Der Islam ist
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Der Islam ist
SAUDI-ARABIEN Glasnost im Königreich ISRAEL Zehn Jahre Camp David II PAKISTAN 3/2010 Das arrangierte Eheglück 12. JAHRGANG ISSN 1439 9660 Deutschland Euro 6,80 I Österreich Euro 7,80 I BeNeLux Euro 7,90 I Schweiz sfr. 13,50 www.zenithonline.de Kampf um den Islam Wer bestimmt, was Muslime glauben ENDLICH M LEXIKON ITREDEN: FÜR D ISLAMDEBIE ATTE Ab Seite 62 MIT DVD Die Dokumentation » Der Islam im Sultanat Oman« (Werbebeilage) Der Film Über Toleranz kann man reden, nachdenken und theoretisieren so viel man will, erleben kann man sie nur in der eigenen Person. Dieses Erleben machte der Dokumentarfilmer und Grimme-Preisträger Wolfgang Ettlich zur Methode der filmischen Annäherung an die islamische Der gelebte Islam in einer modernen arabischen Gesellschaft Kultur Omans. Der Zuschauer begleitet das Film-Team bei einer Reise durch das alltägliche Leben im modernen Oman und gewinnt so Einblick in viele Aspekte der Gesellschaft, die dem westlichen Besucher sonst verborgen bleiben. Die Ausstellung Film und Ausstellung sind zu sehen informiert über den gelebten Islam in einer modernen arabischen Gesellschaft. Auf vom 24. September bis 12. Oktober 2010 im Gasteig, München 20 Informationstafeln werden Themen angesprochen, die auch uns christlich geprägte Europäer berühren: Das Nebeneinander-Bestehen verschiedener Religionsgemeinschaften, der gelebte Islam im Alltag sowie die Rolle der Frau. Weitere Termine und Informationen über die Wanderausstellung "Religiöse Toleranz - der Islam im Sultanat Oman" unter: www.religioese-toleranz.de Der Film RELIGIÖSE TOLERANZ IN OMAN ist gegen eine Schutzgebühr erhältlich unter www.oman-shop.com Eine Initiative des Ministeriums für religiöse Stiftungen und Religionsangelegenheiten des Sultanats Oman. Projektleitung: Mohammed Said Al-Mamari Organisation, Konzeption und Realisation: Georg Popp, ARABIA FELIX Synform GmbH, München - www.oman.de Alex Moll, Ausstellungen und Medien, Solingen Wolfgang Ettlich, MGS Filmproduktion, München Gestaltung und graphische Umsetzung: Kegiseo GbR, Augsburg - www.kegiseo.com Foto: Ziyah Gafić zenith gratuliert. Yousef ist ein Siegertyp. Bei Fußballturnieren räumt er Pokale und Medaillen ab. Und auch den Ruf zum gemeinschaftlichen Gebet übernimmt der 25-jährige Saudi gern. Dass Yousef zuvor mehr als drei Jahre als Terrorist im Gefängnis saß – sieht man es ihm an? Die saudische Regierung jedenfalls fand, dass er nur verwirrt sei, und schickte ihn in ein Rehabilitationslager für militante Islamisten. Dort spielt er tagein, tagaus Fußball und Tischtennis und lässt ideologische Umschulungen über sich ergehen. Dass er und andere Ex-Terroristen zurück zur »wahren Religion« finden, lässt Saudi-Arabien sich jedes Jahr viele Millionen kosten. Den wahren Islam zu kennen, nehmen auch andere für sich in Anspruch – ziemlich viele, genau genommen. Denn das Glaubensbekenntnis klingt zwar eindeutig: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist sein Prophet«. Alles weitere, so müsste man jedoch hinzufügen, ist Auslegungssache. Die umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, ist gespalten. Nie zuvor war so umstritten, woran sich die knapp eineinhalb Milliarden Muslime auf der Welt orientieren sollen. Sie befinden sich mitten in einem Kampf um die Deutungshoheit über ihre Religion. Ein Kampf, der im Herzen der islamischen Welt ausgetragen wird, an ihren Rändern und sogar im Westen. zenith widmet sich in dieser Ausgabe dem »Kampf um den Islam« – und kehrt die übliche Sichtweise um: Anstatt zu untersuchen, wie Islam und Islamismus die Welt verändern, fragen wir: Wie verändert die Welt den Islam? Unsere Autoren gingen dieser Frage nach, von der Frühzeit des Islams zur Gegenwart, von Südostasien bis in den Maghreb und sogar bis in die deutschen Zeitungsfeuilletons. (Seiten 34–63) Das Thema Religion beschäftigt uns auch in anderen Texten dieses Hefts: Der irakische Autor Najem Wali hat das streng religiöse Saudi-Arabien besucht. Was er dort vorfand, lässt ihn von einem »Wandel fantastischen Ausmaßes« sprechen. Walis Reisebericht »Glasnost im Königreich«: ab Seite 26. Der Reiseschriftsteller Andreas Altmann lebte lange Zeit in einem buddhistischen Zen-Kloster und in einem Aschram. Dennoch ist seine Sicht auf Religionen pessimistisch. Für zenith verfasste er eine Polemik über »prophetisches Geraune und inbrünstigen Glaubensschmalz«: auf Seite 74. Abonnenten von zenith erhalten mit dieser Ausgabe erstmals eine neue Publikation: den zenith-BusinessReport. Das Magazin befasst sich mit Wirtschaftsthemen in Afrika, Nahost, Zentral- und Vorderasien und nimmt dabei auch innovative Lösungen made in Germany in den Blick. Schwerpunkt der Erstausgabe: Technologien, die den Orient verändern. Der zenith-BusinessReport liegt der Auflage für Abonnenten bei und kann auf Anfrage über www.zenithonline.de bezogen werden. zenith 3/2010 03 10 Aufbruch Momina Durrani war 18, als sie ihre Heimat verließ, um in Pakistan den Mann zu heiraten, den ihre Familie für sie ausgesucht hatte. INHALT 3/2010 Titel: Ziyah Gafić Foto links: Andrea Gjestvang Foto Mitte links: Ahmed Hayman Foto Mitte rechts: VII Network/Ziyah Gafić Foto rechts: Lindsay L. Sayres/US Marine Corps 30 Abbruch In Gaza gilt auch nach der Lockerung der israelischen Blockade das Selbstversorger-Prinzip: Der zerbombte Flughafen dient als Baugrube. Pakistan 10 Das arrangierte Glück Traditionelle Eheschließungen spielen für viele Pakistaner bis heute eine große Rolle, selbst in der europäischen Diaspora. Die Geschichte einer jungen Frau zwischen Abschied und Neubeginn – eine Bildreportage 23 Erst die Hochzeit, dann die Liebe Im Westen sind arrangierte Ehen verpönt. Zu Unrecht? Rubriken 03 Auftakt 06 Impressum 06 Unser Bild vom Orient 08 Profile 70 Orientalisches Netzgeflüster 76 Neue Bücher 80 Neue Musik 81 Der kleine Arabist 81 Diwan 82 Veranstaltungskalender 82 Ausblick 04 zenith 3/2010 Politik 26 Glasnost im Königreich Im fundamentalistischen Saudi-Arabien macht sich langsam, aber sicher Wandel bemerkbar. Ein Reisebericht des Schriftstellers Najem Wali 30 Falsche Freiheit Die Blockade des Gaza-Streifens durch Israel wurde gelockert. Normalisiert hat sich das Leben für die Menschen dadurch nicht 32 Keine Partner für den Frieden Vor zehn Jahren zerschlugen sich in Camp David die Hoffnungen auf ein Ende des Nahostkonflikts. Das Scheitern Ehud Baraks wies zwei populistischen Politikern den Weg zur Macht 34 Glaubenskrieger Zwischen Macht und Moral – wer besitzt das Meinungsmonopol über die Weltreligion Weltreligion Islam? 30 Seiten zenith zenith-Schwerpunkt. -Schwerpunkt. Schwerpunkt: Kampf um den Islam 36 Tee mit Terroristen Mit sanften Mitteln versucht Saudi-Arabien ehemalige Al-Qaida-Kämpfer zurück auf den rechten Pfad zu führen 40 Eine Religion im Belagerungszustand Nie war die Deutungshoheit um die Weltreligion Islam so umstritten wie heute. Daran hat auch der Westen Anteil 45 Was ist der Islam? 18 Antworten 46 »Der Koran ist eine reformatorische Schrift« Wie der Islam zum Islam wurde – ein Gespräch mit dem Orientalisten Josef van Ess 48 Yussufs Welt Auf seine Worte hören Millionen Muslime: Yussuf al-Qaradawi. Woher rührt der Erfolg des Fernseh-Scheichs? 51 Neue Mullahs braucht das Land Die Schiiten suchen nach neuen Leitfiguren 52 Schariarote Lollipop-Welt mit Schattenseiten Indonesien gilt als Land des liberalen Islams. Doch mittlerweile geben fundamentalistische Gruppen den Ton an 54 Von wegen Einheit! Warum Khomeinis Idee des Revolutionsexports scheiterte 55 Mit teuflischen Zungen Im 9. Jahrhundert war Bagdad Zentrum der Weltgeschichte – und Schauplatz der Inquisition des Kalifen 64 Wasserkämpfer Ein US-Marine entdeckte in Afghanistan einen leeren Swimmingpool – und begann von Olympia zu träumen. Schwerpunkt: Kampf um den Islam 56 Frontverläufe Staat und Religion in der islamischen Welt – vier Beispiele 60 Invasion der Prediger Ägypten erlebt einen Wettstreit religiöser Meinungsmacher, der vor allem im Fernsehen ausgetragen wird 62 Lexikon der Islam-Klischees Von Aufklärung bis Zwangsehe – eine kleine Übersetzungshilfe für Islam-Freunde und Islam-Feinde Sport 64 Sieben Freunde müsst ihr sein Wie Afghanistan zu einer Wasserball-Mannschaft kam Gesellschaft 66 Gefangen im Haus der Freiheit Junge Flüchtlinge aus Afghanistan suchen eine bessere Zukunft in Europa. Viele von ihnen stranden auf der Ferieninsel Lesbos Kultur 72 »Das wahre Opfer ist bei uns immer der Israeli« Der israelische Filmemacher Eyal Sivan im Interview über Kulturpolitik in Israel und die Symbolik der Orange 74 Tun, helfen, Mund halten Eine antireligiöse Polemik von Andreas Altmann 3/2010 05 IMPRESSUM UNSER BILD VOM ORIENT zenith DIE ZAHL Zeitschrift für den Orient Deutscher Levante Verlag GmbH Linienstraße 106, 10115 Berlin Telefon (030) 398 35 188 - 0 Fax (030) 398 35 188 - 5 [email protected] HERAUSGEBER Moritz Behrendt, Yasemin Ergin, Daniel Gerlach, Christian Meier, Veit Raßhofer, Jörg Schäffer, Reiner Sprenger VERANTWORTLICH FÜR DIESES HEFT Christian Meier (V.i.S.d.P.) 651 Milliarden US-Dollar Auf diese Summe wird der Umsatz des globalen Marktes für »Halal-Food«, also islamkonforme Lebensmittel, im Jahr 2010 geschätzt. Dies entspricht 16 Prozent des weltweiten Handels mit Nahrungsmitteln – Tendenz steigend. CHEF VOM DIENST Marcus Mohr 01 REDAKTION HAMBURG Postfach 13 03 86, 20103 Hamburg E-Mail: [email protected] ISRAEL Endloser Sommer Leitung: Hannes Alpen, Yasemin Ergin Hamida Behr, Bettina David, Wiebke Eden-Fleig, Nadim Gleitsmann, Sven Hirschler, Kamila Klepacki, Elisabeth Knoblauch, Matthias Naue, Veit Raßhofer, Miriam Shabafrouz, Özgür Uludag, Schafiqa Zakarwal Seit Jahren streiten Israelis über Beginn und Ende der Sommerzeit. Dieses Jahr wurde die Uhren-Umstellung von besondes lauten Protesten begleitet. Viele Israelis wünschen sich eine längere Sommerzeit, auf Druck orthodoxer Juden endet sie jedoch schon vor dem hochheiligen Fastentag Yom-Kippur. BERLIN Lisa Akbary, Moritz Behrendt, Silke Brandt, Robert Chatterjee, Christoph Dinkelaker, Daniel Gerlach, Nils Metzger, Helen Staude, Christoph Sydow OXFORD Dörthe Engelcke BASEL Sara Winter KANDAHAR Felix Kühn AUTOREN Judith Althaus, Andreas Altmann, Florian Bigge, Prof. Dr. Henner Fürtig, Henrik Meyer, Dominik Peters, Carola Richter, Najem Wali, Kerstin Zilm FOTOGRAFEN 01 Ziyah Gafic, Andrea Gjestvang, Ahmed Hayman, Marcel Mettelsiefen, Megan E. Sindelar 03 ILLUSTRATOREN Lesprenger, Veit Raßhofer 02 BILDREDAKTION Marcel Mettelsiefen GRAFIK Helen Staude, Artdirektor: Lesprenger DRUCK GCC GmbH & Co. KG, Calbe FACHBERATUNG Belabbes Benkredda (Golfstaaten),Dulger(Außenwirt Julius Velan (Immobilienwirtschaft) DANKESCHÖN Hanna, Anja, Astrid Thews, Christian Unger, Julia Jaki, Sidonie Fernau, Christoph Ehrhardt, Prof.Dr. Klaus Kreiser, Stefanie Herrmann KONTAKT FÜR ANZEIGEN UND VERTRIEB [email protected] zenith ist IVW-geprüft, gedruckte Auflage: 10 000 Exemplare; zenith ist Bordmagazin bei Safi Airways 03 ALGERIEN Ausgezeichnete Literatur 04 Der algerische Verlag Barzakh erhält den niederländischen Prinz-Claus-Preis 2010. Der mit 100000 Euro dotierte Preis wird für Verdienste in Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung vergeben. Editions Barzakh wurde 2000 gegründet und will junge algerische Literatur und die Werke namhafter Exil-Autoren zusammenführen. GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE Nr. 1 vom 1. Januar 2010 PERIODIZITÄT Quartal COPYRIGHT by zenith – Zeitschrift für den Orient Zitate nur mit Quellenangabe. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben die Meinung der Autoren wieder, nicht aber unbedingt die der Redaktion. Gegründet 1999/ISSN 1439 9660 Erhältlich unter www.zenithonline.de und im Zeitschriftenhandel. 06 zenith 3/2010 DER SATZ »Es wird Zeit, dass wir in Pakistan eine neue politische Kultur einführen, die das Land auf einen demokratischen Weg bringen kann.« Pakistans ehemaliger Militärdiktator Pervez Musharraf (67), der angekündigt hat, aus England zurückzukehren und eine neue Partei zu gründen. DAS BILD Schaufensterpuppe? Verkaufte Braut? Überraschungsgast? 02 SAUDI-ARABIEN König gegen Klerus Saudi-Arabien versucht Islamgelehrten den Mund zu verbieten. Im August hatte König Abdullah das Recht, öffentlich Fatwas zu erteilen, auf wenige Kleriker beschränkt. Seither wurden mehrere FatwaDienste geschlossen. Ultrakonservative Gelehrte torpedieren immer wieder Abdullahs Reformen. 04 JEMEN Unruhen halten an Bewaffnete Auseinandersetzungen im Jemen fordern immer wieder Todesopfer. Während die Regierung mit den Houthi-Rebellen im Norden seit einigen Wochen über eine Waffenruhe verhandelt, kommt es im Süden des Landes wieder vermehrt zu Anschlägen durch Al-Qaida-Kämpfer. Die junge pakistanischstämmige Norwegerin Momina Durrani zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante. Lesen Sie ihre Geschichte ab Seite 10. MITLEID FÜR ... GAMAL MUBARAK Der 47-Jährige entwickelt sich zum Prinz Charles der ägyptischen Politik. Seit gut zehn Jahren kursieren Gerüchte, Gamal könne seinen greisen Vater Hosni als Präsident beerben. Besser geworden sind seine Chancen seitdem nicht gerade. Sahen ihn Bürgerrechtler anfangs als personifizierte Gefahr, Ägypten könne sich in eine Erb-Demokratur verwandeln, sagt heute sogar der Dissident Saad Eddin Ibrahim, Gamal solle nächstes Jahr ruhig kandidieren. Schließlich müsse dieses Recht jedem Ägypter zugestanden werden. Das ist beinahe liebevolles Mitleid für den bislang verhinderten Thronfolger. PROFILE Die Geschichtsverliebte Die ägyptische Bloggerin Zeinobia erinnert an den Glanz der Vergangenheit – und kämpft für eine bessere Zukunft >> Als die Herrscherin Zenobia im Jahr 274 Kaiser Aurelians Triumphzug durch Rom als Kriegsgefangene erdulden musste, lagen große Taten hinter ihr. Sie war es gewesen, die die große Krise des Römischen Imperiums geschickt ausgenutzt hatte, um das im heutigen Syrien gelegene Palmyra zu einer Großmacht zu formen. Erst durch militärische Intervention wurde sie bezwungen. Für Wie im Agentenroman dern des Getöteten aufrüttelten. »Gott sei Dank ist mir noch nichts passiert – obwohl es das jederzeit könnte«, sagt Zeinobia, die aus Vorsicht kein Bild von sich veröffentlicht. Ihre Motivation, dennoch über Bürgerrechte und Diskriminierung zu schreiben, bezieht sie aus alten Fernsehserien und von Sängerinnen wie Umm Kulthoum. In der jüngeren Generation sei eine große Faszination für die Kultur der vergangenen Jahrzehnte entstanden: »Die Wiederentdeckung der Geschichte hilft Jugendlichen, sich wieder zugehörig zu fühlen.