (IH4, IH2). Vor allem in den Großwohnsiedlungen spielen freiraumplanerische Maßnahmen eine große Rolle und werden engagiert und erfolgreich umgesetzt.
Die Umsetzung des Freiraumtyps Wald in Halle ist hervorzuheben: Das Thema Wald
wird im Stadtteil Silberhöhe differenziert aufgegriffen und in unterschiedlichen Gestaltungsansätzen und Umsetzungsformen entsprechend der städtebaulichen und rechtlichen Rahmenbedingungen realisiert. Es erfüllt die Anforderungen eines flexiblen
Stadtumbauansatzes in einem Gebiet, in dem die künftige Bevölkerungsentwicklung
nicht klar vorhersagbar ist. Die Landschaft kann sich vom Rand her Stück für Stück in
die Siedlung entwickeln (IH1). Zu Beginn des Stadtumbaus standen sowohl Wohnungsunternehmen als auch Anwohner dem Ansatz der Waldstadt skeptisch gegenüber. Erste Umsetzungserfolge zeigen aber die positive Resonanz in der Bevölkerung
und können auch die Wohnungsunternehmen dazu bewegen, weitere Flächen für
diese Maßnahmen zur Verfügung zu stellen (IH1). Tatsächlich Wald entsteht dabei in
Randlagen im Übergang zu den Naturräumen der Umgebung auf Flächen, die dauerhaft als Forstflächen definiert sind. Diese Form der Nachnutzung ist an dieser Stelle
stadtökologisch und landschaftsplanerisch höchst sinnvoll. Die Entscheidung für
Baumhaine im Übergang zu den Quartieren verdeutlicht die freiraumplanerische Idee
eines extensiven Freiraums und die ästhetische Differenzierung der Freiraumtypen. Die
Bezeichnung „Stadtwald“ steht dabei für einen urbanen Freiraumtyp. Die Umsetzung
solch konsequenter freiraumplanerischer Ansätze gelang im Stadtteil Neustadt bisher
nicht – wenngleich man auch dort im Rahmen der Möglichkeiten innovative Wege
beschritten hat. Neue landwirtschaftliche Ansätze und die Umsetzung des Gartengedankens als Ort der Aneignung und Integration verdeutlichen die Notwendigkeit neuer
Freiraumtypen, aber auch die Grenzen.
3.3
Leipzig – Freiraum im Stadtumbau
3.3.1 Stadtmodelle und städtebauliche Leitbilder
Für die Stadt Leipzig wurden für die Gesamtstadt keine expliziten modellhaften Überlegungen zur künftigen Stadtstruktur entwickelt. Im Laufe der Diskussion um Stadt-
325
326
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
entwicklung und Stadtumbau sind aber eine Reihe von Leitbildern formuliert worden.
Für einzelne Stadtumbauschwerpunkte in der Stadt basieren die konzeptionellen Überlegungen zur künftigen räumlichen Struktur auf abstrahierten Modellansätzen und
umfassenden Leitbildansätzen.
Von Beginn an verfolgt die Stadt Leipzig das Ziel einer nachhaltigen Stadtentwicklung,
welches mit den Schlagworten der „... kompakten (‚europäischen‘) Stadt, der Stadt der
kurzen Wege und der sozial gemischten Stadt beschrieben wird“ (Lütke Daldrup
2001a, S. 43; vgl. auch Stadt Leipzig 2000, S. 43; Stadt Leipzig 1998a, S. 9). Trotz der
historischen und auch jüngeren Entwicklung sowie der anstehenden Stadtentwicklungsaufgaben, soll der „städtebauliche Zusammenhalt“ weiterhin gewährleistet werden (Lütke Daldrup 2004, S. 105). Die Diskussion um die (räumliche) Stadtentwicklung
in Leipzig ist stark von der Gleichzeitigkeit von Wachstums- und Schrumpfungstendenzen geprägt: Im Bewusstsein über die „… Notwendigkeit, bauliche Nutzungen in
bestimmten Stadtbereichen Leipzigs zurückzunehmen, greifen […] die aktuellen
urbanistischen Debatten […] um die ‚schrumpfende Stadt’ für Leipzig zu kurz“ (ebd.,
S. 99). Insofern wird auch die Frage des (städtebaulichen) Leitbildes differenzierter als
in manch anderer Stadt betrachtet. Die Diskussion um die künftige Stadtform wird in
Stadtpolitik und -verwaltung durch zwei manifeste Orientierungen geprägt: (1) Die
Erhaltung der Gründerzeitgebiete der inneren Stadt in der Tradition der „Europäischen
Stadt“. (2) Die Erhaltung der Auenlandschaft als markantes Element im Stadtgefüge
und Standortpotenzial für Wohngebiete (IL1). Gleichzeitig wird die Stadtentwicklung
in Leipzig im Rahmen der Schrumpfungsdebatte mit der „Perforierten Stadt“ in Verbindung gebracht (siehe Kapitel C.1.6).
Gesamtstadt
Die „Europäische Stadt“ ist das zentrale Leitbild Leipzigs. In seiner differenzierten Anwendung sieht die Stadt eine Möglichkeit, die dem Leitbild innewohnenden Potenziale
auch unter aktuellen Rahmenbedingungen und spezifisch auf die Stadt anzuwenden:
„Eine mentale Voraussetzung dazu ist eine zeitgemäße Interpretation der ‚postindustriellen europäischen Stadt’, einem Stadttyp in Transformation. Die ‚klassische Europäische Stadt’ und die ‚Europäische Stadt in Metamorphose’ stellen für Leipzig gleichermaßen ein enormes Potenzial dar. Sie haben vieles gemeinsam, aber sie unterscheiden
sich auch in den Stadtraumtypen, Qualitäten und Milieus“ (Stadt Leipzig 2007a, S. 2).
Entsprechend wird der Begriff der „biploaren Stadt“202 zum Programm. Der Erhalt und
die „kritische Rekonstruktion“ von Dichte und Urbanität und damit Wachstum und
Stabilisierung in Stadtteilen, die dem „tradierten städtebaulichen Kontext verpflichtet“
202
Das Nebeneinander von Wachstum und Schrumpfung und der Wettbewerb zwischen wachsenden
und schrumpfenden Stadtteilen, in ihrer räumlichen und zeitlichen Nähe, wird in Leipzig mit dem
Begriff der „bipolaren Stadt“ beschrieben (Kunz 2007, S. 136).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
sind (Stadtzentrum und innerstädtische Wohnquartiere) kann nur durch die
Entdichtung und Transformation und mit dem Rückzug aus anderen Gebieten erfolgreich sein. Insofern wird die Notwendigkeit des Stadtumbaus akzeptiert, aber gezielt in
bestimmte Stadtgebiete gelenkt (Lütke Daldrup 2004, S. 105 ff.).
Die Feststellung parallel ablaufender Perforations- und Suburbanisierungsprozesse und
die Frage nach der Dehnbarkeit bekannter Raummuster führt zur Formulierung des
Leitbildes der „Verdichtung und Auflockerung“ für die Stadt Leipzig (Doehler-Behzadi,
Schiffers 2004, S. 33). Dieses baut auf zwei sich abzeichnenden Dichtekategorien auf:
der „Urbane Kern“ und die „Perforierte Stadt“ (ebd., S. 45). Beide Kategorien werden
in ihrem Bestand und ihren Entwicklungsrichtungen gestärkt und steuernd unterstützt:
Im Kern sollen Abrisse vermieden und Nutzungen bedarfsgerecht etabliert werden.
„Die Philosophie der Leipziger Stadterneuerung für den ersten Ring und das Zentrum
ist auf konsequenten Bestandserhalt, Revitalisierung und moderate Nachverdichtung
ausgelegt“ (Lütke Daldrup 2004, S. 109). Die Strategie für den perforierten Rand wird
nochmals unterschieden. In den stärker von Leerstand betroffenen Plattenbaugebieten
soll Abbruch – wenn möglich flächendeckend – zur Reduzierung des Wohnungsbestandes eingesetzt werden. In den Altbaugebieten können vereinzelt Abrisse stattfinden. Vielmehr aber soll die Dichtereduzierung durch kleinere Wohnneubauten und
Freiräume erfolgen (Doehler-Behzadi, Schiffers 2004, S. 45).
Das Leitbild für die räumliche Stadtentwicklung (auch unter partiellen Schrumpfungsbedingungen) lässt sich demnach wie folgt zusammenfassen: (1) Im kompakten, urbanen Innenstadtkern und den direkt angrenzenden, inneren Gründerzeitgebieten wird
getreu dem Leitbild der „Europäischen Stadt“ auf Nachverdichtung, Mischung und
Aufwertung des öffentlichen Raumes gesetzt. (2) Der zweite Gründerzeitring soll als
„Perforationsgebiet“ im Sinne einer Transformation der europäischen Stadt die
Schrumpfungserfordernisse aufnehmen. (3) Großsiedlungen an der städtischen Peripherie sollen – dem Ansatz „von außen nach innen“ folgend – auch großflächiger
zurückgebaut werden (Lütke Daldrup 2004, S. 121).
Diese Differenzierung ist dabei unabdingbar, wenngleich die politische Wahrnehmung
bzw. Rezeption auf der einen und die eigentlichen Planungsabsichten auf der anderen
Seite Schwierigkeiten verdeutlichen: Leitvorstellungen der Stadtentwicklung sind ein
Aushandlungsergebnis zwischen den Vorstellungen, dass „stadtökonomisch und unter
dem Leitbild einer ‚Stadt der kurzen Wege’ […] ein Rückbau der Stadt von außen nach
innen anzustreben [ist]“ (Tiefensee 2003, S. 4) und der Erkenntnis, dass das Leitbild
„von außen nach innen“ für die Gesamtstadt nicht gelten kann, da die städtebaulichen
Realitäten dagegen sprechen (Kunz 2007, S. 155 f.).
Im Rahmen der Fortschreibung des Flächennutzungsplans (FNP) wird das „Leitbild zur
räumlichen Entwicklung Leipzigs“ als grundlegende Orientierung angewendet (Stadt
Leipzig 2004a, S. 76). Dieses Leitbild soll „… die räumlichen Ziele und Schwerpunkte
327
328
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
der zukünftigen wirtschaftlichen, städtebaulichen, infrastrukturellen und naturräumlichen Entwicklung sowie ihre Zusammenhänge für den FNP schematisch […] veranschaulichen“ (Stadt Leipzig 2004a, S. 79). Das übergeordnete Ziel ist der „Erhalt einer
funktionsfähigen kompakten Stadt“ (ebd., S. 79). Städtebauliches Ziel ist die „Anpassung des zu groß gewordenen Kleides mit dem Erhalt kompakter Stadtstrukturen
durch maßvollen Rückbau und stadtverträglichen Neubau“ (ebd., S. 79, Karte). Insbesondere das Thema Bergbaufolgelandschaften und Vernetzung großräumiger Freiraumsysteme spielt auf der Maßstabsebene des FNP eine Rolle. Die städtische Freiraumstruktur wird in diesem Zusammenhang allerdings nicht erwähnt.
In ihrem Beitrag zum Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ unterstreicht die Stadt Leipzig
das Ziel einer „nachhaltigen Stadtentwicklung entsprechend dem Leitbild der ‚Europäischen Stadt’ sowie der ökologischen Herausforderung der Stadt der kurzen Wege“
(Stadt Leipzig 2002c, S. 8). Aus freiraumplanerischer Sicht besonders relevant einzustufen sind dabei die Forderungen nach (1) einer Qualifizierung und Differenzierung
der Wohnungsangebote in den Bestandsquartieren sowie (2) der Wandlung von Entleerungs- und Verfallsprozessen zu gezieltem Stadtumbau, der durch mehr Grün und
weniger Dichte zu Qualitätssteigerungen in den Stadtteilen beiträgt (ebd., S. 8).
Das 2006 beschlossene Planwerk Stadtraum für den inneren Stadtbereich zeichnet
eine Vision der räumlichen Entwicklung Leipzigs, die in den nächsten 10 bis 20 Jahren
schrittweise realisiert werden kann. Es baut auf die im Rahmen der Bewerbung um die
Olympischen Sommerspiele 2012 initiierten Diskurse um die Stadtentwicklung und
bestehenden Planungen auf bzw. ergänzt diese mit „stadt- und landschaftsräumlichen
Akzenten“ (Stadt Leipzig 2006b, S. 5, 9, 13). Das Planwerk trifft damit strategische
Aussagen mit Leitbildcharakter für die Entwicklung der Gesamtstadt. Ausgehend von
der Entwicklung seit 1990 und deren sichtbaren Auswirkungen im Stadtraum wird
formuliert: „In den ‚sich entleerenden Orten’ greift das Modell der ‚Europäischen
Stadt’ mit dem Grundsatz des ausgeprägten städtebaulichen Zusammenhalts bezüglich
der Grundstücksüberbauung sowie der Höhenentwicklung nicht mehr vollständig. In
diesen Räumen wird sich durch die abnehmende Dichte eine veränderte Definition von
Urbanität entwickeln“ (ebd., S. 51). Auf das Nebeneinander von Schrumpfung und
Wachstum wird mit zwei parallelen Strategien reagiert: einerseits die „Sicherung tradierter urbaner Qualitäten ausgewählter städtischer Teilräume“ und andererseits die
„Neukodierung städtischer Teilräume in der äußeren Stadt“ (ebd., S. 10). Basierend
auf dieser Ausgangslage wird die „Europäische Stadt“, vor allem für die Transformationsräume im Leipziger Osten und Westen, die sich durch ein kleinräumiges Nebeneinander stabiler und labiler Räume auszeichnen, in Teilen aufgegeben: „In diesen labilen Räumen entwickelt sich durch die abnehmende Dichte ein verändertes Verständnis
von Urbanität“ (ebd., S. 9). Wird das klassische Raummuster der europäischen Stadt in
Teilräumen zwar aufgegeben, so werden einige ihrer Eigenschaften auch weiterhin als
zu erhaltende oder weiter zu entwickelnde Qualitäten anerkannt: „Die Bedeutung des
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
öffentlichen Raumes liegt in diesem Stadtverständnis in der Entwicklung einer differenzierten ‚Urbanen Stadt_Landschaft’, die trotz ihrer Brüche und fragmentierter Ordnungen durch die Gestaltung des öffentlichen Raums, zu dem auch der Landschaftsraum
zählt, eine Kohärenz erhält“ (Stadt Leipzig 2006b, S. 10).
Für die unterschiedlichen Raumeinheiten der Stadt ergeben sich – bezogen auf deren
Potenziale und Entwicklungsziele – spezifische Herausforderungen, welche in teilräumlich differenzierten Leitaussagen münden (ebd., S. 5, 20 ff.):
‚ Die Innenstadt und der sie umgebende Gürtel gründerzeitlicher Bebauung soll als
(1) zentraler Wohn- und Arbeitsort gestärkt, (2) nach dem Leitbild der Stadt der
kurzen Wege entwickelt und (3) in seiner Stadtstruktur vorrangig erhalten und
durch Sanierung und Neubau auf Leerflächen gefördert werden.
‚ Die äußere Stadt und die Großwohnsiedlungen sollen Schwerpunkt des Stadtumbaus – als „klassische“ Stadterneuerung, aber auch als „strukturprägende Transformation“ – bleiben. Zur Konsolidierung des Wohnungsmarktes ist dabei der Gebäudeabriss unverzichtbar, allerdings soll mit der Dichtereduzierung eine Steigerung
der Wohnqualität und eine Inwertsetzung der betroffenen Stadträume einhergehen.
Dabei soll Perforation vermieden und der „Rückbau konsequent von außen nach
innen“ vollzogen werden. Trotzdem wird für diese Stadtbereiche eine „Perforations-Zone“ vorgeschlagen, die in festgelegten Gebieten Auflockerungsprozesse bis
zu einem bestimmten Ausmaß akzeptiert.
‚ Der Ausbau des Leipziger Nordraums als Industrie-, Dienstleistungs- und Gewerbestandort wird als „neue Stadtsequenz“ verstanden. Die neu entstehenden „Arbeitswelten“ sollen dabei durch „Landschaftsräume neuen Typs“ in Abkehr von der
europäischen Stadt gegliedert werden.
‚ Das Pendant dazu entsteht im Südraum der Stadt in einer vielfältigen Braunkohlefolgelandschaft, die als Raum für Erholung, Naturschutz und Freizeit eine Bereicherung für den Wohnstandort Leipzig darstellt.
Leitbilder für Stadtumbaugebiete
Der Konzentration von Neubebauung und städtischer Entwicklung auf die Kernstadt203
gegenüberstehend, sollen folgend die unterschiedlichen Ansätze für die drei größten
Stadtumbaugebiete (Leipziger Osten, Leipziger Westen, Grünau) der Stadt Leipzig
erläutert werden. Für die Gründerzeitgebiete wurde frühzeitig der Begriff der „Perforierten Stadt“ geprägt, wenngleich dies nie als Auflösung, sondern eher als Qualifizierungsansatz getreu dem Motto „Mehr Grün, weniger Dichte“ gemeint und letztlich
auch umgesetzt wurde (Lütke Daldrup 2001a, S. 43 ff.). Dabei sollen die „… intakten
203
Zur Nedden, Martin: Vortrag auf der BDLA-Tagung „Best Practice im Stadtumbau“ am 07.11.07
in Leipzig.
329
330
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Stadtschollen der inneren Stadt …“ zusammengehalten werden (Lütke Daldrup 2003,
S. 9).
Für das vorrangig gründerzeitlich geprägte Stadtumbaugebiet im Leipziger Osten
wurde auf der Grundlage des Modells „Kern und Plasma“ (Kapitel C.1.6.2) im Rahmen des Konzeptionellen Stadtteilplans für die Stadtteile im Leipziger Osten
(KSP LeO) ein so genanntes Dichteleitbild entwickelt (Stadt Leipzig 2001b, S. 16; Abbildung 60).
Dieses basiert auch auf modellhaften Vorstellungen zur Verortung des Rückbaus. Prozesse der
Konzentration und Perforation
sollen bewusst eingesetzt werden, um eine ausgeglichene
Stadtstruktur im Sinne einer
konzentrischen Dichteverteilung
zu erreichen. Vorrangiges Ziel
der Umbaubestrebungen im
Leipziger Osten ist es, die hohen
Leerstände, aber auch die kleinräumige Nachfragekonzentration
als Chance für einen nachhaltigen Stadtumbau zu begreifen
und für einen Abbau der Freiraumdefizite sowie Rück- und
Umbau der dichten und schlichten gründerzeitlichen Baustrukturen zu nutzen.
Abbildung 60: Dichteleitbild für die Stadtteile des
Leipziger Ostens im Rahmen des KSP LeO (Büro für
urbane Projekte in Stadt Leipzig 2001b, S. 16).
Das auch grafisch konkretisierte städtebauliche Leitbild (Abbildung 61) sieht vor, zum
einen das urbane Grundgerüst der gründerzeitlichen Stadt mit ihren baulichen und
funktionalen Kernen zu erhalten, und zum anderen das Rückbaupotenzial zur Etablierung dauerhafter Grünstrukturen zu nutzen. Die Umbaustrategie orientiert sich dabei
an drei grundlegenden Leitbildelementen (Abbildung 61). Das Element „Grüne Räume
vernetzen“ wird in folgenden Zielen konkretisiert (Stadt Leipzig 2003a, S. 24):
‚ Nachhaltige und dauerhafte Vergrößerung des öffentlichen Grünanteils
‚ Neuartige Grünvernetzung durch das zentrale Rietzschkeband
‚ Fertigstellung des Grünzuges Eilenburger Bahnhof
‚ Begrünung und Vernetzung der nördlichen Bahnanlagen
‚ Kleinteilige Flächenbegrünung und Pflege auf frei werdenden Grundstücken
331
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Darüber hinaus gelten folgende Grundsätze, welche explizite Aussagen zur Freiraumentwicklung beinhalten (Stadt Leipzig 2003a, S. 25):
‚ „Gemäßigter Stadtumbau im Herzen des Osten“: Durch die behutsame Auflockerung sollen lesbare städtische Strukturen erhalten werden. Auf entstehenden Brachen und in Baulücken werden Zwischen- und freiraumplanerische Nutzungen angestrebt.
‚ „Rückbau von Quartieren vom Rand her“: Durch den flächenhaften Rückbau
randlicher, standörtlich benachteiligter, unsanierter und schlecht nachgefragter Bestände mit Bezügen zum Grünraum sollen dauerhaft Freiräume entwickelt werden.
Leitbildelemente
Grüne Räume
vernetzen
Urbane Kerne
erhalten
Abbildung 61: Leitbild Leipziger Osten (Büro für Urbane Projekte in Stadt Leipzig 2001b, S. 14).
Im Konzeptionellen Stadtteilplan für den Leipziger Westen (KSP West) wird das Leitbild in Form von Grundsätzen für die Entwicklung der Stadtumbaugebiete im Leipziger
Westen formuliert. Die Grundsätze sind sehr unterschiedlicher Natur und beziehen
sowohl (städte-)bauliche, freiraumplanerische (Tabelle 12), ökonomische und eher
gesellschaftlich orientierte Aspekte ein.204 Zur Konkretisierung werden sie mit konzeptionellen Aussagen unterlegt – dabei spielen freiraumplanerische Gesichtspunkte an
verschiedenen Stellen eine Rolle (Stadt Leipzig 2005a, S. 15 ff.).
204
Im Leitbild werden folgende Grundsätze definiert: Möglichkeiten ausbauen; Gewerbe – Bestand
erhalten und entwickeln, Neues ansiedeln; In Stadtumbaubereichen intervenieren; Lebenswerte
Stadtteile aktiv gestalten; Kulturstandorte – Bestand erhalten, entwickeln und vernetzen; Grüne
Räume schaffen und vernetzen; Verkehrliche Infrastruktur an Bedarf anpassen; Lützner Straße
aufwerten – „Das schnelle Schaufenster“; Chancengleichheit und soziale Integration befördern
(Stadt Leipzig 2005a, S. 15 ff.).
332
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Leitbild: Grundsätze
konzeptionelle Unterlegung
In Stadtumbaubereichen intervenieren
Nutzung von Baulücken und Brachen für neue Wohnformen, Schaffung vielfältiger Wohn- und Nutzungsangebote
Auflockerung ursprünglich sehr dichter Bereiche durch Freiräume in Baulücken
und auf Brachen
Aufgabe von wenig zukunftsfähigen Wohnstandorten in Randlagen
Grüne Räume schaffen und vernetzen
Grünes Band im Westen: Entwicklung eines zweiten Grünzuges parallel zum
Auwald (Kleingartenpark, GleisGrünZug auf dem ehemaligen Güterbahnhof
Plagwitz)
Vernetzung der Grünflächen durch in O-W-Richtung verlaufende Freiraumbänder, als wohnungsnahe Freiräume mit Wegeverbindungen
schrittweise Entwicklung des GleisGrünZuges und extensive Begrünung
grüner Rahmen für das Gewerbe
Ausbau der Wasserverbindungen Karl-Heine-Kanal, Weiße Elster, Kleine
Luppe (Schaffung von Zugängen und Ausbau des Wegenetzes)
Tabelle 12: Leitbild Leipziger Westen: Ausgewählte explizit städtebaulich und
freiraumplanerisch intendierte Grundsätze und ihre konzeptionelle Konkretisierung (Stadt
Leipzig 2005a, S. 15 ff.).
Für die Großwohnsiedlungen, und insbesondere Grünau, wurde zunächst eine Stadtumbaustrategie bestehend aus zwei Komponenten angestrebt: „Punktuelle Interventionen in einzelnen Gebäuden im gesamten Siedlungsbereich und zusätzlich konzentrierte Umstrukturierung in den besonders hoch verdichteten Wohnkomplexen am
Rand der Stadt“ (Lütke Daldrup 2001a, S. 45). Die Erfahrung hat gezeigt, dass letztgenanntes Ziel bisher nicht umgesetzt werden konnte und es tatsächlich beim Stadtumbau um punktuelle Eingriffe ging. Aktuelle Bestrebungen stellen Ansätze dar, das
ursprüngliche Ziel der räumlich konzentrierten Umstrukturierung zukünftig teilräumlich
und phasenweise zu erreichen.
