Literarisches und filmisches Erzählen, J. Stefanski
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Literarisches und filmisches Erzählen, J. Stefanski
LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski Literarisches und filmisches Erzählen im Vergleich: Ideen für einen Literaturunterricht in medialer Perspektive 1. Grundlage des didaktischen Ansatzes Geschichten erzählen und dabei unterhalten wollen - das ist ein Film bzw. TV und Literatur verbindendes Moment. Jonathan Culler erläutert in seiner literaturtheoretischen Einführung 1 diesen Zusammenhang recht prägnant, indem er „Erzählen als Möglichkeit, Ereignisse in der Weise eine Form zu geben, dass aus ihnen eine Geschichte wird“ versteht. Als Folge dieser Überlegung geht der hier dargestellte didaktische Ansatz von der Annahme aus, dass diese Kunstformen auf die selben Konzepte von Inszenierung bzw. Vermittlung zurück greifen. Damit können Filme, Serien oder literarische Texte mit Hilfe des universellen Dreischritts Inhalt - Form - Wirkung analysiert werden. Filmsequenzen eignen sich demnach, um im Deutschunterricht einen analytischen Umgang mit Literatur anhand eines den Schülerinnen und Schülern vertrauten Mediums exemplarisch zu vermitteln und anschaulich zu üben. Jonathan Culler gibt zugleich die Möglichkeit einer Didaktisierung vor: „Die Geschichte bzw. Handlung ist das Material, das aus einem bestimmten Blickwinkel vom Text vermittelt und strukturiert wird." Aus diesen grundlegenden Überlegungen lassen sich zwei didaktische Leitfragen entwickeln, mit denen sich Filmen und Serien sowie Literatur genähert werden kann: Was geschieht und wie wird es dargestellt? Welche Form der Vermittlung wurde gewählt und worin besteht ihre Funktion? Für die Schüler könnte die Leitfrage in dieser Form formuliert werden, die sich für eine analytische Annäherung an literarisches und filmisches Erzählen eignet: Aus wessen Sicht erfolgt die Darstellung, zu welchem Zeitpunkt, mit welcher Distanz, in welchem Tempo und über welchen Grad der Informiertheit verfügt der Darstellende? Dabei ist es hilfreich, die folgenden Gestaltungsmerkmale zu parallelisieren: Kamera = Erzähler Schnitt = Orts-, Zeit-, Handlungswechsel Bildkomposition = sprachliche Gestaltung Soundtrack = sprachliche Gestaltung Spannungsaufbau = sprachliche Gestaltung Diese Herangehensweise ist nicht als Unterrichtsreihe zu verstehen, sondern vielmehr als ein didaktisches Werkzeug gedacht, das sich an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler orientiert. Filmisches Erzählen bietet durch die enge Verbindung zu literarischem Erzählen die Möglichkeit, die formalen Gestaltungselemente von Prosatexten zu visualisieren und so ihre Wirkung zu verdeutlichen. Aus dem abstrakten Erzähler, der die Handlung vermittelt und vom Autor bewusst gestaltet ist wird durch die Gegenüberstellung mit einer kurzen Filmsequenz z.B. eine konkret erfahrbare Kameraführung, die vor dem Hintergrund der Handlung und unter Rückbezug auf die Wirkung als formales Gestaltungsmittel erkannt wird. 2. Beispiele aus der Praxis Klasse 5/6 Durch einen Vergleich von Tomy Wigands Verfilmung des Jugendbuch-Klassikers „Das fiegende Klassenzimmer“ aus dem Jahr 2003 mit dem Kästner-Roman kann die Wirkung unterschiedlicher Erzählergestaltung verdeutlicht werden. Hier eignet sich z.B. die zweite Abteilung des Vorworts bzw. der Beginn des Films. Während Johnnys Vorgeschichte bei Kästner durch einen auktorial