« Nun will die ägyptische Blogger-Bewegung eine politische Alternative zur Regierungspartei schaffen und den Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei zum Präsidentschaftskandidaten aufbauen. Kein Wunschtraum, glaubt die Ägypterin: »Während unser Einfluss lange Zeit überbewertet wurde, fangen wir nun an, etwas zu erreichen. metz Illustration: Lesprengr »Zeinobia« verbirgt ihr Antlitz hinter einem historischen Portrait – aus Angst vor Repressalien. Zeinab Mohamed war es deshalb »eine Mischung aus arabischem Nationalismus, Liebe zur Geschichte und Feminismus«, die sie dazu veranlasste, das Pseudonym »Zeinobia« zu wählen. Aufgewachsen in der ägyptischen Mittelschicht, stellten politische Diskussionen beim Abendessen nichts Ungewöhnliches für sie dar. Waren Vater und Großvater noch in der Medienbranche beschäftigt, musste die Bürgerstochter ins Internet auswandern, um frei schreiben zu können. »Nicht viele meiner Freunde wissen, dass ich blogge«, gesteht sie ein, »es ist ein Segen und ein Fluch gleichermaßen.« Zu oft werden kritische Journalisten und Internet-Aktivisten bedroht und verprügelt. Erst im Juni starb der 28-jährige Khaled Said, Betreiber eines Internetcafés, im Polizeigewahrsam. Zeinobias Blog Egyptian Chronicles gehörte zu den ersten Medien, die die Öffentlichkeit mit Bil- Der neue Leiter des türkischen Geheimdienstes, Hakan Fidan, sorgt für Beunruhigung beim strategischen Partner Israel >>Über zu wenig Arbeit kann sich Hakan Fidan nicht beklagen. Gleich in seinen ersten Tagen im Amt hatte der neue Chef des türkischen Geheimdienstes MIT mit außenpolitischen Verstimmungen und persönlichen Angriffen zu tun. Am 27. Mai trat Fidan seinen neuen Posten an, vier Tage später stürmten israelische Soldaten das auf Gaza zusteuernde Schiff »Mavi Marmara« der islamistischen türkischen Hilfsorganisation IHH. Manche sahen hier einen Zusammenhang: So vermutete der israelisch-amerikanische Spionagethriller-Autor Haggai Carmon, Fidan sei ein radikaler Islamist und seine Nominierung ein weiteres Zeichen für die israelfeindliche Politik von Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Weniger verschwörungstheoretisch formulierte es die seriöse israelische Zeitung Ha’aretz: Zwar gebe es keine Belege dafür, dass Fidan enge Kontakte zur IHH pflege, doch werde seine Person 08 zenith 3/2010 in Jerusalem mit Sorge gesehen. Und Verteidigungsminister Ehud Barak äußerte, Fidan sei ein »Unterstützer des Iran« – vor einem Jahr hatte sich der Türke vehement für das Recht der Iraner auf zivile Nutzung der Kernkraft ausgesprochen. Der Austausch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse werde nun eingeschränkt, berichten israelische Quellen. Traditionell arbeiten MIT und Mossad eng zusammen. Ein Grund dafür ist, dass der MIT meist von kemalistisch gesinnten Militärs geführt wurde. Hakan Fidan dagegen hat nach 15 Jahren in der Armee eine zivile Laufbahn eingeschlagen. Der 42jährige Akademiker gilt als enger Vertrauter von Premier Erdogan und Außenminister Ahmet Davutoglu. Vor seinem jetzigen Posten leitete er die türkische Entwicklungshilfeagentur TIKA und sondierte als Unterstaatsekretär für Erdogan das außenpolitische Terrain. Iran-Unterstützer oder Frauenförderer? Hakan Fidan, neuer türkischer Geheimdienstchef. In seinen öffentlichen Äußerungen wandte sich der neue MIT-Chef bislang weniger außenpolitischen Minenfeldern zu als vielmehr der Struktur seiner Behörde: Er wolle sich für eine professionellere Ausbildung der türkischen Spione einsetzen, und er plane den Anteil der Frauen in der Behörde zu erhöhen. Bislang ist nur jeder fünfte Geheimdienstler in der TürMB kei weiblich. PROFILE Foto: Botschaft des Sultanats Oman Warten auf den letzten Coup Sultan Qabus führt den Oman als Alleinherrscher. Nun feiert er seinen 70. Geburtstag. Wer von den Gästen sein Nachfolger wird, ist noch ein Staatsgeheimnis Von Sven Hirschler >> Die Vorbereitungen für das große Fest laufen auf Hochtouren. Am 18. November 2010 feiert seine Majestät Sultan Qabus Bin Said seinen 70. Geburtstag. Es gibt keinen unter den knapp drei Millionen Omanis, so scheint es, der dem Herrscher nicht wohlwollend gratulieren würde. Die Untertanen sind zufrieden: Qabus hat das Land geeint und dessen Reichtum an Öl und Gas in Wohlstand verwandelt. Niemand stellt daher gerne die Frage nach seiner Nachfolge. Eigentlich soll alles so weitergehen, seit Qabus Sultan ist, wurde es ja stetig besser. Dabei hat alles mit einem Umsturz begonnen. Als Qabus seinen Vater am 23. Juli 1970 vom Thron ins Exil jagt, herrscht in dem Land am östlichen Ende der Arabischen Halbinsel ein loser, mittelalterlicher Stammesverband unter britischer Aufsicht. Blutige Machtkämpfe bestimmen den Alltag der nomadischen Bergvölker und der Fischer an der Küste. Die staatliche Fürsorge besteht aus drei Knabenschulen und einem Krankenhaus – in einem Land, das fast so groß ist wie Deutschland. Auslandsreisen sind Omanis ebenso verboten wie das Hören von Musik oder das Tragen von Sonnenbrillen. Der in England ausgebildete Qabus tritt mit der Vision an, das Land zu modernisieren, ohne traditionelle Werte zu vernachlässigen. Den Reichtum aus der Ölförderung nutzt er, um im ganzen Land Stromkabel verlegen zu lassen. Er führt eine kostenlose medizinische Grundversorgung ein und schafft ein flächendeckendes Schulsystem. Es entsteht ein traditionelles islamisches Herrschaftssystem mit einer modernen Verwaltung. Auch wenn der Sultan zugleich als Ministerpräsident, Außen-, Finanz- und Verteidigungsminister fungiert, bezeichnen die Vereinten Nationen den Oman als »Musterstaat in der arabischen Welt«. Während die Hauptstraßen von Maskat für den Parademarsch vorbereitet werden, schlagen Analysten jedoch Alarm. »In weniger als einer Generation muss die Volkswirtschaft neu aufgestellt werden«, urteilt der Wirtschaftsdienst Germany Trade & Invest. Zu groß sei die Abhängigkeit vom Öl, das noch 60 Prozent der Ex- porteinnahmen ausmacht. Selbst nach positiven Schätzungen werden die Ölquellen in spätestens 20 Jahren versiegen. Um so wichtiger ist die Frage der Nachfolge des Monarchen: Bislang hat Qabus – geschieden und kinderlos – niemanden zum Thronerben aufgebaut. Möglich, dass er zögert, um Streitigkeiten innerhalb der Herrscherfamilie zu vermeiden. Formal ist alles eindeutig geregelt: In dem 1996 erlassenen Grundgesetz hat Qabus die Nachfolge auf den engeren männlichen Familienkreis begrenzt. Wenn der Sultan stirbt, hat der Familienrat drei Tage Zeit, einen Nachfolger zu bestimmen. Für den Fall, dass es zu keiner Einigung kommt, hat Qabus vorgesorgt: Er hat bereits einen Brief hinterlegt, in dem der Name seines Wunschkandidaten steht. << Es wäre sein letzter großer Coup. zenith 3/2010 09 P A K I S TA N 10 zenith 3/2010 Das arrangierte Glück Eine Bildre por tage von Andrea Gjestvang MOMINA DURRANI WAR 18, ALS SICH IHR LEBEN SCHLAGARTIG ÄNDERTE. DIE GEBÜRTIGE NORWEGERIN REISTE VON OSLO NACH KARATSCHI, UM DEN MANN ZU HEIRATEN, DEN IHRE FAMILIE FÜR SIE AUSGESUCHT HATTE – UND FORTAN MIT IHM IN PAKISTAN ZU LEBEN. DIE BILDER IHRER HOCHZEIT MARKIEREN DEN ABSCHIED VON IHREM ALTEN LEBEN zenith 3/2010 11 Kennenlernen bei der Hochzeit EINE TRADITIONELLE HOCHZEIT IN KARATSCHI DAUERT MEHRERE TAGE LANG. IN DIESER ZEIT FINDET DAS OFFIZIELLE KENNENLERNEN ZWISCHEN DER BRAUT UND IHRER ZUKÜNFTIGEN FAMILIE STATT. GANZ FREMD WAR MOMINA DURRANI DIE FAMILIE IHRES MANNES JEDOCH NICHT: SIE HEIRATETE IHREN COUSIN MUHAMMAD FAIZ, DEN SIE SCHON SEIT IHRER KINDHEIT KANNTE UND DEM SIE KURZ NACH IHREM 18. GEBURTSTAG VERSPROCHEN WURDE. DIE EHE TATSÄCHLICH EINZUGEHEN, WAR MOMINAS FREIE ENTSCHEIDUNG, BETONT SIE HEUTE: »MEIN VATER WAR EIN PAAR JAHRE ZUVOR GESTORBEN, ICH HATTE DAS GEFÜHL, SCHNELL ERWACHSEN WERDEN ZU MÜSSEN. MEIN LEBEN ALS ERWACHSENE FRAU WOLLTE ICH MIT EINEM TRADITIONELLEN AKT BEGINNEN, MIT DER HEIRAT DES MANNES, DEN MEINE FAMILIE FÜR MICH AUSGESUCHT HATTE.« 12 zenith 3/2010 P A K I S TA N DIE FAMILIE IHRES EHEMANNES LEBT IN EINER GESCHLOSSENEN WOHNANLAGE, IN EINER WOHLHABENDEN GEGEND KARATSCHIS. IN OSLO WUCHS MOMINA BEHÜTET AUF, VERREISTE NIE OHNE IHRE ELTERN UND GING NICHT AUS. »ALS VERHEIRATETE FRAU HABE ICH MEHR FREIHEITEN, ALS ICH ES ALS JUNGES MÄDCHEN HATTE«, SAGT SIE HEUTE. DOCH DIE POLITISCHE LAGE IN PAKISTAN MACHE IHR ZU SCHAFFEN: »AUSGANGSSPERREN, SELBSTMORDATTENTATE, ALL DIESE DINGE BEUNRUHIGEN MICH SEHR. ICH FÜHLE MICH UNWOHL DABEI, MEINE KINDER UNTER SOLCHEN BEDINGUNGEN AUFWACHSEN LASSEN ZU MÜSSEN.« zenith 3/2010 13 P A K I S TA N 14 zenith 3/2010 Die Braut bestimmt mit DASS IHRE SCHWIEGERELTERN DIE HOCHZEIT AUSRICHTEN, WAR MOMINAS AUSDRÜCKLICHER WUNSCH. NUR BEI DER KLEIDERFRAGE WOLLTE SIE MITBESTIMMEN UND BEGLEITETE IHREN VERLOBTEN ZU JEDER ANPROBE. IHREN FREUNDEN IN OSLO ERZÄHLTE SIE ZUNÄCHST NICHT, DASS SIE SICH MIT IHREM COUSIN VERLOBT HATTE. »VIELE LEUTE HABEN VORURTEILE, DOCH ICH WOLLTE MICH NICHT VERTEIDIGEN MÜSSEN. ICH BIN ABER NICHT NAIV. SEHT EUCH MEINEN MANN AN, ER SIEHT SO GUT AUS! WARUM HÄTTE ICH IHN NICHT HEIRATEN SOLLEN?« zenith 3/2010 15 P A K I S TA N KURZ NACH IHRER ANKUNFT IN PAKISTAN BEGANN FÜR MOMINA EIN STRAFFES SCHÖNHEITSPROGRAMM. MANIKÜRE, PEDIKÜRE, FRISUREN UND MASSAGEN: DIE JUNGE FRAU MUSSTE EINEN REGELRECHTEN PFLEGEMARATHON ÜBER SICH ERGEHEN LASSEN, UM AM ENDE EINE PERFEKTE BRAUT ABZUGEBEN. »ICH KONNTE IRGENDWANN NICHT MEHR UND WOLLTE, DASS ES ENDLICH VORBEI IST. ICH WAR MÜDE UND GEREIZT UND MEINER HAUT HAT DIE GANZE PROZEDUR AUCH NICHT GUT GETAN«. 16 zenith 3/2010 Langwierige Vorbereitungen IHRE BESTE FREUNDIN AUS OSLO BEGLEITETE MOMINA, UM IHR BEI DER HOCHZEIT UND IM VORFELD ZUR SEITE ZU STEHEN. TAGELANG HABE STÄNDIG IRGENDJEMAND AN IHR HERUMGEZUPFT, ERINNERT SICH MOMINA HEUTE. DOCH ZU EINER GELUNGENEN PAKISTANISCHEN HOCHZEIT GEHÖRT NOCH VIEL MEHR ALS NUR EINE SCHÖNE BRAUT: VON DER EINLADUNGSKARTE BIS HIN ZUR AUSWAHL DER MUSIK UND DER HOCHZEITSTORTE MUSS ALLES PERFEKT ABGESTIMMT SEIN. MOMINA WAR ES RECHT, DASS SIE SICH AUS DEN MEISTEN ENTSCHEIDUNGEN HERAUSHALTEN DURFTE: »ICH WAR FROH, DASS ICH NUR DAFÜR VERANTWORTLICH WAR, GUT AUSZUSEHEN, UND MEINE SCHWIEGERELTERN SICH UM ALLES ANDERE GEKÜMMERT HABEN.« zenith 3/2010 17 P A K I S TA N Erste Fotos im neuen Zuhause MOMINA UND MUHAMMAD POSIEREN IN IHREM HOCHZEITSGEMACH. DER RAUM BEFINDET SICH IM HAUS VON MUHAMMADS FAMILIE. NACH DER HEIRAT ZOG MOMINA HIER EIN UND LEBT BIS HEUTE MIT IHREM MANN BEI IHREN SCHWIEGERELTERN. »SIE HABEN MICH MIT VIEL LIEBE UND RESPEKT AUFGENOMMEN UND BEHANDELN MICH WIE IHRE EIGENE TOCHTER«, SAGT MOMINA. DASS VIELE MENSCHEN IM WESTEN VORBEHALTE GEGEN DAS VON IHR GEWÄHLTE LEBENSMODELL HABEN, IST IHR KLAR: »ICH HOFFE, DASS GESCHICHTEN WIE MEINE DABEI HELFEN KÖNNEN, VORURTEILE ZU BESEITIGEN.« 18 zenith 3/2010 zenith 3/2010 19 P A K I S TA N Abschied von der Mutter MOMINAS MUTTER KEHRTE NACH DER HOCHZEIT ZURÜCK NACH NORWEGEN, IHRE TOCHTER MUSSTE SIE ZURÜCKLASSEN. »DER ABSCHIED VON IHR WAR DAS EINZIG TRAURIGE AN MEINER HOCHZEIT«, SAGT MOMINA. DASS SIE SICH ZU EINER ARRANGIERTEN EHE MIT IHREM COUSIN ENTSCHLOSS, HATTE AUCH DAMIT ZU TUN, DASS SIE IHRE MUTTER GLÜCKLICH MACHEN WOLLTE: »ICH HÄTTE ES NIEMALS ÜBER MICH GEBRACHT, IHR EINEN MANN ZU PRÄSENTIEREN, DEN ICH MIR SELBST AUSGESUCHT HÄTTE. NIEMALS. MEINE MUTTER IST MIR EXTREM WICHTIG, ICH HÄTTE NIE IRGENDETWAS GETAN, DAS SIE ODER UNSERE FAMILIENTRADITIONEN HÄTTE VERLETZEN KÖNNEN.« 20 zenith 3/2010 VIELE HOCHZEITSGÄSTE SCHENKEN DEM BRAUTPAAR SÜSSES GEBÄCK, EIN TRADITIONELLES MITBRINGSEL BEI PAKISTANISCHEN HOCHZEITEN. DIE KUCHEN SYMBOLISIEREN DIE VIELEN »SÜSSEN MOMENTE«, DIE FREUNDE UND VERWANDTE DEN FRISCHVERMÄHLTEN FÜR DIE ZUKUNFT WÜNSCHEN. »DAS SCHÖNSTE AN DER FEIER WAR, DASS ALLES SO TRADITIONELL ABLIEF«, SO MOMINA HEUTE: »ES WAR UNVERGESSLICH, DIE SCHÖNSTEN TAGE MEINES LEBENS.« ZU IHRER HOCHZEITSFEIER KAMEN FAST 600 LEUTE: »DIE MEISTEN KANNTE ICH DAMALS GAR NICHT.« zenith 3/2010 21 P A K I S TA N MOMINA BEISST IN EINEN HAMBURGER WÄHREND EINER DER VIELEN TERMINE IM SCHÖNHEITSSALON ZWISCHEN DEN HOCHZEITSTAGEN. WIE OFT SIE SICH UMZIEHEN MUSSTE, WEISS SIE NICHT MEHR. TRADITIONELLE KLEIDER TRÄGT DIE JUNGE FRAU HEUTE NUR NOCH AN BESONDEREN FESTTAGEN. IHRE VERBINDUNG IN DEN WESTEN HÄLT SIE AUFRECHT. SO OFT SIE KANN, BESUCHT SIE FAMILE UND FREUNDE IN NORWEGEN. »MEINE FREUNDE WOLLTEN NICHT, DASS ICH HEIRATE. SIE HABEN SICH SORGEN GEMACHT, ABER MICH TROTZDEM UNTERSTÜTZT. HEUTE SEHEN SIE, WIE GUT ES MIR GEHT.« 22 zenith 3/2010 Foto: Anders Kjelleswvik ANDREA GJESTVANG wurde 1981 in Norwegen geboren. Sie studierte Fotojournalismus in Oslo und lebt heute in Berlin. Ihre Arbeiten führen sie rund um die Welt und wurden mehrfach ausgezeichnet. In diesem Jahr gewann sie den 1. Preis im norwegischen »Picture of the Year« Wettbewerb und wurde für die von World Press Photo organisierte »Joop Swart Masterclass 2010« ausgewählt. Die Fotos von Momina Durranis Hochzeit entstanden 2006 im Rahmen eines Auftrags für die norwegische Zeitung Verdens Gang. MOMINA DURRANI UND MUHAMMAD FAIZ 2006 in ihrem Hochzeitsgemach und heute, vier Jahre später, mit den Zwillingen Abdullah und Mustapha. Sie bereut nicht, ihr Leben in Norwegen gegen eine traditonelle Ehe in Pakistan eingetauscht zu haben, sagt Momina: »Ich habe einen wundervollen und fürsorglichen Ehemann, aber das größte Geschenk sind unsere beiden Söhne.