Zu Beginn des Stadtumbaus in der Großwohnsiedlung Grünau im Westen der Stadt
Leipzig wurde das Leitbild von „Außen nach Innen“ formuliert, um die kompakte
Stadt mit klaren Grenzen zur Landschaft zu festigen (ebd., S. 45). Entsprechend dem
Leitsatz „Mehr Qualität durch weniger Häuser“ im Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung, Teilplan Großsiedlungen (STEP W+S, TP Großsiedlungen) sollten vor allem freiraumplanerische Maßnahmen zur Weiterentwicklung und
Stabilisierung des Gebietes beitragen (Stadt Leipzig 2001a).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Nach ersten unbefriedigenden Erfahrungen bei der Umsetzung des Stadtumbaus wurden grundlegende Überlegungen zur künftigen Struktur der Siedlung angestellt.205
Anlass war die Erkenntnis, dass „… man nicht weiter wie bisher eine zufällig erscheinende, kleinteilige Perforation durchführen kann, sondern im größeren Maßstab zurückbaut“ und den Zuwachs an Rückbauflächen für eine bewusste Gestaltung der
entstehenden Wohnfolgelandschaften einsetzt (Stadt Leipzig, Büro für urbane Projekte
2005, S. 24). Es wurden unterschiedliche Ideen zur Gestaltung dieser Wohnfolgelandschaft im Sinne einer „typologisch und morphologisch veränderten Großwohnsiedlung“ entwickelt, die in drei Szenarien zusammengefasst wurden.206 Gemeinsam ist
den unterschiedlichen gestalterischen Ansätzen, dass es nicht nur um Abbruch geht,
sondern um „… die Erfindung einer neuen Art von Stadt und Landschaft und ihres
Zusammenhangs“ (ebd., S. 25).
Abbildung 62: Szenario „Cluster-Rückbau“
für Leipzig Grünau (Stadt Leipzig, Büro für
urbane Projekte 2005, S. 25).
Das in Abbildung 62 dargestellte Szenario
„Cluster-Rückbau“ vereint die Vorteile der
Szenarien „Kleinteilige Perforation“ und
„Flächenhafter Rückbau vom Rand“ und
wird in seiner Umsetzbarkeit am realistischsten und am zukunftsfähigsten eingeschätzt. Es forciert trotz konträrer wohnungswirtschaftlicher Interessen einen
großflächigen Rückbau. Er soll dort räumlich und zeitlich konzentriert werden, wo
kurzfristig auch Rückbaumaßnahmen verortet sind.
So entstehen stabile Wohninseln, die durch sie umgebende großflächige und zusammenhängende Freiräume eine neue Lagegunst erhalten. Im Ergebnis entsteht „… eine
innere Wohnfolgelandschaft, die nicht nur einfach dem Rand des Wohngebietes zugeschlagen wird, sondern eine eigene Qualität erhalten muss“ (ebd., S. 24). Entscheidend ist hierbei, wie sich diese Flächen der Wohnfolgelandschaft in den Stadtraum
205
Im Rahmen eines INTERREG IIIb-Projektes (LHASA – Large Housing Areas Stabilisation Action)
wurde anhand des Fallbeispiels Leipzig-Grünau die Rolle von Rahmenplanungen bei der Entwicklung und Erneuerung von Großwohnsiedlungen untersucht. In diesem Zusammenhang wurden in
einem Workshop „Wohnfolgelandschaften“ Ideen zur künftigen Raumstruktur der Siedlung unter
den Vorzeichen von Bevölkerungsrückgang, Leerstand und Abriss entwickelt und daraus drei Entwicklungsszenarien abgeleitet. Ziel des Workshops war es, Ideen als Beiträge zur Erstellung eines
Rahmenplans als „… eine grobkörnige, daher einfache Planaussage für den Gesamtzusammenhang der Großwohnsiedlung …“ vorzuschlagen. Diese „… ist weniger ein Plan als ein Bild, eine
komplexe, aber leicht fassliche Idee für ein Stadt-Landschafts-Konzept“ (Stadt Leipzig, Büro für urbane Projekte 2005, S. 25).
206
„Kleinteilige Perforation“, „Flächenhafter Rückbau vom Rand“, „Cluster-Rückbau“ (Stadt Leipzig,
Büro für urbane Projekte 2005, S. 24 f.)
333
334
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
einfügen und diese „landschaftlich-extensiven“ Bereiche gestaltet werden (Stadt Leipzig, Büro für urbane Projekte 2005, S. 24). Die Wohninseln sind dabei „… von einem
Landschaftsraum umflossen, der nicht mehr Innen-, Zwischenraum oder Abstandsgrün
ist, aber auch nicht zum Außenraum, Stadtumland gehört“ (ebd., S. 25). Zu Fragen
der Nutzung und Unterhaltung werden keine näheren Aussagen getroffen.
Stadtumbau ausschließlich auf Einzelentscheidungen zu Rückbauobjekten basieren zu
lassen, ohne eine gesamträumliche Idee der künftigen Stadtstruktur zu haben, zeigte
sich in der Stadtumbaurealität in Grünau als wenig zukunftsweisende Lösung. So wird
eingeschätzt, dass „… in dem Vorschlag einer großräumigen ‚Wohnfolgelandschaft’
rund um den urbanen Kern der Großwohnsiedlung [ein Vorteil besteht], die hinderliche Aussagegenauigkeit des alten STEP Großsiedlungen zu überwinden“ (ebd., S. 25).
Dieser Ansatz wurde in die Entwicklungsstrategie Grünau 2020 übernommen. So beschreibt das Leitbild für die künftige Siedlungsentwicklung eine „Dualität eines Kernbereiches und eines Stadtumbaugürtels“ (Stadt Leipzig 2007b, S. 8). Da für den Stadtumbaugürtel ein Rückbau „von außen nach innen“ planerisch wünschenswert, aber
als nicht machbar eingeschätzt wird, werden ergänzend Stabilisierungskerne ausgewiesen (IL1). Dem kompakten Kernbereich steht damit ein fragmentierter Randbereich
gegenüber (siehe Abbildung 68 in Kapitel C.3.3.2, S. 345). Das Leitbild wird auf dieser
Ebene von einer städtebaulichen Sichtweise bestimmt, Aussagen zur Freiraumentwicklung finden sich nicht.
3.3.2 Stadtumbaustrategien
Die Stadt Leipzig hat eine Fülle überwiegend gut dokumentierter stadtumbaurelevanter Planungen und Konzepte erstellt. Insbesondere die informellen Instrumente spielen
eine große Rolle beim Umgang mit den aktuellen Herausforderungen der Stadtplanung. Dem Flächennutzungsplan (FNP)207 wird dabei eine besondere „Schnittstellenfunktion“ zugesprochen: Er soll die strategischen Konzepte der Stadtentwicklung und
der Landschaftsplanung in der Bauleitplanung verankern und damit deren Umsetzung
in den laufenden formellen Planverfahren sicherstellen.208
207
Um auch weiterhin Steuerungsfunktionen bezüglich der Bodennutzung auszuüben, ist eine Fortschreibung des FNP auf Grundlage der Stadtentwicklungspläne, der Änderungen des Gebietsstands
durch die Eingemeindungen im Jahr 2000 sowie grundlegend veränderter demografischer Rahmenbedingungen erforderlich (Stadt Leipzig 2004a, S. 76). Die Neufassung des FNP lag zum Abschluss der Recherchen im Rahmen dieser Arbeit noch nicht in einer offiziellen Fassung vor. Insofern können keine Aussagen zur Integration freiraumplanerischer Belange und Themen des Stadtumbaus getroffen werden. Der erste FNP Leipzigs wurde 1995 beschlossen (Stadt Leipzig 1995).
Der frühzeitige Bedarf einer solchen Planung konnte nur durch Abstriche bei den landschaftsplanerischen Grundlagen und der strategischen Stadtentwicklungsplanung befriedigt werden (Stadt
Leipzig 2004a, S. 72).
208
http://www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/fnp/aufg/ am 20.03.08
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Freiraumentwicklung als Stadtentwicklungsstrategie auf gesamtstädtischer Ebene
Strategischer Ansatz im Planwerk Stadtraum209 ist die Herausarbeitung „urbaner Projekte“: „… Ausgewählte städtebauliche Projekte werden in Verbindung mit Projekten
der Grün- und Freiraumplanung zu einem ‚Urbanen Stadtraum’ vernetzt“ (Stadt Leipzig 2006b, S. 5). Die Subsummierung freiraumplanerischer Maßnahmen als „urbane
Projekte“ verdeutlicht den hohen Stellenwert dieser Aspekte in Bezug zu den städtebaulichen Maßnahmen. Im Planwerk wird die stadträumliche Situation auf einem aktuellen Stand dargestellt, ohne dass der Anspruch erhoben wird, einen gesamtstädtischen Entwicklungsplan aller Belange zu entwickeln (Kunz 2005, S. 26). Die Raumanalyse und Konzeptentwicklung erfolgt zu den vier Themenfeldern: Siedlungsentwicklung, Grün- und Freiraumentwicklung, öffentlicher Raum und Verkehrsentwicklung.
Das Themenfeld „Grün- und Freiraumentwicklung“ wurde auch unter Beteiligung der
entsprechenden Fachämter erstellt (IL3, IL4) und wird in Kapitel C.3.3.3 ausführlicher
dargestellt. Generell wird als ein Schwerpunkt der „bestandsorientierten Stadtentwicklung“ mit dem Ziel der Attraktivitätssteigerung der Stadt der öffentliche Raum als
„konstituierendes Element des Stadtbildes“ in Form von Straßen und Plätzen, von
Parkanlagen und von neuen, auch temporären, Begrünungen von Stadtbrachen betrachtet (Stadt Leipzig 2006b, S. 5. 9). Insbesondere in den Raumeinheiten Arbeitswelten/ Stadtsequenzen und Erholungsraum im Südraum liegen Schwerpunkte der Freiraumplanung (IL1).
In dem bis Ende 2008 zu erstellenden Integrierten Stadtentwicklungskonzept (SEKo)210
werden die künftigen Stadtentwicklungs- und Stadtumbaustrategien zusammengeführt und Stadtumbaukonzepte für Schwerpunktgebiete abgeleitet. Die fachlichen
Belange werden durch Fachkonzepte zu den Themen Wohnen, Zentren, Wirtschaft
und Beschäftigung, Verkehr und technische Infrastruktur, Freiraum und Umwelt,
Sport, Kultur, Bildung und Erziehung sowie Soziales zugearbeitet.211 In einem Zwi209
Das modular aufgebaute Planwerk versteht sich als „ein großer Plan“, der einzelne Projekte beschreibt, und zugleich als eine „planerische Strategie“, die die räumliche Vernetzung dieser Maßnahmen sicherstellen soll (Stadt Leipzig 2006b, S. 6).
210
Eine endgültige Fassung lag am Ende dieser Arbeit noch nicht vor und so wird folgend vor allem
der Prozess der Erstellung im Hinblick auf die Integration freiraumplanerischer Belange analysiert.
Insofern sind die hier dargestellten Inhalte vorläufige und interne Arbeitsstände, die sich im eigentlichen SEKo auch anders darstellen können. Das SEKo ist zum einen die „zentrale Strategie für
Stadtentwicklung und Stadtumbau in Leipzig“ und stellt zum anderen eine „langfristig ausgerichtete Stadtentwicklungsstrategie, die klare Prioritäten für die Zukunft setzt“ dar. Dabei knüpfen die
einzelnen Themen an die bestehenden Stadtentwicklungspläne an – allerdings geht das SEKo über
die rein räumlichen Aspekte der Stadtentwicklung hinaus und hat den Anspruch, alle städtebaulichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen zu integrieren und eine Gesamtstrategie zu entwickeln (http://www.leipzig.de/de/buerger/ stadtentw/konzept/ziel/ am 23.10.07).
211
Ziel ist es, für die genannten Themenfelder eine strategische Handlungsgrundlage zur Fördermittelakquisition bereitzustellen und räumliche Handlungsschwerpunkte für die Stadtentwicklung bis
2020 zu identifizieren (http://www.leipzig.de/imperia/md/images/ 61_stadtplanungsamt/ aufbau.jpg am 23.10.07).
335
336
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
schenstand (Oktober 2007)212 kristallisierte sich heraus, dass aufgrund gesamtstädtischer und teilweise (über-) regionaler Wirkung der Nordraum und der Auwald, auch
als Freiraum- und Gewässerverbund mit dem Südraum sowie die Stadträume Leipziger
Osten, Westen und Grünau aufgrund teilräumlicher Wirkung Priorität erhalten sollen.
Als Querschnittsthemen über die Fachkonzepte hinaus sind die Themen regionale
Einbindung, Stadtbild und Brachflächen von besonderer Bedeutung.213
Freiraumentwicklung im Rahmen der Stadterneuerung in den Altbaugebieten der
inneren Stadt
1998 wurden in Reflexion der bis dahin erfolgten Stadterneuerung und im Kontext der
Fortschreibung und Konkretisierung der Sanierungsziele für die bestehenden Sanierungsgebiete die Leitlinien der Stadtsanierung/Stadterneuerung214 formuliert (Stadt
Leipzig 1998b, S. 7 ff.). Unter anderem enthielten diese Forderungen nach: der Erhaltung der besonderen stadträumlichen Qualität, der Begrenzung und Reduzierung der
städtebaulichen Dichte zu Gunsten einer besseren Ausstattung mit Grünflächen, der
Verbesserung der Wohnumfeldqualität (vor allem Baulückenbegrünung), der Steigerung der Aufenthaltsqualität öffentlicher Räume und der Nutzung der Freiraumpotenziale der Blockinnenbereiche. Diese Leitlinien heben die Bedeutung freiraumplanerischer Aspekte im Rahmen der Stadterneuerung hervor. Als zentraler Aspekt der Stadterneuerungsstrategie und des nachfragegerechten Stadtumbaus wird „… die Schaffung großräumiger Grünstrukturen und deren Vernetzung in den besonders von Leerstand und Abwanderung betroffenen Quartieren verfolgt“ (Weigel, Heinig 2007,
S. 44). Ergänzt wurde und wird diese Strategie durch grüne Zwischennutzungen.
Das übergeordnete Ziel für die Altbauquartiere ist bis heute die Erneuerung und langfristige Stabilisierung, welches im Gesamtprogramm „Neue Gründerzeit“ (1999) festgeschrieben wurde. Diese offensive Erneuerungsstrategie baut auf den drei Elementen
Wettbewerb, Erhaltung und Umbau auf, welche auch freiraumplanerische Bausteine
enthalten (Gabi 2002, S. 3; Stadt Leipzig 2003c, o. S.; Weigel, Heinig 2007, S. 43;
Kunz 2007, S. 139):
212
http://www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/konzept/inhalt/ am 13.03.08
213
Kunath: „Grün, Grün, Grün… Freiraum und Umwelt in Leipzig“, Vortrag an der VHS Leipzig in der
Diskussionsreihe „Leipzig 2020 – Zukunft gestalten“ zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept
der Stadt Leipzig, am 12.11.2007.
214
Die Leitlinien der Stadtsanierung/Stadterneuerung setzten den inhaltlichen Rahmen für Sanierungskonzepte, die im Rahmen der Fortschreibung der 13 Sanierungsgebiete erstellt wurden und
definierten Ziele für den Gebäudebestand der Gründerzeit der Stadt Leipzig (Stadt Leipzig 1998b,
S. 6 ff.).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
‚ Wettbewerbsstrategie: Herstellung der Konkurrenzfähigkeit der innerstädtischen
Bereiche gegenüber den Wohnungsbaustandorten auf der „grünen Wiese“ durch
Schaffung der Qualitäten, die potenzielle Abwanderer im Umland suchen (Qualifizierung des Wohnumfeldes, Individualität, Integration neuer Bauformen, Angebot
von Wohneigentum, mehr Grün).
‚ Erhaltungsstrategie: Unterstützung eines nachfragegerechten Sanierungsprozesses
in den Kernen der Stadtteile und den stadtbildprägenden und erhaltungsfähigen
Quartieren (Eigentumsförderung, Nutzungsorientierung).
‚ Umbaustrategie: Voraussetzungen für einen an den Defiziten und Potenzialen orientierten Umbauprozess, um – in ihrer heutigen Struktur nur eingeschränkt – zukunftsfähige Wohnstandorte zu schaffen. Herausbildung neuer Qualitäten durch
unvermeidbare Abrisse.
Darüber hinaus soll unter dem Leitbild „Mehr Grün, weniger Dichte“ (Kapitel C.3.3.1)
der zur quantitativen Konsolidierung erforderliche Rückbau als eine Chance wahrgenommen werden, neue Freiraumstrukturen und familienfreundliche Bauformen in der
Stadt zu etablieren (Stadt Leipzig 2000, S. 70 f.).215
Im Zentrum der Stadterneuerungsstrategie stand zunächst die Rettung und Erhaltung
des Gründerzeitgürtels. Dabei spielte die Verbesserung der wohnungsnahen Freiraumversorgung von Anfang an eine große Rolle: „Die Herausbildung neuer städtebaulicher
Strukturen mit deutlich geringerer Dichte und höherem Grünanteil ist erforderlich“
(ebd., S. 69). Das Ziel der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit innerstädtischer
Stadtquartiere sollte unter anderem dadurch erreicht werden, dass „... Entleerungsund Verfallsprozesse zu gezieltem Rückbau [gewandelt werden sollen], der durch mehr
Grün zur Qualitätssteigerung in den Stadtteilen beiträgt“ (Stadt Leipzig 2004a, S. 22).
In dem Jahr 2000 aufgestellten Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung, Teilplan Stadterneuerung (STEP W+S, TP Stadterneuerung) wurden die strategischen Ansätze für die Gründerzeitgebiete in eine blockweise Zielformulierung übersetzt (Stadt Leipzig 2000). Die Bewertungskriterien im Rahmen der Analyse der einzelnen Quartiere enthalten dabei keine expliziten freiraumplanerischen Aspekte (ebd.,
S. 74 f.) – wenngleich diese in einzelnen Zielformulierungen durchaus eine Rolle spielen. In der Fortschreibung des Teilplans im Jahr 2003 wird verstärkt auf die neuen
Bedingungen der Städtebauförderung, der Einwohnerentwicklung und der
Leerstandsentwicklung eingegangen (Stadt Leipzig 2003c). Aufgrund des strukturellen
Wohnungsleerstandes wird klar, dass nicht mehr alle Altbauten und entsprechend der
215
Das jährliche 1000-Bäume-Programm, das Angebot zur Unterstützung von Hof- und Baulückenbegrünungen durch Beraterarchitekten, der Ideenwettbewerb „Grün in die Gründerzeit“ (1999)
und Zwischennutzungen auf Brachflächen stellen dabei Initiale der Umsetzung des Ziels einer positiven Freiraumentwicklung dar (Stadt Leipzig 2000, S. 9, 70 f.).
337
338
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
geschlossene Block als städtebauliche Leitvorstellung erhalten werden können. In der
Konsequenz bietet dies „… die Chance zur Steigerung der Wohnumfeldqualität und
der Attraktivität der Altbauquartiere“ (Stadt Leipzig 2003c, o. S.). Dem Problemdruck
entsprechend wurden die Gebietskategorien angepasst. Insbesondere in der Kategorie
„Umstrukturierungsgebiet mit Priorität“ sollen kurz- und mittelfristige Strukturveränderungen auch durch die Entwicklung übergeordneter Freiräume umgesetzt werden.
In „Bestandsanpassungsgebieten“ geht es eher um die kleinräumige Freiraumentwicklung (ebd.). Trotz mangelnder analytischer Durchdringung ist die Spannbreite der
erfolgten freiraumplanerischen Maßnahmen in Stadterneuerungsgebieten – von einzelnen Baulückenbegrünungen bis zu großen Stadtteilparks – groß.
Für die beiden bisher vordringlichsten Problem- und Stadtumbauschwerpunkte Leipziger Osten und Leipziger Westen wurden auf der Grundlage des STEP W+S, Teilplan
Stadterneuerung Konzeptionelle Stadtteilpläne (KSP LeO und KSP West)216 erstellt.
Die zunächst für die Stadterneuerung formulierten Ziele liegen dabei auch der Strategie des Stadtumbaus in den Altbaubeständen der inneren Stadt zu Grunde. Im Rahmen der KSPs werden freiraumplanerische Maßnahmen in großem Umfang und sehr
differenziert eingesetzt, um die Stadtumbau- und Stadterneuerungsaufgaben in den
Quartieren zu bewältigen. Dabei wurden durch das Grünflächenamt die freiraumplanerischen Belange über die Mitarbeit an den Analysesteckbriefen (KSP West) bzw.
über die Formulierung eigenständiger informeller Freiraumkonzepte (KSP Ost) in die
Konzepte eingebracht (IL3).
Neue Freiräume im Leipziger Osten
Stadtumbau und Stadterneuerung als Teilaspekt einer integrierten Entwicklungsstrategie im Leipziger Osten setzen vor allem auf die Aktivierung, Qualifizierung und Erweiterung des öffentlich nutzbaren Freiraums. Schon früh wurde im Rahmen der Bestrebungen zur Stadterneuerung – viele Stadtteile des Leipziger Ostens wurden als Sanierungsgebiet ausgewiesen – auf die Erneuerung bzw. Schaffung von öffentlichen Parkanlagen und Plätzen sowie die Begrünung von Innenhöfen und Straßen gesetzt. Dieses
Potenzial des „Grünen Grundgerüsts“ aus bestehenden Grün- und Freiflächen mit
216
Die als Stadtratsbeschluss verabschiedeten Konzepte stellen einen strategischen und zugleich
konkreten Rahmen für die kurzfristige Umsetzung von Maßnahmen und den effizienten Einsatz
von Fördermitteln dar. Auf der Basis eines langfristigen räumlichen Leitbildes bzw. einer Vision
werden kurz- und mittelfristige Handlungsschwerpunkte definiert. Dies liefert zum einen den gemeinsamen Orientierungsrahmen für die Akteure im Stadtteil – Investoren und Bewohner – und
zum anderen Planungs- und Investitionssicherheit (Stadt Leipzig 2003a). Die Pläne mit einem Horizont von ca. 20 Jahren zeichnen sich durch eine Prozesshaftigkeit und den Verzicht auf parzellenscharfe städtebauliche Vorgaben – im Unterschied zu klassischen städtebaulichen Rahmenplänen –
aus. Dabei werden für Blöcke bzw. abgrenzbare Quartiere planerische Zielrichtungen formuliert
(Stadt Leipzig 2005a, S. 8).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
dem zentralen Freizeitpark (Rabet) soll im Stadtumbau genutzt, und insbesondere im
Hinblick auf eine Vernetzung weiterentwickelt werden (Stadt Leipzig 2005b, S. 4).
In Bezug auf die auch im Konzeptionellen Stadtteilplan für den Leipziger Osten (KSP
LeO) verankerte Entwicklungsstrategie wird auf die Potenziale der Grünentwicklung
für einen zukunftsfähigen und konkurrenzfähigen Stadtteil hingewiesen, aber gleichzeitig betont, dass „der Leipziger Osten […] dabei weiterhin ein urbanes Wohnquartier [bleibt], in der die gebaute Umwelt struktur- und identitätsprägend sein wird“
(ebd., S. 2). Es wird die Frage aufgeworfen, wie „… der Stadtteil mit einem höheren
Freiflächenangebot zukunfts- und marktfähig gemacht werden [kann], ohne dass sich
unverwechselbare städtebauliche und soziokulturelle Rahmenbedingungen auflösen
und die ‚Peripherie weiter einsickert’ “ (ebd., S. 2). Das Bestreben zum Erhalt des städtebaulichen Kontinuums wird deutlich.