gestalteten Erzähler berichtet wird, lässt Wigand seine Figur Johnny zunächst als Ich-Erzähler seine Vorgeschichte berichten. Dabei sollte heraus gestellt werden, welche unterschiedlichen Informationen der Leser/Zuschauer erhält 1 Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Ein kurze Einführung., Stuttgart 2002, S. 120ff. LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski und davon ausgehend inwiefern die beiden Gestaltungsmerkmale eine unterschiedliche Wirkung auf den Leser haben. Abschließend gilt es dann die Frage zu klären, warum sich Kästner für diese, Wigand für die andere Gestaltung entschieden hat. Eine Arbeitsblatt zu einer Stunde mit diesem Inhalt finden Sie im Anhang. Eine zweite Möglichkeit ist die produktionsorientierte Arbeit an der Diebstahl-Szene im Leipziger Hauptbahhof. Hier könnte ein Arbeitsauftag an die Schüler lauten: „Wie könnte der Diebstahl in Kästners Buch eingefügt werden, ohne dass ein Leser, der das Buch nicht kennt, dies bemerkt? Erzählt Johnnys Erlebnis im Hauptbahnhof wie es Erich Kästner vermutlich in seinem Roman umgesetzt hätte.“ Denkbar ist aber auch ein Perspektivwechsel: „Schreibt die Szene so um, dass sie aus Sicht der Verkäuferin/des Mädchens/des Wachmanns berichtet wird.“ Im Anschluss an diese Arbeit gilt es dann wieder, die Ergebnisse zu refektieren und die Schülerinnen und Schüler zu einer Betrachtung der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten und ihrer Wirkung zu führen. Klasse 7/8 Neben der personalen Erzählweise der Protagonistin Lena in der Ich-Form eignet sich die Serie „Türkisch für Anfänger“ auch für eine anschauliche Diskussion der Wirkung auktorialer Erzählweise: In der ersten Folge der Staffel 1 inszeniert Lenas „neuer“ Stiefbruder Cem eine Intrige, um Lena zu beeindrucken. Der Zuschauer erfährt von dieser, die Figur Lena jedoch erst nach einiger Zeit. Dieses exklusive Wissen ist recht unterhaltsam für den Zuschauer, fiebert er doch mit, wann die Wahrheit endlich ans Licht kommt. Im Unterricht könnte der Fokus auf der auktorialen Erzählweise liegen und zu einer Analyse und Interpretation anhand des Dreischritts Inhalt, Form, Wirkung führen. Unterstützend könnte hier ein literarischer Text parallel gelesen werden, der eine ähnliche oder auch gänzlich unterschiedliche Erzählergestaltung aufweist, um anhand des Vergleichs Text - Serie Reichweite und Nutzen einer Analyse der Erzählergestaltung herauszuarbeiten. Ein weiteres Beispiel bietet die Serie „Berlin, Berlin“, die sich durch ihre meist personale Erzählweise auszeichnet. Interessant sind die eingeschobenen Comic-Sequenzen, die eingesetzt werden, um dem Zuschauer eine sehr anschauliche Innensicht in die Hauptfigur Lolle zu geben. Diese formale Gestaltung kann mit der einer Figur in einer Kurzgeschichte, z.B. Heinz in Spaghetti für Zwei, kontrastiert werden. Ein Arbeitsblatt finden Sie im Anhang. Klasse 9/10 Die Ausgangssituation von How I Met Your Mother ist, dass Ted Mosby im Jahr 2030 seinen Kindern in allen Details erzählen möchte, wie er deren Mutter kennengelernt hat. Diese Geschichte beginnt im Jahr 2005. Der 27-jährige Ted hat sein Architekturstudium abgeschlossen und arbeitet, während sein bester Freund und Mitbewohner Marshall Eriksen kurz vor dem Abschluss seines Studiums der Rechtswissenschaft steht. Marshall ist zu diesem Zeitpunkt seit neun Jahren mit der Kindergärtnerin Lily Aldrin liiert. Alle drei sind mit Barney Stinson