« P A K I S TA N Erst die Hochzeit, dann die Liebe DIE LIEBESHEIRAT, IN DER ÖKONOMISCHE UND FAMILIÄRE GESICHTSPUNKTE NICHT MEHR DIE HAUPTROLLE SPIELEN, IST AUCH IM WESTEN EIN MODERNES PHÄNOMEN. HEUTZUTAGE SIND ARRANGIERTE EHEN HIERZULANDE STARK VERPÖNT. ZU UNRECHT? zept und meist ohne Alternative. Schätzungen zufolge gehen etwa in Pakistan und Indien 99 Prozent aller Ehen aus arrangierten Verbindungen hervor. Scheidungen sind äußerst selten. Nach Ansicht des indischen Psychoanalytikers Sudhir Kakar funktionieren arrangierte Ehen in Südasien deshalb so gut, weil die meisten jungen Menschen vor der Hochzeit kaum Kontakt mit dem anderen Geschlecht haben und sich deshalb in den Partner verlieben, mit dem sie die ersten Erfahrungen machen. Familie statt Online-Dating In Europa, insbesondere in Deutschland, stehen Frauenrechtlern die Haare zu Berge angesichts solcher Aussagen. Die arrangierte Ehe gilt als Form der Unterdrückung, wie sie nur in einem patriarchalischen Umfeld möglich ist, das Mädchen und Frauen diskriminiert. Wie groß die Ressentiments sind, zeigen indirekt die von der Organisation »Terre des Femmes« vor wenigen Jahren veröffentlichten Zahlen: Demnach soll es in Deutschland jährlich etwa 30 000 Zwangsehen geben – eine Zahl, die unglaubFoto: Privat >> Anstrengend, langwierig und frustrierend – das ist sie oft, die Suche nach dem Partner fürs Leben. Nicht selten bleibt sie ganz erfolglos, besonders in westlichen Großstädten, in denen die Menschen die Verantwortung für die Wahl des passenden Lebensgefährten alleine tragen. Der in New York ansässige Fernsehsender CBS – einer der größten in den USA – widmet sich diesem Problem mit einer neuen Reality-Show. Die Sendung mit dem Titel »Arranged Marriages« will laut Beschreibung des Senders eine »in vielen Kulturen erfolgreich praktizierte Tradition« in die USA holen: Heiratswillige Singles aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft sollen die bislang missglückte Partnersuche an Familie und Freunde delegieren; die Kamera ist dabei, von der ersten Kontaktanbahnung bis zu den Flitterwochen. Eheschließung nach orientalischer Art für ganz normale Amerikaner? Und das im Land der unbegrenzten Freiheit? Schon lange vor Sendebeginn sorgte das neue Format für Wirbel, wird aber von Kritikern wie Zuschauern mit Neugier erwartet. Demnächst soll die Show starten, gute Einschaltquoten scheinen sicher. Das Glück nicht dem Zufall sondern den Eltern überlassen – in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens ist das ein altbewährtes Kon- würdig hoch wirkt. Allzu oft wird die arrangierte Ehe hierzulande mit der berüchtigten Zwangsehe gleichgesetzt, nicht zuletzt dank streitbarer Islamkritiker wie der Soziologin Necla Kelek, die beide Heiratsformen über einen Kamm scheren und pauschal verurteilen. Bei allem Respekt vor dem Leid der tatsächlich von Zwangsehen Betroffenen muss man doch unterscheiden. Die arrangierte Ehe wird von Verwandten initiiert, aber grundsätzlich im Einverständnis der Ehepartner geschlossen. Ehen unter Zwang dagegen sind auch nach Ansicht vieler islamischer Theologen ungültig, da jedwede Art von Zwangsausübung und Drohung vom klassischen islamischen Eherecht abgelehnt wird. Die Sozialpädagogin und Islamexpertin Gaby Straßburger, vom Land Nordrhein-Westfalen als Sachverständige zum Thema Zwangsheirat bestellt, ist der Ansicht, dass Zwangsehen keine arrangierten Ehen im klassischen Sinne seien. Vielmehr würden bei ihnen familiäre Machtverhältnisse dazu missbraucht, gegen die Regeln der arrangierten Eheanbahnung eine Heirat zu erzwingen. Das Ziel einer arrangierten Ehe dagegen bestehe darin, Glück und Stabilität dadurch zu sichern, dass man gemeinsam in der Familie prüft, ob die Voraussetzungen für das Gelingen der Ehe günstig sind. Dennoch: Im Westen herrscht weitgehend Konsens, dass arrangierte Ehen abzulehnen seien und in einer modernen Gesellschaft keinen Platz hätten. Dabei sind die Unterschiede zu der modernsten Form der Ehevermittlung eigentlich gar nicht so groß: dem Online-Dating. Aktuellen Zahlen zufolge sind alleine in Deutschland jeden Monat etwa sieben Millionen Singles in elektronischen Partnerbörsen aktiv, um sich auf Basis eines umfassenden Kriterienkatalogs potentielle Partner vorschlagen zu lassen. Nichts anderes also als das, was im Orient die FamiliYasemin Ergin en übernehmen. zenith 3/2010 23 weiter lesen. 1. für 0,- Euro Die letzten drei zenith-Ausgaben als Aboprämie* *Das Jahresabonnement (fünf Ausgaben) kostet 34,00 Euro im Inland (45,00 Euro im Ausland) Die Geschäftsbedingungen des Deutschen Levante Verlages finden Sie auf www.zenithonline.de. Nur als Abonnent erhalten Sie auch den zenith-BusinessReport frei Haus. www.zenithonline.de oder 2. für 15,- Euro Die letzten drei zenith-Ausgaben zum Probelesen Ich bestelle hiermit: Die letzten drei zenith-Ausgaben zum Probelesen für 15,00 Euro (inkl. Versandgebühr). Ein Jahresabonnement für 34,00 Euro (45,00 im Ausland) und erhalte die letzten drei zenith-Ausgaben als Abopräsent zenith Zeitschrift für den Orient Auswählen, ankreuzen und abschicken oder faxen an: Anrede / Vorname / Nachname Adresse Deutscher Levante Verlag GmbH Linienstraße 106, 10115 Berlin PLZ / Ort Land Datum, Unterschrift Mit meiner Unterschrift akzeptiere ich die AGBs des Verlags. Per Fax: 030 · 39 835 188 5 Per E-Mail: [email protected] www.zenithonline.de POLITIK Glasnost im Königreich Saudi-Arabien ist bekannt für seine immensen Öl-Reserven und seine äußerst strikte Auslegung des Islams. Frauen dürfen nicht Auto fahren und müssen ihren Körper komplett verhüllen. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Ein Reisebericht von Najem Wali >> Wer hätte geahnt, dass in Buraida einmal deutsche Gedichte rezitiert werden würden? Dass dort die Poesie von Hölderlin, Rilke, Celan, Enzensberger, Krüger und Kirsch zum Vortrag kommen würde? Die Stadt in der Region al-Qasim gilt als Heimat der wahhabitischen Denkschule und zahlreicher Al-Qaida-Kämpfer. Ich selbst hätte mir nicht träumen lassen, einmal auf einer Lesereise in Saudi-Arabien unterwegs zu sein, um über meine Erfahrungen als Romanautor mit all ihren Tabubrüchen und über meine Beziehung zur deutschen Kultur und Dichtung zu berichten. Bis vor kurzem noch war mein Roman »Die Reise nach Tell al-Lahm« in Saudi-Arabien verboten. Das Königreich erlebt einen Wandel großen Ausmaßes: Es scheint, im Land sei ein Wettstreit der Ideen losgetreten worden. Auf den Transparenten in Konferenzräumen ist nicht etwa von der »Bewahrung der festen Grundlagen des Islams« die Rede, sondern von »Austausch« und »Dialog«: Bildung, Gesundheitsversorgung, soziale Dienstleistungen, Zivilverteidigung, Tourismus – es gibt kaum ein Thema, zu dem nicht Tagungen und Gesprächsrunden veranstaltet werden. Das gilt auch für die Emanzipation der Frau, den Dialog der Religionen und der Konfessionen. 26 zenith 3/2010 Selbst über das saudische Kino wird eifrig debattiert, dabei galten bis vor kurzem noch alle Kunstformen in Saudi-Arabien als überflüssiger intellektueller Luxus, wenn nicht »Ketzerei«. Beispielsweise hätte das Verfassen von Prosa früher dazu führen können, dass dem Schriftsteller die Zunge abgeschnitten worden wäre. Ausgerechnet in der erzkonservativen Stadt Buraida findet man heute eine ausgesprochen gut sortierte Bibliothek mit Büchern für jeden Geschmack, ja sogar einen äußerst regen Literaturclub, der literarische Abende eigens für Frauen veranstaltet. All dies belegt den mittlerweile existierenden intellektuellen Freiraum im Königreich. Sicher, diese Clubs stehen unter der Ägide des Kultur- und Informationsministeriums. Doch trotz der Kontrolle durch die Behörden können sie ungewohnt frei agieren und erhalten sogar ein recht ansehnliches Budget vom Staat. Diese Freiheit bringt eine gewaltige Verantwortung mit sich: Es ist stets ein Leichtes, kreatives Mittelmaß auf die Zensur zu schieben. Den saudischen Intellektuellen muss es zunächst gelingen, sich nicht mehr von der Schere im Kopf behindern zu lassen, denn die Zensur von außen wird es nicht mehr ewig geben, ganz so wie das monolithische Denken des konservativ- religiösen Diskurses gegenüber dem Wind des Wandels kapituliert hat. Glasnost im Wüstenstaat: Die Literaturclubs sollten jedenfalls das gegenwärtige, für Diskurse empfängliche Klima nutzen, um an einem wesentlichen Tabu der saudischen Gesellschaft zu kratzen: der Geschlechtertrennung. In der Hafenstadt Dammam wohnen Frauen der Lesung bei, allerdings in einem abgetrennten Raum des Literaturclubs, von wo aus sie das Programm per Videoübertragung aus dem Hauptsaal verfolgen. Einige hatten alle meine Bücher gelesen. Am Ende diskutieren sie eifrig mit mir, während ich bedauerlicherweise nur ihre Stimmen hören kann. In Riad sind bei der Lesung gar keine Frauen anwesend, in Buraida findet eine eigene Veranstaltung für sie statt. Nur in Dschidda, im privaten Versammlungshaus von Sami al-Akabawi sitzen Frauen und Männer gemeinsam im Saal, aber Dschidda hat schließlich schon immer eine Vorreiterrolle gespielt. Wie lange wird es dauern, bis in ganz SaudiArabien Männer und Frauen gemeinsam über Literatur und über Geschlechterrollen diskutieren? Der Entwicklungsstand einer Gesellschaft lässt sich doch am Fortschritt der Frauen in ihr messen. Die Frauen in Saudi-Arabien haben in- Foto: Getty Images POLITIK Gruppenbild mit Herrscher: König Abdullah mit den Teilnehmerinnen des »Nationalen Intellektuellen Dialogs«. Das Foto, abgedruckt in den saudischen Zeitungen, wurde als Votum für die Abschaffung der Geschlechtertrennung aufgefasst. zwischen einiges erreicht: Bei einem Besuch des Landes kann man zu der Überzeugung gelangen, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Frauen am Steuer von Autos sitzen, bis sie ohne Begleitung eines männlichen Verwandten in der Öffentlichkeit auftreten. In der Hauptstadt Riad trotzen bereits vereinzelt junge Frauen den Spitzeln der Religionspolizei und zeigen in Einkaufszentren und Restaurants offen ihr Haar. Einen wesentlichen Anstoß für die Debatte über die Geschlechtertrennung gab der König selbst, genauer gesagt ein symbolträchtiges Foto, das Ende April auf den Titelseiten der saudischen Zeitungen zu sehen war: König Abdullah und Kronprinz Sultan, umringt von einer ganzen Schar von Frauen. Die Frauen waren Früher drohte man, ProsaSchriftstellern die Zunge abzuschneiden Teilnehmerinnen des »Nationalen Intellektuellen Dialogs«. Was in anderen Ländern völlig banal erscheinen würde, gleicht in Saudi-Arabien einer Sensation: Die höchste Macht im Staate unterstützt die Aufhebung der Geschlechtertrennung. Es nicht das erste Mal, dass sich die Männer an der Macht öffentlich für ein Miteinander der Geschlechter einsetzen, denn auch an der im letzten Jahr gegründeten »König Abdullah Universität für Wissenschaft und Technik« studieren Männer und Frauen gemeinsam. Das Foto erschien allerdings zu einem brisanten Zeitpunkt: Kurz zuvor hatte der Leiter der saudischen Religionspolizei, Scheich Ahmad alGhamdi, öffentlich die Ansicht vertreten, dass das Zusammentreffen der Geschlechter in Ausnahmefällen islamkonform sei. Prompt wurde al-Ghamdi des Amtes enthoben, um kurz darauf von allerhöchster Stelle wieder eingesetzt zu werden. Wenige Tage später ging dann dieses historische Bild durch die Presse – ganz so, als habe das Königshaus bewusst Position für die Reformer beziehen wollen. Die Auseinandersetzung zwischen Reformern und Konservativen um die Geschlechtertrennung ist derzeit das Topthema in Saudi-Arabien. Wer dieser Tage das Königreich besucht, kommt nicht umhin, in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft Veränderungen zu beobachten. Dabei geben die Bildungseinrichtungen den Takt vor: So folgten dem Beispiel der neuen Universität eine Reihe privater Grundschulen, in denen Mädchen und Jungen bis zur dritten Klasse Seite an Seite lernen. Ein nächster Schritt wäre die Einstellung von Lehrerinnen, denn bisher werden die gemischten Schulklassen ausschließlich von Männern unterrichtet. Derartige Zeichen des Wandels mögen vielleicht nur Eingeweihten auffallen. Dem zufälligen Besucher dagegen wird wohl vor allem ins Auge stechen, dass so viele saudische Frauen wie nie zuvor im öffentlichen Leben präsent sind. Ihr Anteil an der arbeitenden Bevölkerung wächst ständig, denn viele Saudi-Araberinnen wollen sich nicht länger gesellschaftlichen Zwängen beugen, die ihre Bewegungsfreiheit auf einen kleinen Raum zwischen Küche und Schlafzimmer beschränken. Saudische Frauen bekleiden mittlerweile Top-Positionen, etwa als Pilotinnen oder Managerinnen. Damit haben sie eine hitzige Debatte entfacht, bei der es längst nicht mehr allein um die Definition der Rolle der Frau jenseits traditioneller Vorstellungen geht. Nein, es geht um die Gleichberechtigung der Frau per >> zenith 3/2010 27 POLITIK 28 zenith 3/2010 Diskurs bremst den politischen Wandel aus. Mit der Zeit mussten sich die Konservativen zwar nolens volens daran gewöhnen, dass sie nur eine Stimme in einem vielstimmigen Konzert sind, doch geben sie sich noch längst nicht geschlagen. Körperstrafen wie das Auspeitschen sind weiterhin an der Tagesordnung. Trotz des Reformbedürfnisses in der Bevölkerung haben sich der Diskurs und die Sanktionen zweier wesentlicher Institutionen nicht entwickelt: des »Obersten Rat der Religionsgelehrten« und des »Ausschusses zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters«. Der Schlüssel zum erfolgreichen Wandel im Königreich liegt in einer Veränderung der Strukturen dieser beiden Einrichtungen, einer Revision ihres intellektuellen Unterbaus, wenn nicht gleich ihrer Abschaffung. Dieser Prozess könnte der lutherischen Reformbewegung gleichen, die durch ganz Europa ging und die verknöcherte Strenge in der Religion in Frage stellte – und somit die Grundlage für individuelle Freiheit und Aufklärung schaffte. Vielleicht ist es ein erster Schritt in diese Richtung, dass sich Frauen in Saudi-Arabien erfolgreich inner- und außerhalb der Familie behaupten können. Kommt als nächstes die Fahrerlaubnis? Wer weiß, schließlich hat sich schon vieles in der saudischen Gesellschaft verändert, was noch vor kurzem völlig irreal erschienen wäre. Wie heißt es doch in der alt-arabischen Dichtung: »Die Zeit wird dir zeigen, was du nicht wusstest, und Neuigkeiten bringen, die du zuvor nicht kanntest.