Dem Grundverständnis des KSP LeO217 als eine „städtebaulich-grünordnerischen Rahmenplanung“ (ebd., S. 5) folgend, stehen freiraumplanerische Ziele und Maßnahmen
im Mittelpunkt des Konzeptes.218 Die Stadtumbaukategorien zeigen die hohe Bedeutung und die Vielfalt freiraumplanerischer Maßnahmen. Abhängig von der Stadtumbaustrategie in den einzelnen Gebieten kommen verschiedene Ansätze der Freiraumplanung zum Tragen. Grundsätzlich lässt sich dabei zwischen kleinräumigen, meist
temporären, und flächigen, dauerhaft angedachten, Maßnahmen unterscheiden. In
den Kategorien Konsolidierungs-, Potenzial- und Sicherungsgebiet geht es vor allem
um eine kleinräumige Aufwertung des Wohnumfeldes und des öffentlichen Raumes
und die Ergänzung mit neuen Freiraumangeboten. In den durch hohen Leerstand, aber
weitgehend erhaltenswürdige Stadt- und Baustrukturen gekennzeichneten Perforationsgebieten soll die hohe bauliche Dichte durch Einzelabbrüche und die Nachnutzung
der Abrissgrundstücke durch Zwischennutzungen oder Freiräume reduziert werden.
Rückbaugebiete weisen eine differenzierte Stadtstruktur mit Leerständen und unterschiedlichen Dichten auf. Hier soll eine flächenhafte Entdichtung zur dauerhaften
Schaffung und Vernetzung von Freiräumen beitragen (Stadt Leipzig 2003a, S. 26).
Es wird auf Interimsbegrünungen zusätzlich zum Ausbau eines dauerhaften Freiflächenverbundes gesetzt. In diesem Sinne sollen die historisch vorhandenen und in den
letzten Jahren neu geschaffenen zentralen Parkanlagen „… durch ein Netz von dauer-
217
Der KSP Ost basiert auf einer Reihe vorlaufender Planungsaktivitäten: Die Ergebnisse eines kooperativen Gutachterverfahrens „Visionen für den Leipziger Osten“ (2001; Stadt Leipzig 2003a,
S. 14 ff.) wurden in einem Planungshandbuch als Vorstufe zum KSP (Stadt Leipzig 2001b) zusammengefasst. Weiterhin wurde mit einer Machbarkeitsstudie eine räumliche Vertiefung im Bereich
des „Grünen RietzschkeBandes“ (BGMR 2002) als zentralen Umbaubereich erstellt.
218
In einer ersten Stufe bis 2010 wird von einem Rückbauvolumen von bis zu 10 % ausgegangen –
konzentriert auf die Entwicklung des „Grünen Rietzschkebandes“. In Abhängigkeit von der dann
anzutreffenden Situation kann bis 2020 die zweite Stufe mit einem Rückbauvolumen von bis zu
30 % angegangen werden (Stadt Leipzig 2003a, S. 26 f.).
339
340
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
haften und befristeten Freiräumen ergänzt und aufgewertet werden“ (Stadt Leipzig
2005b, S. 6). Mit einer Vernetzung wird auch auf grüne Wegebeziehungen und eine
bessere Erreichbarkeit abgezielt. Die Impulse der Stadtumbaustrategie für den Leipziger Osten sind – neben imageprägenden neuen Wohnformen und innovativen Gewerbeansiedlungen – vor allem in der „Neukodierung der Grün- und Freiräume“ zu
suchen, die hier auch als „konzeptionelle Stärke“ zu verstehen sind (Stadt Leipzig
2006b, S. 19).219 Diese Forderungen der Stadtumbaustrategie im Leipziger Osten werden durch ein dezidiertes Freiraumkonzept untersetzt, welches eine große Bandbreite
von Freiraumtypen vorsieht (Abbildung 63).
Abbildung 63: Neue Freiräume im Leipziger Osten (Stadt Leipzig 2005b, S. 10).
Grüne Infrastruktur im Leipziger Westen
Die Erneuerungsbestrebungen im Leipziger Westen sind seit Beginn darauf ausgerichtet, mit Investitionen in den öffentlichen Freiraum, private Folgeinvestitionen zu aktivieren. Die Aufwertung des Karl-Heine-Kanals, der Stadtteilpark Plagwitz (Abbildung
64) sowie die „grünen Gleise“ stellen freiraumplanerische Maßnahmen dar, die – in
einem für solche Qualitäten eher unbekannten Stadtteil Leipzigs – für einen (ganz
bewussten) Imagewandel sorgten. Bisher für die verkehrliche Erschließung (Kanal,
Verladestation, Bahngleise) genutzte Flächen wurden in tatsächlich „grüne Infrastruk-
219
2004 konnte mit 3.000 m² neuer und aufgewerteter, öffentlich nutzbarer Grünfläche und 1.250
neu gepflanzten Bäumen erfolgreich Bilanz gezogen werden. Der Anteil hat sich entsprechend des
Fortgangs des Stadtumbaus stetig erhöht (Stadt Leipzig 2005b, S. 18).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
tur“ umgewandelt (Stadt Leipzig 1999). Auch in der Fortführung der Stadterneuerungsstrategie im Rahmen des Konzeptionellen Stadtteilplans für den Leipziger Westen (KSP West) spielen freiraumplanerische Stadtumbauansätze eine große Rolle. Die
Entwicklung der künftigen Bebauungs- und Freiraumstruktur beinhaltet folgende Zielvorstellungen (Stadt Leipzig 2005a, S. 23 f.):
‚ Die identitätsprägende und außenwirksame Blockrandstruktur des Stadtteils wird
erhalten und stabilisiert.
‚ Die fortschreitende Auflösung und strukturelle Mängel in exponierten Bereichen
bieten Potenziale für Rückbau und eine qualifizierende Freiraumentwicklung sowie
bedarfsabhängig auch städtebauliche Akzentuierungen. Maßnahmen der Freiraumentwicklung sollen zur Ausprägung neuer Raumbilder und als zeitgemäße Interpretation öffentlicher Orte zur Stärkung des Stadtteils beitragen (Abbildung 65).
‚ Die Umstrukturierung soll zur Etablierung neuer Wohnadressen mit neuen Wohnformen und qualitätsvollen öffentlichen Freiräumen genutzt werden.
Abbildung 64: Stadtteilpark Plagwitz auf der
ehemaligen Verladestation und Aufwertung
des Karl-Heine-Kanals als Initial der
Revitalisierung des Stadtteils.
Abbildung 65: Henriettenpark.220
Die Bedeutung freiraumplanerischer Maßnahmen wird in nahezu allen Stadtumbaukategorien deutlich – auch in Konsequenz des angestrebten Rückbauvolumens bis 2020
von 3.000-4.5000 WE (entspricht 10-15 % des heutigen Wohnungsbestandes). Insbesondere in folgenden Kategorien221 wird bewusst auf die Potenziale der Freiraumentwicklung abgezielt (Stadt Leipzig 2005a, S. 19 ff.):
220
Beispiel für die Nachnutzung eines entkernten Blockinnenbereichs in einem für den Leipziger Westen typischen gemischten Wohn- und Gewerbestandort. Die Maßnahme zeigt bereits deutlich stabilisierende Effekte auf die umgebende Wohnbebauung.
221
Daneben gibt es die Kategorien: Kontinuität, Stabilisierung, Perforation mit zusätzlichen Stabilisierungsmaßnahmen, Reduzierung, Neubebauung geringer Dichte, Neubebauung mit besonderer
Funktion, Gewerbenutzung (Stadt Leipzig 2005a, S. 19 ff.).
341
342
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
‚ Perforation: Durch die punktuelle oder starke Öffnung der Blockkante durch den
Abbruch unsanierter und überflüssiger Wohngebäude entstehende Potenziale sollen
zur Durchwegung und Wohnumfeldverbesserung genutzt werden.
‚ Reduzierung und Neuanlage Freiraum: In einigen Gebieten soll durch den vorrangigen und koordinierten Rückbau von unsaniertem und leer stehendem Gebäudebestand die Reduzierung des Überangebotes und die Anlage öffentlich nutzbarer Freiräume erreicht werden.
‚ Wege- und Grünverbindungen: Die neu entstehenden Freiräume und Blockdurchwegungen werden zur Ausweitung und Vernetzung des Freiraumsystems mit unterschiedlichen Nutzungs- und Öffentlichkeitsgraden genutzt. Mit dem „GleisGrünZug“ sollen auf entwidmeten Bahnflächen dauerhafte, extensive Grünflächen gestaltet werden (Stadt Leipzig 2005a, S. 31).
Zur Konkretisierung der Stadtumbauziele werden kurz- bis mittelfristige Handlungsschwerpunkte in Aktionsfeldern entsprechend räumlicher und strategischer Prioritäten
im Plan verortet und umsetzungsbezogen beschrieben. In den Aktionsfeldern spielen
entsprechend der übergeordneten Zielstellungen auch freiraumplanerische Maßnahmen eine große Rolle. Insbesondere für das „Gewerbegebiet Plagwitz“ sollen durch
die dauerhafte Gliederung und Rahmung des Gebietes mittels Grünräumen sowie die
temporäre Begrünung potenzieller Gewerbeflächen die stadträumlichen Standortbedingungen für die Ansiedlung von innovativem Gewerbe verbessert werden (ebd.,
S. 30). Diese stark freiraumplanerisch ausgerichtete Strategie macht dabei durchaus
„aus der Not eine Tugend“ (ebd., S. 32): Die ohnehin anstehenden Aufgaben bei der
Bewältigung des Leerstandes und des Abrisses sollen räumlich so verortet werden, dass
die Ränder zurückgebaut werden und damit das Quartier gestärkt wird. Der geplante
grüne Rahmen soll zusammen mit der grünen Mittelachse der inneren Gliederung, der
stadträumlichen und -gestalterischen Aufwertung sowie als übergeordnetes Bindeglied
des Gebietes dienen.
Freiräume im Stadtumbau der Großwohnsiedlung Leipzig-Grünau
Die Bestrebungen zur Aufwertung und Weiterentwicklung der am stärksten von
Schrumpfung betroffenen Leipziger Großwohnsiedlung sind seit Beginn vor allem auf
den öffentlichen Raum und das Wohnumfeld fokussiert. Mit der Leerstandsproblematik änderte sich die Stadtentwicklungsstrategie in Richtung des Rückbaus überflüssigen Wohnungsbestandes. Die Steuerung des Stadtumbaus in den Großsiedlungen
und speziell in Grünau fußt dabei auf mehreren formellen und informellen Instrumenten und Ansätzen:
Folgend auf die ersten beiden Teilpläne des STEP W+S wurde im Jahr 2002 der
Teilplan Großsiedlungen erstellt. Der Weiterbau der Plattenbaustandorte zu „… grünen Wohnsiedlungen mit verringerter Dichte …“ (Stadt Leipzig 2000, S. 12) wird als
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
zentrale Aufgabe angesehen. Insbesondere in der Großsiedlung Grünau gilt, dass sich
die Weiterentwicklung einer doppelten Herausforderung stellen muss: (1) weitere
Sanierung und Umfeldverbesserung und (2) Rückbau und städtebaulich gesteuerter
Abriss (Stadt Leipzig 2000, S. 12). Die Freiflächenversorgung erhält bei der Bewertung
der einzelnen Quartiere im STEP ein besonderes Gewicht (Stadt Leipzig 2002a, S. 22).
Damit wird die Qualität des „Wohnens im Grünen“ im Gegensatz zu innerstädtischen
Wohnstandorten als Konkurrenzmerkmal herausgestellt. Der Abbruch von Gebäuden
mit geringer Lagegunst und Bewohnerakzeptanz bietet die Chance, benachbarte
Wohnlagen aufzuwerten und Freiflächenpotenziale zur Wohnumfeldverbesserung zu
nutzen. Das Maßnahmenspektrum im Rahmen des STEP zeigt deutlich den Fokus auf
freiraumplanerische Maßnahmen (Stadt Leipzig 2001a): Flächenarrondierung, Stärkung der Landschaftsbezüge, Verbesserung der Verknüpfung mit dem Naherholungsgebiet; Vernetzung, Neustrukturierung und Aufwertung vorhandener Freiflächen;
Schaffung neuer Freiflächen zur Aufwertung des Wohnumfeldes; Herstellung öffentlicher, durchgängiger Grünverbindungen.
Darüber hinaus gab es zu Beginn des Stadtumbauprozesses in Grünau keine übergeordnete städtebauliche oder freiraumplanerische Strategie, wie sich der Rückbau langfristig auf eine neue räumliche Struktur auswirken kann oder soll (IL5). In einer ersten
Stadtumbauphase wurden vor allem Punkthochhäuser zurückgebaut, was kaum Auswirkungen auf die Freiflächensituation und die städtebauliche Struktur hatte – wenngleich sich das Fehlen der baulichen Dominanten durchaus bemerkbar macht. Freiraumplanerische Projekte dieser Zeit waren in Bezug auf Gestalt und Funktionalität
sehr ambitioniert. Sie sollten trotz Rückbau ein positives Signal setzen (Abbildung 66).
Abbildung 66: Park 5.1: Nachnutzung einer
Abrissfläche eines 16-geschossigen
Punkthochhauses mit einer Skaterbahn.
Abbildung 67: Einfache Freiraumgestaltung
auf einer Abrissfläche.
In der Folgezeit führte der Rückbau zu einer wahrnehmbaren Entdichtung des städtebaulichen Rasters. Die entstehenden Freiflächen werden dem Gebäudebestand zugeordnet. Meist wird auf den Flächen eine Rasenansaat oder einfache Gestaltung vorgenommen. Die Flächeneigentümer sind zu höherwertigen Maßnahmen auch im Rahmen des staatlich geförderten Rückbaus bzw. der Aufwertung nicht verpflichtbar
343
344
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
(Abbildung 67). Ist bei wenigen Ausnahmen eine intensivere Gestaltung oder Nutzung
vorgesehen, müssen öffentliche Mittel eingesetzt werden (IL5).
Vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen, geringer werdender Steuerungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand und wachsender Interessenskonflikte um
die Zukunft Grünaus sowie der zunehmend als unbefriedigend wahrgenommenen
Stadtumbaupraxis wurde die Entwicklungsstrategie Grünau 2020 auf den Weg gebracht. Sie soll als eine gemeinsame, langfristige strategische Orientierung zum weiteren Stadtumbau dienen. Dabei sind langfristige gesamträumliche Vorstellungen für die
städtebauliche und freiräumliche Struktur der Siedlung für künftige Aufwertungsbestrebungen unabdingbar (IL5). Das Ziel, den Leerstand bis zum Jahr 2015 dauerhaft
auf ca. 10 % zu reduzieren, soll mit einem weiteren Rückbau von ca. 7.000 WE erreicht werden. Durch die räumliche Konzentration und flächenhafte Umsetzung des
Rückbaus sollen (1) die Effizienz der technischen Infrastruktur, (2) die gute Erreichbarkeit der Angebote der sozialen Infrastruktur und (3) „überschaubare öffentliche Räume zur Erhaltung von Wohnumfeldqualität und Sicherheitsgefühl“ erhalten werden
(Stadt Leipzig 2007b, S. 6). Die Entwicklungsziele für den Stadtteil umfassen vielfältige
Themenfelder. Das freiraumplanerische Ziel „Grünräume vernetzen“ wird durch folgende Vorstellungen konkretisiert (ebd.):
‚ Weiterentwicklung der Alten Salzstraße zwischen dem Leipziger Westen und dem
Naherholungsgebiet Kulkwitzer See
‚ Nutzung des Stadtumbaus für „Grüne Mitten“ in den Wohnkomplexen
‚ Vernetzung neuer extensiv genutzter Freiräume an den Rändern Grünaus mit der
angrenzenden Landschaft
Schwerpunkt des Konzeptes ist die räumliche Verortung zweier unterschiedlicher
Stadtumbaustrategien, die jeweils spezifische Potenziale und Anforderungen an die
Freiraumentwicklung stellen (Abbildung 68):
Der Kernbereich umfasst die stadtnahen Wohnkomplexe. Sie stellen mit ca. 13.000
WE stabile und weiter zu stabilisierende Quartiere dar, in denen u. a. durch eine weitere Wohnumfeldaufwertung, das heißt eher klassische freiraumplanerische Maßnahmen
(IL5), der Wohnungsleerstand künftig auf weniger als 10 % gesenkt werden soll. In
diesen Bereichen sollen nur noch bereits zugesagte Abrisse vorgenommen und ab
2008/09 keine weiteren Abrisse mehr genehmigt werden (ebd., S. 9).
Die notwendige Reduzierung des Wohnungsbestandes soll im Stadtumbaugürtel flächenhafter, aber nicht flächendeckend konzentriert werden. Die nördlich und westlich
des Kernbereichs gelegenen Wohnkomplexe weisen in ihren insgesamt ca. 18.000 WE
sehr unterschiedliche Leerstandsverteilungen auf. Stabile und attraktive Bestände befinden sich in enger räumlicher Nähe zu Wohnblöcken mit hohen Leerständen. Als
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Konsequenz dieser sehr heterogenen Struktur werden innerhalb des Stadtumbaugürtels (1) Stabilisierungskerne und (2) Rückbaugebiete unterschieden.222
Abbildung 68: Strategieplan Grünau 2020 (Wüstenrot Haus- und Städtebau GmbH in Stadt
Leipzig 2007b).
(1) Stabilisierungskerne: Durch Investitionen in den Wohnungsbestand und das nähere
Wohnumfeld sind kleinräumig attraktive und beliebte Quartiere entstanden, die mittelfristig zu erhalten sind. Auch in diesen Bereichen wird kein weiterer Rückbau stattfinden, allerdings können durch benachbarte Abrisse „… Qualitäten neuer urbaner Stadtlandschaften …“ entstehen (Stadt Leipzig 2007b, S. 9). (2) Rückbaubereiche: Ziel
künftiger Bestandsreduzierungen ist es, den Rückbau flächenhaft durchzuführen und
stadtökonomisch, das heißt aus Sicht der technischen Infrastruktur effizient, zu verorten. Die zusammenhängenden Rückbauflächen sollen vor allem als dauerhafte Grünräume nachgenutzt und teilweise auch als Wohnbaupotenzialflächen vorgehalten
werden (ebd., S. 10).
Betrachtet man die bereits aktuell sichtbaren räumlichen Konsequenzen des Rückbaus
so wird deutlich, dass diese Vorhaben zu erheblichen Dimensionen der Freiflächen
führen werden und neue Anforderungen an die Verwertung der Flächen stellen (IL5).
Dies verlangt eine freiraumplanerische Strategie für Grünau. Als Vertiefung der Ent222
Die westlichen Wohnkomplexe 7 und 8 sind darüber hinaus als förmliches Sanierungsgebiet im
vereinfachten Verfahren, das heißt mit Ausnahme der §§ 152-156a BauGB festgelegt (Stadt Leipzig 2002b, S. 32). Damit steht das rechtliche Instrumentarium eines Sanierungsgebietes zu Verfügung und ein Sanierungsträger konnte im Gebiet eingesetzt werden (das heißt Sanierungsgebiet
ohne Finanzmittel, und der Sanierungsträger führt den Stadtumbau durch, IL5).
345
346
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
wicklungsstrategie Grünau 2020 wird aktuell ein Grünstrukturkonzept entwickelt (Kapitel C.3.3.3). Allerdings erschwert die geringe Planungssicherheit die Formulierung
einer übergeordneten Grünstrategie, da bisher nicht absehbar ist, an welcher Stelle
tatsächlich mit frei werdenden Flächen gerechnet werden kann (IL5). Darüber hinaus
hat das Konzept keine bindende Wirkung.
3.3.3 Strategien der Freiraumplanung
Formelle Instrumente
Im Landschaftsplan der Stadt Leipzig werden wichtige Aussagen zur Entwicklung eines
Freiraumsystems sowie der Erholungseignung und -vorsorge verschiedener Stadträume
getroffen. Hinsichtlich der Erholungsvorsorge wird das Ziel verfolgt, ein „... feinmaschiges und differenziertes Netz aus Angeboten ...“ sowohl im Siedlungs- als auch im
Außenbereich zu schaffen und den bebauten Stadträumen und Grüngebieten zuzuordnen (Stadt Leipzig 2001c, S. 59). Im Integrierten Entwicklungskonzept des Landschaftsplans wurden 12 Landschaftsbildtypen differenziert und diesen jeweils landschaftsräumliche Leitbilder zugeordnet, welche die Zielaussagen zu den Schutzgütern
verdichten und konkrete räumliche Handlungsziele formulieren. Für den Stadtumbau
sind folgende Leitbilder und Handlungsziele besonders relevant (ebd., S. 77 ff.):
In den Freiräumen der städtischen Großsiedlungsgebiete soll die großzügige Freiraumausstattung mit Mitteln der Freiflächengestaltung (raumbildende Straßenbaumpflanzungen, grüne Quartiersplätze, Erhöhung des Baumanteils) erhalten, gesichert und
entwickelt werden. Durch die Schaffung von weiträumigen Grünverbindungen sollen
die landschaftliche Einbindung, die Erholungsinfrastruktur und der Biotopverbund
verbessert werden. Darüber hinaus sollen durch die Freiraumgestaltung prägnante
Identifikationsmerkmale und eine hohe raumordnerische Qualität geschaffen werden.
Für die innerstädtischen Freiräume der offenen und geschlossenen Blockrandbebauung sollen durch begrünte Innenhöfe, Fassaden und Dächer, die Einbeziehung von
Fließgewässerabschnitten und durch Straßenbäume die Aufenthalts- und Stadtbildqualität entwickelt, gesichert und verbessert werden. Über die Einbeziehung wohnungsnaher Grünflächen sollen Verbindung zu Parkanlagen und Stadtplätzen hergestellt und
diese in das Grün- und Wegesystem der Stadt eingebunden werden.
Im Rahmen der Neuaufstellung des Landschaftsplans soll auf die gewandelten „Nutzungsansprüche an Natur und (Stadt-)Landschaft“ reagiert werden (Stadt Leipzig
2006a, o. S.): „An der Peripherie entstehen entlang neuer Verkehrsachsen weitere
Gewerbeflächen, im Rahmen des Stadtumbaus wird überschüssiger Wohnraum rückgebaut. […] Nicht zuletzt wird die künftige Bevölkerungsentwicklung zeigen, wie weit
der Stadtumbauprozess fortschreitet und in welchem Maße die Landschaftsplanung
darauf reagieren muss“ (ebd., o. S.). Es wird deutlich, dass der Stadtumbau von Seiten
der Landschaftsplanung explizit als Handlungsfeld erkannt und beansprucht wird.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Insbesondere sind folgende Zielstellungen zur Entwicklung des Landschaftsbildes hervorzuheben: „Um den Erhalt landschaftsbildprägender Freiräume zu sichern, darf das
Grünsystem einschließlich der Agrarlandschaft nicht durch die fortschreitende Zersiedelung und Zerschneidung der Landschaft überformt werden. Gleichzeitig gilt es, neue
Konzepte für Bereiche, die für eine Bebauung nicht mehr in Betracht kommen, zu
erstellen und diese sinnvoll in das vorhandene Grünsystem zu integrieren. […] Ein
Verbundsystem aus Grünflächen bezieht auch […] gestalterisch begrünte Brachen mit
ein“ (Stadt Leipzig 2006a, o. S.).
Die Lenkung von Kompensationsmaßnahmen in Stadtumbaubereiche als Mittel der
Finanzierung neu entstehender Freiräume wird im Rahmen der Ausgleichsflächenkonzeption grundsätzlich vorbereitet (siehe Kapitel B.4.3.3). Dementsprechend werden
neben Schlüsselprojekten des „Grünen Rings“ vor allem die Gebiete der Konzeptionellen Stadtteilpläne (Leipziger Osten und Westen) und der Stadtumbaugürtel in LeipzigGrünau als Schwerpunktbereiche für evtl. anfallende Ausgleichsmaßnahmen ausgewiesen. Sollten im Falle eines Eingriffs nach Prüfung auch räumlich entkoppelte Maßnahmen in Frage kommen, so sollten diese vorrangig in den freiraumplanerisch zu entwickelnden Gebieten umgesetzt werden (ebd., o. S.).