befreundet. Barney ist ein Frauenheld, sehr von sich überzeugt und erscheint stets im Anzug. Er möchte Ted beibringen, wie man lebt und spricht mit ihm regelmäßig Frauen an. Auf diese Weise lernt Ted Robin Scherbatsky kennen. Sie kommt aus Kanada und arbeitet für einen lokalen Fernsehsender als Nachrichtensprecherin. Nach dem ersten Date teilt Ted Robin mit, dass er sich in sie verliebt habe, was Robin abschreckt, da sie keine feste Beziehung möchte. Da sie sich dennoch sympathisch sind, beschließen die beiden, befreundet zu sein. Robin wird so ein Teil von Teds Freundeskreis.Jede weitere Folge dreht sich um das Leben dieser fünf Charaktere; im Hintergrund steht dabei letztlich die Frage, wer die Mutter der beiden Kinder aus dem Jahr 2030 sein wird. Im Laufe der Serie werden einige Hinweise gegeben, wer hinter der Frau steckt. 2 Diese besonders bei 14- bis 16-Jährigen beliebte Serie eignet sich durch diese Konstruktion für eine Thematisiserung der Bedeutung der Wechselwirkung von Rahmen- und Binnenerzählung, wie sie z.B. auch in dem Roman „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ von Håkan Nesser oder auch Walter Moers' „Ensel und Kretel“ und „Die 13½ Leben des Käpitän Blaubär“ zu finden sind. Denkbar ist zudem auch hier wiederum die Verdeutlichung des personalen Erzählverhaltens in Ich-Form, 2 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/How_I_Met_Your_Mother, Zugriff am 4.09.2013 LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski das sich z.B. mit der Erzählergestaltung in Kurzgeschichten oder aktuellen Romanen, wie z.B. Wolfgang Herrndorfers „Tschick“ vergleichen lässt. In der Anlage finden Sie einen Stundenentwurf für den Einstieg in die Lektüre des Romans Kim Novak badete nie im See von Genezareth. Kurz zum Inhalt: Die miteinander befreundeten schwedischen Teenager Erik und Edmund verbringen ihre Sommerferien 1962 in einem an dem See Möckeln bei der Kleinstadt Kumla gelegenen Ferienhaus mit Namen Genezareth. Die beiden Jungen werden von Eriks älterem Bruder Henry begleitet. Am Ende des Schuljahres haben die beiden Klassenkameraden die Lehrerin Ewa Kaludis, die als Vertretung an ihrer Schule unterrichtete, kennengelernt. Aufgrund der Ähnlichkeit mit der US-amerikanischen Schauspielerin wird sie von vielen Kim Novak genannt, und wie diese zieht auch Ewa dank ihrer Schönheit alle Schüler in ihren Bann. Ewa ist die Verlobte des Handballprofis Berra Albertsson, den alle „Kanonen-Berra“ nennen und der einen ausgeprägten Hang zu körperlicher Gewalt hat. Das hindert Henry, einen jungen Lokaljournalisten mit literarischen Ambitionen, aber nicht daran, sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit Ewa einzulassen. Eines Tages kommt Ewa weinend und mit zerschundenem Gesicht zu dem Haus Genezareth. KanonenBerra hat sie misshandelt und taucht bald darauf selbst vor dem Ferienhaus auf. Dort findet er außer Erik niemanden vor; er droht jedoch damit, später wiederzukommen. Am anderen Tag findet man ihn erschlagen auf einem Parkplatz in der Nähe des Hauses. Für die Polizei stellt sich die Frage, ob Henry den Nebenbuhler getötet hat. Die Ermittlungen drehen sich im Kreise. Eriks und Edmunds Aussagen widersprechen sich zum Teil, und Henrys Alibi, das Ewa bezeugt, ist sehr wackelig. Doch die Tat kann niemandem nachgewiesen werden. Henry wird zunächst festgenommen, aus Mangel an Beweisen aber wieder freigelassen. Er zieht nach Göteborg. Als Ewa von Erik wissen