« So hat der »Oberste Rat der Religionsgelehrten« kürzlich eine Fatwa gegen den Terrorismus erlassen: Darin verurteilen die Gelehrten nicht nur diejenigen, die Gewaltakte ausüben, sondern auch diejenigen, die terroristische Gruppen »moralisch oder finanziell« unterstützen. Was wie ein kleiner Schritt für zivilisierte Länder klingt, ist ein Meilenstein für Saudi-Arabien. Mit welchen Neuigkeiten wird uns das Land also morgen überraschen? << Noch bleibt die Kritik innerhalb der Anstandsgrenzen ditionellen, strengen Denkweise zu begreifen, dass sie wohl oder übel die Existenz anderer Auslegungen akzeptieren und – um zu überleben – sich diesen stellen müssen. Nur wer sich selbst und seine Kultur hinterfragt, kann feste Regeln als Waffe gegen andere ins Feld führen. In allen abgeschotteten Gesellschaften findet sich die gleiche Argumentationslinie: Wie auf einem zähen Kaugummi kauen religiöse wie auch säkular-diktatorische Machthaber auf dem ewig gleichen Argument der »festen Grundlagen« herum. Dabei bringt erst eine Erschütterung dieser »festen Grundlagen« das Denken und seine aktive Beteiligung beim Aufbau der Gesellschaft in Schwung. Wie aber steht es mit den Perspektiven des Wandels in Saudi-Arabien? Wie weit werden die Reformen gehen? Welche roten Linien werden sie nicht überschreiten? Den Liberalen ist klar, dass sie noch einen langen, beschwerlichen Weg vor sich haben, denn die politisierte Religion mit ihren verstaubten Ansichten wird ihnen das Feld nicht ohne weiteres überlassen. Aber sie wissen ebenso, dass an einer Modernisierung kein Weg vorbeiführt. Um seine Zukunft zu sichern, muss Saudi-Arabien grundlegende Strukturen überdenken. Das Öl und in dessen Gefolge billige Gastarbeiter aus Asien haben den Saudis Wohlstand beschert. Aber was, wenn das Öl eines Tages versiegt und die unter primitiven Bedingungen lebenden Gastarbeiter für ihre Rechte mobil machen? Saudi-Arabien kann nicht nur von einer Ideologie, von religiösen Schlagworten leben. Wie kann ein Land, in dem vom Mittagsgebet um 12 bis um 16 Uhr die Arbeit ruht, ausländische Investitionen anziehen? Die Reformkräfte wissen, dass die Zukunft von möglichen Veränderungen in der Politik abhängt, von der Zulassung politischer Vereinigungen, Organisationen und Parteien. Aber genau dies bleibt ein Tabu. In der Presse sind zwar offene Worte über Bestechlichkeit, Vetternwirtschaft und die Leistung einzelner Ministerien oder der Religionspolizei zu lesen. Doch diese Kritik bleibt innerhalb vorgegebener Anstandsgrenzen und klammert die höchsten Vertreter der Staatsmacht aus. Der zwar geschwächte, doch weiterhin vorherrschende traditionell-religiöse Übersetzung aus dem Arabischen: Nicola Abbas. Foto: Alexander Schippel >> Gesetz, um eine Aufhebung der männlichen Vormundschaft. Eine gleichberechtigte Beziehung zwischen Männern und Frauen vor, während und nach der Ehe würde die häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder in Saudi-Arabien deutlich reduzieren. Das jedenfalls schreibt die saudische Frauenrechtsaktivistin Amira Kashghari in ihrem Entwurf einer »Familien-Charta«, den sie Ende April in Dschidda vorlegte. In der Stellung der Frau zeigt sich das wahre Gesicht einer Gesellschaft. Folgt man Aktivistinnen, sieht es dabei in Saudi-Arabien bislang so aus: Die Rechtsstellung von Frauen ist schwach und die Doktrin des konservativen politischen Islams duldet keine Widerrede. Bislang waren Frauen von jeglicher gesellschaftlicher Interaktion auf politischer und wirtschaftlicher Ebene ausgeschlossen, eine nur mangelhaft institutionalisierte Zivilgesellschaft hielt jahrzehntelang still und dachte gar nicht daran, dafür einzutreten, die Beziehungen zwischen Frauen und Männern gesetzlich verbindlich zu regeln. Die Debatte offenbart, was unter der Oberfläche brodelt. Auf der einen Seite stehen dabei Technokraten und Liberale, die mit Frauen etwa in der »Beratenden Versammlung« zusammenarbeiten. Sie befürworten die gesellschaftliche Partizipation von Frauen und erkennen deren Potenzial an. Auf der anderen Seite betreiben verbohrte Religionsvertreter die Ausgrenzung des »schwachen Wesens Frau«. Die Frau habe ihrem Mann zu gehorchen und seine Befehle auszuführen, selbst wenn dieser noch drei weitere Frauen ehelicht, weil das islamische Recht ihm dies gestattet. Es wird kontrovers diskutiert – dominant sind allerdings weiterhin die Vertreter der religiös-politischen Tradition, die sich, so der Akademiker Youssef Aba al-Khail, durch ein »völlig amoralisches religiöses Gebaren« auszeichnen. Unter dem Vorwand der Verteidigung vermeintlich unverrückbarer sozialer Regeln werden Menschen, die zu eigenständigem Denken aufrufen, bekämpft und ihre innovativen Ideen als »unislamisch« gebrandmarkt. Gemäß dem vorherrschenden religiösen Diskurs ist, wer rationale Logik ins Spiel bringt, ein Ketzer. Dies verhindert eine Modernisierung. Al-Khail begründet dies damit, dass das religiöse Erbe in weiten Teilen der arabisch-islamischen Welt »unter dem Einfluss ideologisch ausgetragener politischer Konflikte festgelegt wurde«. Kein Wunder, so al-Khail, dass die dominierende Kultur seiner Umwelt »nichts anderem so feindlich gegenübersteht wie dem Rationalismus«. In Literaturclubs wird offen diskutiert, der König lässt sich mit einer Frauengruppe fotografieren und in den Zeitungen ist deutliche Kritik am religiösen Establishment zu lesen: Langsam beginnen auch die Vertreter der tra- NAJEM WALI besuchte Saudi-Arabien im Frühjahr 2010 im Rahmen einer von der deutschen Botschaft in Riad und saudischen Literaturclubs organisierten Lesereise. Er wurde 1956 in Basra geboren; 1980 flüchtete er nach Deutschland. Zurzeit lebt er in Berlin als Schriftsteller und Kulturkorrespondent der Zeitung Al-Hayat. Sein letztes Buch »Reise in das Herz des Feindes. Ein Iraker in Israel« erschien 2009 im Carl Hanser Verlag. :UKUNFTGESTALTEN $ER$EUTSCHE%NTWICKLUNGSDIENST $%$IST DERF~HRENDEEUROPiISCHE0ERSONALDIENST F~RINTERNATIONALE:USAMMENARBEIT 7IRARBEITENIN ,iNDERNWELTWEIT MIT DEM:IEL DIE,EBENSBEDINGUNGENDER-ENSCHENVOR/RT DAUERHAFT ZUVERBESSERN &~RFOLGENDE!UFGABENIN!FGHANISTAN 4ADSCHIKISTAN UND5SBEKISTANSUCHENWIRERFAHRENE&ACHKRiFTE 3CHAUSPIELERIN +ULTURPiDAGOGEIN 3OZIALPiDAGOGEINODER&RIEDENSPiDAGOGEINF~RDEN !UFBAUVONFRIEDENSFyRDERNDER4HEATERARBEIT IN!FGHANISTAN +ABUL¯002. )HRE!UFGABEN Æ 3IEBERATENUNDTRAINIERENDIE-ITARBEITERINNENDER0ARTNERORGANISATIONÂ&OUNDATIONFOR#ULTUREAND#IVIL3OCIETY&##3±IN4HEATERARBEIT HINSICHTLICHFRIEDENSFyRDERNDER4HEATERST~CKE Æ $ABEISCHREIBEN3IEAKTIVUNDUNTER-ITWIRKUNGDER0ARTNERPASSENDE4HEATERST~CKEUNDINSZENIERENDIESE Æ )M2AHMENVON&ORTBILDUNGSANGEBOTENKONZIPIEREN3IE7ORKSHOPSZURDEESKALIERENDEN4HEATERARBEIT Æ 3CHLIELICHANALYSIEREN3IEDIE!KTIVITiTENBEZ~GLICHIHRERFRIEDENSFyRDERNDEN7IRKUNGENUNDKOORDINIERENDIEKULTURELLEN!KTIVITiTEN )HR0ROFIL &~RDIESESPANNENDE!UFGABEBRINGEN3IE%RFAHRUNGENAUSDER4HEATERARBEIT WIEDAS6ERFASSENVON4HEATERST~CKEN 2EGIEARBEIT UND3CHAUSPIELEREI MIT !UERDEMHABEN3IE+ENNTNISSEINDERZIVILEN+ONFLIKTBEARBEITUNGUNDINPARTIZIPATIVEN"ERATUNGSUND4RAININGSMETHODENERWORBEN %INE BESONDERE+OMMUNIKATIONSFiHIGKEIT IM5MGANGMIT VERSCHIEDENENSOZIALENUNDPOLITISCHEN%BENENZEICHNET 3IEAUS 4EAMARBEIT IST )HNENNICHT FREMDUNDVIEL'EDULDUND(UMORSOLLTEN3IEAUCHMITBRINGEN )NTERKULTURELLE3ENSIBILITiT UND%INF~HLUNGSVERMyGENSOWIE6ERSTiNDNISF~RDIE ,EBENSUMSTiNDEINEINEMKONSERVATIVISLAMISCHEN,ANDUNDGUTE%NGLISCHKENNTNISSERUNDEN)HR0ROFIAB "ERATERINF~RDIE/RGANISATION3UGDAGROSERV#ONSULTINGIN4ADSCHIKISTAN +HUJAND¯00.R )HRE!UFGABEN Æ 3IEBERATENDIE/RGANISATION3!3#ONSULTINGDIESICHMITDER&INANZIERUNGUND6ERMARKTUNGLANDWIRTSCHAFTLICHER0RODUKTEUNDDER"ERATUNG VON&ARMERNBESCHiFTIGTHINSICHTLICH/RGANISATIONSENTWICKLUNG Æ $ABEIUNTERST~TZEN3IEBEIDER(ERSTELLUNGVON+ONTAKTENZUNATIONALENUNDINTERNATIONALEN0ARTNERNAUSDEM!GRARBEREICH Æ !UERDEMHELFEN3IEDER0ARTNERORGANISATIONBEIDER%RSTELLUNGVON0ROJEKTANTRiGEN )HR0ROFIL &~RDIESEINTERESSANTE!UFGABEBRINGEN3IE%RFAHRUNGENIN/RGANISATIONSBERATUNGUNDENTWICKLUNGSOWIEINDER:USAMMENARBEIT MIT INTER NATIONALEN/RGANISATIONENMIT 3IEVERF~GEN~BERGUTE%NGLISCHKENNTNISSEUND2USSISCHKENNTNISSEUNDKyNNENSICHINEINEM4EAMEINBRINGEN /RGANISATIONSUND6ERHANDLUNGSGESCHICKSOWIEDIE&iHIGKEIT ZUM.ETWORKINGZEICHNEN3IEAUS )NTERKULTURELLE3ENSIBILITiT UNDDIE&iHIGKEIT MIT DER:IELGRUPPEZUSAMMENZUARBEITEN RUNDEN)HR0ROFILAB "ERATERINF~R!GRIBUSINESSBEIEINEM"AUERNVERBANDIN4ERMEZ 5SBEKISTAN¯00.2 F~RDIE/RGANISATIONSENTWICKLUNGDES"AUERNVERBANDSIN3URKHANDARYA )HRE!UFGABEN Æ 3IEANALYSIERENDEN5NTERST~TZUNGSBEDARFDER-ITGLIEDERDES6ERBANDESUNDERARBEITENEINHANDLUNGSORIENTIERTES5MSETZUNGSKONZEPT Æ :UAGRARWIRTSCHAFTLICHEN4HEMENBEREITEN3IE"ERATUNGSUND4RAININGSMODULEVOR Æ 3IEKONZIPIEREN0ILOTMANAHMENENTLANGAUSGEWiHLTER7ERTSCHyPFUNGSKETTEN Æ !UERDEMERARBEITEN3IEEINNACHHALTIGES&INANZIERUNGSKONZEPTDASAUCHDIEGEZIELTE!KQUISEVON0ROJEKTMITTELNBER~CKSICHTIGT )HR0ROFIL .EBENEINEM"ERUFSODER(OCHSCHULABSCHLUSSMIT "EZUGZU!GRARWIRTSCHAFT !GRIBUSINESSODERdKONOMIEVERF~GEN3IE~BERPRAKTISCHE%RFAHRUNGEN IM!UFGABENGEBIET 'UTERUSSISCHEODERUSBEKISCHEBZW T~RKISCHE3PRACHKENNTNISSEODERDIE"EREITSCHAFT 2USSISCHODER5SBEKISCHZUERLERNEN BRINGEN3IEMIT ,ANDWIRTSCHAFTSTECHNISCHE+ENNTNISSE INSBESONDERE~BER"EWiSSERUNGSKULTURENUND"ERATUNGSUND6ERBANDSERFAHRUNGRUNDEN )HR0ROFILAB !NGEBOT DES$%$ 7IRBIETEN)HNENEINE-ITARBEIT INEINERINNOVATIVEN WELTWEIT TiTIGENENTWICKLUNGSPOLITISCHEN)NSTITUTION )HRE+OMPETENZENSINDINEINEM INTERDISZIPLINiREN4EAMVOR/RT GEFRAGT $ER$%$BIETET EINUMFANGREICHES,EISTUNGSPAKET $AZUGEHyRT AUCHDIEINTENSIVEFACHLICHEUND METHODISCHE6ORBEREITUNG $ETAILLIERTE)NFORMATIONENZUDENEINZELNEN0OSITIONENFINDEN3IEIM)NTERNET UNTERWWWDEDDESTELLENMARKT MIT !NGABEDERJEWEILIGEN00.R 7IRFREUENUNSAUF)HRE/NLINE"EWERBUNG "ITTEBEZIEHEN3IESICHIN)HREM!NSCHREIBENAUFDIE+ZF 3 $EUTSCHER%NTWICKLUNGSDIENSTG'MB( "EWERBERAUSWAHL\4ULPENFELD\"ONN WWWDEDDE\+ZF3 POLITIK Falsche Freiheit >> Der Grenzübergang Erez spuckt die wenigen Reisenden, die den Transit von Gaza nach Israel wagen dürfen, förmlich aus. Zur Zeit passieren im Durchschnitt täglich 80 Personen das metallene Grenzgebäude, das eigentlich für die Durchreise von bis zu 10000 Personen konzipiert ist. Das Erez-Terminal, ein verlassen wirkendes Labyrinth aus Sicherheitsschleusen, Gepäckbändern und Überwachungskameras, das eine Stimme aus dem Off mit knappen Anweisungen beherrscht, trägt sicherlich seinen Teil dazu bei, den Besuch rückblickend wie eine Reise in eine andere Dimension erscheinen zu lassen. Auf dem Parkplatz vor dem Gebäude, nun wieder in Israel, scheint Gaza auf einen Schlag weit weg, und die Erlebnisse der vergangenen Tage kommen dem Besucher merkwürdig irreal vor. Die 19 Stahltüren von Erez, die Israel vom Gaza-Streifen trennen, bilden den Übergang zu einer Welt, die auch nach der Lockerung der israelischen Blockade kaum an Normalität gewonnen hat. Mit dem Leben in Israel und selbst im Westjordanland hat Gaza wenig gemeinsam. 30 zenith 3/2010 Seit drei Jahren gleicht der Gaza-Streifen einem Gefängnis, kaum jemand darf hinein oder heraus. Auf internationalen Druck hin hat Israel die Blockade im Juni 2010 gelockert. Während Lebensmittel nun vermehrt eingeführt werden können, bleibt den Bewohnern echte Freiheit nach wie vor verwehrt Von Judith Althaus und Henrik Meyer Fotos: Ahmed Hayman Nur zehn Kilometer vom israelischen Technologiestandort Sderot entfernt bestimmen Pferdewagen und zankende Esel das Straßenbild. Die neueste Errungenschaft der Tunnelwirtschaft sind zu Hunderten eingeführte dreirädrige Motorroller mit Ladefläche aus China; sie dienen einem Rollstuhlfahrer ebenso zum Transport wie einer Gruppe Tagelöhner oder einer Palette Zementsäcke. Trotzdem oder gerade deshalb herrscht ein reges Treiben auf den Straßen. Geschäftsleute handeln mit allem, was verfügbar ist – ägyptischer Cola, deutschen Stoßdämpfern und israelischen Mangos. Grüne Hamas- Banner und Türkei-Fahnen dominieren das Straßenbild in diesem Sommer, wenige Wochen nach der blutigen Erstürmung der »Freedom Flotilla« durch israelische Soldaten. Der Krach der Dieselmotoren, Ausdruck der chronisch prekären Energieversorgung im Küstenstreifen, ist allgegenwärtig: Gazas einziges Elektrizitätswerk kann seit Wochen nur noch 50 Prozent seiner Leistung liefern. Zunächst ließ die israelische Regierung keinen Treibstoff ins Land; nach der Lockerung der Blockade stellt sich nun die Regierung in Ramallah quer. Vierzig Kilometer weiter südlich, in Rafah an der POLITIK Grenze zu Ägypten: Die durchlöcherte Fassade eines mehrstöckigen Wohnhauses, Sandhügel und die weißen Zeltplanen der Schmuggeltunnel rahmen ein sandiges Fußballfeld ein, das in der Augusthitze brach liegt. Unter jedem der vielleicht tausend Zeltdächer findet sich ein Tunneleingang, durch den, je nach Durchmesser und Marktbedarf, Pepsi-Kartons, Farbeimer oder Zementsäcke geschmuggelt werden. Auf schaukelgleichen Holzbrettern und mit Hilfe von elektrischen Seilwinden, die einst Gazas Fahrstühle betrieben haben, lassen sich die Arbeiter zehn bis zwanzig Meter in die Tunnel hinab. Unter Tage verzweigen sich die Strecken, damit der Warenschmuggel nach einem israelischen Luftschlag kein jähes Ende findet. Nur wenige Meter entfernt erinnert ein tiefer Krater, den eine israelische Rakete kürzlich in die Erde gerissen hat, an die Kurzlebigkeit der Tunnel. Unweit davon steht ein ägyptischer Grenzturm, von dem aus sich das Geschehen bestens überblicken lässt. Zankende Esel bestimmen das Straßenbild Nach Süden schweift der Blick zum offiziellen und weniger betriebsamen ägyptisch-palästinensischen Grenzübergang – der angesichts des regen unterirdischen Warenverkehrs beinahe überflüssig wirkt. »Rafah ist endlich geöffnet«, hatten palästinensische Gazetten euphorisch getitelt, als nach dem Flotilla-Zwischenfall Ende Mai der Druck zur Lockerung der Blockade international so groß geworden war, dass Ägypten und Israel reagieren mussten. Aber genauso wie die Blockadepolitik dank der Tunnel nie vollkommen war, ist auch diese Öffnung kein Garant für Reisefreiheit. An den misstrauischen Blicken des HamasGrenzsoldaten am Eingang zum Terminal vorbei gewährt der palästinensisch-ägyptische Grenzübergang überraschende Einblicke. Alle Schalter sind mit freundlich lächelnden Beamten besetzt, die Gepäckkontrollstation funktioniert, sogar die Klimaanlage im VIP-Bereich läuft und erfrischt bärtige Beamte auf wuchtigen Polstermöbeln. Was fehlt, sind die Reisenden. »Um über Rafah ausreisen zu dürfen, ist ein gültiges Visum für ein Drittland erforderlich«, klärt der Sprecher des Grenzübergangs auf. Nach drei Jahren Blockade nahezu ohne Personenverkehr und der Schließung vieler konsularischer Vertretungen im Zuge des Krieges im Winter 2008/2009 eine nicht ganz einfach zu erfüllende Voraussetzung. So sind es denn auch nicht mehr als 400 Menschen, die pro Tag über Rafah aus- und wieder einreisen. Denn ähnlich wie im Jahr 2008, als die Hamas den Grenzzaun zu Ägypten sprengte, wollen die wenigsten Palästinenser den Gaza-Streifen dauerhaft verlassen. Mehr als 200 Lastwagen passieren täglich die Grenze bei Kerem Shalom Vielmehr wollen sie sich mit allem versorgen, was dringend benötigt wird. Da Rafah aber offiziell kein Güterübergang ist, gilt die Regel: Jeder darf mitbringen, was er tragen kann. Und so wird geschleppt, was das Zeug hält – Küchenmaschinen, Spielzeug, Make-up und Windeln. Aber mehr als 60 Kilo schafft auch der stärkste Gazaner nicht. Deutlich mehr könnten die Lastwagen bewältigen, die in Sichtweite in einer kilometerlangen Schlange am Grenzübergang Kerem Shalom warten. Aber auch nach der Lockerung der Blockade müssen die Fahrer quälend