Die Erholungskonzeption als separater Fachplan zum Landschaftsplan ist eine verwaltungsinterne Entscheidungsgrundlage auf der Ebene der Stadtbezirke, Stadtteile und
einzelner Grünflächen. Dabei werden für alle Stadtteile die Versorgung mit Grünflächen, die Qualität des Stadt- und Landschaftsbildes und Entwicklungsvorschläge für
Erholungsflächen dargestellt. Weiterhin werden die größeren Grünflächen bewertet
und Maßnahmen für deren Aufwertung abgeleitet. Grundlage der räumlichen Erholungskonzeption ist das Leitbild des Ring-Radialen-Systems (siehe unten) (Stadt Leipzig
2004a, S. 75).
Freiraumsystem
Als strategisches Ziel der Stadt Leipzig und wichtige Zielaussage im Landschaftsplan
wird genannt „... ein regionales Grünsystem aus Ringen und vernetzenden Radialen
aufzubauen“ (ebd., S. 52). Das Ring-Radialen-System als prägendes Element der Stadt
soll dabei aus folgenden Elementen gebildet werden (Stadt Leipzig 2006a, o. S.):
(1) Promenadenring: Grünring um das Stadtzentrum
(2) Stadtring: Grünverbindung entlang der Stadtgrenze
(3) Stadt-Umland-Ring: angrenzende Landschaftsräume (Auwald, Tagebaufolgelandschaften, Agrarlandschaft)223
223
Die Freiraumentwicklung am Stadtrand und mit der Region wird durch den „Grünen Ring“ als
freiwilligen Zusammenschluss der Stadt Leipzig und ihren Umlandkommunen befördert.
347
348
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
(4) Radialen: Auenbereiche und neu entstehende Grünverbindungen auf aufgegeben
Gleisanlagen
Es gibt vier charakteristische Landschaftsräume als Bestandteile des Leipziger Grünsystems: das Fließgewässersystem mit den Flussauen und dem Auwald, die bebauten
Stadträume, das agrarisch geprägte Offenland und die Bergbaufolgelandschaften mit
der entstehenden Seenplatte. Das Gesamtsystem wird durch weitere Subsysteme auf
Stadtteilebene ergänzt (ebd.). Im Rahmen der Fortschreibung des Landschaftsplans
und als Reaktion auf die jeweiligen Planungserfordernisse wird das Freiraumsystem
kontinuierlich fortentwickelt (Abbildung 69) und als Angebot bzw. Grundlage für die
Stadtplanung vorgehalten (IL4).
Das Grünsystem als Modell und
gleichzeitig „Leitbild der städtischen Freiraumentwicklung“
(Stadt Leipzig 2006a, o. S.) kann
dabei langfristig im Rahmen des
Stadtumbaus realisiert werden.
Dafür sollen seine Elemente durch
die Einbeziehung und Gestaltung
brachgefallener Flächen schrittweise ergänzt werden (Stadt Leipzig 2001d, o. S.). Zwischen den
einzelnen Ringen sollen Grünzüge
auf aufgegebenen Gleisanlagen, in
Stadtumbaugebieten und durch
größere Parkanlagen Verbindungen herstellen. Darüber hinaus gilt
es, die vorhandenen Grünzüge
gestalterisch und funktional aufzuwerten und deren Zugänglichkeit zu verbessern (Stadt Leipzig
2004a, S. 53 f.).
Abbildung 69: Modell des Freiraumsystems der Stadt
Leipzig (Stadt Leipzig 2006a; Stadt Leipzig 2004a,
S. 78).
Freiraumplanerische Konzepte auf gesamtstädtischer Ebene
Das Themenfeld „Grün- und Freiraumentwicklung“ ist einer von vier thematischen
Schwerpunkten im Planwerk Stadtraum. Das gesamtstädtische Grünsystem der Stadt
mit der ganzen Vielfalt unterschiedlicher Freiräume wird als große Qualität verstanden.
In der Analyse des vorhandenen Freiraumangebotes werden „urban geprägte Freiräume“ (Parks, Friedhöfe, Sportflächen, Kleingärten) und „landschaftlich geprägte Freiräume“ (Auen, Acker- und Bergbaufolgelandschaften) unterschieden (Stadt Leipzig
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
2006b, S. 25 ff.). Die Schwerpunkte der Freiraumentwicklung werden in folgende
sieben Strategien differenziert (Stadt Leipzig 2006b, S. 32):
‚ Sicherung und Aufwertung der „Urbanen Freiräume“ mit einer hohen kulturhistorischen Bedeutung
‚ Schaffung neuer Grünzüge zur Vervollständigung des stadtübergreifenden Grünsystems („Grüne Bänder“)
‚ Sicherung, Vervollständigung und Aufwertung der Auenlandschaft für den Naturschutz sowie die Erholung
‚ Rekultivierung der Tagebaufolgelandschaften für Freizeit, Tourismus sowie Naturschutz
‚ Entwicklung und Neukodierung der nicht mehr primär als Agrarlandschaft genutzten Räume im Norden der Stadt
‚ Herstellen linearer Grünverbindungen entlang der Gewässer als vernetzendes Element („Blaue Bänder“)
‚ Aufwertung der stadtnahen Agrarlandschaften als Erholungsraum zur Schaffung
neuer Korrespondenzen zwischen Stadt und Umland
Das Konzept zur Freiraumentwicklung sieht für die unterschiedlichen Stadträume spezifische Entwicklungsziele vor und verfolgt dabei auch die Strategie der „punktuellen
Planung durch Projekte“, wobei einerseits schon konkrete Planungen vorliegen und
andererseits auch Potenzialräume für eine künftige Entwicklung ausgemacht werden
(ebd., S. 29): Die Gestaltung der Tagebaufolgelandschaften und der neuen Arbeitswelten folgt dem Anspruch „… Antworten auf die Frage nach Gestaltungs- und Nutzungskonzepten für zeitgemäße Kulturlandschaften zu finden“ (ebd., S. 29). Die
„Grünen und Blauen Bänder“ sollen die Verbindung zwischen den einzelnen Freiräumen gewährleisten.
Das übergeordnete Grünsystem folgt – in Anlehnung an das seitens der Landschaftsplanung formulierte Grünsystem (Abbildung 69) – dem Modell eines grünen Ringes
und in die Stadt hineinragenden grünen Fingern (Abbildung 70). Es wird mit den entsprechenden Freiraumkategorien untersetzt. So sollen einerseits die Grünflächen in der
Stadt vernetzt und anderseits Verbindungen in die umgebenden Landschaftsräume
geschaffen werden. Das Grünsystem soll durch die Vergrößerung von Waldflächen,
strukturbereichernde Gehölzpflanzungen auf Ackerflächen, die Revitalisierung von
Brachen und die Renaturierung von Gewässern erweitert werden. Im urbanen Kern
und angrenzenden Stadtbereichen gilt es Potenzialräume herauszuarbeiten, in denen
künftig Freiräume zu entwickeln sind. In Ergänzung zu den grünen Bändern sollen
Freiräume und Wegeverbindungen an den Wasserläufen entwickelt werden (ebd.,
S. 32).
349
350
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Der Stadtumbau wird als besondere Herausforderung der Freiraumplanung erkannt.
Für die Altbauquartiere wird der Anspruch formuliert, kreativ auf Leerstand, Abriss und
Brachen zu reagieren und diese als Möglichkeitsräume zu nutzen, um Impulse für die
Stadtentwicklung der in Umstrukturierung betroffenen Quartiere zu geben (Stadt
Leipzig 2006b, S. 30). Auch in den Großwohnsiedlungen soll die quantitativ reichlich
mit Freiräumen ausgestattete Siedlungsstruktur nach der Idee der Stadtlandschaft eine
qualitative Aufwertung erfahren (ebd., S. 32). Als Beispiel wird hier der „Grüne Bogen“ in der Großsiedlung Paunsdorf genannt: Das Zusammenspiel von naturnahen
Weideflächen und dem Bürgerpark als „gebauten Freiraum“ wird als angemessene
gestalterische Lösung und geeignete Antwort auf die Anforderungen vor Ort gesehen
(ebd.; ausführlicher siehe Kapitel C.3.3.4).
Abbildung 70: Konzept der Grün- und Freiraumentwicklung und Freiraumkategorien im
Planwerk Stadtraum Leipzig (Conradi, Bockhorst und Partner in Stadt Leipzig 2006b, S. 33).
Der öffentliche Raum als Träger von Urbanität wird einerseits als besonders prägend
für das Stadtbild und andererseits als durch Transformationsprozesse besonders im
Wandel begriffen, eingestuft und einer detaillierten Analyse unterzogen. „Im Rahmen
der Konzeptionierung und teilweisen Neukodierung des öffentlichen Raums wird eine
differenzierte urbane Stadtlandschaft entstehen, die die Stadt als kontinuierlich toplogisch geformte Feldstruktur interpretiert. Trotz ihrer Brüche und fragmentierter Ordnung wird Leipzig so eine Kohärenz erhalten, die über den öffentlichen Raum hergestellt wird“ (Stadt Leipzig 2006b, S. 42). Dessen Aufwertung soll dabei auch zu Quali-
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
täten führen, die eine zeitgemäße Aneignung ermöglichen und zugleich eine prägnante Gestalt darstellen: „Die Gestaltung und Nutzung offengelassener Brachen beinhaltet
Chancen und Risiken zugleich. Dem drohenden Identitätsverlust der Quartiere kann
eine Steigerung der Wohnqualitäten gegenüberstehen, indem diese Teile einer neu zu
definierenden Stadtlandschaft werden“ (Stadt Leipzig 2006b, S. 52). Den wichtigen
und großen Parkanlagen wird eine zentrale Bedeutung und ein hoher Identifikationswert zugeschrieben. Die im Stadtumbau im Kontext der perforierten Stadt entstehenden neuen (Stadt-)Plätze mit ihren temporären und künstlerischen Nutzungen stellen
dabei eine Ergänzung des Gefüges öffentlicher Räume dar (ebd., S. 38 f.).
Das innerhalb des SEKo erstellte Fachkonzept „Freiraum und Umwelt“224 beinhaltet
Aussagen zu folgenden Punkten (Stadt Leipzig 2006c, S. 2): Immissionsbelastung,
Altlasten, Hochwasserschutz, Schutzgebiete; Freiraumentwicklung (quantitativ und
qualitativ) unter Einbindung von Zwischennutzungen; Leitlinien und Prioritäten für den
Freiraum- und Gewässerverbund (Stadt Leipzig 2007c, S. 16 f.). Die Verortung der
Maßnahmen verdeutlicht den Bezug zum freiraumplanerischen Leitbild im Hinblick auf
die Entwicklung des Ring-Radialen-Systems. Stadtumbaurelevante Handlungsschwerpunkte sind dabei: der Übergang der Großsiedlung Grünau zur Landschaft; die Entwicklung des Lindenauer Hafens und Plagwitz als Stadtumbauschwerpunkt im Leipziger Westen und die Weiterentwicklung des Grünverbundes im Stadtumbaugebiet
Leipziger Osten.
Trotz klarer Zielstellungen ergeben sich aus der Bestandssituation und der künftigen
Entwicklung Handlungsspielräume, auf die weiter flexibel reagiert werden muss (IL3).
Die potenzielle Zunahme an ungenutzten Räumen und Flächen erfordert eine Überprüfung der bisherigen freiraumplanerischen Zielrichtungen (ebd., S. 14). In das Fachkonzept „Freiraum und Umwelt“ fließen Ziele und Grundlagen der Landschaftsplanung ein. Die räumlichen Handlungsschwerpunkte orientieren sich im Grunde an dem
im Landschaftsplan aufgestellten Leitbild der Freiraumentwicklung (Grünsystem und
Erholungsflächenkonzeption) (IL4).225
224
Bei der Erstellung dieses integrierten Fachkonzeptes wurden zunächst die Zielvorstellungen und
prioritären Maßnahmen der einzelnen Fachressorts auf der Grundlage bestehender Fachplanungen
gesammelt und hinsichtlich der Potenziale und Defizite und des Handlungsbedarfs bis 2013 bewertet. Diese Maßnahmen wurden dann anhand von Indikatoren evaluiert und daraus die wichtigsten
Maßnahmen(-pakete) abgeleitet. Parallel dazu wurden übergeordnete Leitlinien bzw. Kernthemen
des Fachkonzeptes erarbeitet (IL3).
225
Aber auch innerhalb der Arbeitsgruppe gibt es konkurrierende Belange – der Leitung der Arbeitsgruppe durch das Grünflächenamt ist dabei geschuldet, dass freiraumplanerische Einzelbelange zu
Lasten übergeordneter Zielstellungen der Landschaftsplanung und Umweltplanung größeres Gewicht erhalten (IL4). Es wird deutlich, dass die Diskrepanzen zwischen den einzelnen Ressorts die
Erstellungen eines auf dieser Ebene konsensfähigen Fachkonzeptes zu den „grünen Themen“ –
Freiraum und Umwelt – teilweise beeinträchtigen (IL1).
351
352
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Von Seiten der Freiraumplanung werden verschiedene freiraumplanerische Strategien
im Sinne „grüner Instrumente des Stadtumbaus“ unterschieden (Kunath 2007, S. 4):
(1) Rückbau als gezielter Abriss: Durch eine Mitsprache bei Rückbauentscheidungen
können Freiraumpotenziale bewusst genutzt und gefördert werden. Dies konnte
bisher allerdings eher selten umgesetzt werden. Mit dem Grünstrukturkonzept für
Grünau sind dahingehend neue Hoffnungen verbunden.
(2) Entwicklung neuer Stadtteilparks: Auch auf der Grundlage der im Landschaftsplan
durchgeführten Freiraumversorgungsanalyse festgestellten Defizite wurden in den
einzelnen Stadtteilen großzügige Stadtteilparks realisiert. Insbesondere in den
Stadtumbaugebieten wird, vor allem im Hinblick auf die Bebauungsoptionen, zwischen Interimsbegrünung und Dauerbegrünung unterschieden. Dauerhafte Freiraumnutzungen werden dabei stets durch eine Übernahme, das heißt Kauf der
Flächen durch die Stadt, abgesichert. Dabei spielt die langfristige Pflegbarkeit der
Anlagen eine wichtige Rolle – Maßnahmen werden nur unterstützt, wo eine dauerhafte Qualitätserhaltung möglich ist (IL3).
(3) Vernetzung ausgewählter Grünräume für die Naherholung (auch Grüner Ring):
Bei allen freiraumplanerischen Entscheidungen steht das Freiraumkonzept hinsichtlich der Ausprägung der Grünradialen und Vernetzung der Flächen untereinander
im Vordergrund.
(4) Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen für die freiraumplanerische Nachnutzung auf Rückbau- und Brachflächen in Stadtumbaugebieten
bringen zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze zu Tage.
„Grünes Rietzschkeband“ im Leipziger Osten
Zur Umsetzung der Stadtumbaustrategie im Leipziger Osten wurde mit dem Grünen
Rietzschkeband ein explizit freiraumplanerisch intendiertes Konzept erarbeitet, welches
auf das oben genannte Gutachterverfahren zum KSP LeO (Kapitel C.3.3.2) zurückgeht. In dem zentral in O-W-Richtung verlaufenden Transformationsbereich soll
„… eine neue Stadtlandschaft mit einem gegenüber den benachbarten Quartieren
deutlich höheren Freiflächenanteil“ entstehen (Stadt Leipzig 2003a, S. 28). Das Konzept zielt dabei nicht auf einen einheitlichen und durchgehenden Grünzug, sondern
auf eine Sequenz unterschiedlicher Räume – von großen zusammenhängenden Freiräumen bis zu eher baulich geprägten, aber perforierten Bereichen (Abbildung 71).
Diese beabsichtigte Gestalt spiegelt folgenden Ansatz wider: Der neue Stadtraum des
Grünen Rietzschkebandes „… ist funktional und gestalterisch Ausdruck der sich unter
den Bedingungen der Schrumpfung verändernden Stadtstruktur. Hier können sich
bebaute und nicht bebaute Teile der Stadt nicht nur quantitativ in ein neues Verhältnis
zueinander setzen, sondern sich auch in neuen Nutzungsstrukturen und Gestaltbildern
zeigen. Diese sollen ‚fremd, grotesk oder poetisch’ entwickelt werden. Auf den ersten
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Blick sind die neuen Motive irritierend, sie ermöglichen aber auch neue Perspektiven
und sollen neugierig auf den Wandel der Stadt machen“ (Stadt Leipzig 2003a, S. 28).
Abbildung 71: „Grünes Rietzschkeband“ (verändert nach BGMR in Stadt Leipzig 2005b, S. 5).
Die vielfältige Sequenz wird durch unterschiedliche Prägungen der einzelnen Umbaubereiche erreicht. Diese basieren großteils auf freiraumplanerischen Ansätzen, die sich
durch innovative Nutzungs- und Gestaltungskonzepte hervorheben (ebd., S. 29 ff.;
Abbildung 71):
‚
„Lichter Hain“ als landschaftlicher Ansatz für den Bereich des Stadtrandes
‚ „Dunkler Wald“ als Neuinterpretation des Stadteingangs mit landschaftsarchitektonischen Mitteln
‚ „Wandel auf der Parzelle“: Perforation eines Gründerzeitquartiers und kleinräumige
Durchdringung mit Gärten
‚ „Neue Stadtlandschaft“ als neues Wohnumfeld in der Plattenbausiedlung mit Wiesenband oder großflächigen Gehölz- und Staudenpflanzungen
‚ „Magnetfelder“ in Form temporärer oder dauerhafter Nutzungen: Die Magnetfelder können sehr unterschiedliche Ausprägungen erfahren, wobei auch hier die freiraumplanerischen Ansätze überwiegen. Einzelne Brachen und Baulücken werden
temporär zur Erweiterung des Nutzungsspektrums im Freiraum genutzt. Der erweiterte, umgestaltete und intensiv im Sinne eines klassischen Parks gestaltete und genutzte Rabet hat für den gesamten Stadtraum eine große Bedeutung (Stadt Leipzig
2003a, S. 31).
353
354
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
‚ „Hirschgehege“ als neue Metapher für eine große, zentral gelegene Brachfläche:
Das Bindeglied zum Stadtzentrum und die Eingangssituation zum Leipziger Osten
soll zum einen eine – zumindest temporäre – Inwertsetzung erfahren und zum anderen durch eine bewusste Inszenierung einer an dieser Stelle völlig unerwarteten
Nutzung und Gestalt auf das Schrumpfungsproblem und damit verbundene Irritationen hinweisen. Die Idee eines Geheges mit Damwild, Gucklöchern und Hochsitzen
adaptiert dabei das Bild der Wildnis, des Waldes und der Naturlandschaft im urbanen Kontext (Stadt Leipzig 2003a, S. 31).
Grünstrukturkonzept für Leipzig-Grünau
Ausgehend von den freiraumplanerischen Potenzialen, aber auch Herausforderungen
für den Stadtumbau und die Weiterentwicklung der Großsiedlung Grünau (Stadt Leipzig 2002a, S. 35) wurden im Laufe der Zeit unterschiedliche Ansätze verfolgt, eine
übergeordnete freiraumplanerische Strategie bzw. Konzeption zu entwickeln. Allerdings sind diese Ansätze räumliche oder inhaltliche Fragmente geblieben (Gartenschau
im Plattenbau226, Nachnutzungskonzept und übergeordnetes Strukturkonzept Freiraum
in der Voruntersuchung zur Ausweisung des Sanierungsgebietes, Projekt Alte Salzstraße227). Mit den zunehmend sichtbaren Auswirkungen des Rückbaus und der Probleme
der Nachnutzung sowie der in der Entwicklungsstrategie Grünau 2020 deutlich verorteten Stadtumbaustrategie (Abbildung 68, S. 345) wuchs durchaus die Erkenntnis, dass
es „großer freiraumplanerischer Formen und Aussagen“ bedarf, die vorhandenen und
zu erwartenden freiraumplanerischen Herausforderungen zu lösen (IL5): Der „… Umgang mit den im Rahmen des Rückbaus neu entstehenden Freiflächen sowie entsprechende Nachnutzungskonzepte spielen eine entscheidende Rolle für die zukünftige
Gestaltung und Entwicklung des Stadtteils“ (Stadt Leipzig 2007b, Anlage 2, S. 3). Zur
Bewältigung dieser Aufgaben soll ein Grünstrukturkonzept im Sinne einer fachlichen
Vertiefung der Strategie 2020 erarbeitet werden. Dabei werden für die Freiräume im
Kernbereich und Stadtumbaugürtel unterschiedliche Ansätze notwendig sein (IL5):
(1) Freiräume im Kernbereich: Freiraumplanerische Maßnahmen in den stabil zu haltenden Bereichen Grünaus schöpfen weitgehend aus dem bekannten Repertoire und
226
Die Idee „Gartenschau im Plattenbau“ ist ein Ergebnis des Planspiels Grünau („Großwohnsiedlungen von heute – attraktive Stadtteile von morgen“, 1997-2000 ExWoSt-Gemeinschaftsvorhaben
vom BMVBW, dem SMI und der Stadt Leipzig) und taucht bereits im Protokoll der 1. Sitzung des
Forums Grünau im Juni 1998 auf. Der Ansatz zur Bündelung freiraumplanerischer Maßnahmen
und als Imageträger der Siedlung versprach Potenziale, die neue räumliche Situation als positiven
Impuls zur Weiterentwicklung Grünaus zu nutzen.
227
Das Projekt „Alte Salzstraße“ stellt ein übergeordnetes Entwicklungskonzept für Grünau dar und
spielt in der Stadtumbaustrategie der Stadt Leipzig eine „Schlüsselrolle“ (Stadt Leipzig 2004b,
S. 3). Ziel des Projektes ist die funktionale und gestalterische Aufwertung einer historischen Wegeverbindung in Zusammenhang mit Rückbau- und Aufwertungsmaßnahmen und für eine Vernetzung der Quartiere mit dem Zentrum und dem angrenzenden Landschafts- und Erholungsraum.
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
werden mit einer staatlichen Förderung intensiv umgesetzt (IL5). Flächen, die aufgrund
in den nächsten zwei Jahren noch kleinräumig umzusetzenden Rückbaus entstehen,
sind mit Aufwertungs- und Qualifizierungsmaßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes angrenzender Bestände oder zentraler bzw. öffentlicher Bereiche in Wert zu
setzen (Stadt Leipzig 2007b, Anlage 2, S. 2).
(2) Freiräume im Stadtumbaugürtel: Für die Freiräume, die durch flächenmäßiges
Schrumpfen, vor allem am Rand im Stadtumbaugürtel entstehen, wird bei der Freiraumentwicklung das Denken in größeren Dimensionen und in anderen Nutzungsund Gestaltkategorien, insbesondere in Hinblick auf eine extensive und kostengünstige
Gestaltung nötig.
Das Grünstrukturkonzept befindet sich im Jahr 2008 noch in Erarbeitung und soll für
die einzelnen Teilbereiche Lösungsansätze ermitteln und ein übergreifendes Konzept
als verbindliche Grundlage für die weitere Entwicklung formulieren (IL5). Maßgeblich
ist dabei die Schaffung neuer Qualitäten auf Abrissflächen durch neue Landnutzungsformen und die Verbindung städtebaulicher und landschaftlicher Strukturen. Dabei ist
man sich durchaus bewusst, dass für viele der entstehenden Freiräume ein „eher landschaftlicher Charakter auch aus Kostengründen unausweichlich“ ist (IL5). Aufgrund
der sehr kurzfristigen Rückbauperspektive (derzeit zwei Jahre Vorlauf) ist es nur schwer
möglich, ein flächendeckendes Gesamtkonzept zur Freiraumentwicklung zu entwerfen.
Der Anspruch des Konzeptes ist es deshalb, Beispiellösungen im Sinne einer „Systematik abstrahierter Raumsituationen und Flächenkonstellationen“ zu entwickeln, die eine
flexible Reaktion auf die im Zuge fortschreitenden Rückbaus unterschiedlichen frei
werdenden Flächen ermöglichen und dennoch im Gesamten ein sinnvolles Konzept
darstellen (IL5). Die Ideen, die zur Gestaltung der „Abbruchlandschaft“ entwickelt
werden, sind dabei als eine Angebotsplanung für den Stadtumbau und damit als
Handlungsrahmen für die Umsetzung weiterer Maßnahmen zu sehen (IL3).