will, ob er oder Edmund den Mord begangen habe, bleibt er ihr die Antwort schuldig. Jahrzehnte später besucht Erik den todkranken Edmund an dessen Sterbebett und erhält von ihm einen Brief. Daraufhin kehrt er erstmals wieder an den Ort des Geschehens zurück. Dort gräbt er dann in der Nähe eines Baumstumpfes die Mordwaffe aus, einen Vorschlaghammer, versenkt diesen im See und verbrennt Edmunds Brief, das mutmaßliche Geständnis, in dem auch das Versteck des Hammers verraten wird.3 3 http://de.wikipedia.org/wiki/Kim_Novak_badete_nie_im_See_von_Genezareth, Zugriff am 04.09.2013 LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski „Das fiegende Klassenzimmer“ - Vergleich von Film und Buch A. Gemeinsames Schauen des Filmausschnitts - Einzelarbeit I. Beschreibe, was du über die Figur Johnny zu Beginn des Films erfährst. Achte dabei auf Johnnys Herkunft, warum er in Leipzig ist und was er macht. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ II. Erkläre, wer dir als Zuschauer diese Informationen mitteilt und welche Hinweise du dafür gefunden hast. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ B. Arbeit mit dem Buch - Partnerarbeit III. IV. Lies nun mit deinem Partner die zweite Abteilung des Vorworts von S.14 bis S.17. Beschreibt gemeinsam, was ihr über Johnny Trotz erfahrt. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ V. Erklärt, wer dem Leser diese Informationen mitteilt und woran dies zu erkennen ist. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ C. Notiere hier das Tafelbild: „Das fiegende Klassenzimmer“: Wie wird die Figur Johnny im Buch und im Film vorgestellt? Buch Film Was wird berichtet? Wer berichtet? Wie wird berichtet? Warum hat Erich Kästner die Vorstellung von Johnny so verfasst? Warum hat sich der Regisseur des Films entschieden, Johnny so vorzustellen? ___________________________ _________________________ ___________________________ ___________________________ LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski Lolle und Heinz - Serie und Kurzgeschichte im Vergleich I. Einzelarbeit Beschreibe, wie die Figur Lotte in den gezeigten Szenen sich fühlt und was sie denkt. Erkläre dabei auch, warum du der Meinung bist, dass sie sich so fühlt und dies denkt. II. Szene 1: _________________________________________________________________ Szene 2: _________________________________________________________________ Szene 3: _________________________________________________________________ Szene 4: _________________________________________________________________ Szene 5: _________________________________________________________________ Einzelarbeit Lies dir die Kurzgeschichte Spaghetti für Zwei aufmerksam durch. Beschreibe, wie Heinz sich fühlt und was er denkt. Markiere die Stellen, an denen dies für dich deutlich wird, farbig. III. Partnerarbeit: Suche dir einen Partner im Klassenraum, der Aufgabe II. beendet hat. Tausche dich mit deinem Partner aus: Stellt euch eure Ergebnisse vor und ergänzt wenn nötig eure Aufzeichnungen und Markierungen. IV. Gruppenarbeit (3S/Gruppe): Such dir zwei neue Partner, die Aufgabe III beendet haben. Stellt euch die Ergebnisse aus II gegenseitig vor. Formuliert gemeinsam das Thema der Geschichte. Erklärt anschließend mit Hilfe des Zusammenhangs von formaler Gestaltung (Was denkt und fühlt Heinz?) und der Handlung (Was passiert?) warum ihr euch für dieses Thema entschieden habt. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski Federica de Cesco: Spaghetti für zwei Heinz war bald vierzehn und fühlte sich sehr cool. In der Klasse und auf dem Fußballplatz hatte er das Sagen. Aber richtig schön würde das Leben erst werden, wenn er im nächsten Jahr seinen Töff bekam und den Mädchen zeigen konnte, was für ein Kerl er war. Er mochte Monika, die Blonde mit den langen Haaren aus der Parallelklasse, und ärgerte sich über seine entzündeten Pickel, die er mit schmutzigen Nägeln ausdrückte. Im Unterricht machte er gerne auf Verweigerung. Der Lehrer sollte bloß nicht auf den Gedanken kommen, dass er sich anstrengte. Mittags konnte er nicht nach Hause, weil der eine Bus zu früh, der andere zu spät abfuhr. So aß er im Selbstbedienungsrestaurant, gleich gegenüber der Schule. Aber an manchen Tagen sparte er lieber das Geld und verschlang einen Hamburger an der Stehbar. Samstags leistete er sich dann eine neue Kassette, was die Mutter natürlich nicht wissen durfte. Doch manchmal - so wie heute hing ihm der Big Mac zum Hals heraus. Er hatte Lust auf ein richtiges Essen. Einen Kaugummi im Mund, stapfte er mit seinen Cowboystiefeln die Treppe zum Restaurant hinauf. Die Reißverschlüsse seiner Lederjacke klimperten bei jedem Schritt. Im Restaurant trafen sich die Arbeiter aus der nahen Möbelfabrik, Schüler und Hausfrauen mit Einkaufstaschen und kleinen Kindern, die Unmengen Cola tranken, Pommes frites verzehrten und fettige Fingerabdrücke auf den Tischen hinterließen. Viel Geld wollte Heinz nicht ausgeben; er sparte es lieber für die nächste Kassette. „Italienische Gemüsesuppe“ stand im Menü. Warum nicht? Immer noch seinen Kaugummi mahlend, nahm Heinz ein Tablett und stellte sich an. Ein schwitzendes Fräulein schöpfte die Suppe aus einem dampfenden Topf. Heinz nickte zufrieden. Der Teller war ganz ordentlich voll. Eine Schnitte Brot dazu, und er würde bestimmt satt. Er setzte sich an einen freien Tisch, nahm den Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter den Stuhl. Da merkte er, dass er den Löffel vergessen hatte. Heinz stand auf und holte sich einen. Als er zu seinem Tisch zurück stapfte, traute er seinen Augen nicht: Ein Schwarzer saß an seinem Platz und aß seelenruhig seine Gemüsesuppe! Heinz stand mit seinem Löffel fassungslos da, bis ihn die Wut packte. Zum Teufel mit diesen Asylbewerbern! Der kam irgendwo aus Uagadugu, wollte sich in Europa breit machen, und jetzt fiel ihm nichts Besseres ein, als ausgerechnet seine Gemüsesuppe zu verzehren! Schon möglich, dass so was den afrikanischen Sitten entsprach, aber hierzulande war das eine bodenlose Unverschämtheit! Heinz öffnete den Mund, um dem Menschen lautstark seine Meinung zu sagen, als ihm auffiel, dass die Leute ihn komisch ansahen. Heinz wurde rot. Er wollte nicht als Rassist gelten. Aber was nun? Plötzlich fasste er einen Entschluss. Er räusperte sich vernehmlich, zog einen Stuhl zurück und setzte sich dem Schwarzen gegenüber. Dieser hob den Kopf, blickte ihn kurz an und schlürfte ungestört die Suppe weiter. Heinz presste die Zähne zusammen, dass seine Kinnbacken schmerzten. Dann packte er energisch den Löffel, beugte sich über den Tisch und tauchte ihn in die Suppe. Der Schwarze hob abermals den Kopf. Sekundenlang starrten sie sich an. Heinz bemühte sich, die Augen nicht zu senken. Er führte mit leicht zitternder Hand den Löffel zum Mund und tauchte ihn zum zweiten Mal in die Suppe. Seinen vollen Löffel in der Hand, fuhr der Schwarze fort, ihn