lange Sicherheitsprozeduren über sich und ihre Fahrzeuge ergehen lassen. Dennoch überqueren an den meisten Tagen schon wieder mehr als 200 Lastwagen die Grenze. Bis zu 400 sollen es im kommenden Jahr sein, verspricht die israelische Regierung. War die Qualität der Schmuggelware trotz hoher Preise schlecht, ist das Angebot nun höher, die Qualität besser und das Preisniveau niedriger. Vor allem für die dringend benötigten Baumaterialien gelten jedoch immer noch strenge Restriktionen. Ein paar Minuten entfernt zeitigt dies eigentümliche Konsequenzen. Am Südostzipfel des Gaza-Streifens zeugen marokkanische Monumentalbögen von der Aufbruchstimmung vergangener Jahre. Sie sind Überreste des ehemaligen Flughafens von Gaza, die heute verloren und zerbombt im Nirgendwo stehen. Die Bewohner von Rafah nutzen dies auf ihre Weise: In den Einschlagskratern finden sie Kiesel, auf denen die Landebahn gebaut wurde. Sie füllen die Kiesel ab und transportieren sie in Massen auf ihren dreirädrigen Motorrollern fort. Fünf Schekel kostet ein Eimer Kies – ein Preis, mit dem die Tunnelwirtschaft nicht konkurrieren kann. Und so finden die letzten Reste des Flughafens ihre Weiterverwendung im Wiederaufbau der kriegszerstörten Häuser. Es sind Absurditäten wie diese, die das Leben in Gaza bestimmen – an die sich die Welt und scheinbar auch die Gaza-Bewohner schon fast gewöhnt haben. Westliche Politiker beschränken sich auf periodisch wiederkehrende Klagen über die humanitären Nöte – und verkennen dabei den Kern des Problems. Denn auch wenn heute gut gefüllte Marktstände eine Linderung der Not verheißen, überblenden sie damit nur die Tatsache, dass zwar nicht alles in Gaza akut lebensbedrohlich, aber nichts normal ist. Hierunter leidet vor allem die junge Generation, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Unter Leitung des Flüchtlingshilfswerks UNRWA haben die Kinder von Gaza in diesem Sommer Weltrekorde im synchronen Dribbeln von Basketbällen und im gleichzeitigen Drachensteigen aufgestellt. Zeichen von spielerischer Normalität – »der Anomalie ihres Alltags zum Trotz«, wie UNRWA-Chef John Ging erklärt. Die Realität im Gazastreifen zeigt, dass ein paar Tonnen Lebensmittel und wenige erlaubte Konsumgüter mehr nur die Spitze des Eisbergs sind. Eine Lockerung der Einfuhrbestimmungen greift zu kurz, denn das Paralleluniversum am Mittelmeer lechzt nach Freiheit mehr als nach Brot. << Der Flughafen dient heute als Baumaterial: Palästinenser wie dieser Junge nutzen die von israelischen Bomben gesprengten Löcher, um Kies auszugraben und zu verkaufen. zenith 3/2010 31 Rechtes Zünglein an der Waage: Seine politischen Gegner sehen in ihm einen »finsteren Rassisten«. Eli Jishai kann darüber nur milde lächeln. Keine Partner für den Frieden Der gescheiterte Gipfel von Camp David läutete vor zehn Jahren eine Dekade der Gewalt für Israelis und Palästinenser ein. Auch innenpolitisch verspielte Premier Ehud Barak die Macht. Profitiert vom Absturz der Linken haben zwei ungleiche Partner Von Dominik Peters >> »Einen neuen Morgen« versprach Israels Ministerpräsident Ehud Barak im Juli 2000, kurz vor dem Friedensgipfel Camp David II. Ihm, der erst ein Jahr zuvor von einem begeisterten Friedenslager ins Amt gehoben worden war, werde gelingen, was keiner seiner Vorgänger geschafft hatte – Frieden mit den Palästinensern zu schließen. Die internationale Presse reagierte begeistert. Israelische Kommentatoren indes waren weniger euphorisch: Sie erklärten den USvermittelten Gipfel mit Palästinenserpräsident Jassir Arafat schon vor Beginn für gescheitert. Und so kam es auch: Beide Seiten schoben einander am Ende die Schuld in die Schuhe. Arafat beklagte sich über Baraks Weigerung, den Palästinensern Souveränität über Jerusalems Altstadt zu gewähren. Barak erklärte, er habe in dem Palästinenserführer keinen Partner gehabt. 32 zenith 3/2010 Einen weiteren Grund für den Misserfolg verschwieg der Premier jedoch: Er war zu den Verhandlungen gereist, ohne eine parlamentarische Mehrheit hinter sich zu haben. Noch am Vorabend des Gipfeltreffens musste Barak den letzten von insgesamt einem Dutzend Misstrauensanträgen innerhalb eines Jahres abwehren und nach Massenrücktritten seiner Koalitionäre zehn von 22 Ministerportfolios selbst verwalten. Ehud Barak hatte gehofft, in letzter Minute mit einem diplomatischen Befreiungsschlag den entscheidenden Treffer landen zu können, der ihm daheim die Macht sichern würde. Stattdessen war er mit leeren Händen zurückgekehrt und hatte sein Vertrauen bei der Bevölkerung verspielt. Trotzdem wollte Barak es noch einmal wissen: Für den Februar setzte er Neuwahlen an. Die brachten ihm und seiner »Ha’Awoda – Die Ar- beit« eine verheerende Niederlage ein, von der sich die säkular-aschkenasische Partei bis heute nicht erholt hat. Neuer Premier wurde LikudChef Ariel Scharon, ein Befürworter des Siedlungsbaus und Gegner des Oslo-Prozesses. Am meisten profitiert vom Debakel der Linken hat allerdings die sephardisch-orthodoxe Schas-Partei. Die stets mit schwarzem Anzug und weißem Hemd gekleideten »Sephardischen Tora-Wächter«, so die Übersetzung des vollen Namens der politisch-religiösen Bewegung, waren nach Baraks Wahlsieg 1999 zum Königsmacher avanciert – und kurz vor dem Camp-David-Gipfel zum Königsmörder. Barak hatte bei seinem Friedenskurs auf den Spiritus Rector der Schas gebaut: den ehemaligen sephardischen Oberrabiner Ovadia Josef, der sich in Friedensfragen bis dato meist moderat verhalten hatte. Als sich im Vorfeld der Verhandlungen jedoch abzeichnete, dass der Premier bereit war, das Tabu »Jerusalem« anzufassen, änderte Josef seinen Kurs. »Barak rennt den Arabern wie ein Amokläufer nach«, schimpfte der in Bagdad geborene Rabbi und wies seine Minister an, die Regierungskoalition zu verlassen. Seit jenen dramatischen Tagen im Sommer 2000 steht die Schas im Zentrum der Macht; sie hat sich zum parlamentarischen Zünglein an der Waage entwickelt. Mit ihrem Programm, einer Mischung aus Religiosität, ethnischem Stolz und sozialem Mitgefühl, tritt sie auf als Interessenvertreterin der so genannten Mizrachim – Juden aus arabischen Ländern, die rund ein Viertel der Bevölkerung Israels ausmachen. In den letzten zehn Jahren holte man so in den mehrheitlich von arabischen Juden bewohnten Wahlkreisen die besten Ergebnisse und sicherte sich auf alle Regierungen erheblichen Einfluss. Insbesondere gilt das für den Vorsitzendem der Partei, Elijahu Jishai. Der fünffache Familienvater und Karrierepolitiker verdiente sich seine Sporen schon in der ersten Regierung Benjamin Netanjahus, wurde 1999 Vorsitzender der Schas und im Jahr darauf unter Ariel Scharon Innenminister. Seit 2006 diente »Eli« Jishai dem Premier Ehud Olmert als Minister für Industrie, Handel und Arbeit, bis er im vergangenen Jahr wieder den Sessel des Innenministers einnahm. Seither macht er vor allem durch rechtspopulistische Ausfälle auf sich aufmerksam, hetzt gegen Einwanderer und Homosexuelle. Von ähnlichem Kaliber ist seine Politik gegenüber den Palästinensern: Der Mann mit grau meliertem Bart und schwarzer Kippa schreckte im März nicht davor zurück, ausgerechnet während des Besuchs von US-Vizepräsident Joe Biden den Bau von 1600 neuen Wohnungen in Ramat Shlomo im israelisch annektierten OstJerusalem anzukündigen. Die diplomatische Krise, die seine Entscheidung auslöste, ließ den Foto: Ira Abramov/Wikimedia Commons/lizensiert gemäß Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported/http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en POLITIK Hardliner kalt. Bereits zwei Monate später, kurz nach Beginn der »indirekten« Friedensgespräche, legte er nach und erklärte, man werde »überall in Jerusalem, der ewigen und unteilbaren Hauptstadt des jüdischen Volkes«, weiter bauen. Rückendeckung erhielt der Innenminister von fast allen Kabinettskollegen, unter ihnen wenig überraschend Außenminister Avigdor Lieberman – der genau wie Jishai eine erstaunliche Karriere im israelischen Polit-Betrieb hingelegt hat. Lieberman hatte nach seiner Einwanderung aus der ehemaligen UdSSR schnell erste politische Kontakte als Saalordner bei Veranstaltungen des Studentenverbandes der konservativen Likud-Partei geknüpft. Noch in den 1990er Jahren war er Parteimitglied und Bürochef Netanjahus gewesen. Er rechnete sich persönlich dann aber bessere Chancen als Unabhängiger aus und gründete 1999 seine eigene Partei »Israel Beitenu – Unser Haus Israel«. Der studierte Sozialwissenschaftler setzte auf die rund eine Million Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die er für sich mobilisieren wollte. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist größer als die Sehnsucht nach Frieden Seine Strategie ging auf. Kurz nach Baraks Scheitern in Camp David begann eine Dekade der Kriege und des Terrors, die bei vielen Israelis Angst und Misstrauen erzeugte. Ihr Sicherheitsbedürfnis ist seither größer als ihre Friedenssehnsucht – wie es scheint, vor allem bei Liebermans Wählerschaft. Insgesamt drei Mal wurde der Mann aus Moldawien unter Ariel Scharon und Ehud Olmert Minister. Den vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere erreichte Lieberman im vergangenen Jahr während des Gaza-Krieges. Protestslogans arabischer Israelis gegen die Militäroperation »Gegossenes Blei« wandelte er um und nutzte sie für seine Wahlkampagne, indem er schwadronierte: »Keine Loyalität – keine Staatsbürgerschaft. Nur Lieberman versteht Arabisch.« Mit den unverhohlenen Drohungen gegen die Minderheit im eigenen Land schaffte er es, sich und seine säkulare Rechtspartei als drittstärkste Kraft im Parlament zu etablieren. Zum Leidwesen der Arbeitspartei – und ihres Parteivorsitzenden Barak: Das politische Stehaufmännchen war 2007 Foto: Aussenministerium des Staates Israel POLITIK Im Wahlkampf 2009 galt er der religiösen Schas-Partei noch als »Satan«: Avigdor Lieberman setzt sich für Zivilehen und Schweinefleischverkauf ein. unerwartet aus dem inneren Exil zurückgekehrt, hatte den Parteivorsitz zurückerobert und kämpfte bei den Knessetwahlen 2009 verbissen um die Macht – mit katastrophalem Ausgang. Gerade einmal 13 Mandate konnte Awoda gewinnen und fuhr damit das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Der alte Krieger Barak sicherte sich zwar den Posten des Verteidigungsministers, ignorierte dabei aber die Parteibasis. Die wollte kein drittes Mal seit 2001 unter einer rechtsgerichteten Regierung dienen, sondern sich in der Opposition inhaltlich und personell erneuern. Es half auch nichts, dass Barak als Einziger im März den Kabinett-Konsens störte und Jishais Pläne öffentlich kritisierte, in Ost-Jerusalem mehr Häuser für jüdische Familien bauen zu lassen. Sein Aufbäumen war ge- nauso vergeblich wie vor zehn Jahren, als Rabbi Josef zur Schas-Revolte geblasen hatte. Für Ehud Barak schließt sich dieser Tage der Kreis. Beinahe wöchentlich liefert er sich mit Rechten und Religiösen Auseinandersetzungen. Genau wie vor zehn Jahren, als er in Camp David den Nimbus des Unbesiegbaren verlor – was den Niedergang der Awoda einleitete und Schas den Weg zur Macht wies. Heute überzeugt das ungleiche Gespann Jishai-Lieberman viele israelische Wähler ausgerechnet mit dem Satz, den Barak vor zehn Jahren nach dem gescheiterten Friedensgipfel verkündet hatte: »Wir haben keinen Partner für den Frieden.« << Weiterlesen auf www.zenithonline.de: Der Niedergang der israelischen Linken. Camp David II und die Folgen Sitzverteilung in der Knesset nach den Wahlen 1999 bis 2009 Awoda Likud Kadima Schas Israel Beitenu Übrige 1999 26 19 17 4 54 1) 2003 19 2) 38 11 4 3) 48 2006 19 2) 12 29 12 11 37 2009 13 27 28 11 15 6 1) gesamt als Einheitsliste »Ein Israel« mit weiteren Linksparteien, 2) davon ein Sitz für die alliierte Partei »Meimad«, 3)in Einheitsliste mit der »Nationalen Union« Quelle: Wahlamt der Knesset zenith 3/2010 33 SCHWERPUNKT Der Kampf um den Islam Das Ringen um Macht und Moral – eine Spurensuche von der Frühzeit des Islams bis zum radikalen Fundamentalismus heute 34 zenith 3/2010 Kopfwäsche für Dschihadisten: In einem Rehabilitationszentrum in Saudi-Arabien sollen inhaftierte Al-Qaida-Kämpfer dem Terrorismus abschwören. Dass der Dschihad mit Gewalt an und für sich nicht schlecht ist, finden aber auch die Organisatoren. Im Vordergrund einer der Dozenten des Programms. zenith 3/2010 35 KAMPF UM DEN ISLAM Der 23-jährige Muhammad beim morgendlichen Tee. Für saudische Verhältnisse sind die Zimmer nicht unbedingt luxuriös ausgestattet. Doch nichts soll an ein Gefängnis erinnern. Die meisten der bis zu 30 »Begünstigten« saßen zuvor in saudischen Haftanstalten, manche kamen aber auch direkt aus Guantanamo. Tee mit Terroristen Wie resozialisiert man Gotteskrieger? Saudi-Arabien versucht es im Umerziehungslager von Hayar auf die sanfte Art und Weise Fotos: VII Network/Ziyah Gafić 36 zenith 3/2010 KAMPF UM DEN ISLAM Abwarten und Beten. Aufstehen um vier Uhr morgens: Die fünf Pflichtgebete strukturieren den Tagesablauf im Umerziehungslager. Die Wärter beten dabei gemeinsam mit den Häftlingen. Auch sonst verbringen sie die meiste Zeit zusammen und kleiden sich gleich. zenith 3/2010 37 KAMPF UM DEN ISLAM Das »Care Center« von Hayar liegt am Rande der saudischen Hauptstadt Riad. Wenn die Temperaturen es erlauben, können die Häftlinge im Freien Fußball und Tischtennis spielen, drinnen locken Fernseher, Videospiele und ein Hallenbad. Zum Pflichtprogramm gehören ideologische Unterweisungen. Dabei sollen »Missverständnisse« der jungen Männer über den Dschihad aufgeklärt werden: Nur die Regierung in Riad dürfe den Heiligen Krieg ausrufen. 