Eine wichtige Rolle für die Nachnutzungsüberlegungen stellen die freiräumlichen Potenziale der Umgebung dar: Freiraumplanerische Maßnahmen im Stadtumbaugürtel
profitieren dabei von möglichen Verbindungen zu umgebenden Naherholungsräumen,
der Verbesserung des Biotopverbundes und der Stärkung eines regionalen Grünzuges.
Neben der Umgebung bestehen auch innerhalb dieses Gürtels stabile Elemente, vor
allem in Form öffentlicher und grüner Freiräume. Neben der räumlichen Strukturierung
spielt die Frage der Nutzung und Unterhaltung dieser Flächen auch im Spannungsfeld
fehlender finanzieller Mittel eine große Rolle: Auf den nun im Überfluss vorhandenen
Flächen „kann eine neue Gartenkultur kreiert werden, die Freiflächen in Nutzung
nimmt, sie dadurch aufwertet und aneignet sowie lokale und soziale Bindungen
schafft“ (Stadt Leipzig, Büro für urbane Projekte 2005, S. 26; Beispiele hierfür im Kapitel C.3.3.4). Für viele der Flächen wird mangels aktiver Nutzung und intensiver Gestaltungsmöglichkeiten nur eine natürliche Entwicklung durch Sukzession in Frage kommen. Dabei kann es aber nicht allein darum gehen, „… die biologische Vielfalt zu
355
356
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
erkennen, sondern diese Art Landschaft in ihrem ästhetischen Reichtum und funktionalen Potenzen zu erfassen. Und sei es nur, weil wir gar keine andere Chance dazu
haben, diese Art Landschaft, die in Zukunft ohne öffentliche Pflege oder private Investitionen bleiben wird, akzeptieren zu lernen“ (Stadt Leipzig, Büro für urbane Projekte
2005, S. 26). Der Ansatz der Biomasseproduktion auf den frei werdenden Flächen
könnte zum einen eine Antwort auf die gegenwärtige Energieproblematik sein und
zum anderen bei der Frage der Mietnebenkosten für die Bewohner relevant werden
(IL2). Waldflächen können Optionen darstellen – auch vor dem Hintergrund des höheren Bodenwertes im Gegensatz zu Grünflächen (IL2; siehe Kapitel C.3.3.4).
3.3.4 Freiraumplanerische Projekte
Wie in den vorangegangenen Abschnitten dargelegt, bedienen sich Stadterneuerung
und Stadtumbau in Leipzig vielfältiger freiraumplanerischer Strategien. Dies äußert sich
auch in sehr unterschiedlichen freiraumplanerischen Projekten.
Parks
Die Aufwertung und Erweiterung vorhandener Plätze und Parkanlagen im Leipziger
Osten zielt auf die Schaffung einer „… Abfolge zusammenhängender Grün- und Freiräume […], die neben einer attraktiven Naherholung neue Wege und ökologische
Nischen in der Stadt erzeugen“ (Stadt Leipzig 2005b, S. 6; Abbildung 63, S. 340). Die
Parks dienen zum einen der Freiraumversorgung im Quartier und zum anderen der
Grünvernetzung im gesamten Leipziger Osten. Für große und dem klassischen Parkprogramm verpflichtete Anlagen stehen der Rabet228 (Abbildung 72) und der LeneVoigt-Park (Abbildung 73).
Abbildung 72: Großzügige Grünflächen im
Stadtteilpark Rabet.
228
Abbildung 73: Lene-Voigt-Park auf dem
Gelände des ehemaligen Eilenburger
Bahnhofs.
Die Neugestaltung des Stadtteilparks aus den 1970er Jahren nach dem Prinzip eines Volksparks
integriert vielfältige Sport- und Freizeitnutzungen sowie soziale Einrichtungen des Stadtteils (20042006, Umsetzung des Gewinnerentwurfs von Lützow 7 im Rahmen eines Gutachterverfahrens,
Baukosten: ca. 4,5 Mio. €).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Durch die Auflockerung der dichten Wohnquartiere sind im Rahmen der Stadterneuerung eine Reihe neuer Spielplätze und grüner Stadtplätze als Aufenthaltsbereiche im
Sinne grüner Westentaschenparks hinzugekommen (Stadt Leipzig 2005b, S. 8 f.).
Temporäre Freiräume
Der negative Einfluss von einer zunehmenden Anzahl ruinöser Gebäude und vermüllter
Brachen ohne kurzfristigen (bau-)wirtschaftlichen Verwertungsdruck auf das Wohnumfeld und damit das Image eines Quartiers soll durch temporäre freiraumplanerische
Nutzung der betroffenen Grundstücke verringert werden. Diese temporären grünen
Nutzungen folgen den Zielen „mehr Grün, weniger Dichte und damit mehr Individualität“ und sollen eine Entwicklungsdynamik im Quartier schaffen und vor allem sichtbar
machen (ebd., S. 11 f.; IL2).
Abbildung 74: Neue Wegeverbindung
(Czermaks Garten).
Abbildung 75: Temporäre Grünfläche auf einer
Gewerbebrache (Täubchen-/Gerichtsweg).
Entsprechend der Lage und Größe der einzelnen Interimsbegrünungen können Kategorien unterschieden werden (ebd., S. 12 ff.; Heck 2005b, S. 26): Durch die einfache
Begrünung und Durchwegung von Grundstücken kann die übergeordnete Grünvernetzung kurzfristig und schnell realisiert werden (Abbildung 74). Auf größeren ungenutzten Flächen können stadtteilbezogene Grünflächen entstehen (Abbildung 75).
Wohnungsnahe Grünflächen auf einzelnen Baulücken tragen zur Wohnumfeldverbesserung bei und bieten auch die Möglichkeit zur Nutzung in privater oder gemeinschaftlicher Verantwortung. Im Falle der Umsetzung der Elemente des „Grünen
Rietzschkebandes“ – dem „Dunklen Wald“ und dem „Lichten Hain“ – kommt zu den
vorhergehend genannten Funktionen noch die gestalterische Neuinterpretation der
Straßen- bzw. Blockkante nach umfangreichen Gebäudeabbrüchen hinzu. Dieses so
entstehende „dynamische Freiflächensystem“ verändert sich entsprechend der kleinräumigen Standortentwicklung (ebd., S. 12). Die temporären grünen „Einsprengsel“
wandern sozusagen im Quartier (IL2).
357
358
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Abbildung 76: Lichter Hain.
Abbildung 77: Dunkler Wald.
Interimsbegrünungen werden in Baulücken und auf Abrissgrundstücken, aber auch in
direkter Nachbarschaft dauerhafter Freiräume als (temporäre) Aufwertung und Erweiterung umgesetzt (Heck 2005b, S. 9). Insbesondere bei der Stadtumbaustrategie des
Grünen Rietzschkebandes wird auch mit neuen Freiraumtypen experimentiert:
(1) Am Stadtrand soll durch den Rückbau von Wohnhäusern die Landschaft bis an die
Wurzner Straße herangezogen werden und „… eine neue Schnittstelle zwischen
Stadt und Landschaft…“ markieren, welche durch ein „… signifikantes und zugleich zurückhaltendes Landschaftsmotiv …“ akzentuiert wird (Stadt Leipzig
2003a, S. 29). Mit dem „Lichten Hain“ wird ein Motiv der Agrarlandschaft gewählt. Die Elemente Wildwiese und – im der Stadt zugewandten Bereich – gemähter Rasen sowie inselartige Birkenhaine sollen konsequent im gesamten Bereich
angewendet werden. Um den Übergangscharakter dieses Freiraumtyps zu betonen, sollen die Baumgruppen in baumscheibenartigen kreisrund gemähten oder
mit weißem Kies ausgelegten Flächen stehen. Dadurch wird das eigentlich aus der
agrarischen Landschaft kommende Motiv soweit artifiziert, dass ein gestalterischer
Ansatz deutlich wird (Abbildung 76).
(2) Der „Dunkle Wald“ soll als unregelmäßig angeordnete, massive, dicht gepflanzte
Baumblöcke die brüchige bauliche Kante nachbilden, die zerschneidende Wirkung
der Hauptverkehrsstraße abmildern und die angrenzenden Wohnbereiche aufwerten. Das dichte und (später vielleicht) auch dunkle Kronendach soll dabei auch einen stadtstrukturellen Bruch zum „Lichten Hain“ markieren (Stadt Leipzig 2003a,
S. 30). Trotz des Begriffs Wald wird in der Art und Weise der Umsetzung (rasterartig gepflanzte Hochstämme) deutlich, dass es sich um eine „künstliche Waldlandschaft“ (Kunz 2007, S. 152) handelt (Abbildung 77).
(3) Die Perforation der Gründerzeitquartiere und die schrittweise durch Gebäudeabbruch entstehende Durchdringung von Bebauung und Gärten zielt auf die „…
Schaffung einer gärtnerischen Vielfalt …“ (Baumschul-, Wochenend-, Produktionsgärten) ab. Ein notwendiges stabiles Grundgerüst bilden dabei die angedachten öffentlichen Blockdurchwegungen und kleinere öffentliche Grünflächen (ebd.,
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
S. 29). Der Garten steht hier für die kleinste freiraumplanerische Einheit in Verantwortung privater Akteure.
Landwirtschaft
In unmittelbarer Nähe einer am nordöstlichen Stadtrand liegenden Großsiedlung
(Paunsdorf, Heiterblick) wurde erfolgreich ein landwirtschaftliches Nutzungs- und
Gestaltungskonzept auf einer Konversionsfläche umgesetzt. Die konzeptionelle Idee
der Verknüpfung naturschutzfachlicher Interessen mit einer landwirtschaftlichen und
Erholungsnutzung war bereits im Landschaftsplan verankert und stellt einen Baustein
im gesamtstädtischen Freiraumkonzept dar (IL4). Der Grüne Bogen Paunsdorf soll dem
„amorphen Landschaftsraum“ als prägendes stadträumliches und landschaftliches
Element Ordnung und Struktur geben (Häfner, Betcke 2007, S. 4).
Abbildung 78: Promenade und unmittelbar angrenzende Weidefläche im Grünen Bogen
Paunsdorf.
Er wird dabei aus vielfältigen Freiraumtypen gebildet. Neben Sport- und Spielflächen,
einer Promenade und einem Bürgerpark ist vor allem die Weidenutzung einer zu erhaltenden 36 ha großen Offenlandfläche mit Feuchtbiotopen als alternative Bewirtschaftungsstrategie interessant (Abbildung 78): Ein Landwirt konnte gewonnen werden,
seine Heckrinder und Przewalski-Pferde auf dieser Fläche zu halten. Der Ansatz vereint
dabei die Aspekte einer ökonomisch tragfähigen Pflege und sogar Wertschöpfung, des
Erhalts von ökologisch wertvollen Offenlandbereichen und der Integration der Anwohner und Jugendlichen (IL4). Die Akzeptanz dieses in unmittelbarer Nähe zu einer
dichten Wohnsiedlung zunächst ungewohnten freiraumplanerischen Ansatzes ist auch
auf seine gelungene gestalterische Ausformung zurückzuführen. Die Ausprägung klarer Grenzen, Schnittstellen und die deutliche Differenzierung der unterschiedlichen
Freiraumbereiche erleichtert die Nutzung und Aneignung.
359
360
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Gärten
Das Thema der gärtnerischen Nutzung von Rückbauflächen in der Großsiedlung Grünau taucht seit Beginn des Stadtumbauprozesses auf. Einige Wohnungsunternehmen
versprechen sich von der Bereitstellung von Flächen für private Nutzungen in Form
von Mietergärten (Abbildung 79 und Abbildung 80) zum einen die Einsparung von
Unterhaltungskosten und zum anderen ein attraktives Angebot im Wohnumfeld zu
machen (IL5).229
Abbildung 79: Abrissfläche (Juni 2004).
Abbildung 80: Umsetzung des
Mietergärtenprojekts der WG Lipsia im WK 8
(Juli 2006).
Ebenfalls der Idee der Aneignung und gärtnerischen Nutzung folgt das Projekt der
Laubengarage230. Die exemplarische Umsetzung gelang mit viel Engagement auf einer
zentralen Freifläche in einem schon jetzt stark vom Rückbau betroffenen Wohnkomplex (WK 8, Abbildung 81). Die Vorbehalte seitens der Anwohner – vermutlich auch
gefördert durch deren fehlende Einbindung, die in der Konsequenz die Rückgängigmachung der Maßnahme forderten, zeugen von der Schwierigkeit der Etablierung des
„… Gartenthemas als soziale Therapie“ (Stadt Leipzig, Büro für urbane Projekte 2005,
S. 26). Aktuell wird versucht, das Thema in neuem Zusammenhang umzusetzen. Als
„Datscha 2.0“231 soll die Laubengarage auf einer Rückbaufläche im zentralen WK 4, in
den gegenwärtig umgesetzten „Nachbarschaftsgärten“ zum Einsatz kommen (IL5).
229
Die WG Lipsia hat auf Abrissflächen im WK 8 im Rahmen der Umgestaltung eines gesamten Blocks
in Abstimmung mit den Bewohnern Gartenparzellen angelegt. Es wurden 13 Mietergärten angelegt. Sie können für 0,13 €/m² gepachtet werden (Grün-As 2004, Nr. 46).
230
Als Pilotprojekt wurde eine multifunktionale, preiswerte und einfach zu bauende Bauform entworfen, die vielfältige Nutzungsmöglichkeiten bieten bzw. initiieren sollte.
231
Im Rahmen des ExWoSt-Modellvorhabens „Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere“ sollen in einem Nachbarschaftsgarten (individuelle und gemeinschaftlich nutzbare Freifläche im Wohnumfeld) ca. 11 dieser Raumelemente zum Einsatz kommen. Ca. 18 m² überdachte
Fläche können als Bausatz individuell ausgebaut und entsprechend den Bedürfnissen als Garage,
Sitzplatz, Werkstatt oder Treffpunkt gestaltet werden (http://www.bbr.bund.de am 05.02.2008).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Auf der Rückbaufläche einer Wohnungsgenossenschaft sollen so wohnungsnahe Freiraumangebote mit einer intensiven Bürgerbeteiligung geschaffen werden.
Abbildung 81: Laubengarage im WK 8 von
Grünau.
Abbildung 82: Nachbarschaftsgärten in
Leipzig-Lindenau.
Auf Initiative von Anwohnern betreibt seit 2004 der Stadtteilverein im Gründerzeitviertel Lindenau im Leipziger Osten auf einer im Brachfläche Nachbarschaftsgärten (Heck,
Will 2007, S. 36; Abbildung 82). Die Schaffung privat nutzbaren Freiraums ist zum
einen eine Reaktion auf die Nachfrage nach Gartenflächen und zum anderen ein Beitrag zur sozialräumlichen Stabilisierung des teilweise benachteiligten Quartiers zu sehen. Die Fläche befindet sich weiterhin in Besitz verschiedener privater Eigentümer, die
ihre Grundstücke per Gestattungsvereinbarung an den Verein überlassen. Dieser
schließt jährlich wechselnd Nutzungsverträge mit den interessierten Anwohnern ab.
Durch frei wählbare bzw. verhandelbare Zuschnitte der Gartenparzellen, eine kostenlose Nutzung gemeinschaftlicher Einrichtungen und niedrigschwellige ergänzende Angebote (Fahrradreparaturwerkstatt, Gerätehaus) bieten die Gärten eine Bereicherung des
Wohnumfeldes.232
Urbaner Wald
Vor dem Hintergrund der veränderten Bedarfe und Dimensionen freiraumplanerischer
Lösungen für Stadtumbauflächen werden in Leipzig aktuell die Potenziale urbaner
Wälder untersucht.233 Urbaner Wald wird hier als „interdisziplinärer und integrativer
Ansatz“ der Stadtentwicklung verstanden, der naturschutzfachliche, stadtökologische,
soziale und wirtschaftliche Aspekte einbezieht (Burkhardt, Schoder 2007, S. 3). Die
232
http://www.leipzigerwesten.de/index.php4?src=abgeschlossen&ebene=projekte&id =2&auto=114
am 20.03.08 und http://www.lindenauerstadtteilverein.de/ am 20.03.08
233
Ein Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben des Stadtplanungsamtes, Sachgebiet Landschafts- und
Grünordnungsplanung, gefördert durch das BfN, untersucht die Möglichkeiten und die Eignung
von Flächen für die Anlage verschiedener Waldformen (Stadt Leipzig, Burkhardt Landschaftsarchitekten 2008).
361
362
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Anforderungen an diesen Freiraumtypus sind hoch: So verspricht man sich eine neue
Bewirtschaftungsform bei wachsenden Freiflächen zu finden, trotz Rückbau und Begrünung stadtstrukturelle Zusammenhänge zu erhalten, landschaftsplanerische Belange umzusetzen und einen Beitrag für die Herausforderungen des Klimawandels zu
leisten (IL4). Die Spannbreite der Lösungsansprüche verdeutlicht die großen Interessenskonflikte bei der Umsetzung: Widerstände sind vor allem seitens der Forderung
des Denkmalschutzes nach dem Erhalt vor allem gründerzeitlicher Baustrukturen, den
Vorstellungen der Stadtförsterei, aber auch im Hinblick auf die Akzeptanz bei der Bevölkerung zu erwarten. Problematisch ist weiterhin die Finanzierbarkeit solcher Ansätze
– gelegentlich wird auch der Wunsch nach einer Wertschöpfung dieser Flächen im
Sinne der Rohstoffnutzung formuliert (IL4, IL2). Ziel ist es, Methoden der traditionellen
Forstwirtschaft zum einen mit den Erfordernissen urbaner Wälder und zum anderen
mit den spezifischen Rahmenbedingungen des Stadtumbaus zu verknüpfen.
3.3.5 Bedeutung des Freiraums im Stadtumbau von Leipzig
In Leipzig werden mehrere städtebauliche Leitbilder teilräumlich in einer Stadt vereint.
Dies erfordert einen Stadtentwicklungsprozess, der den urbanen Innenstadtkern als
„Standbein“ und die perforierte Stadt als „Spielbein“ versteht und einsetzt (Lütke
Daldrup 2004, S. 111). Das Modell der Perforation kann sowohl auf die Altbaugebiete
als auch auf die Großwohnsiedlungen bezogen werden. Die Erhaltung der „Europäischen Stadt“ mit kurzen Wegen und Nutzungsmischung bei einer gleichzeitigen Perforierung ist allerdings schwierig. Dabei geht die Stadt aber trotzdem dem Ziel einer
kompakten, dichten Stadt, mit einer Ausdünnung am Stadtrand und Dichte im Stadtinneren, nach. Die gesteuerte Auflockerung soll bewusst genutzt werden, um neue
Freiraumqualitäten, aber auch potenzielle Eigenheimstandorte in der Stadt zu entwickeln. Diese Ausrichtung spiegelt sich auch in einer differenzierten Sichtweise der Bedeutung der Freiräume wider. Im inneren Stadtbereich werden Freiräume vor allem als
qualifizierende Elemente der europäischen Stadt und teilweise noch als positive Zwischenerscheinungen des Stadtumbauprozesses wahrgenommen und entsprechend
befördert. Im eigentlich schrumpfenden Stadtgebiet werden Freiräume vor allem unter
dem Aspekt der Flächenverwertung betrachtet.
In den Stadtteilentwicklungskonzepten für die Stadtumbaugebiete im Leipziger Osten
und Westen werden (städtebauliche) Leitbilder formuliert, die bereits auf dieser Ebene
konkrete Aussagen zur Freiraumentwicklung machen. Der quantitativen Konsequenz
des Rückbaus für die Freiraumplanung wird somit auch mit konzeptionellen Aussagen
zur Freiraumentwicklung Rechnung getragen. Freiraum als räumliche Kategorie wird
selbstverständlicher Bestandteil städtebaulicher Leitbilder.
Die hohe Bedeutung der Freiraumentwicklung als Element der Stadterneuerung und
Stadtentwicklung wird in den Stadtumbaukonzepten und einzelnen Maßnahmen und
schließlich im Stadtbild deutlich. Zwischen 1990 und 2006 hat sich die Fläche öffentli-
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
chen Grüns auf ca. 1000 ha nahezu verdoppelt (Kunath 2007, S. 2). Dies hat unterschiedliche Gründe (Eingemeindungen, Flächenumwidmungen) – eine proaktive und
erfolgreiche Freiraumplanung und deren hohe Wertschätzung in der Stadtentwicklung
haben vermutlich ganz wesentlich dazu beigetragen.
In der Reihe der seit Mitte der 1990er Jahre erstellten sektoralen Stadtentwicklungspläne (STEP) fehlt das Thema Freiraumplanung. Im Planwerk Stadtraum wird erstmals
ausführlich auf freiraumplanerische Zielstellungen bei der Gestaltung des Stadtraumes
eingegangen. Im aktuell erstellten SEKo erhält das Themengebiet ein eigenes Fachkonzept. So wird erstmals eine gesamtstädtische Handlungsgrundlage für die Themen
Freiraum und Umwelt vorgelegt.234 Da dies in der (sächsischen) Richtlinie zur Erstellung
der SEKos nicht vorgeschrieben ist, kann daraus auch ein steigendes Bewusstsein der
Relevanz des Themas im Stadtumbau abgeleitet werden. Das Fehlen eines tatsächlich
eigenständigen übergeordneten und damit formellen Freiraumentwicklungskonzeptes
wird seitens der Fachplanung nur bedingt als Mangel betrachtet – vielmehr wird die
Chance in der kontinuierlichen Beteiligung an jeglichen Diskussionen und Planungen in
der Stadtentwicklung gesehen. So kann flexibel auf neue Rahmenbedingungen reagiert werden und es wird nicht per se an einem vermeintlich endgültigen Konzept
festgehalten (IL4). Allerdings erschweren gewisse Organisationsstrukturen und damit
zusammenhängende Überschneidungen im Verantwortungsbewusstsein für einzelne
Aufgaben eine klare Kommunikation der Ziele und Vorstellungen im Stadtumbauprozess: Die schwierige Konstellation einer „strategischen“ Grünplanungsabteilung als
Sachgebiet Landschaftsplanung und Grünordnung im Stadtplanungsamt und eines
eigenständigen Grünflächenamtes mit sowohl Planungsanspruch als auch
-zuständigkeit führt zu einer Schwächung der freiraumplanerischen Themen im Gesamtprozess (IL1).
Die Umsetzung des Freiraumsystems mit dem Ziel der Reduzierung innerstädtischer
Grünflächendefizite erfolgte zunächst schrittweise durch die Schaffung von Stadtteilparks, vor allem auf umgenutzten Bahnflächen, und die Neuanlage von Grünanlagen.
In jüngster Zeit entstehen im Rahmen des Stadtumbaus neue Impulse zur Erweiterung
und Vernetzung von Freiräumen, insbesondere hinsichtlich der Schaffung wohnungsnaher Freiräume. Diese freiraumplanerischen Maßnahmen werden dabei als „Initialmaßnahmen und Handlungsschwerpunkte priorisiert und […] als Schlüssel zur nachhaltigen Neustrukturierung der Quartiere vorrangig umgesetzt“ (Stadt Leipzig 2004a,
S. 54). Von Seiten der Fachplanung wird demnach die Strategie verfolgt, die Potenziale
des Stadtumbaus bewusst für die Umsetzung freiraum- und landschaftsplanerischer
Belange zu nutzen.