stumm zu betrachten. Dann senkte er die Augen auf seinen Teller und aß weiter. Fredrica de Cesco *1938 in Pordenone LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski Eine Weile verging. Beide teilten sich die Suppe, ohne dass ein Wort fiel. Heinz versuchte nachzudenken. „Vielleicht hat der Mensch kein Geld, muss schon tagelang hungern. Dann sah er die Suppe da stehen und bediente sich einfach. Schon möglich, wer weiß? Vielleicht würde ich mit leerem Magen ähnlich reagieren? Und Deutsch kann er anscheinend auch nicht, sonst würde er ja nicht dasitzen wie ein Klotz. Ist doch peinlich. Ich an seiner Stelle würde mich schämen. Ob Schwarze wohl rot werden können?“ Das leichte Klirren des Löffels, den der Afrikaner in den leeren Teller legte, ließ Heinz die Augen heben. Der Schwarze hatte sich zurückgelehnt und sah ihn an. Heinz konnte seinen Blick nicht deuten. In seiner Verwirrung lehnte er sich ebenfalls zurück. Schweißtropfen perlten auf seiner Oberlippe, sein Pulli juckte, und die Lederjacke war verdammt heiß! Er versuchte, den Schwarzen abzuschätzen. „Junger Kerl. Etwas älter als ich. Vielleicht sechzehn oder sogar schon achtzehn. Normal angezogen: Jeans, Pulli, Windjacke. Sieht eigentlich nicht wie ein Obdachloser aus. Immerhin, der hat meine halbe Suppe aufgegessen und sagt nicht einmal danke! „Verdammt, ich habe noch Hunger!“ Der Schwarze stand auf. Heinz blieb der Mund offen. „Haut der tatsächlich ab? Jetzt ist aber das Maß voll! So eine Frechheit! Der soll mir wenigstens die halbe Gemüsesuppe bezahlen!“ Er wollte aufspringen und Krach schlagen. Da sah er, wie sich der Schwarze mit einem Tablett in der Hand wieder anstellte. Heinz fiel unsanft auf seinen Stuhl zurück und saß da wie ein Ölgötze. „Also doch: Der Mensch hat Geld! Aber bildet der sich vielleicht ein, dass ich ihm den zweiten Gang bezahle?“ Heinz griff hastig nach seiner Schulmappe. „Bloß weg von hier, bevor er mich zur Kasse bittet! Aber nein, sicherlich nicht. Oder doch?“ Heinz ließ die Mappe los und kratzte nervös an einem Pickel: Irgendwie wollte er wissen, wie es weiterging. Der Schwarze hatte einen Tagesteller bestellt. Jetzt stand er vor der Kasse, und - wahrhaftig - er bezahlte! Heinz schniefte. „Verrückt!“, dachte er. „Total gesponnen!“ Da kam der Schwarze zurück. Er trug das Tabett, auf dem ein großer Teller Spaghetti stand, mit Tomatensoße, vier Fleischbällchen und zwei Gabeln. Immer noch stumm, setzte er sich Heinz gegenüber, schob den Teller in die Mitte des Tisches, nahm eine Gabel und begann zu essen, wobei er Heinz ausdruckslos in die Augen schaute. Heinz' Wimpern fatterten. Heiliger Strohsack! Dieser Typ forderte ihn tatsächlich auf, die Spaghetti mit ihm zu teilen! Heinz brach der Schweiß aus. Was nun? Sollte er essen? Nicht essen? Seine Gedanken überstürzten sich. Wenn der Mensch doch wenigstens reden würde! „Na gut. Er aß die Hälfte meiner Suppe, jetzt esse ich die Hälfte seiner Spaghetti, dann sind wir quitt!“ Wütend und beschämt griff Heinz nach der Gabel, rollte die Spaghetti und steckte sie in den Mund. Schweigen. Beide verschlangen die Spaghetti. „Eigentlich nett von ihm, dass er mir eine Gabel brachte“, dachte Heinz. „Da komme ich noch zu einem guten Spaghetti-Essen, das ich mir heute nicht geleistet hätte. Aber was soll ich jetzt sagen? Danke? Saublöde! Einen Vorwurf machen kann ich ihm auch nicht mehr. Vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass er meine Suppe aß. Oder vielleicht ist es üblich in Afrika, sich das Essen zu teilen? Schmecken gut, die Spaghetti. Das Fleisch auch. Wenn ich nur nicht so schwitzen würde!