38 zenith 3/2010 KAMPF UM DEN ISLAM Entspannt im Camp gegen den Terror. Die saudischen Behörden betrachten die Insassen als verwirrte junge Männer, die vom rechten Weg abgekommen seien. Die Häftlinge selbst beugen sich dieser Interpretation. Einige von ihnen wurden während des Kampfes gegen die Amerikaner im Irak gefangen. Nun dürfen sie sich bei Kunsttherapie und Lektionen zur Aggressionsbewältigung austoben. zenith 3/2010 39 KAMPF UM DEN ISLAM Al-Qaida hat in Saudi-Arabien jahrelang erfolgreich Nachwuchterroristen rekrutiert. Für deren Wiedereingliederung gibt der Staat zehn Millionen Dollar im Jahr aus. Auch andere Länder versuchen die Verbreitung militanter Islam-Interpretationen durch Aussteigerprogramme einzudämmen. Eine Religion im Belagerungszustand Der Streit um den richtigen Glauben spaltet die Gemeinschaft der Muslime seit dem Tod des Propheten. Aber nie zuvor war die Deutungshoheit über den Koran so umkämpft wie heute. Dafür sind nicht zuletzt die westlichen Islam-Debatten verantwortlichEi Von Christian Meier 40 zenith 3/2010 von Andreas Altmann KAMPF UM DEN ISLAM Die Bilanz des vor sieben Jahren gegründeten Camps fällt gemischt aus: Einige der bislang etwa 3000 Entlassenen haben sich wieder der Gewalt zugewendet. Doch Saudi-Arabien glaubt an die Methode von Hayar. Finanzielle Anreize und Strafandrohungen sollen Rückfälle verhindern. >> Der Kampf um den Islam begann am 15. März 2010. An diesem Tag weigerte sich eine Gruppe Gläubiger, die ihr auferlegten Pflichten zu erfüllen. Spannungen hatte es schon zuvor gegeben, nun trat das Zerwürfnis offen zutage. Es ging um Geld, aber auch um Macht und Ideologie; einige der Delinquenten betrachteten ihre Mission sogar als dschihad, als »heiligen Kampf«. Kurzzeitig sah es nach einem Sieg der Rebellen aus, doch dann verloren sie ausgerechnet ihren prominentesten Unterstützer. Die Auseinandersetzung führte schließlich zur Abspaltung der Gruppe, die sich einen neuen Namen gab und versprach, die ursprüngliche, ja »wahre« Mission fortzuführen. Dies zumindest kann man auf OnIslam.com nachlesen, das von der geschassten Redaktion des Internet-Portals IslamOnline.net seit kurzem betrieben wird. Zwischen den Redakteuren und ihrem damaligen Arbeitgeber war im Früh- jahr ein bizarrer Machtkampf entbrannt. Die Website IslamOnline, eines der einflussreichsten Islam-Portale weltweit, gehört einer in Katar beheimateten Stiftung. Als die Inhaber die Verlagerung der redaktionellen Arbeit in das Golfemirat ankündigten und über Nacht die Passwörter wechselten, gingen die 330 Mitarbeiter in Kairo in Streik: Abgeschnitten vom Zugang zu ihrer eigenen Seite, besetzten sie ihrerseits über Wochen das Gebäude – letztlich erfolglos. Demarkationslinie zwischen Glauben und Sünde Seither wird spekuliert: Hatte der Showdown zwischen Kairo und Doha religiöse Hintergründe? Vieles spricht dafür, dass IslamOnline den streng konservativen Besitzern zu modern geworden war. Hinzu kommt eine delikate Personalie: Der bekannte TV-Mufti Yusuf al-Qara- 14 Jahrhunderte nach Muhammads Tod wirkt die Gemeinschaft der Muslime gespalten und führungslos dawi, dessen Mitwirken zum Erfolg der Seite beigetragen hatte, solidarisierte sich überraschend mit der ägyptischen Redaktion – und wurde von den Kataris prompt kaltgestellt. Was auch immer die Auseinandersetzung verursacht haben mag, fest steht: Sie könnte tief >> zenith 3/2010 41 KAMPF UM DEN ISLAM Mohammad al-Fawzan in seiner neuen Wohnung. Vor wenigen Jahren wollte der ehemalige Wachmann noch amerikanische Soldaten töten. Nun hat er erfolgreich die Rehabilitation durchlaufen. Zum Lohn schenkte ihm der Staat Wohnung und Auto – und suchte ihm sogar eine Frau aus. >> greifende Auswirkungen auf das Islamverständnis zahlreicher Muslime haben. Hunderttausende Menschen informieren sich Tag für Tag bei IslamOnline, tauschen sich aus, suchen theologischen Rat und praktische Lebenshilfe. Wenn der Islam im 21. Jahrhundert ein zentrales globales Forum besitzt, dann dürfte das wohl IslamOnline sein. Das Hickhack um die Internet-Seite wirft ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das selten in seiner ganzen Bedeutung erkannt wird: Die islamische Welt erlebt einen erbitterten Kulturkampf. Er zeigt sich in auf den ersten Blick unscheinbaren Ereignissen, wie der Frage, wer die redaktionellen Inhalte einer religiösen Website erstellt. Er führt dazu, dass unliebsame Denker wie der Ägypter Nasr Abu Zaid zu Glaubensabtrünnigen erklärt werden können. Er zeigt sich in den Botschaften Osama Bin Ladens und selbst in den Karikaturen eines Kurt Westergaard. Und 42 zenith 3/2010 er ist, in seiner letzten Konsequenz, für den Tod zahlloser Menschen verantwortlich – Nichtmuslimen wie Muslimen. Einer von ihnen war der 70-jährige Scheich Abdullah Dschasim aus Bagdad. Am selben Tag im Mai 2010, an dem in Berlin die zweite »Deutsche Islamkonferenz« zusammentrat, wurde Dschasim vor den Augen seiner Familie von AlQaida-Mitgliedern enthauptet. Der sunnitische Prediger hatte es als Sünde bezeichnet, sich den Terroristen anzuschließen – was den Dschihadisten Grund genug war, ihn zum Ketzer zu erklären und hinzurichten. Seinen Kopf hängten sie zur Abschreckung an einem Strommast auf. Abdullah Dschasim wurde ein Opfer theologisch notdürftig verbrämter Machtpolitik. Doch die dem Mord zugrunde liegende Frage ist ein zentraler Punkt in dieser schwer entwirrbaren Auseinandersetzung um Glauben und Sünde: Wann hört ein Muslim auf, Muslim zu sein? Es ist die zentrale Frage in einem Machtkampf um Glauben und Sünde: Wann hört ein Muslim auf, Muslim zu sein? KAMPF UM DEM ISLAM »Eine Grundfrage der islamischen Theologie war es stets, die Demarkationslinie zwischen Glauben und Unglauben zu definieren«, sagt der Islamwissenschaftler Sven Kalisch. Das sei deshalb entscheidend, weil nur der Glauben den Eintritt ins Paradies ermögliche. Doch auch weltliche Konsequenzen können daraus folgen: takfir ist die arabische Bezeichnung dafür, wenn man einem anderen den Status als Muslim abspricht – und ihn somit praktisch für vogelfrei erklärt. Denn die meisten islamischen Theologen sind der Ansicht, dass der Abfall vom Islam mit dem Tod bestraft werden muss. Dass der Vorwurf der Apostasie ein probates Mittel darstellt, um sich unbequemer Widersacher zu entledigen, liegt auf der Hand. Takfir ist, was Intellektuellen in islamischen Ländern droht, wenn sie sich für eine Liberalisierung religiöser Traditionen einsetzen. Takfir trieb auch den ägyptischen Theologen Nasr Abu Zaid in den 1990er Jahren ins Exil. Seine Gegner argumentierten so: Abu Zaids Bücher bewiesen, dass er kein Muslim sei, und darum dürfe er nicht länger mit einer muslimischen Frau verheiratet sein. Ein ägyptisches Gericht war bereit, diesem Gedankengang zu folgen – der »Ketzer« Abu Zaid wurde zwangsgeschieden, erhielt Morddrohungen und verließ schließlich seine Heimat. Mit diesem Vorgang hatte die takfirFraktion einen wichtigen Etappensieg errungen, mit langfristigen Folgen: Noch nach seinem Tod vor wenigen Monaten erschienen in ägyptischen Zeitungen Nachrufe, die Abu Zaids Glauben in Frage stellten. Die Gelehrten sorgen sich um die Einheit der Muslime Auch wenn Idee und Praxis des takfir bis in frühislamische Zeiten zurückreichen, war der Zusammenhang von Sünde und Strafe stets umstritten. So schrieb im 8. Jahrhundert Abu Hanifa, der Namenspatron der hanafitischen Rechtsschule: Wer sich eines Vergehens gegen das göttliche Gesetz schuldig gemacht habe, sei dennoch weiterhin als Muslim zu betrachten, sofern er nur seinen Glauben an Allah und dessen Propheten Muhammad bekunde. Die Entscheidung wurde Gott überlassen und auf das Jüngste Gericht vertagt. Theologen, die so dachten, hießen daher »Aufschieber«: Murdschiiten. Neben ihnen gab es jedoch schon immer die jungen Feuerköpfe, die eine aktivistische Ausle- Wer bestimmt auf Dauer, was die mehr als eine Milliarde Muslime auf der Welt glauben sollen? gung des Islams bevorzugten und andere Muslime ins Visier nahmen. Im 20. Jahrhundert wurde ihre Ideologie von arabischen Islamisten wieder aufgegriffen: Sie begannen Regierungen für abtrünnig zu erklären, die ihrer Ansicht nach nicht islamgemäß regierten. Manche hielten sogar die gesamte Gesellschaft um sich herum für ungläubig. Schließlich erwuchsen aus diesem Milieu Organisationen wie die Terrorgruppe AlQaida, die den Dschihad internationalisierten. Auch deren Führer Osama Bin Laden betreibt takfir: Die Herrscher Saudi-Arabiens etwa bezeichnete er als »Heuchler« – eine Anspielung auf den Koran, wo die Heuchlerei als perfide Form des Unglaubens auftritt. Das funktioniert freilich in beide Richtungen, und so müssen sich auch Dschihadisten wie Bin Laden immer öfter den Vorwurf gefallen lassen, sich durch ihr Denken und Tun außerhalb des Islams zu stellen. Viele Gelehrte lehnen es indes ab, derartig fundamentale Urteile über andere Muslime zu fällen. Sie sind besorgt um die Einheit der umma, der Weltgemeinschaft der Muslime. Doch das Ziel, diese Einheit wiederherzustellen, führen auch die Progressiven und die Radikalen im Mund. Sie alle haben ganz bestimmte Vorstellungen davon, was den Islam ausmacht. In ihrem Kampf um die Herzen und Köpfe der Muslime ringen sie mit theologischen Traktaten, durch Medienpropaganda und nicht zuletzt mit purer Gewalt um ein letztlich wohl unerreichbares Ziel: die Deutungshoheit über eine im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel begründete Glaubensrichtung. Aber hat diese Deutungshoheit je bestanden? Zeit seiner Geschichte ist der Islam eine uneinige und mit Konflikten beladene Religion gewesen. Insbesondere die Frage, was einen »richtigen« Muslim ausmache und wie er sich zu verhalten habe, bewegte Muhammads Gemeinde von Beginn an. Schien dies anfangs noch eindeutig klärbar – äußerliche Merkmale wie das Beten in eine bestimmte Richtung dienten nicht zuletzt der Unterscheidung von anderen Religionen –, so wuchs die Unsicherheit darüber seit dem Tod des Propheten unaufhaltsam. Als der dritte Kalif Uthman im Jahr 656 ermordet wurde und Muhammads Schwiegersohn Ali seine Nachfolge antreten wollte, erlebte die junge Gemeinschaft ihre erste fitna – eine traumatische Glaubensspaltung. Im Kern ging es um die Frage, wer nach Gottes Willen zur Herrschaft bestimmt sei: Nur die engsten Verwandten Muhammads, sprich Ali? Oder der Kandidat, auf den sich die Gemeinde einigen würde? Ist der Kalif Uthman zu Recht getötet worden? Die Vorwürfe auf beiden Seiten wogen schwer: Hatte Ali bei dem Mord seine Hand im Spiel gehabt, deckte er zumindest die Täter? War der willkürlich agierende Uthman andererseits vielleicht zu Recht getötet worden, weil er den Islam missachtet hatte? Eine Frage, die die Gemüter bewegte, noch lange danach. Der »Aufschieber« Abu Hanifa zeigt sich rund hundert Jahre später unentschieden: »Gott allein weiß es«. Anders ein Teil der Schiiten, der Unterstützer Alis: Erbost über seine Nachgiebigkeit – Ali hatte einem Schiedsgericht zugestimmt, anstatt in der Schlacht gegen Uthmans Vetter Muawiya die Entscheidung zu suchen – verließen sie seine Anhängerschaft. Dies war nicht der Islam, wie sie ihn verstanden. Einer von ihnen ermordete Ali später aus Rache, während der siegreiche Muawiya 661 die Dynastie der Umayyaden begründete. Die offene Wunde der ersten fitna verheilte nicht – genau genommen bis heute nicht. Über Jahrhunderte hinweg blieb die Machtposition der Kalifen prekär. Nicht nur bekämpften Schiiten und die herrschenden Dynastien einander, auch traten immer wieder Einzelne auf, die eine besondere göttliche Mission für sich reklamierten. Dass die Hülle »Islam« von Theologen erst allmählich mit Inhalt gefüllt wurde, ließ selbst vermeintliche theologische Randaspekte >> zenith 3/2010 43 KAMPF UM DEN ISLAM >> wie die Frage der Ewigkeit des Korans in brisante politische Konflikte ausarten. Wer über die Auslegung des Islams bestimmte, hielt die Schlüssel zur Herrschaft in seinen Händen – wer die theologische Deutungsmacht anderen überließ, stand dagegen auf verlorenem Posten. Als es den Religionsgelehrten im 9. Jahrhundert gelang, sich dauerhaft vom Einfluss der Kalifen zu befreien, schwand deren Bedeutung unaufhaltsam. Auch die Religionsgelehrten als Gralshüter des »wahren Islams« mussten sich jedoch immer wieder gegen unliebsame Konkurrenz behaupten – bis in die Gegenwart. Seit auch theologisch ungebildete Muslime für sich in Anspruch nehmen, religiöse Urteile zu fällen, zeigt sich immer deutlicher: Die wichtigsten Quellen des Islams, der Koran und die Hadith-Überlieferungen, sind gegenüber Missbrauch aller Art ungeschützt. Der Kampf um den Islam ist heute vor allem ein Kampf um den richtigen Umgang mit diesen Schriften. Verspätete Medienrevolution in der arabischen Welt Insbesondere der Koran erweist sich als anfällig gegenüber religiöser Usurpation. Dies hängt zum einen mit der verspäteten Medienrevolution in der arabischen Welt zusammen. Als der Korantext 1926 mit der Kairoer Druckausgabe erstmals massenhaft vertrieben wurde, ermöglichte dies einen ganz neuen Zugang zu dem heiligen Buch des Islams: »Seither lesen und goutieren die Menschen den Koran auch in Alltagssituationen«, beschreibt der Islamforscher Reinhard Schulze diese einschneidende Veränderung. Zum anderen entstanden seit dem späten 19. Jahrhundert eine Reihe reformerischer Bewegungen. Gelehrte wie der Ägypter Muhammad Abduh plädierten dafür, Religion und Gesellschaft auf der Basis einer modernen Lektüre von Koran und Hadith zu erneuern. Und die eine Generation später von einem Volksschullehrer gegründete »Muslimbruderschaft« nahm die religiöse Unterweisung gleich selbst in die Hand, statt dem nachgeplapperten Wissen der religiösen Graubärte zu vertrauen. Seither hat sich eine Kultur der indidivuellen Koranauslegung etabliert – und zwar gleichermaßen unter fundamentalistischen Strömungen wie unter liberalen und progressiven Muslimen. Beide Seiten propagieren den idschtihad, die eigenständige Urteilsfindung in religiösen 44 zenith 3/2010 Selbst wie man einen Dschihad zu führen hat, ist unter Radikalen inzwischen umstritten Fragen. Und beide Seiten kommen dabei zu völlig gegensätzlichen Ergebnissen; etwa bei Fragen zur Stellung der Frau. Dass dies nicht ständig Konfrontationen nach sich zieht, liegt an der dezentralen Struktur des Islams, bei der keine oberste Autorität den Glauben für alle verbindlich definieren muss. Es führt aber auch dazu, dass die Weltanschauungen einzelner Gruppen immer radikaler werden. Insbesondere dort, wo Muslime unterschiedlicher Ausrichtung aufeinandertreffen, kommt es daher immer wieder zu Zusammenstößen. Dass diese nicht in jedem Fall so unblutig verlaufen wie im Fall von IslamOnline, musste erst vor wenigen Monaten Pakistan erfahren: Innerhalb weniger Wochen kam es in Lahore zu Anschlägen auf zwei Moscheen der Ahmadiyya-Bewegung und auf einen SufiSchrein, bei denen weit über hundert Menschen starben. Urheber der Terrorakte waren die Taliban; die tieferen Gründe liegen jedoch in Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen IslamStrömungen des Landes verborgen: Streng genommen würden 20 Prozent der Pakistaner die restlichen 80 Prozent im Grunde als »falsche« Muslime betrachten, rechnete die Zeitschrift Outlook India nach den Terrorakten vor. Der 1889 gegründeten Ahmadiyya wurde