234
Kunath: „Grün, Grün, Grün… Freiraum und Umwelt in Leipzig“, Vortrag an der VHS Leipzig in der
Diskussionsreihe „Leipzig 2020 – Zukunft gestalten“ zum Integrierten Stadtentwicklungskonzept
der Stadt Leipzig, am 12.11.2007
363
364
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Das Bewusstsein darüber, dass Bebauung als (einzige) Stadtentwicklungsstrategie nicht
mehr überall und gleichermaßen greift, befördert die Notwendigkeit und beinhaltet
aber auch die Möglichkeit, über Freiraum nachzudenken (IL2): So ist eine wesentliche
Erkenntnis aus dem Gutachterverfahren zum KSP LeO, „… daß (!) künftig nicht vorwiegend hochbaulich geprägte städtebauliche Vorstellungen, sondern die Freiraumplanung das wichtigste Element der Stadtentwicklung in den Problemgebieten sein
wird“ (Kunz 2007, S. 142). Die Umsetzung der Konzeptionellen Stadtteilpläne erfolgt
„… im übrigen [Herv. d. Verf.] überwiegend im Bereich der Freiraumplanung …“
(ebd., S. 151). Sichtweisen wie diese lassen vermuten, dass die Freiraumentwicklung,
vor allem in den Gründerzeitquartieren – wenngleich durch Gründefizite angeregt –
aus der „Not“ verfügbarer Flächen „eine Tugend macht“, und Freiraumentwicklung
als die zentrale Stadterneuerungsstrategie herausstellt (IL5).
Die positiven Erfahrungen mit den Wirkungen neuer und aufgewerteter Freiräume auf
den umgebenden Wohnungsbestand bekräftigen die Stadt Leipzig in ihrer Strategie,
„neue grüne Ränder“ in bisher dichten und teilweise benachteiligten Stadtquartieren
zu schaffen, um sowohl die Sanierung des Mietwohnungsbestandes als auch die Eigentumsbildung unter anderem in innovativen Wohnformen in neuen Lagen zu fördern (Stadt Leipzig 2005b, S. 18; Heck, Will 2007). So wirken sich die entstandenen
Stadtteilparks und Grünzüge sehr stabilisierend auf die Ränder aus und geben Impulse
für die Stadtentwicklung (IL1, IL3). Sanierung, neue Wohnangebote und ein grünes
Wohnumfeld sind dabei besonders attraktiv für die Erschließung von Bevölkerungsgruppen, die in den oft auch durch soziale Problemlagen gekennzeichneten Stadterneuerungsgebieten für eine positive Entwicklung und Mischung sorgen können (IL2).
Der wirtschaftliche Mehrwert der neuen Freiräume ist deutlich erkennbar, eine – bisher
allerdings nicht erfolgte – Monetarisierung könnte Argumente für die Nutzung weiterer Potenziale liefern (IL2, IL3).235 Im Stadtumbau besteht nun die Möglichkeit, noch
mehr dieser in Leipzig traditionellen und begehrten Parkrandlagen (z. B. Auwald) zu
schaffen. Die Erfahrungen der Stadterneuerung und des Stadtumbaus als eine aktuelle
Strategie zeigen, dass die Frage der Zukunftsfähigkeit der Städte bzw. Stadtteile vor
allem eine Frage deren Modernisierungsfähigkeit ist. Als Motoren der Stadtentwicklung können dabei relativ geringe Bodenpreise, verfügbare Grundstücke und attraktive
Lagen gelten. Die Flächenverfügbarkeit und vor allem das Vorhandensein von Freiräumen – deren Weiterentwicklung auch bewusst als Stadterneuerungsstrategie verfolgt wird – bieten so in Leipzig relativ gute Voraussetzungen für diese Modernisierung
(IL2).
235
Am Beispiel der in Leipzig von öffentlicher Seite stark unterstützen Stadthäuser wird das Wertschöpfungspotenzial sehr deutlich: Das Verhältnis von Beratungs- zu Investitionsaufwand liegt bei
1:65 (IL2).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Die Schwerpunkträume des Stadtumbaus, der Leipziger Osten und Westen (sowie
Grünau), profitieren laut Planwerk Stadtraum vor allem von der Sicherung identitätsbildender Ensembles und der Schaffung neuer Freiräume: „Das zentrale Stadtumbauvorhaben ist das ‚Grüne Rietzschkeband’, in dem durch einen konzentrierten Rückbau
in Verbindung mit freiräumlichen Aufwertungen neue Stadt- und Landschaftsräume
entstehen werden“ (Stadt Leipzig 2006b, S. 59). So ist man mit der Freiraumentwicklung in Stadterneuerungsgebieten – trotz großer Entwicklungsunsicherheiten – oft in
Vorleistung gegangen und hat die Qualitätsverbesserung im Grün- und öffentlichen
Raum im Bewusstsein vorhandener freiraumplanerischer Mängel als Vorbereitung
folgender Investitionen betrieben (IL3). Die aktuellen Rahmenbedingungen wirken sich
dabei positiv auf die Möglichkeiten der Freiraumplanung aus. Insofern kann in den
verschiedenen Stadien der Stadterneuerung durchaus ein Wandel der Rolle der Freiraumentwicklung beobachtet werden (IL2).
Im Gegensatz dazu stellt sich die aktuelle Situation bezüglich der freiraumplanerischen
Nachnutzung von Rückbauflächen in der Großsiedlung Leipzig-Grünau eher problematisch dar. Dies liegt neben den offensichtlichen Steuerungsdefiziten auch an Umsetzungshindernissen. In den Rückbauverträgen werden zwar Mindeststandards zur freiraumplanerischen Nachnutzung vereinbart, aber offensichtlich mangelt es an deren
Einhaltung und Kontrolle. Die mittlerweile sehr reichlich bemessene Rückbaupauschale
beinhaltet genügend Spielräume einer befriedigenden Gestaltung – trotzdem werden
diese häufig nicht genutzt, um in den entstehenden Freiraum zu investieren.236 Die
heterogenen Besitzverhältnisse und die geringe Bereitschaft der Wohnungsunternehmen sich bei Aufwertungsmaßnahmen, die nicht ihren eigenen Beständen zu Gute
kommen, zu engagieren, ist eher gering. Dieses Problem lösende, kooperative Ansätze
in Form von Arbeitsgemeinschaften, Flächentausch oder Housing Improvement
Districts konnten in Grünau bisher nicht realisiert werden. Gestattungsvereinbarungen,
welche in den Altbauvierteln sehr erfolgreich eingesetzt werden konnten, tragen in
Grünau aufgrund der sehr guten Ausstattung mit öffentlichen Grünflächen nicht (IL5).
Der Anteil temporären Grüns ist in den Stadterneuerungsgebieten größer als der Anteil
dauerhafter Freiräume. Bis zum Jahr 2004 sind ca. 27 ha grüne Zwischennutzungen
entstanden. Setzt man die Abbruchanträge an, so ist mit einer weiteren Zunahme von
35 bis 45 ha Grünfläche auf Baugrundstücken zu rechnen (Preisler-Holl 2006, S. 71).
Im Gegensatz dazu konnten durch den Stadtumbau bislang 25 ha dauerhafte neue
Freiräume entwickelt werden (Stadt Leipzig 2007a, S. 3). Der Strategiemix reflektiert
vor allem die Besitzverhältnisse der einzelnen Flächen:
236
In der Regel handelt es sich um Nachnutzungsmaßnahmen zu einem Preis von bis zu 15 €/m².
Dies ist für eine einfache Begrünung durchaus ausreichend.
365
366
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
(1) Parks und Grünflächen im klassischen Sinne werden als langfristige Freiraumstrukturen auf öffentlichen Flächen entwickelt. (2) Temporäre Freiräume auf privaten Flächen bieten sich im Gegensatz dazu an, mögliche Nutzungen auf Brachen zu prüfen,
mit ungeklärten Grundstück- und Eigentümerfragen umzugehen und durch eine kurzfristige Lösung von Brachen- und Ruinensituationen mit der gleichzeitigen Schaffung
von öffentlichem Grün eine Qualitätsverbesserung zu erreichen (IL5, IL2, IL1). Vor
allem der Ansatz der Zwischennutzungen setzt kurzfristig und kleinteilig positive Impulse. Die dahinter stehende Idee unterscheidet sich aber doch deutlich von der der
„klassischen“ Freiraumentwicklung (IL2). Insbesondere in der perforierten Stadt sollen
die entstehenden Freiräume mit zukunftsfähigen, zeitgemäßen und positiv besetzten
Ansätzen gestaltet werden: Sie sollen „… sich nicht auf ökologische Verbesserungen
reduzieren, sondern in Ästhetik und Gebrauch eine neue innerstädtische Gartenkultur
entwickeln“ (Lütke Daldrup 2004, S. 115).
Bisher waren Bestrebungen einer Rückumwandlung der temporären Freiräume zu
Bauflächen eher selten, wenngleich die durch grüne Zwischennutzungen mitgetragene
Revitalisierung in Zukunft zumindest an einigen Stellen eine vermehrte Nachfrage nach
Baugrundstücken erwarten lässt.237 Inwiefern hier tatsächlich die Option einer baulichen Wiedernutzung um- und durchgesetzt werden sollte, ist dabei zu hinterfragen.
Abbildung 83: Temporäre Nutzung im Projekt
„StadtHalten“ 33 Linden für Lindenau.
Allerdings ist eine klare Einhaltung der in
den einzelnen Gestattungsvereinbarungen vertraglich zugesicherten Bebaubarkeit im Sinne der künftigen Anwendbarkeit des Instruments unbedingt nötig und
wird seitens der Stadtverwaltung nicht in
Frage gestellt. Dies wird als unabdingbar
angesehen, um das Vertrauen potenziell
für diese Maßnahmen neu zu gewinnender Grundstückseigentümer nicht zu verlieren. Zwischennutzungen können sozusagen „mobile und wandernde Nutzungen“ sein.
Wird eine Fläche für eine Wiederbebauung benötigt, dann ziehen Pflanzen und Nutzung auf eine andere Brache. Im Falle des – bisher zweimal aufgetretenen – Bebau-
237
Ein prominentes Beispiel ist das Projekt „33 Linden für Lindenau“ (umgesetzt im Projekt StadtHalten). Eine Handelskette hatte Interesse zur Bebauung des Grundstücks mit einem Einkaufsmarkt
signalisiert. Von Seiten der Anwohner wurde stark der Erhalt des Freiraums gefordert. Entsprechend der Strategie wurden dem Eigentümer sein Baurecht zugestanden und als Kompromiss die
Bäume an einen anderen Standort im Stadtteil umgepflanzt (IL2; Abbildung 83).
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
ungswunsches der inzwischen lieb gewonnenen und geschätzten Interimsbegrünungen ist mit erheblichen Widerständen der Anwohner bzw. Nutzer zu rechnen (IL2).
Die dauerhafte Freiraumentwicklung ist an die Verfügbarkeit kommunaler Flächen
gekoppelt (IL3). Dabei sind in der vergangenen Phase der Stadtentwicklung vor allem
am klassischen Parkkonzept orientierte Stadtteilparks entstanden. Aktuell zeichnet sich
eine neue Herausforderung im Stadtumbau ab: Flächendimensionen und die Verortung der großen Rückbauflächen vor allem an den Siedlungsrändern sowie zurückgehende Ressourcen für Anlage und Unterhaltung verlangen nach neuen Ansätzen der
dauerhaften Freiraumentwicklung (IL2; Lütke Daldrup 2004, S. 117). Das derzeit in
Erstellung befindliche Grünstrukturkonzept in Ergänzung der Entwicklungsstrategie
Grünau 2020 macht mit extensiven und kostengünstigen Nutzungs- und Gestaltkategorien Vorschläge für die Notwendigkeit, „Grün in größeren Dimensionen zu denken“
(IL2).
Vor allem aus dem Blickwinkel der – offensichtlich auch in Leipzig – hochbauorientierten Stadtplanung sind Freiräume auf Abbruch- und Brachflächen eher „Ergänzungsflächen“, die je nach Bedarf auch wieder Bauflächen werden können: „Die ‚Zwischennutzung’ der beim Abriss frei werdenden Flächen führt kurzfristig zur Aufwertung der
Freiraumstrukturen, hält aber langfristig Möglichkeiten für eine Neubebauung offen“
(Tiefensee 2003, S. 4). Insbesondere freiraumplanerische Zwischennutzungen sind vor
diesem Hintergrund eher Ausdruck dafür, dass eine endgültige Nutzungsentscheidung
noch nicht gefallen ist, diese dann aber in der Regel als Bebauung erwartet wird. In
diesem Sinne werden „Lücken und Brachen ein Stück weit ertragen“, immer auch im
Hinterkopf, mit der freiraumplanerischen Zwischennutzung zwar eine attraktive, aber
doch nicht die finale Nutzung der Fläche zu haben (IL1). Gleichwohl wird der Freiraumplanung eine hohe Bedeutung zugesprochen – dies dann aber an den Orten, wo
sich für eine dauerhafte Freiraumentwicklung entschieden wurde (IL1). Insbesondere
im langfristig zu erhaltenden und zu verdichteten inneren Stadtbereich sind für Brachflächen allenfalls temporäre Freiräume opportun: „Bis dahin [steigende Nachfrage
nach Büro- und Wohnraum, Anm. d, Verf.] kann man diese Flächen getrost einmal als
‚Hirschgehege’ nutzen …“ (Lütke Daldrup 2004, S. 111).
Die Diskussion um die Verwirklichung neuer Freiraumtypen war im Stadtumbau in
Leipzig von Beginn an intensiv. Die aktuellen Herausforderungen verschärfen jedoch
den Bedarf nach neuen Lösungen. Im Stadtumbau geht es mittlerweile um Flächendimensionen auf denen selbst auf extensive Nutzung und Pflege ausgelegte Parks keine
tragfähigen Lösungen mehr bieten können. So ist beispielsweise für die Plagwitzer
Bahnschneise im Westen der Stadt eine Form der Gestaltung, wie sie auf der AngerCrottendorfer-Bahnschneise (u. a. Lene-Voigt-Park) im Osten der Stadt erfolgte, unter
den heutigen Voraussetzungen nicht mehr machbar. Für diese Fläche wird über die
großräumige Anlage von Waldflächen nachgedacht (IL3). Dabei wird der Anspruch
formuliert, dass für die verschiedenen Freiraumtypen abgestufte Pflegekonzepte ent-
367
368
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
wickelt werden sowie multifunktionale und nutzungsflexible Freiräume für alle Nutzergruppen zur Verfügung stehen sollen, die ökologische Qualitäten haben und zur
Imagebildung des Stadtteils beitragen. All dies sind natürlich die Eigenschaften von
Freiräumen, die ihren Wert bestimmen – gleichzeitig sollen aber kreative Verfahrensideen, private Beteiligung und Beschäftigungsförderung Eingang finden. Die Herausforderung, einer wachsenden Zahl an Freiräumen mit auf der einen Seite knapper
werdenden Haushaltsmitteln und auf der anderen Seite hohen Ansprüchen zu begegnen, wird der Öffentlichkeit mit Schlagworten wie „Die urbane grüne Stadt wird gemeinsam gebaut“ nahe gebracht (Stadt Leipzig 2005b, S. 3).
Auf neuartige sowohl Gestalt- als auch Nutzungstypen wird in Räumen zurückgegriffen, die auch einen neuen städtebaulichen Typus darstellen. Hier kommen Elemente
der vermeintlich vor der Stadt liegenden Landschaft zum Tragen. Wald, Hain und
Wiese zeugen zum einen vom Verständnis der Neuartigkeit dieser städtischen Räume
und zum anderen von der direkten Adaption naturräumlicher Elemente. Dies war bisher in klassischen städtischen Freiräumen nicht üblich – wenngleich die an diese Bilder
angelehnten freiraumplanerischen Projekte nicht allzu viel mit den ursprünglichen
Landschaftselementen zu tun haben. Diese „Pionierarbeiten mit emblematischer und
Kategorien bildender Wirkung“ (Jessen 2006, S. 35) sind im professionellen Diskurs oft
benannt und zitiert worden. Sie zeichnen sich zum einen durch eine hohe Prägnanz
ihrer gestalterischen Aussage aus und sind zum anderen für den städtischen Bereich
sehr neuartig. Sie stehen dabei für die Freiraumtypen (1) Agrarlandschaft, (2) Wald
und (3) Garten. Ihre Benennung, Umsetzung und Vermarktung verdeutlicht, dass es
weniger um tatsächliche Freiraumtypen als um Bilder, die Akzeptanz fördern sollen,
geht: „Es ist ein Unterschied, ob ich jemandem sage, dass da jetzt eben ein paar Bäume stehen, anstatt von Häusern, oder ob ich sage das wird der Dunkle Wald“ (IL1).
Insbesondere das Thema Wald taucht bei Fragen der Freiraumentwicklung an verschiedenen Stellen auf. Die Unterschiedlichkeit der Zugänge in Leipzig spiegelt dabei
die generelle Bandbreite dieses Freiraumtyps, seines Verständnisses und seiner Umsetzung wider.
Landwirtschaft ist in Nischen durchaus möglich, zumal die stadtnahe Landwirtschaft in
Leipzig Tradition hat. Das Thema der agrarischen Nutzung ist dabei vor allem für größere Rückbauflächen in Randbereichen im Grunde die einzige Nachnutzungsmöglichkeit (IL3). Extensive landwirtschaftliche Ansätze versprechen zum einen günstige Bewirtschaftung oder gar Wertschöpfung und zum anderen die Vereinbarkeit von Naturschutz- und Erholungsbelangen in Randbereichen der Stadt. Dabei wird dieser Zugang
nicht nur als Verwertungsansatz auf Stadtumbauflächen, sondern auch als bewusster
Gestaltungsansatz, beispielsweise in der auch Ausgleichsflächen hervorbringenden neu
entstehenden Industrielandschaft im Norden der Stadt, diskutiert. Dort sollen neu
entwickelte Landschaftsbilder die frühere intensive agrarische Nutzung neu interpretieren. Gestaltungsanspruch, Bewirtschaftung als extensive Weide- und Waldfläche und
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
naturschutzfachlicher Wert sollen diese „neuen Landschaften“ prägen (IL3). Insbesondere das Thema nachwachsende Rohstoffe verspricht Potenziale, landwirtschaftliche
Nutzungen auch stadtnah oder auf Grenzertragsflächen wieder als Nutzungsalternative attraktiv zu machen (IL4, IL5).
3.4
Zusammenfassung der empirischen Befunde
3.4.1 Rolle des Freiraums in Leitbildern der Stadtplanung
Die Befunde in den hier untersuchten Städten sind sehr vielfältig und lassen sich nur
teilweise eindeutig den Kategorien der Leitbilder der Stadtplanung zuordnen. Auch
andere empirische Untersuchungen belegen, dass die Verwendung von Leitbildern
mehrere Zwecke im Rahmen der informellen Stadtentwicklungsplanung verfolgt. Einerseits werden Raumbilder im Sinne städtebaulicher Modelle oder Leitbilder erstellt.
Andererseits werden Leitbilder als Imagebilder und Identitätsstrategien formuliert
(Sturm 2007, S. 54; BMVBW, BBR 2003a, S. 22 f.). Die Stadtmodelle, städtebaulichen
Leitbilder und Slogans werden auf gesamt- und teilstädtischer Ebene eingesetzt.
Abbildung 84: Zuordnung der Aussagen zu Stadtmodellen und städtebaulichen Leitbilder der
untersuchten Städte zu theoretisch abgeleiteten Stadtmodellen unter Schrumpfungsbedingungen
(Eigene Darstellung).
369
370
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
In der Abbildung 84 werden die empirisch vorgefundenen Leitbilder der im Kapitel
C.1.5.3 entwickelten Typologie von Stadtmodellen unter Schrumpfungsbedingungen
zugeordnet. Die Zusammenschau zeigt, dass einige Leitbilder klar der Kontrahierten
Stadt bzw. der Fragmentierten Stadt zugeordnet werden können. Meist handelt es sich
dabei nicht um gesamtstädtische, sondern um Leitbilder für einzelne Stadtgebiete. In
allen untersuchten Städten gibt es aber auch Leitbilder, welche beide Zielaussagen
vereinen. Dies kann insbesondere in den aktuellen Konzepten erkannt werden: Mit der
Fortschreibung oder Neuausrichtung der städtebaulichen Leitbilder für die Gesamtstadt
ist ein Trend zu fragmentierten Stadtmodellen bzw. zu Mischformen, die teilräumlich
auf Fragmentierung und parallele Kontraktion abzielen, festzustellen. Für teilstädtische
Gebiete und Stadtumbauschwerpunkte kann dies auch zu einem früheren Zeitpunkt
festgestellt werden. Leitbilder, die sich an den Modellen der Fragmentierten oder Perforierten Stadt orientieren, zeugen schon durch ihre Bezeichnungen bzw. Beschreibungen von der Bedeutung der Freiräume in der künftigen Stadtstruktur.
3.4.2 Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Die empirische Untersuchung zeigt, dass in den Städten eine Vielzahl unterschiedlicher
mehr oder weniger explizit auf den Stadtumbau bezogener Strategien und Konzepte
existieren (Abbildung 85). Ebenso groß ist die Bandbreite der Relevanz freiraumplanerischer Belange. Die vordergründig stadtumbauorientierten Ansätze stellen sich den
freiraumplanerischen Herausforderungen in unterschiedlicher Intensität und Qualität.
Generell ist von Seiten des Stadtumbaus eine eher reaktive Thematisierung freiraumplanerischer Aspekte zu erkennen. Dem gegenüber stehen von Seiten der Freiraumplanung formulierte Strategien und Konzepte, die allgemeine fachplanerische Belange
einfordern und in jüngster Vergangenheit auch proaktiv explizite Vorstellungen für die
Belange der Freiraumplanung bezüglich einzelner Stadtumbauherausforderungen formulieren. In einigen Fällen gibt es konkreten Stadtumbaustrategien zugeordnete freiraumplanerische Beiträge, die größtmögliche Synergien erwarten lassen. Die Zusammenschau der empirischen Befunde bezüglich der umgesetzten Projekte zeigt zum
einen, dass sich freiraumplanerische Nachnutzungsmaßnahmen verbreitet an bekannten Freiraumtypen orientieren. Zum anderen finden sich aber parallel auch vielfältige
neue Ansätze. Dabei wird bei klassischen Aufgaben in bekannten Stadtraumtypen
auch großteils mit dem konventionellen Repertoire freiraumplanerischer Gestaltungsmöglichkeiten gearbeitet. Zwischennutzungsflächen, randlich gelegene großflächige
Rückbauareale und stark von Schrumpfung betroffene Stadtgebiete fordern eher neuartige gestalterische und funktionale Ansätze.
371
C.3 Empirische Befunde zur Rolle des Freiraums im Stadtumbau
Stadtumbaustrategien:
freiraumplanerische Aspekte
Freiraumplanerische Strategien
im Stadtumbau
Erholungskonzeption 2010 (1996)
INSEP (2001)
INSEP (2001)
Stadtökologisches Handlungskonzept
Rahmenplan Zentrum
(1993, 1995, 2000, 2005)
SEKo (2008)
Uferparkkonzept (2001)
RHK Wohnen (2005)
Leitbild Grünraum
SEKo (2008)
Stadtökologisches Grünkonzept
Chemnitz
SEK Wohnen (2000)
ISEK (2007)
Landschaftlicher Korridor
ISEK (2007)
Teilkonzept Halle-Neustadt
ISEK (2007)
Teilkonzept Halle-Silberhöhe "Waldstadt"
Erneuerungsstrategie "Neue Gründerzeit" (1999)
Halle
Landschaftsplan (2001 + 2008/09)
STEP W+S TP Stadterneuerung (2000, 2003)
Erholungskonzeption (2001)
STEP W+S TP Großsiedlungen (2002)
Projekt "Alte Salzstraße" Grünau (2004)
"Gartenschau im Plattenbau"
Planwerk Stadtraum (2006)
Konzept Grün- und Freiraumentwicklung
Planwerk Stadtraum (2006)
SEKo (2008)
Fachkonzept "Freiraum und Umwelt"
SEKo (2008)
KSP Leipziger Osten (2003)
"Grünes RietzschkeBand"
Leipziger Osten (2003)
KSP Leipziger Westen (2005)
Entwicklungsstrategie Grünau 2020 (2007)
Grünstrukturkonzept Grünau 2020 (2007/08)
Leipzig
reaktiv
Freiraumplanung
proaktiv
Abbildung 85: Zusammenschau der Stadtumbaustrategien und der freiraumplanerischen
Strategien in den untersuchten Städten (Eigene Darstellung).