“ Die Portion war sehr reichlich. Bald hatte Heinz keinen Hunger mehr. Dem Schwarzen ging es LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski ebenso. Er legte die Gabel aufs Tablett und putzte sich mit der Papierserviette den Mund ab. Heinz räusperte sich und scharrte mit den Füßen. Der Schwarze lehnte sich zurück, schob die Daumen in die Jeanstaschen und sah ihn an. Undurchdringlich. Heinz kratzte sich unter dem Rollkragen, bis ihm die Haut schmerzte. „Heiliger Bimbam! Wenn ich nur wüsste, was er denkt!“ Verwirrt, schwitzend und erbost ließ er seine Blicke umherwandern. Plötzlich spürte er ein Kribbeln im Nacken. Ein Schauer jagte ihm über die Wirbelsäule von den Ohren bis ans Gesäß. Auf dem Nebentisch, an den sich bisher niemand gesetzt hatte, stand - einsam auf dem Tablett - ein Teller kalter Gemüsesuppe. Heinz erlebte den peinlichsten Augenblick seines Lebens. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Es vergingen zehn volle Sekunden, bis er es endlich wagte, dem Schwarzen ins Gesicht zu sehen. Der saß da, völlig entspannt und cooler, als Heinz es je sein würde, und wippte leicht mit dem Stuhl hin und her. „Äh ...“, stammelte Heinz, feuerrot im Gesicht. „Entschuldigen Sie bitte. Ich...“ Er sah die Pupillen des Schwarzen aufblitzen, sah den Schalk in seinen Augen schimmern. Auf einmal warf er den Kopf zurück, brach in dröhnendes Gelächter aus. Zuerst brachte Heinz nur ein verschämtes Glucksen zu Stande, bis endlich der Damm gebrochen war und er aus vollem Halse in das Gelächter des Afrikaners einstimmte. Eine Weile saßen sie da, von Lachen geschüttelt. Dann stand der Schwarze auf, schlug Heinz auf die Schulter. „Ich heiße Marcel“, sagte er in bestem Deutsch. „Ich esse jeden Tag hier. Sehe ich dich morgen wieder? Um die gleiche Zeit?“ Heinz' Augen tränten, sein Zwerchfell glühte, und er schnappte nach Luft. „In Ordnung!“, keuchte er. „Aber dann spendiere ich die Spaghetti!“ LI Hamburg - Tagung „Lesekulturen fördern - Ideen für die Praxis“ - 6. September 2013 - J. Stefanski How I met Kim Novak: Warum gibt es eine Geschichte in der Geschichte? I. Einzelarbeit Lies den Anfang des Romans „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“. Notiere in Stichpunkten, was du über die Handlung, die Erzählweise und die Erzählerfigur erfährst. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ II. Partnerarbeit Schaut euch gemeinsam die erste Folge der ersten Staffel der Serie „How I met your mother“ an. Vergleicht während des Schauens die Gestaltung der Serie mit dem Romananfang von Håkan Nesser und notiert die Gemeinsamkeiten. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ III. Gruppenarbeit (4S/Gruppe): Sucht euch ein zweites Tandem und bildet eine Gruppe. • • • • Tauscht euch über eure Ergebnisse aus. Erklärt anschließend anhand des Vergleichs von Serie und Romananfang, warum sich Håkan Nesser für so eine Gestaltung der Handlung entschieden haben könnte. Stellt Vermutungen über den weiteren Verlauf der Romanhandlung an. Diskutiert in der Gruppe abschließend welche Konsequenzen diese Gestaltung für die Glaubwürdigkeit des Erzählers als Vermittler der Handlung hat. ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________ ______________________________________________________________________________