die Zugehörigkeit zum Islam 1974 vom Staat sogar offiziell abgesprochen, was ihre Mitglieder noch verwundbarer macht. Ein anderes Beispiel ist der Irak: Dort schlachtete Abu Musab al-Zarqawi bis zu seinem Tod gezielt Schiiten ab und bezeichnete sie als »lauernde Schlangen« und »eindringendes Gift«. Das zeigt zwar eher, wie kühl er mit religiösen Differenzen kalkulierte: Im Zweifel nahmen und nehmen die Adepten von Al-Qaida & Co. auch sunnitische Opfer in Kauf. Doch das ketzerische Bild von Schiiten, das die Dschihadisten jahrelang verbreiteten, ist mittlerweile auch in den sunnitischen Mainstream eingesickert. Und dennoch sind Konflikte zwischen den großen islamischen Konfessionen nicht mehr die zentrale Herausforderung. Zwar wird immer wieder geschrieben, der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten werde die Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens prägen. In Wahrheit jedoch spielen sich die für den Islam insgesamt entscheidenden Entwicklungen und Machtkämpfe längst jenseits konfessioneller Grenzen ab. Die grundsätzlicheren Auseinandersetzungen werden heute innerhalb der religiösen Machtblöcke geführt: sei es im Iran, wo Reformer und herrschende Theokraten um die politischen Implikationen der schiitischen Lehre ringen, oder in Ägypten, wo die staatstreuen Gelehrten der Azhar-Universität vergeblich gegen die von Islamisten propagierte Vollverschleierung argumentieren. Auch innerhalb der Radikalenszene kommt es seit einigen Jahren verstärkt zu Spaltungen und Anfeindungen: jüngere gegen ältere, moderatere gegen radikalere Gotteskrieger. Dass dabei auch die takfir-Doktrin intern angezweifelt wird, zeigt: Selbst wie man einen Heiligen Krieg zu führen hat, ist mittlerweile umstritten. Der Dschihad ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Die Schiiten – eine »lauernde Schlange« Der wichtigste Unterschied zu den Zerreißproben vergangener Tage dürfte jedoch woanders liegen: Die Schlacht um die Macht im Hause des Islams wird heute nicht mehr allein in der islamischen Welt geschlagen. Und das liegt nicht nur an der Existenz großer muslimischer Gemeinschaften in Europa und Amerika oder an den geopolitischen Interessen des Westens. Schon die Reformer der nahda, der arabischen »Renaissance«, im 19. Jahrhundert waren – bewusst oder unbewusst – tief beeinflusst von europäischen Vorstellungen von Staat, Gesellschaft und Religion. Seither hat Europa bei den verschiedenen Um- und Neudeutungen des Islams ein gewichtiges Wort mitzureden. Auch wenn manche hier wie dort es bis heute nicht wahrhaben wollen: Das geistesgeschichtliche Erbe Europas ist seit bald zwei Jahrhunderten ein Teil des Islams und geht fortwährend in die sich verändernden Selbstdefinitionen der Muslime ein. Dies gilt insbesondere für vermeintlich west- KAMPF UM DEN ISLAM »Der Islam ist ...« gel: Stets zeigt er etwas übergroß. Doch obwohl sie um die Verfälschung wissen, versuchen die Muslime sich dem Bild anzupassen. Was Islam und Muslim-Sein bedeuten, kann heute daher nicht mehr diskutiert werden, ohne die westlichen Positionen mitzudenken; und sei es widerstrebend. Wie selektiv dies geschieht, beweist der gegenwärtige Boom orientalisierender Malerei in den Golfmonarchien: In ihm manifestiert sich das Bedürfnis nach einem Bild der eigenen Geschichte, das mit den klassischen europäischen Klischees von Wüste und Harem übereinstimmt. Was Islam bedeutet, kann heute nicht mehr ohne den Westen diskutiert werden Doch ist eben nicht nur die orientalistische Malerei des 19. Jahrhunderts Teil dieses Prozesses, sondern auch ein Karikaturist wie Kurt Westergaard. Ein Abu Zaid ebenso wie ein Bin Laden; ein Ali Khamenei, der im Iran als Stellvertreter des »verborgenen Imams« herrscht, ebenso wie eine Amina Wadud, die in New York als Imamin Freitagsgebete leitet. Was Muslime sind und was sie zu glauben haben, wird heute ebenso sehr in Europa entschieden wie in Mekka, ebenso sehr auf IslamOnline wie in einer Koranschule in Bangladesch. In der islamischen Welt des 21. Jahrhunderts gibt es kein Zentrum und keine Peripherien mehr. Zugleich wirkt die umma heute, 14 Jahrhunderte nach dem Tod Muhammads, gespalten und führungslos. Die Globalisierung hat eine ungeahnte Vielfalt von Lebensentwürfen möglich gemacht. Mindestens ebenso stark wie der Trend zur Individualisierung ist aber derjenige zur Vereinheitlichung: Waren und Ideologien werden standardisiert und weltweit verbreitet. Auch der Islam wird sich dieser Entwicklung nicht entziehen können. Wer bestimmt auf Dauer, was die rund anderthalb Milliarden Muslime auf der Welt glauben sollen? Welcher der unterschiedlichen Glaubensentwürfe wird sich am Ende durchsetzen? Wird sich überhaupt einer durchsetzen? Ein guter Muslim würde wohl sagen: »Gott allein weiß es.« << Muhammad-Karikaturen beleidigend zu finden. Ironischerweise hätten gerade die linken Multikulturalisten auf diese Weise die Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie »internalisiert«, schließt Malik. Was er nicht schreibt, ist, dass diese Debatten sich auch auf innerislamische Diskurse selbst auswirken: Bestimmte Akteure und Positionen werden auf dem Umweg über ihre westliche Rezeption gestärkt, andere geschwächt. So wird beispielsweise das französische »Burka-Verbot« in Marokko und Ägypten inzwischen kontrovers diskutiert. Selbst viele Gegner der Vollverschleierung sprechen sich gegen die Zwangsenthüllung aus; und sei es, weil sie hinter den europäischen Initiativen antiislamisches Sentiment vermuten. Am Ende könnte dies sogar dazu führen, dass immer mehr Muslime den niqab als Identitätssymbol akzeptieren – nach dem Motto: Was den Europäern unrecht ist, sollte uns billig sein. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, fungiert der Westen für die islamische Welt als Zerrspie- Europa fungiert als Zerrspiegel für den Islam Weiterlesen: Weitere Beiträge zum Heftschwerpunkt »Kampf um den Islam« auf www.zenithonline.de Von »Der Islam ist die Lösung« bis hin zu »Islam ist gleich Islamismus«: Die Meinungen über das Wesen der im 7. Jahrhundert in Arabien entstandenen Religion gehen weit auseinander. Die folgenden Aussagen zeigen aber auch: Glaube ist eine private Angelegenheit. KRISTIANE BACKER (44) MODERATORIN, GROSSBRITANNIEN »Der Islam ist mein Anker im Himmel« zenith 3/2010 Illustration: Lesprenger lich-islamische Konflikte. Die Rushdie-Affäre und der Karikaturenstreit waren im Kern politische Phänomene, nicht religiöse. Im Gegenteil – weniger hat der Islam sie herbeigeführt, als sie den Islam beeinflusst haben dürften: Sowohl Khomeinis Mordaufruf von 1989 gegen den Verfasser der »Satanischen Verse« als auch die Erhitzung der Gemüter um die dänischen Zeitungskarikaturen 2006 haben dazu beigetragen, ein bestimmtes Bild vom »authentischen Islam« in der westlichen und internationalen Öffentlichkeit zu verankern. Der indisch-britische Publizist Kenan Malik hat dies in einem Aufsatz treffend nachgezeichnet: In den Augen liberaler Europäer bedeute ein »richtiger« Muslim zu sein mittlerweile, die 45 Illustration: Lesprenger KAMPF UM DEN ISLAM AYAAN HIRSI ALI (40) PUBLIZISTIN, NIEDERLANDE UND USA »Der Islam ist nicht einfach ein Glauben; er ist eine Lebensweise, eine gewalttätige Lebensweise. Der Islam ist durchtränkt mit Gewalt, und er fördert Gewalt.« ABDELKARIM HENRY ANDERS (60) FOTOSTYLIST UND SUFI, DEUTSCHLAND »Islam ist für mich das Erlernen des liebevollen und vornehmen Umgangs mit meiner Seele und meinen Mitmenschen.« HIZBUR RAHMAN OMAR ZUHDI (27) KANDIDAT DER TV-SHOW »JUNGER IMAM«, MALAYSIA »Der Islam ist eine Religion, die Vergnügen erlaubt, aber es muss immer Grenzen geben.« 46 zenith 3/2010 »Der Koran ist eine reformatorische Schrift« Wann wurde der Islam zum Islam? Der Orientalist Josef van Ess im zenith-Gespräch über Prophetengenossen, verrückte Gnostiker und die Gebetsgymnastik der frühen Muslime Interview: Christian Meier Andreas Altmann zenith: Herr van Ess, seit wann gibt es den Islam? Josef van Ess: Diese Frage ist überhaupt nicht zu beantworten. Zumal man ja schon unterschiedlicher Meinung darüber ist, seit wann es den Koran gibt. Eines ist klar: Als es den Koran gab, gab es noch lange nicht den Islam. Wie ist das zu verstehen? Eine Religion braucht Generationen, bis sie weiß, warum sie da ist. Als Offenbarungsreligion hat der Islam bestimmte Grundvoraussetzungen: ein Gottesbild und die Notwendigkeit eines Stifters etwa. Aus diesen Voraussetzungen folgen Optionen. Und dann müssen Entscheidungen gefällt werden – was Zeit braucht, zum Teil Jahrhunderte. Durch diese Entscheidungen wird der Entscheidungsspielraum immer weiter eingegrenzt – sozusagen eine natürliche Erstarrung, die es bei allen Religionen gibt. Häufig heißt es, der Islam brauche eine Reformation – einen »islamischen Luther«, um die Erstarrung aufzuhalten. Ach, das ist doch ein alter Hut. Der Gedanke taucht schon im späten 19. Jahrhundert auf, und man hört es auch jetzt immer wieder. Dahinter steht der etwas amorphe Wunsch nach Reform, weil man mit der Gegenwart unzufrieden ist. Dabei ist schon der Koran eine reformatorische Schrift – insofern, als die älteren Religionen als Irrwege abgetan werden. Was natürlich eine Illusion ist: Der Koran ist nie zu den Anfängen zurückgekehrt. Aber dahinter steht vermutlich eine historische Erfahrung: Die Zeitgenossen des Propheten erlebten das Christentum nicht als einheitliche Religion, sondern als drei verschiedene »Kirchen«, die sich wüst beschimpften. Und als was sahen die frühen Muslime sich selbst? Wie ist der Islam zum Islam geworden? Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Islam von Muhammad noch gar nicht intendiert war. Anfangs wird bloß eine Gemeinde gebildet, die sich eines besonders sittlichen oder frommen Lebenswandels befleißigen soll und die sich als »die Gläubigen« bezeichnet: al-mu’minun. Die Bezeichnung »Muslim« kommt erst viel später in Gebrauch ... Richtig – sie steht zwar schon im Koran, meint aber nur ganz bestimmte Leute: die alten Kaaba-Verehrer aus Mekka, die sich dem Islam »unterwerfen«. Das zumindest schreibt der Islamforscher Fred Donner in seinem neuen Buch. Unter den mu’minun waren seiner Ansicht nach dagegen auch Juden und Christen. Die wurden später ausgesondert – wohl zur Zeit des Kalifen Abd al-Malik. Und dann wurde knapp hundert Jahre nach der Hidschra der Islam zum Islam. Ab diesem Zeitpunkt kann man von einer etablierten islamischen Religion sprechen? Ja und nein. Wir stellen uns das immer so vor: Da ist eine Gruppe von Leuten, die denken sich etwas aus und machen eine neue Religion auf. Aber so war das ja nie. Natürlich hat es die »Gläubigen« gegeben. Aber die wurden durch die Eroberungskriege in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Die Folge war ein Konglomerat ver- Foto: chm KAMPF UM DEN ISLAM Selbst an Orten wie Kufa oder später Bagdad würde ich nicht von einem einheitlichen Islam ausgehen. Bagdad war dafür ja auch viel zu groß, es hatte unter Umständen eine Million Einwohner. Dass man da in jeder Moschee den Islam gleich verstanden hätte, halte ich für völlig unmöglich. Wir haben ja Berichte von diesen verrückten Gnostikern. Was die glaubten, muss irgendwo ausgesprochen worden sein, und es müssen sich auch Anhänger gefunden haben. Ansonsten hätte man das gar nicht schriftlich niedergelegt. Sie zeichnen ein fast schon atomistisches Bild vom Islam. Oder ich stelle das gängige Bild auf den Kopf. Die Pluralität steht am Anfang, die Einheit kommt später. Ein Fundamentalist würde es genau umgekehrt sehen. JOSEF VAN ESS gilt als einer der weltweit bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der islamischen Theologie und Philosophie. Von 1968 bis 1999 bekleidete er den Lehrstuhl für Islamkunde und Semitische Sprachen an der Universität Tübingen. Sein Hauptwerk »Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra«, zwischen 1991 und 1997 in sechs Bänden erschienen, ist in der Fachwelt mittlerweile schlicht als »TG« bekannt. Im Juli wurde der 1934 geborene van Ess auf dem dritten »World Congress for Middle Eastern Studies« in Barcelona für sein Lebenswerk ausgezeichnet. schiedener Nuclei. Vor allem in den neuen Garnisonsstädten – Basra, Kufa oder Fustat: Da saßen dann ein paar so genannte Prophetengenossen, um die herum sich eine Sorte Islam gruppierte. Aber ich bin überzeugt, dass das in Kufa ganz anders aussah als in Fustat. Aus welchem Grund? Waren diese Gebiete voneinander isoliert? Die Kommunikation zwischen den Zentren war schwach. Natürlich sind die Leute gereist, und vermutlich hatten sie irgendeinen Koran-Text, an den sie sich hielten. Aber die Frage ist ja, ob der Koran schon im Mittelpunkt stand. Aus meiner Sicht: Nein. Was die Gemeinde einte, war vielmehr die Art des gemeinschaftlichen Gebets. Diese merkwürdige Gymnastik, die man dabei treibt – das ist ja singulär. Und das fiel jedem anderen auf. Was da dagegen an Überbau war, also was wir heute unter Islam verstehen – das weiß der Himmel. Heißt das, in den Städten haben sich jeweils eigene Islam-Richtungen entwickelt? Was war das einigende Band aller dieser lokalen Gruppen und Islam-Varianten – jenseits der Gebetsgymnastik? Auf Dauer war das der Koran. Es brauchte etwas Zeit, bis er zusammengestellt und den Leuten zu Bewusstsein gekommen war. Aber in dem Augenblick, wo man den Koran als verbindliche Grundlage besaß, da gab es den Islam. Vermutlich begann das mit Abd al-Malik und den Inschriften am Felsendom in Jerusalem, wo der Koran zitiert wird – nicht ganz wörtlich, übrigens. Später kam dann das islamische Recht hinzu. Aber auch danach gab es Gruppen, die von anderen als Häretiker verketzert wurden. Der das für frühe Gruppen, die sich gegen den Staat erhoben. Beispielsweise der »verschleierte Prophet« Al-Muqanna’ im 8. Jahrhundert: Noch Jahrhunderte später fanden sich Anhänger dieses Mannes in den Bergen Turkestans. Und wenn Geographen hinfuhren und fragten: ›Seid ihr Muslime?‹, dann sagten die Leute: ›Ja, so genau wissen wir das auch nicht. Aber wir zahlen Steuern.