372
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
D
Fazit: Bedeutung des Freiraums und der Freiraumplanung
in schrumpfenden Städten
Im abschließenden Teil D der Arbeit werden die in den vorangegangenen Kapiteln
dargestellten Aspekte der Freiraumplanung in Hinblick auf die Fragestellung der Arbeit
zusammengeführt. Anhand folgender Aspekte soll abgelesen und eingeordnet werden
wie stark Freiraum die Stadtstruktur und den Stadtumbau schrumpfender Städte beeinflusst. Als Maß für die Bedeutung von Freiräumen im Umgang mit den räumlichen
Auswirkungen der Schrumpfung sollen (1) die Rolle des Freiraums aus stadtstruktureller Sicht, (2) das Bewusstsein hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten und
-erfordernisse der Freiraumplanung im Stadtumbau und (3) die Akzeptanz und der
Rückgriff auf Freiräume im Stadtumbauprozess betrachtet werden.
Die Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse erfolgt anhand kurzer Thesen, die den
jeweiligen Abschnitten vorangestellt sind. Grob zusammengefasst lässt sich dabei Folgendes feststellen: Einerseits erlangt Freiraum rein quantitativ und durch die von ihm
erwarteten Lösungsansätze für die Herausforderungen der Schrumpfung eine hohe
Bedeutung. Andererseits geht damit nur teilweise eine entsprechende Bedeutung in
Planungsdokumenten und -prozessen im Stadtumbau einher.
Zunächst werden in Kapitel D.1 die Erkenntnisse zu den Auswirkungen städtebaulicher
Leitbilder und der angewendeten Modelle für die Stadtschrumpfung auf die Aufgaben
und Möglichkeiten der Freiraumplanung dargestellt. In Kapitel D.2 werden mit den
zusammengefassten Handlungsansätzen zu freiraumplanerischen Strategien und Maßnahmen die Reaktionen der Freiraumplanung auf die Herausforderungen in schrumpfenden Städten zusammengefasst. Abschließend werden in Kapitel D.3 die Chancen
und Grenzen der Freiraumplanung bezüglich ihres Einflusses auf den Stadtumbauprozess beschrieben. Ein Ausblick und Abriss künftiger relevanter Forschungsfelder erfolgt
in Kapitel D.4.
1
Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
Schrumpfungsprozesse sowie deren Steuerung wirken sich auf die Stadtstruktur und
damit auf die Handlungsmöglichkeiten der Freiraumentwicklung aus. In Kapitel D.1.1
wird zusammengefasst, welchen Stadtmodellen und städtebaulichen Leitbildern betroffene Städte folgen und welche Ausgangsbedingungen dies für die Freiraumentwicklung schafft. Weiterhin wird in Kapitel D.1.2 dargestellt, inwiefern sich die aktuelle
freiraum- und landschaftstheoretische Diskussion in der Planungspraxis schrumpfender
Städte widerspiegelt bzw. Ansätze für den Umgang mit Freiraum im Stadtumbau
bereithält.
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
1.1
Stadtmodelle und Leitbilder schrumpfender Städte – Auswirkungen auf
die Freiraumentwicklung
In grundlegenden strukturellen Überlegungen und Leitbildern zur Umsetzung des
Stadtumbaus spiegelt sich die Bandbreite der theoretisch diskutierten Schrumpfungsprinzipien und Stadtmodelle unter Schrumpfungsbedingungen wider.
Die in Kapitel C.1 formulierten Hypothesen können durch die empirischen Befunde
zum Großteil bestätigt werden: In städtebaulichen Leitbildern schrumpfender Städte
wird die historisch und aktuell verankerte Kontinuität städtebaulicher Orientierungen
fortgeführt.
In der Regel wird zunächst das Modell der Kontrahierten Stadt bevorzugt. Dies soll im
Stadtumbau durch einen Rückbau von außen nach innen realisiert werden. Mit der
Wiederbelebung der Debatte um städtebauliche Leitbilder seit den 1990er Jahren
(Kapitel C.1.1) ist auch eine Hinwendung zu den Idealen der „Europäischen Stadt“
erkennbar (Kapitel C.1.3). Dieses Leitbild ist sowohl in der gegenwärtigen theoretischen Diskussion als auch in der Planungspraxis schrumpfender Städte allgegenwärtig.
Insbesondere in schrumpfenden Städten ist Dichte unabdingbar, um Urbanität, lokale
Ökonomien und Infrastruktureffizienz wenigstens teilräumlich zu gewährleisten. Dabei
geht es nicht mehr darum, Nutzungsanforderungen zu verteilen, sondern das weniger
Werdende zu bündeln. Es geht nicht mehr um die maximale Auslastung von Knoten,
sondern darum, die minimal notwendige Funktionsfähigkeit aufrecht zu erhalten.
Gleichzeitig besteht jetzt die Chance, den Anspruch der doppelten, das heißt auch
freiraumplanerisch orientierten, Innenentwicklung umzusetzen (Rößler, Westphal
2008).
In den äußeren Stadtbereichen wird die Orientierung auf die kompakte Stadt zunehmend durch das Modell der Fragmentierten Stadt ersetzt. Dieses wird aufgrund der
Erfahrungen und Realitäten des Stadtumbaus als zukunftsweisender und chancenreicher angesehen. Die Perforierte und Disperse Stadt erfahren keine nennenswerte Beachtung. Bei diesen Modellen handelt es sich um theoretische Konzepte, die in der
Planungspraxis offenbar keine Rolle spielen und sich nicht in Zielformulierungen niederschlagen.
Die Entwicklung unter Schrumpfungsbedingungen ist in der Kontinuität historischer
städtebaulicher Leitbilder zu betrachten. Allerdings sind explizite Rückgriffe auf städtebauliche Leitvorstellungen der Vergangenheit empirisch nicht nachweisbar. Die bloße
Übertragung ausgewählter Leitbilder und Modelle der Städtebaugeschichte, die bewusst auf die Integration von Landschaft oder Freiraum in die Stadt abgezielt haben,
wird den aktuellen Herausforderungen nur bedingt gerecht. Die Diskussion in der
Planungspraxis wird vielmehr durch die Orientierung auf stadtspezifische Leitbilder
bestimmt.
373
374
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
Zunehmend ist die zeitgleiche bzw. parallele Anwendung bisher konkurrierender
Modelle und Leitbilder zu beobachten. Dies äußert sich auch in Mischformen bzw.
der teilräumlich parallelen Anwendung ambivalenter städtebaulicher Leitbilder mit
entsprechend unterschiedlichen Anforderungen an die Freiraumplanung.
Die Diskussion um kompakte oder gegliederte Stadtstrukturen ist nicht mehr nur polarisierend. Es ist ein Trend zur parallelen Anwendung der bisher als ambivalent eingeordneten Richtungen erkennbar. In der Zusammenschau der theoretischen Diskussion und der empirischen Befunde wird deutlich, dass schrumpfende Städte bevorzugt
Stadtmodellen folgen, die auf einer Parallelität der grundsätzlich möglichen Schrumpfungsprinzipien (Konzentration und Perforation, Kapitel C.1.5.1) basieren. Schrumpfende Städte orientieren sich damit gleichzeitig am Modell der Kompakten und der
Gegliederten Stadt.
Die Konzentration von Nutzungen und Gebautem, meist auf das Zentrum und teilweise die innere Stadt, kann in der Regel nur umgesetzt werden, wenn gleichzeitig
Schrumpfung als eine Perforation der äußeren Stadt oder der übrigen Stadtteile stattfindet. Diese Rückbauprinzipien werden auch in der Formulierung städtebaulicher
Leitbilder für die einzelnen Stadtbereiche deutlich: Dabei werden bewusst bisher parallel gültige und als gegenläufig eingestufte Ansätze gleichzeitig für eine Stadt aufgegriffen und akzeptiert. In schrumpfenden Städten ist eine Tendenz festzustellen, dass auch
Leitbilder, die eher der Fragmentierung städtischer Strukturen folgen, mit Elementen
der Kompakten Stadt arbeiten und umgekehrt. Dies ist nicht immer Konsens und beruht überspitzt ausgedrückt auf einer „ideologischen Schlacht“, die um die Zukunft der
schrumpfenden Stadt entbrannt ist: Die „Europäische Stadt“, mit ihrer baulichen Dichte und ihren urbanen Qualitäten soll gegen eine Perforation verteidigt werden. Werden die aktuellen Einflüsse auf die Stadt jedoch akzeptiert, so scheint die Anerkennung
zwischenstadtartiger Erscheinungen unausweichlich. Aus Sicht der Stadtplanung werden dabei auch die Chancen für die Freiraumentwicklung pragmatisch als positive
Stadtumbauperspektive wahrgenommen.
(1) Für die Innenstadt wird nach dem Leitbild der „Europäischen Stadt“ eine kompakte, dichte, urbane Stadtstruktur angestrebt, indem Rückbau beschränkt und gezielt
Innenentwicklung gefördert wird. Selbst stark von Schrumpfung betroffene Kommunen halten zumindest für die Stadtzentrumsbereiche an den klassischen Stadtbildern
und Stadtentwicklungszielen fest. Die Innenstadt und die inneren Gründerzeitgürtel
sollen attraktive, dichte, urbane Stadtbereiche mit zentralen Funktionen und einer
entsprechenden stadträumlichen Qualität bleiben.
(2) Die Randbereiche der Innenstadt zeichnen sich durchaus noch durch historische
Bausubstanz, aber auch durch Stadterweiterungsgebiete in Plattenbauweise aus. Dort
wird mit dem Ziel des Rückbaus von außen nach innen versucht, soviel wie möglich
der alten Stadt im Zentrumsbereich zu erhalten. Allerdings zeigt sich an den Rändern
375
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
der Innenstadt die deutlich schwierigere Umsetzbarkeit dieses Ziels. So kann dieses
Rückbauleitbild im Grunde nur für einzelne Stadtbereiche formuliert werden. Der
Rückbau wird akzeptiert, aber bewusst auf Randbereiche der Stadt konzentriert. Derzeit nimmt diesen Rückbaubedarf vor allem der hier so bezeichnete „Schrumpfungsgürtel“ auf. Dort kommt es vor allem zu dispers verteilten Lücken. Teilräumlich werden
dort neue, vor allem mehr freiraumbezogene Stadtideen und Leitbilder entwickelt. Die
so teilweise zu erhaltenden dichten und kompakten Kerne im Schrumpfungsgürtel sind
Elemente der Fragmentierten Stadt. Dabei kann die Morphologie der Zwischenstadt in
den Randbereich zur inneren Stadt einsickern. Zu Gunsten der Stärkung des Zentrums
wird der zwischenstädtische Bereich größer. Freiräume sind dann aus der Notwendigkeit heraus positiv besetzte – aber doch nur – Lückenfüller.
Agrarlandschaft, Reste
Naturlandschaft
Städtebauliche Leitbilder/
Stadtmodelle:
Freiflächen in den Städten
(Brachen, Rückbauflächen)
Innenstadt:
"Europäische Stadt" oder
"Kompakte Stadt"
Innere Stadt
(Innenstadt,
1. Gründerzeitring)
Stadterweiterung bis 1990:
"Perforierte Stadt" oder
"Fragmentierte Stadt"
Innere Stadt
(Innenstadt, 1. Gründerzeitring, einzelne
Altbaugebiete und
Großwohnsiedlungen)
Stadterweiterung
bis 1990
Schrumpfungsgürtel
und Stadterweiterung
nach 1990
Wohn- und Gewerbegebiete
nach 1990 ("Zwischenstadt")
Schrumpfende Stadt:
Innenstadtkern und
1. Gründerzeitring mit Lücken:
Perforation
Stadterweiterung bis 1990:
Perforation
"Zwischenstadt" durch
Suburbanisierung
Geschrumpfte Stadt:
Verdichtung und Erhaltung des
urbanen Kerns (Innere Stadt)
Perforation und Fragmentierung
der Stadterweiterung bis 1990 in
urbane Inseln,
Ausdehnung der "Zwischenstadt"
nach außen und nach innen durch
zusätzliche Suburbanisierung
Abbildung 86: Leitbilder und städtebauliche Entwicklung schrumpfender Städte –
Schrumpfungsschema (Eigene Darstellung).238
Das in Abbildung 86 dargestellte Schema fasst die theoretischen und empirischen
Erkenntnisse zu den verfolgten städtebaulichen Modellen und Leitbildern schrumpfender Städte zusammen. Dieses Schema verdeutlicht die Leitbildorientierungen und damit die zu Grunde liegenden Vorstellungen über die Dichte und Struktur der schrumpfenden und geschrumpften Stadt sowie die daraus folgenden Annahmen zur entste-
238
Als innere Stadt wird hier ein erweiterter Innenstadtbegriff im Sinne der Gebietskulisse, die die bis
1948 entstandenen Stadtteile mit Mehrfamilienhausbestand umfasst, verstanden. Er umfasst, den
(soweit noch) vorhandenen mittelalterlichen Stadtkern, die gründerzeitlichen Stadterweiterungen,
die Bebauung der Zwischenkriegszeit sowie bauliche Überformungen seit 1948 in diesem Gebiet,
in Form von kriegsbedingter Lückenbebauung und kleineren Plattenbauvierteln (BMVBS, BBR
2008, S. 19).
376
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
henden Stadtstruktur: Als Konsequenz der städtebaulichen Leitbilder kann die geschrumpfte Stadt aus einem (evtl. in seiner Ausdehnung kleineren) kompakten, dichten, gemischten Kern und einem perforierten oder fragmentierten Schrumpfungsgürtel
bestehen. Inwieweit in diesem eine Fragmentierung – und damit kleinteilige Bündelung
von Nutzung und Gebautem mit gliedernden Freiräumen – oder eine zwischenstadtähnliche Dispersion städtischer Nutzungen und Freiräumen entsteht, hängt von den
stadträumlichen Voraussetzungen und der Steuerbarkeit des Schrumpfungsprozesses
ab. Zwischenzeitlich werden einzelne Stadtgebiete auch als perforiert erscheinen. Aussagen zur künftigen Stadtstruktur basieren natürlich darauf, dass die Leitbilder (erfolgreich) umgesetzt werden. Dies ist in Reinform sicherlich nicht zu erwarten.
Entsprechend der angewendeten städtebaulichen Leitbilder kommen dem Freiraum
im inneren und äußeren Stadtbereich unterschiedliche Aufgaben zu. Die eigentliche
Herausforderung der aktuellen Freiraumplanung ist nicht die innere Stadt, denn dort
ändert sich die Rolle der Freiräume ebenso wenig wie ihre Nutzung und Gestaltung.
Im Gegensatz dazu werden in der äußeren Stadt, mit deutlich sichtbaren Schrumpfungsauswirkungen, an die Freiraumplanung ganz erhebliche Verwertungsanforderungen gestellt.
Freiraum spielt im Leitbild der „Europäischen Stadt“ als öffentlicher Raum mit urbanen
Qualitäten, als entsprechend intensiv gestaltetes und genutztes Element des Städtischen, eine wichtige Rolle. In dieser Funktion leistet er einen Beitrag zum Erfolg dieses
Leitbildes. Denn Erhalt, Wiederbelebung, Nachfrage und Investitionen hängen auch
von der Lebens- und Umweltqualität in der Innen- oder inneren Stadt ab. Dabei geht
es weniger um die Menge, als um die Qualität des Freiraums. Wobei auch ein „Einsickern der Peripherie in die innere Stadt“ (Lütke Daldrup 2004, S. 115) in Form nichtstädtischer Freiräume (Zwischennutzungen, Sukzessionsflächen oder urbaner Wald)
teilweise das Bild der künftigen europäischen Stadt prägen wird. Darüber hinaus können in der kompakten Stadt auch die bekannten Defizite der Freiraumversorgung auftreten: Verlust von Freiräumen durch Innenentwicklung, wenige repräsentative, aber
kaum nutzbare Freiräume. Da vor der Kontraktion auf einen kompakten Kern aber
meist Perforation kommt, erlangt Freiraum zwischenzeitlich auch in der inneren Stadt
eine höhere Bedeutung als Zwischenlösung. Somit kommt dem Freiraum zumindest in
dem aktuell noch recht jungen Stadtumbauprozess eine höhere Bedeutung zu. Insbesondere in der Phase, in der nahezu in allen Stadtteilen Perforationserscheinungen
auftreten – ob geplant oder zufällig – werden durch freiraumplanerische Zwischennutzungen Schrumpfungsauswirkungen positiv umgedeutet. Leitbilder wie „Mehr Grün,
weniger Dichte“ stellen die Potenziale einer Entdichtung in den Vordergrund des
Schrumpfungsprozesses. Die – auch durch die städtebaulichen Leitbilder forcierten –
längerfristig angestrebte Entwicklung einer kompakten Innenstadt bedeutet aber auch,
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
dass diese freiraumplanerischen Interventionen eher Mittel zum Zweck der Wiederbebauung sind, als dass sie einer langfristigen freiraumplanerischen Strategie folgen.
Im Schrumpfungsgürtel ändert sich die Bedeutung des Freiraums: In der fragmentierten Stadt wird der Freiraum zur quantitativ dominanten Grundsubstanz der Stadtstruktur. Er soll die einzelnen Stadtkerne abgrenzen und verbinden, die verbleibenden und
neu entstehenden Stadtfragmente gliedern und dem heterogenen Stadtgefüge Zusammenhalt geben. Inwiefern sich dies auch langfristig in einer gesteigerten Wertschätzung und Rolle der Freiräume in Planungsentscheidungen niederschlägt, ist aktuell noch nicht absehbar. In der äußeren Stadt – dem Schrumpfungsgürtel – steht die
Freiraumplanung vor der Herausforderung, sehr groß dimensionierte, nicht konventionell gestalt- und nutzbare Freiräume zu planen und zu unterhalten. Neben Gestalt und
Funktion stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung für diese Flächen. Denn sie
sind kaum mit bekannten Organisationsstrukturen zu bewirtschaften. Es ist anzunehmen und teilweise auch durch die empirischen Befunde belegt, dass sich die Zuwendung zu freiraumplanerischen Belangen mit den weniger attraktiven Aufgaben und
schwierigen Herausforderungen im äußeren Stadtbereich eher verringern wird. An
dieser Stelle wird die Land- und Forstwirtschaft in der Verantwortung gesehen, für
diese Flächen Nutzungen zu finden. Ob und mit welchen Ansätzen die Freiraumplanung reagiert, wird in Kapitel D.2.2. erörtert.
In einem äußeren Schrumpfungsgürtel wird das klassische Verständnis von Stadt,
aber auch von städtischem Freiraum, aufgegeben. Dies ist die Voraussetzung für die
Inwertsetzung der neuen Stadtstrukturen, die Umsetzung freiraumplanerischer Stadtumbaustrategien und der Akzeptanz neuer Freiraumtypen. Dieser Bewusstseinswandel ist Grundlage für ein Verständnis der schrumpfenden Stadt als Chance zu einer
besseren Freiraumversorgung.
Das die Wahrnehmung und den Umgang mit der schrumpfenden Stadt prägende
Bewusstsein ist derzeit noch von den Paradigmen der Europäischen Stadt und dem
Modell der Kompakten Stadt bestimmt: Ebenso wie „die Kraft der alten Landschaft
nicht zu unterschätzen ist“ (Eisel 2007, S. 52), sollte somit auch die Kraft der alten
Stadt nicht unterschätzt werden. Trotz negativer Bevölkerungsentwicklung, teilweise
dramatischer Leerstände und sich stark wandelnder Flächennutzungsmuster scheint im
theoretischen Diskurs und in der planungspraktischen Diskussion ein Bewusstseinswandel noch nicht eingetreten zu sein. Das Gros der Stadtumbauansätze verwendet
große Anstrengungen darauf, das auch in der politischen Diskussion um nachhaltige
Entwicklung und Flächenschutz bestimmende Bild der dichten und klar abgegrenzten
Stadt zu entwickeln. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein (Ideal)Bild, das unter den
realen Bedingungen im Grunde kaum tragfähig ist. Dies ist eine tief verankerte Denkund Handlungsweise: „Wir greifen auf Muster zurück und wollen das Gewohnte ret-
377
378
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
ten, indem wir die Veränderungen ästhetisch entwerten, statt sie zunächst einmal zu
verstehen“ (Ipsen 2006, S. 150).
Versteht man die schrumpfende Stadt als urbane Landschaft, kann nach der Theorie
des Landschaftsbewusstseins (ebd.; Kapitel C.2.2.2) eine Blick- und Wahrnehmungsveränderung der Schlüssel zu einem Inwertsetzungsansatz sein. (Abbildung 87): Der
Blick auf die Stadt ist geprägt von der Vorstellung der dichten, kompakten, urbanen
europäischen Stadt. In der schrumpfenden Stadt gibt es aber auch Lücken, Entdichtung und Brachflächen. Diese als Chance zu verstehen, die Stadt zu durchgrünen,
wohnungsnahe Freiraumangebote und eine ökologische Lebensraumvielfalt zu verwirklichen, erfordert eine veränderte Wahrnehmung der Stadt.
Prägung
Europäische Stadt, Dichte, Urbanität, bauliche Kontinuität
Landschaftsbewusstsein
Dimensionen
baulich, kulturell, sozial
Schrumpfende Stadt
(urbane Landschaft)
Verfall, Abriss, Brachen
Gestaltung
Aufwertung von
Abrissgrundstücken
Zwischennutzungen
Dauerhafte
Freiraumentwicklung
Neue Freiraumtypen
Landschaftsbewusstsein
Niedergang, Leere,
Entdichtung
Chancen und
Potenziale neuer
Freiräume
Abbildung 87: Änderung des Landschaftsbewusstseins als Voraussetzung für eine Gestaltung der
schrumpfenden Stadt (Eigene Darstellung in Anlehnung an Ipsen 2006, S. 84, 87).
Die Anerkennung der schrumpfenden Stadt als positives Bild erfordert die Akzeptanz
und Umsetzung freiraumplanerischer Gestaltungsansätze. Dafür ist es notwendig, ein
Freiraumverständnis zu entwickeln, welches über eine Wahrnehmung als Notlösung
und (temporäre) Flächenverwertung hinausgeht.
Die in Kapitel D.1.1 beschriebene zunehmende Akzeptanz der Fragmentierung von
Stadträumen und die damit verbundene veränderte Rolle des Freiraums zeugen teilräumlich von dieser veränderten Wahrnehmung der Stadt. Betrachtet man den relativ
kurzen Zeitraum, in dem sich Rückbau und freiraumplanerische Nachnutzung zu mehr
oder weniger als adäquat akzeptierten Stadtumbaustrategien entwickelt haben, kann
man durchaus von einem Bewusstseinswandel sprechen. In einzelnen Fällen wird das
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
Städtische gänzlich aufgegeben und in Randgebieten Renaturierung und Aufforstung
angestrebt – wenngleich dies vermutlich Einzelbeispiele sind und bleiben. Es ist anzunehmen, dass die politisch forcierte Unterstützung sowie die künstlerische und kulturelle Auseinandersetzung mit dem Stadtumbau dazu beigetragen haben, den Blick auf
die Stadt zu ändern und diese neuen Wege zu akzeptieren und bewusst einzusetzen.
Die künftige Ausprägung und Aneignung der neu entstehenden Freiräume und damit
der Erfolg der freiraumplanerischen Ansätze trägt zu diesem veränderten Bewusstsein
bei. So kann sich Freiraumplanung als Strategie für die aktuellen Herausforderungen
verfestigen.
1.2
Freiraum in der schrumpfenden Stadt – Ausdruck eines neuen Naturund Landschaftsverständnisses?
Ein neues und umfassendes Landschaftsverständnis ist in schrumpfenden Städten
nicht zu erkennen, wohl aber die Akzeptanz ursprünglich kultur- oder naturlandschaftlicher Elemente. Dies resultiert teilräumlich durchaus in stärker landschaftlich
bzw. freiraumräumlich geprägten Stadträumen.
Die der empirischen Untersuchung zu Grunde liegende Annahme, dass aktuell in den
schrumpfenden Städten entwickelte Freiräume Ausdruck eines neuen Natur- und
Landschaftsverständnisses wären, hat sich nur teilweise bestätigt. Es werden zwar
mehr Freiräume und neue Freiraumtypen akzeptiert – dies zeugt aber eher von den
Notwendigkeiten als von einem Verständnis- oder Bedeutungswandel.
Aktuell gibt es wieder verstärkt Bestrebungen, die als nichtstädtische Elemente ausgelagerten, gärtnerischen und landwirtschaftlichen Nutzungen in der Stadt zu etablieren.
Dies resultiert einerseits aus der Notwendigkeit und andererseits aus der Möglichkeit
neue, extensive Nutzungen auf frei werdenden Flächen zu entwickeln. Beispielsweise
hat die Ausweisung von Grabelandflächen durchaus Züge einer Subsistenzwirtschaft,
welche dann in Migrantengärten zusätzlich noch dem Bedürfnis nach Integration und
nach (aus den Herkunftsländern gewohnter) gärtnerischer Betätigung nachkommt.
Inwiefern diese Entwicklungen zunächst nur Folgen ökonomischer und demografischer
Veränderungsprozesse sind oder tatsächlich den Wunsch nach mehr Naturnähe ausdrücken, ist fraglich. Unabhängig davon können sie ein neues Naturverhältnis künftig
erwarten lassen oder sogar auch erforderlich machen.
Der Begriff der Landschaft taucht in den untersuchten Städten in recht unterschiedlichen Zusammenhängen auf. Ein umfassendes Landschaftsverständnis, in Anlehnung
an die theoretische Diskussion, wird dabei nicht explizit formuliert. Ob dies implizit
vorhanden ist, kann nur vermutet werden und wird als unwahrscheinlich eingeschätzt.
Es handelt sich bei den theoretisch diskutierten Ansätzen doch weitgehend um akademische Zugänge, die für die Planungspraxis wenig Anknüpfungspunkte bieten. Der
379
380
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
Ansatz, die gesamte Stadt als Landschaft wahrzunehmen, findet sich in der Praxis eher
nicht. Wird von städtischer Landschaft gesprochen, so steht dies als Synonym für
großzügige und evtl. auch neuartige Freiräume in der Stadt auch in Abgrenzung von
anderen Landschaften. Die durchaus große Rolle, die Freiraum in den unterschiedlichen Ansätzen der Bewältigung der Schrumpfung spielt, ist nicht gleichzusetzen mit
einer Lesart der schrumpfenden Stadt als (Kultur-)Landschaft: Stadtlandschaft kann
nicht bedeuten, „Stadt mit sogenannter (!) ‚Landschaft’ zu zergliedern oder aufzufüllen“ (Nagel 2007, S. 223). Vielmehr geht es um landschaftsbezogene Nutzungen zur
Qualifizierung der Räume auf verschiedenen Maßstabsebenen (ebd., S. 223). Zusammenfassend wird teilweise (1) Stadt und Landschaft, (2) Stadt als Landschaft und (3)
Landschaft in der Stadt wahrgenommen, ein umfassendes Landschaftsverständnis ist
nicht erkennbar (Abbildung 88). Die Abbildung ordnet die empirisch vorgefundenen
Konzepte mit Aussagen zum Thema Landschaft den drei genannten Varianten des
Landschaftsverständnisses zu.
Vorbilder für neue Freiräume
Kulturlandschaft
Urbane Landschaft / Stadt
(1) Stadt + Landschaft
(2) Stadtlandschaft
(3) Städtische Landschaft
Stadt als Gegensatz zur
Landschaft
Stadtgebiet mit hohem
Freiraumanteil
Städtischer Freiraum
neuen Typs
Urbane Stadt_Landschaft
(Leipzig)
Grünes RietzschkeBand
(Leipzig)
Waldstadt
(Halle-Silberhöhe)
Städtebaulicher und
landschaftlicher Korridor
(Halle)
Uferpark
(Chemnitz)
Freiräume im Uferpark
(Chemnitz)
Leitbild
Grünraumentwicklung
(Chemnitz)
Dunkler Wald und
Lichter Hain
(Leipziger Osten)
Freiraumsysteme
(Leipzig,Chemnitz)
Naturlandschaft
Vorbilder für neue Freiräume
Abbildung 88: Landschaftsverständnis in schrumpfenden Städten (Eigene Darstellung).
(1) Stadt und Landschaft: Beide Kategorien werden als gegensätzliche Formen angesehen. In diesem Zusammenhang sind auch die in den Städten angestrebten Freiraumoder Grünsysteme einzuordnen: Diese Konzepte streben eine systematische Durch-
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
grünung der Stadt mit unterschiedlichen „landschaftlichen Elementen“ an, sehen dies
aber doch immer als Gegengewicht zur gebauten Stadt. Dies wird auch in der Addition
der Begriffe in den einzelnen Städten deutlich: Die beiden Elemente der Stadt – Gebautes und Freiraum – sind beide sehr wichtig, insbesondere der Freiraum erhält in der
schrumpfenden Stadt schon quantitativ ein großes Gewicht. Mehr als (gleichwertiger)
komplementärer Teil wird er aber auch in der schrumpfenden Stadt nicht werden.
(2) Stadt als Landschaft / Stadtlandschaft: Stark durch Freiräume geprägte Stadtbereiche in schrumpfenden Städten finden sich in diesem Verständnis wieder. Die Landschaft soll Kohärenz in vom Auseinanderfallen bedrohten Stadträumen bieten. Bereits
vor der Schrumpfungsdebatte wurde der Begriff beispielsweise für Auwälder, Grünzüge an Gewässern oder stadtnahe landwirtschaftliche Bereiche benutzt. Neben diesen
bekannten „Stadtlandschaften“ kommen im Zuge großer Rückbaumaßnahmen Stadtgebiete mit einem hohen Freiflächenanteil hinzu, für welche die Bezeichnung auch
passend erscheint und entsprechend angewendet wird.
(3) Landschaft in der Stadt oder Städtische Landschaft werden in den Beispielstädten
Freiräume genannt, die weniger den bekannten urbanen Freiraumtypen entsprechen.
Es handelt sich meist um große Räume, die gewissermaßen naturnah geprägt sind und
deren Gestaltung sich teilweise an natur- oder agrikulturlandschaftliche Pendants oder
Vorbildern orientiert. Insofern werden spezifische neuartige städtische Freiraumtypen
(Kapitel D.2.2) als städtische Landschaft bezeichnet. Dieses Element der Stadt ist dann
aber noch immer als komplementär zu Elementen der gebauten Stadt zu sehen. Diese
Sichtweise ermöglicht es, auch neue Freiraumtypen in den Städten zu akzeptieren.
Es kann zusammengefasst werden, dass zwar mit mehr und anderen Freiräumen agiert
wird, sich aber dennoch die Sichtweise der Stadt nicht in eine landschaftliche ändert.
Ob die angewandten freiraumplanerischen Maßnahmen sich dann städtischer oder
agrarischer Vorbilder bedienen, ist zunächst weniger erheblich. Voraussetzung für eine
Anerkennung der gesamten Stadt als eine spezifische Ausprägung von Landschaft
wäre die gleichberechtigte Anerkennung landschaftlicher neben baulichen Elementen.
Anerkennung würde dabei aber nicht nur Duldung als Mittel zum Zweck, sondern
selbstbewusste Auseinandersetzung mit Chancen und Grenzen der Gestaltungskraft
unterschiedlicher Freiraumformen erfordern. Dies geschieht bisher nur teilräumlich und
in begrenztem Umfang. Insofern kann ein tatsächlich umfassendes Landschaftsverständnis nicht festgestellt werden.
381
382
D.1 Freiraum als Flächennutzung schrumpfender Städte
Freiräume werden quantitativ in der schrumpfenden Stadt eine größere Bedeutung
erlangen. Die Gestaltung und Nutzung dieser Freiräume erfolgt abhängig von den
Voraussetzungen und Beweggründen in einer großen Bandbreite und spiegelt die
verschiedenen Kategorien der Stadtnatur wider.
Die Beschreibung der vier Typen von Natur in der Stadt nach KOWARIK (Kowarik
1993, Kapitel C.2.1.3) kann auch als Systematisierungsansatz in schrumpfenden Städten genutzt werden:
Bei der Nachnutzung der Flächen geht es im Grunde um die (ästhetische) Entscheidung für einen der vier Stadtnaturtypen. Wenn auch die kulturhistorischen Bezüge
zum Typ 1 (Reste der ursprünglichen Naturlandschaft) und zum Typ 2 (Reste der
agrikulturellen Landschaft) nicht vorhanden sind, so lehnt sich doch eine nicht geringe
Anzahl der Nachnutzungsvorschläge an die Gestaltbilder dieser beiden Stadtnaturtypen an. Ansätze wie die urbane Landwirtschaft, Wald und Wildnis in der Stadt zeugen
von der Adaption dieser Formen als Optionen für künftig entstehende Freiräume in
schrumpfenden Städten. Gesellschaftlich am meisten legitimiert, aber zusehends kaum
noch finanzierbar, ist die Gestaltung entsprechend der Stadtnatur des 3. Typs (gärtnerische Gestaltung). Nur selten geschieht nach dem Abriss gar nichts und dementsprechend stellt sich auch der 4. Typ der Stadtnatur in der Regel nicht von selbst ein, sondern wird initiiert und zumindest mit kleinen gestalterischen Eingriffen gesteuert. Nach
dem Abriss von Wohngebäuden werden die zunächst entstehenden Brachen bewusst
wahrgenommen und hinsichtlich einer Gestaltung und Nutzung diskutiert – insofern
handelt es sich nicht um die ursprünglich zu KOWARIKs vierten Typ der Stadtnatur
führenden „vergessenen“ Flächen in der Stadt.
In Kapitel D.2.2 wird auf konkrete Gestaltungsansätze in Zuordnung zu den vier
Stadtnaturtypen eingegangen. Die Etablierung des 4. Typs zeugt dabei meist weniger
von der generellen Wertschätzung der Natur auf Stadtbrachen, als von Finanzierungsbeschränkungen, die mit einer vermeintlichen ökologischen Wertsteigerung durch
weniger Pflege legitimiert werden. Auch ist nicht zu erwarten, dass gerade in schrumpfenden Städten jegliche jetzt frei werdende Fläche sich selbst überlassen wird: Zum
einen ist die Akzeptanz auf Seiten der betroffenen Anwohner nicht in entsprechendem
Umfang vorhanden. Zum anderen ist fraglich, ob dies tatsächlich – aufgrund damit
verbundener Niedergangsvorstellungen – zum nachhaltigen Stadtumbau beitragen
kann. Im Gegenzug ist aber im weiteren Verlauf der Schrumpfungsprozesse zumindest
teilweise damit zu rechnen, dass eine aktive Gestaltung aller frei werdenden Flächen
nicht mehr realisierbar ist. Das bedeutet, dass verstärkt Flächen des 4. Typs entstehen
könnten.
D.2 Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
2
Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden
Städten
Die Freiraumplanung reagiert auf die Möglichkeiten und Herausforderungen des
Stadtumbaus mit vielfältigen Handlungsansätzen. Zunächst kristallisieren sich unterschiedliche freiraumplanerische Strategien zum Umgang mit den Herausforderungen
des Stadtumbaus heraus (Kapitel D.2.1). Die freiraumplanerischen Handlungsansätze
können verschiedenen Freiraumtypen zugeordnet werden (Kapitel D.2.2).
2.1
Freiraumplanerische Strategien in schrumpfenden Städten
Die Freiraumplanung in schrumpfenden Städten bewegt sich zwischen notwendigen
Reaktionen auf Stadtumbauerfordernisse und proaktiven Stadtumbaustrategien.
Betrachtet man die Stadtumbaupraxis, so werden zwei parallele Trends der Freiraumentwicklung deutlich: Einerseits gibt es die „klassischen“ freiraumplanerischen Projekte, welche auf den Bemühungen der öffentlichen Grünverwaltungen beruhen und
bisher trotz zurückgehender kommunaler Investitionsmittel umgesetzt werden können.
Andererseits gibt es eine Vielzahl von Rückbauflächen im privaten Besitz, die zunächst
auch frei bleiben und sich auch ohne entsprechende Maßnahmen relativ schnell als
grüne Flächen darstellen. Allerdings gibt es für diese Flächen in der Regel weder Ambitionen noch die entsprechenden Finanzmittel, tatsächlich freiraumplanerische Maßnahmen durchzuführen. Den durch die rückbaubedingten Freiflächenzuwächse vermeintlich besseren Umsetzungschancen freiraumplanerischer Maßnahmen sind so
auch im Stadtumbau deutliche Grenzen gesetzt. Dies bedeutet, dass nicht alle Freiflächen, die zunächst einen „grünen“ Eindruck machen, tatsächlich auf freiraumplanerischen Maßnahmen im engeren Sinne beruhen.
Die Planungspraxis der untersuchten Städte zeigt, dass von Seiten der Landschaftsplanung, des Naturschutzes, der Umweltplanung und auch der städtischen Freiraumplanung Entwicklungsziele formuliert und teilweise auch in gesamtstädtische (Stadtumbau-) Planungen einfließen. Nicht immer entstehen Freiflächen durch Rückbau an den
Orten, an denen konkrete freiraumplanerische Maßnahmen wünschenswert oder
notwendig wären. Eine Überlagerung ist eher zufälliger Natur, und selten werden
Rückbauentscheidungen aufgrund freiraumplanerischer Ziele getroffen. Insofern stellen sich die zuständigen Akteure zu Recht die Frage, an welchen Stellen sie mit welchem (finanziellen) Einsatz fachplanerische Maßnahmen umsetzen können bzw. wollen. In Zukunft ist zu erwarten, dass an einigen Stellen land- und forstwirtschaftliche
Bewirtschaftungsstrategien großflächig konventionelle freiraumplanerische Maßnahmen ersetzen müssen.
383
384
D.2 Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
Die Anforderungen an die Freiraum- und Landschaftsplanung in der Stadt sind größer
geworden: Neben den Kernaufgaben Umweltvorsorge und Freiraumversorgung werden verstärkt Beiträge zum Stadtumbau und generell der Stadtentwicklungsplanung
erwartet. So hat die Freiraumplanung aktuell mehr Möglichkeiten, grundsätzliche Ziele
und einzelne Maßnahmen umzusetzen. Grenzen sind – im Unterscheid zur bisherigen
Planungspraxis – weniger durch konkurrierende Nutzungen gesetzt. Probleme können
eher die Flächenverfügbarkeit, ungeklärte rechtliche Fragen sowie der Frage der Bodenwerte darstellen. So verbessert sich in quantitativer Hinsicht zwar die Umsetzungsmöglichkeit freiraumplanerischer Belange, aber nicht automatisch auch die Umsetzbarkeit.
Die Herausforderungen der Zukunft liegen darin, hierfür verbesserte Ansätze zu entwickeln. Die Freiraumplanung als Fachplanung mit entsprechender Expertise muss allerdings nach wie vor um Mittel, Personal und Integration kämpfen. Nur durch eine personelle und finanzielle Stärkung der Fachplanung kann den größeren Möglichkeiten
und Herausforderungen adäquat begegnet werden.
Die empirischen Befunde zeigen die Verständnis- und Zuständigkeitsunterschiede im
Bereich der kommunalen Freiraumplanung. Die Verantwortung für die Anlage „klassischer Grünflächen“ wird zum einen von den Grünflächenämtern selbst gesehen und
zum anderen z. B. von Seiten der Stadtplanungsämter von ihnen erwartet. Aufgaben,
die man nach dem konventionellen Verständnis eher der Landschaftsplanung zuordnet, z. B. Wald und Grünzüge, werden auch eher diesem Ressort angetragen. Die
Landschaftsplanung wiederum hat mit ihren formellen Instrumenten, insbesondere mit
dem Landschaftsplan, ein vermeintlich starkes Mitspracherecht. Allerdings wird der
Landschaftsplanung auch – mehr oder weniger unbeabsichtigt – eine starke naturschutzfachliche Orientierung zugesprochen. Bestehen seitens der Stadtplanung dieser
gegenüber Vorbehalte, wird die freiraumplanerische Nachnutzung im Stadtumbau
erschwert. Dieses Verständnis führt dazu, dass der Handlungsspielraum der städtischen
Grünplanung nicht erkannt bzw. anerkannt wird. Einem proaktiven Umgang mit
Stadtumbau und den Chancen der Freiraumplanung sind damit Grenzen gesetzt.
In schrumpfenden Städten werden zwei grundlegende freiraumplanerische Ansätze
eingesetzt. Die temporäre freiraumplanerische Nutzung ist dabei eher als attraktive
Stadtumbaustrategie einzuordnen. Für tatsächlich freiraumplanerische Strategien im
Sinne dauerhaft angelegter Freiräume bestehen zahlreiche Hemmnisse – wenngleich
nur dadurch die Bedeutung des Freiraums in schrumpfenden Städten steigen kann.
Die Zwischennutzung und die dauerhafte Freiraumentwicklung stellen die beiden
grundlegenden strategischen Ausrichtungen der Freiraumplanung dar. Die konkreten
Nachnutzungsprojekte in den untersuchten Städten zeigen die vielfältige Anwendung
beider Strategien (Abbildung 89). Für beide Richtungen gibt es unterschiedliche Be-
385
D.2 Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
weggründe, Rahmenbedingungen, Aufgaben und Perspektiven, die sich auch in unterschiedlichen Funktionen und Gestaltungen der einzelnen Freiräume äußern.
Die Differenzierung dieser beiden Ansätze ist von Seiten der Freiraum- und Landschaftsplanung dabei im Bewusstsein der jeweils innewohnenden Potenziale, aber vor
allem auch Grenzen, sehr viel deutlicher als auf Seiten der Stadterneuerung oder planung. Entsprechend wird seitens der Freiraumplanung auch eine offene Diskussion
und deutliche Stellungnahme gefordert. Denn von ihrer Seite betrachtet, sind die vermeintlich großen Spielräume der Freiraumplanung schnell nur noch kurzfristige Notwendigkeit zur Umsetzung der Stadtumbauziele. So werden von der kommunalen
Freiraumplanung Ressourcen und Ideen für temporäre Zugeständnisse an die Freiraumentwicklung verlangt, tatsächliche größere und langfristige Handlungsspielräume
sind damit meist nicht verbunden. So zeugt die doch verbreitete Sichtweise der Stadtplanung auf temporäre Freiraumnutzungen vom Anspruch einer kurzfristigen Lösung
mit langfristigen Bebauungsoptionen. Dies kann an einzelnen Stellen durchaus sinnvoll
und der Stadtumbaustrategie zuträglich sein. Im Gegenzug kann eine langfristige Aufwertung schrumpfender Städte aber nur mit dauerhaften Freiräumen abgesichert werden. Insofern sollte eine „Doppelstrategie“ aus temporärer und dauerhafter Freiraumentwicklung verfolgt werden.
Temporäre freiraumplanerische
Nutzung
Begrünung von Abrissgrundstücken in
Großwohnsiedlungen
Dauerhafte freiraumplanerische
Nachnutzung
Moritzpark
Auepark
Brückenpark Konkordiapark
Bunte Gärten (Sonnenberg)
Offenlegung der Chemnitz
Chemnitz
Kurzumtriebsplantage
(Halle-Neustadt)
Neustadt-Gärten
(Halle-Neustadt)
Thüringer Bahnhof
Stadtwald
(Halle-Silberhöhe)
Zwischennutzungen in Gründerzeitgebieten
Aufforstung
(Halle-Silberhöhe)
Halle
Erweiterung Rabet (Leipziger Osten)
Park 5.2 (Leipzig-Grünau)
Henriettenpark (Leipzig-Lindenau)
Lichter Hain Dunkler Wald (Leipziger Osten)
Grüner Bogen (Leipzig-Paunsdorf)
Mietergärten (Leipzig-Grünau)
Nachbarschaftsgärten (Leipzig-Lindenau)
Leipzig
Abbildung 89: Temporäre und dauerhafte freiraumplanerische Nutzung von Abrissgrundstücken
in den Beispielstädten (Eigene Darstellung).
Dauerhafte Freiraumentwicklung
Da eine nachhaltige Stadtentwicklung und Stadterneuerung auch der langfristigen und
dauerhaften Entwicklung des Standortfaktors „Grün“ bedarf, ist neben Zwischennutzungen oder besser noch vordergründig eine Strategie der Entwicklung und Sicherung
dauerhafter Freiräume notwendig. Diese kann verschiedene Ziele verfolgen und in
386
D.2 Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
unterschiedlichen Freiraumkategorien umgesetzt werden. Insbesondere durch den
enormen Zuwachs an Rückbauflächen im Randbereich der Städte sind dauerhafte
Freiraumnutzungen notwendig, da dort kaum noch mit baulichen Verwertungsansätzen gerechnet werden kann. Aber auch im Innenstadtbereich ist dies erforderlich –
wenn auch aus einem anderen Grund: Langfristig zu erwartende bauliche Nutzungskonkurrenzen können nur durch eine dauerhafte Freiraumsicherung abgewendet werden.
Die untersuchten Beispiele und auch Erfahrungen aus anderen Stadtumbaustädten
zeigen, dass der Rückbau nicht mehr benötigter Wohn- und Gewerbegebäude genutzt
wurde und wird, um dauerhafte Freiräume zu entwickeln. Insofern ist die Freiraumplanung durch die besseren Bedingungen beim Flächenangebot und sinkende Flächennutzungskonkurrenzen durchaus erfolgreich. Allerdings gehen potenzielle Freiräume
und freiraum- bzw. landschaftsplanerische Zielstellungen nur selten überein. Da in der
Regel nicht nach freiraumplanerischen Kriterien zurückgebaut wird, muss die Freiraumplanung mit den Flächen Vorlieb nehmen, die zumeist aus wohnungswirtschaftlichen Gründen heraus frei geworden sind. Hierbei werden auch die Grenzen freiraumplanerischer Verwertungsmöglichkeiten deutlich: Freiräume auf jeder Fläche und um
jeden Preis entsprechen weder der Machbarkeit und dauerhaften Tragfähigkeit noch –
mit Blick auf freiraumplanerische Strategien und Ziele – dem Aufwertungsansatz im
Rahmen des Stadtumbaus.
Durch gezielten Rückbau zusammenhängende Flächen zu beräumen und dauerhaft
Stadtteilparks anzulegen, kann als erfolgreiche Strategie der Quartiersstabilisierung,
insbesondere in bisher unterversorgten, dichten Gründerzeitquartieren, eingeschätzt
werden. Der hohe planerische (Bodenordnung, Baurecht) und finanzielle (intensive
Gestaltung und Unterhaltung) Aufwand rechtfertigt die Erfolge bei der
Wohnumfeldaufwertung und der Generierung privater Investitionen im Gebäudebestand. In Zukunft werden die Spielräume für Maßnahmen dieser Art aufgrund der
ökonomischen Rahmenbedingungen der Kommunen aber enger.
Manchmal gelingt es, auch die freiraumplanerischen Maßnahmen, die als Folge mangelnden baulichen Nachnutzungsdrucks „aus der Not heraus“ entstanden sind, zumindest langfristig als strategische Zielrichtung zu etablieren. Wenn solcher Art „winwin-Situationen“ entstehen, und Rückbau letztendlich im Grunde nur der Anstoß war,
diese freiraumplanerischen Maßnahmen tatsächlich zu forcieren, dann kann durchaus
von einem Bedeutungszuwachs des Freiraums als Grundlage einer wirklich dauerhaften
strukturellen Veränderung des Stadtgefüges gesprochen werden.
Freiraumplanerische Zwischennutzungen
Zwischennutzungen sind auch in den hier untersuchten schrumpfenden Städten weit
verbreitet. Wobei die Stadt Leipzig diesen Ansatz bekanntermaßen sehr intensiv ein-
D.2 Handlungsansätze der Freiraumplanung in schrumpfenden Städten
setzt und gewis

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