‹ Die Christen hätten die im Mittelalter schon längst ins Jenseits befördert. Das klingt beinahe zu harmonisch, um wahr zu sein. Natürlich ist es manchmal ausgesprochen rabiat zugegangen. Mahmud von Ghazna etwa hat viele einfach einen Kopf kürzer gemacht – aber ganz bestimmte Leute, die ihm auch politisch im Weg standen. Doch zu anderen Zeiten hat man halbwegs friedlich nebeneinander her gelebt. Insofern bietet der Islam ein bunteres Bild als die christliche Welt. Würden Sie sagen, dass das auch für die Gegenwart gilt? Inzwischen ist die Sache in der Tat umgeschlagen: Durch die Medien ist es viel leichter möglich, ein verbindliches Bild vom Islam unter die Leute zu bringen und etwa mit Geld durchzusetzen. Der Umschwung begann schon unter den von uns so hoch geschätzten Reformatoren des späten 19. Jahrhunderts wie Muhammad Abduh. Die ja auch eine Rückkehr zur Schrift propagierten – und damit auf einen Einheitsislam hinauswollten. Die Ironie der Geschichte »Muhammads Zeitgenossen erlebten das Christentum als drei sich wüst beschimpfende Kirchen« Begriff Häresie setzt eine Orthodoxie voraus. Wie aber wollen Sie Orthodoxie im Islam definieren? Es hat natürlich Orthodoxien in unserem Sinne gegeben, aber sie waren immer lokal und zeitlich begrenzt: In dem Augenblick, wo man irgendwo eine bestimmte Islam-Interpretation verbindlich machte, gab es Gruppen, die als abartig bezeichnet wurden. Aber grundsätzlich und überall verabscheut wurden nur ganz wenige Gruppen, etwa die Ismailiten. Wie ging man mit solchen »abartigen« Gruppen um? Selbst die Ismailiten wurden nicht ausgerottet. Sie haben sich in Rückzugsgebiete flüchten müssen, aber sie haben überlebt. Noch viel mehr gilt hat dann dazu geführt, dass schließlich der moderne Fundamentalismus daraus geworden ist. Wobei dieser Fundamentalismus eben auch eindeutig modern ist ... Ganz gewiss: Da steckt viel mehr Moderne drin, als wir so denken. Wenn wir daher Ansichten, wie sie von Fundamentalisten vertreten werden, auf den Koran zurückführen, dann tun wir damit zwar den Fundamentalisten einen Gefallen, aber historisch gesehen ist das falsch. Doch im Grunde habe ich keine Angst um die islamische Welt. Ich bin sicher, dass auch die Fundamentalisten es nicht zu einer Orthodoxie schaffen werden. Das ist einfach in der Re<< ligion nicht angelegt. zenith 3/2010 47 KAMPF UM DEN ISLAM Yussufs Welt Im Wettlauf um die Deutungshoheit im Islam führt ein 83-Jähriger mit großem Vorsprung. Der Erfolg der Marke Qaradawi hat viel mit Produktionsabläufen moderner Medien zu tun. Aber steht der Mann noch für etwas anderes als für sich selbst? Von Daniel Gerlach Eine Polemik von Andreas Altmann Foto: Zahid Hussein >> Scheich Yussuf al-Qaradawi wohnt in einem vornehmen Anwesen. Für einen katholischen Bischof oder gar den Papst wäre seine Stadtvilla an einer dunklen Ausfallstraße in Doha im Emirat Katar allerdings eher bescheiden. Der sunnitische Islam kennt zwar keine Kirchenämter, aber Qaradawis Einfluss auf die islamische Welt hat Experten schon dazu veranlasst, ihn mit den allerhöchsten Vertretern des Katholizismus zu vergleichen – eine »Ein-MannGlaubenskongregation« nannte ein Beobachter des islamischen Medienbetriebs den Scheich, der beinahe wöchentlich in der Prime Time des Satellitensenders Aljazeera auftritt. YUSSUF AL-QARADAWI erhielt seine theologische Ausbildung an der Universität Al-Azhar in Kairo. Sein Buch »Erlaubtes und Verbotenes im Islam« gilt vielen Muslimen als Leitfaden für ein gottgefälliges Leben. 48 zenith 3/2010 Für manche ein Hetzer, für andere ein Laissez-Faire-Scheich Was ein 83-Jähriger, über dessen Leidenschaften außer Büchern über den Islam kaum etwas bekannt ist, in einer dreigeschossigen Villa tut, bleibt sein Geheimnis – Besucher empfängt Qaradawi nach arabischer Sitte in einem Raum im Erdgeschoss mit Neon-Lampen und komfortablen, im Rechteck angeordneten Sitzmöbeln in orientalischem Barock. Wie fast jeden Sonntagabend wartet dort bereits Motaz al-Khateeb, Redakteur der Sendung »Al-Scharia wa-l-Hayat – Die Scharia und das Leben«. Die beiden Männer steigen nach einer kurzen Begrüßung in Qaradawis schwarze Mercedes-Limousine. Es ist 21 Uhr, in etwa einer Stunde beginnt die Sendung. Wie denn das Thema laute, fragt Qaradawi seinen Redakteur. Die Antwort: »Fatwas und die Politik«. Qaradawi ist zufrieden – das Thema sagt ihm zu. Vor vier Jahren, als die erfolgreichste Islam-Sendung der Welt ihr zehnjähriges Jubiläum feierte, hatte Qaradawi einmal mit der Faust auf den Tisch gehauen und gerufen, er habe es satt, über die Kleinigkeiten des Lebens zu reden, wenn es doch so viele große Themen zu besprechen gebe. Politik heißt für Qaradawi Weltpolitik. Die Muslime in der Welt, verkündet er immer wieder, würden von »ihren Feinden« unterdrückt – ob in Palästina, Afghanistan oder im Irak. Qaradawi beklagt die mangelnde Solidarität der muslimischen Staaten mit den geschundenen Glaubensbrüdern. Und er wettert regelmäßig gegen seine Berufsgenossen, die rechtsgelehrten Ulama von der Azhar-Universität in Kairo, die sich selbst zu Kollaborateuren diktatorischer Regime und des Westens machten. Wer die weltpolitischen Ansichten des kleinen Bürgertums zwischen Marokko und Indonesien erfahren will, kann sie in ihrer kondensiertesten Form bei diesem Mann abrufen – fast jeden Sonntagabend auf Aljazeera. »Der Scheich ist nicht unser einziger Studiogast«, sagt Redakteur al-Khateeb, der sich oft gegen den Vorwurf verteidigen muss, Aljazeera biete Qaradawi ein Meinungsmonopol, »aber er kommt mindestens jeden zweiten Sonntag, denn er ist nicht nur beliebt, sondern auch ungeheuer kompetent.« Die Sendung ist so angesetzt, dass Muslime in Europa sie um 20 Uhr mitteleuropäischer Zeit empfangen können – am arbeitsfreien Sonntag. Auf die Frage, wie er sich seinen eigenen Erfolg erkläre, sagt Qaradawi, während er Qaradawi und Al-Azhar: Hassliebe zur alten Heimat sich gemächlich den Turban geraderückt, nur einen Satz: »Die Menschen mögen Leute, die die Wahrheit sprechen.« Medienforscher sind sich einig: Qaradawi und Aljazeera haben sich gegenseitig nach oben gebracht. Der Scheich sichert gute Einschaltquoten und der Satellitensender verschafft ihm die hellstmögliche Bühne. Als die Sendung beginnt, wird Qaradawi zur Rolle islamischer Rechtsgutachten in der Politik befragt. Er denkt nicht daran, zur Sache zur sprechen, sondern plaudert beinahe zehn Minuten über einen anderen, verstorbenen Islam-Gelehrten und das Gute, das dieser Mensch an Gedanken hinterlassen habe. Was im westlichen Fernsehen kaum vorstellbar wäre: Qaradawi wird nicht unterbrochen. Aus der Regie gibt Redakteur al-Khateeb dem Moderator einige Fragen durch, die per E-Mail in der Redaktion eingegangen sind. Es geht darum, ob die ägyptischen Behörden die Tunnelbauten nach Gaza blockieren dürfen und ob die Islam-Gelehrten die Regierung kritisieren sollten. Er ist unterhaltsam, grantig, plötzlich rührend und dann wieder zornig Der Moderator nickt – und lässt Qaradawi weiterplaudern. Der alte Mann ist unterhaltsam, autoritär und grantig, plötzlich rührend, dann wieder zornig und abermals charmant. Qaradawi kommt nicht ins Stocken. Er ist das, was Fernsehleute gern als »authentisch« oder »telegen« bezeichnen – eine arabische Erfolgsmelange aus Marcel Reich-Ranicki, Heiner Geißler und Peter Scholl-Latour. Auch die Produktionsabläufe im modernen Satellitenfernsehen sind ein Schlüssel zum Verständnis des Phänomens Qaradawi: Das Team der Sendung ist klein; doch mit einem eingespielten Profi wie ihm dauert die inhaltliche Vorbereitung keine 20 Minuten. Der Scheich parliert und polarisiert und macht so aufwändige Recherchen oder vorproduzierte Beiträge überflüssig. Seit über 30 Jahren tritt Qaradawi in TV-Studios auf – einen Reinfall haben Fernsehmacher mit ihm noch nicht erlebt. Aljazeera behauptet, dass 160 Millionen Menschen regelmäßig das Programm des Senders konsumierten, »Die Scharia und das Leben« zählt laut Konzernleitung zu den beliebtesten Formaten. Dabei haben Qaradawi und die Sendung durchaus Kritiker. Vor allem westliche Beobachter halten seine Interpretationen des Islams für rückwärtsgewandt. Selbstmordattentate im Krieg gegen Israelis und Amerikaner hat der Scheich für islamkonform erklärt. Er steht den ägyptischen Muslimbrüdern nahe und ging deshalb in den 1960er Jahren ins Exil nach Katar. In Büchern, die er damals verfasste und nie revidierte, propagierte er die Todesstrafe für Ho- Der Moderator nickt beifällig und lässt den alten Grantler reden mosexuelle. 2006 führte er die Proteste gegen die dänischen Muhammad-Karikaturen und Papst Benedikt an, der seiner Ansicht nach den Propheten diffamiert hatte. Eine abfällige Bemerkung über Weihnachtsschmuck in Katar kritisierte das Magazin Der Spiegel als üble Hetze gegen Christen. Die USA und Großbritannieren belegten Qaradawi, der als äußerst reiselustig gilt, schon mit Einreiseverboten. Am anderen Rand des Spektrums, etwa bei den saudischen Wahhabiten, wird Qaradawi als Laissez-Faire-Scheich angesehen, der den Islam zu pragmatisch und modern auslege. Doch habe er zugleich sogar bei radikal-konservativen Salafisten Anhänger gefunden und sei »eine Autorität geworden«, schreibt der ägyptische Islamismus-Forscher Husam Tammam in einem Aufsatzband mit dem Titel »Global Mufti«. Bei der Kritik anderer islamischer Gelehrter an Qaradawi schwingt nicht selten Neid mit: Weder die saudischen Kleriker noch Qaradawis geistliche Heimat, die Al-Azhar-Universität, können ihm in Sachen Reichweite Paroli bieten. Unter dem Markennamen Qaradawi laufen mehrere erfolgreiche Internet-Dienste, über die Gläubige Rat und Rechtsgutachten zu Alltagsfragen des Islams beziehen können. Die Medienmaschine, die ihm das von einem konservativen Islam geprägte Emirat Katar seit Jahrzehnten zur Verfügung stellt, war ursprünglich sehr klein, arbeitete aber effizienter als die Konkurrenz in Kairo oder Riad. Sendemasten gegen Minarette – so gestaltet sich der Wettkampf zwischen Qaradawi und der Azhar, seit es Aljazeera gibt. Eine Hassliebe: Einerseits ist Qaradawi offenbar sehr stolz auf seine Ausbildung an der altehrwürdigen Gelehrtenschmiede und betont die Bedeutung des klassischen islamischen Curriculums in einer Zeit, in der selbst ernannte Prediger und Autoritäten dank des Internets wie Unkraut aus dem Boden sprießen. Andererseits macht er aus seiner Verachtung für die Nähe der Azhar zur ägyptischen Regierung wenig Hehl. Er war es auch, der in den 1960er Jahren den Protest gegen die so genannte Verwaltungsreform anführte, die es der Regierung gestattete, den Großscheich der Azhar direkt zu ernennen. Dass >> Illustration: Lesprenger KAMPF UM DEN ISLAM IBRAHIM ABU NAGI (46) PREDIGER, DEUTSCHLAND »Der Islam ist die einzige Rettung vor der ewigen Verdammnis in der Hölle.« MUSTAFA YURTSEVEN (42) IMAM, DEUTSCHLAND »Der Islam hat drei Bedeutungen. Der Islam ist Frieden, der Islam ist Hingabe, der Islam ist Offenbarung. Dies bedeutet für den Gläubigen Befreiung am Tag der Auferstehung.« HARUN YAHYA (54) PUBLIZIST, TÜRKEI »Ein Muslim zu sein, kann nicht mit Terror versöhnt werden. Ganz im Gegenteil, der Islam ist die Lösung und dient der Verhinderung des Terrors.« zenith 3/2010 49 Illustration: Lesprenger KAMPF UM DEN ISLAM MUHAMMAD ALI (68) BOXER, USA »Der Islam ist eine Religion des Friedens. Er belohnt Terrorismus oder das Töten von Menschen nicht.« HAFI SAAD (35) ARZT, SUDAN »Islam ist viel komplexer als die vereinfachten Stereotypen, die man aus den Medien kennt. Islam ist mehr als eine Religion, es ist ein Lebensweg. Es ist die Sprache, mit der man Gott verehrt, der Frieden im Herzen, im Geiste und in der Seele, es ist die Liebe zu dir selbst und zu der ganzen Welt, es ist Mitgefühl und Wärme für Freunde und Fremde, Demut, Dankbarkeit, Geduld und ruhige Kraft. 50 zenith 3/2010 >> er nach seiner Emigration selbst gemeinsam mit dem Herrscherhaus Katars eine Scharia-Fakultät gründete und zum engeren Kreis um Emir Hamad Bin Khalifa zählt, rührt bislang kaum an Qaradawis Ruf, über politische Einflussnahme erhaben zu sein. Tatsächlich scheint es, als habe das Emirat dem ägyptischen Exilanten in den vergangenen Jahrzehnten die Rolle eines Großmuftis und inoffiziellen Religionsministers überlassen. Inzwischen kommt es zu vorsichtigen Annäherungsversuchen zwischen Qaradawi und der Azhar. Trotz ihres Ärgers sieht die einst mächtigste Autorität im sunnitischen Islam heute ein, dass der berühmte Dissident im globalen Kampf um den Islam ihr natürlicher Verbündeter sein müsste. Qaradawi trat als Gastredner bei einer Alumni-Feier der Universität auf und erging sich in Trauerbekundungen, als im vergangenen Jahr sein früherer Intimfeind, der alAzhar-Großscheich Muhammad Sayyid Tantawi, das Zeitliche segnete. Eine andere Front, an der Qaradawi als Polemiker, aber auch als Mittler schillert, ist die Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten: Einerseits prangerte er großspurig eine angebliche schiitische Missionsverschwörung im Nahen Osten an, die durch das Großmachtstreben des Iran und das Erstarken der Schiiten im Irak zutage getreten sei. Andererseits kritisierte er den Jargon der Wahhabiten und Salafisten, die Schiiten als Abtrünnige beschimpfen. Welches Thema heute dran sei, fragt er im Auto auf dem Weg zum Studio Sich selbst sieht er als Vertreter eines »Islams der Mitte«, was man jedoch nicht mit moderaten Positionen verwechseln sollte. Qaradawi predigt den Dschihad – auch als bewaffneten Kampf gegen die »Feinde der Muslime«. Seine Anhänger führen gegenüber westlicher Kritik aber an, dass er das Dschihad-Konzept anderer islamistischer Ideologen auf einen »konstruktiven Weg« geführt habe: Sein Verständnis vom Dschihad bestehe nicht in der Vernichtung eines vermeintlich dekadenten Westens, sondern in der militärischen Verteidigung von Muslimen dort, wo sie von fremden Mächten drangsaliert würden. Wo also steht Qaradawi? Die Islamwissenschaftler Bettina Gräf und Jakob Skovgaard-Petersen, Herausgeber des Buches »Global Mufti«, kommen zu dem Schluss, dass Qaradawi sich selbst gewiss als gemäßigt ansehe. Sie zeigen aber auch die Sinngrenzen solcher Begriffe auf. »Was Homosexualität betrifft, ist er in der arabischen Welt wohl Mainstream – für europäische Verhältnisse sicher nicht«, resümiert Polemiker und Mittler zugleich – für Qaradawi kein Widerspruch das Autorenduo. Hinsichtlich der Rolle von Frauen und ihrer Beteiligung in der Gesellschaft dagegen vertrete Qaradawi für die islamische Welt fortschrittliche Positionen; er zeige sich stets bemüht, traditionelle Interpretationen in der Scharia aufzubrechen. »Qaradawi ist erfrischend pragmatisch«, meint dazu ein Lektor der einflussreichen islamischen Verlagsgruppe »Mizan« im indonesischen Jakarta. Bei einer Auslandsreise, so berichtet der Bewunderer des Scheichs, sei Qaradawi einmal gefragt worden, ob es nach der Scharia erlaubt sei, in der Ehe Oralverkehr zu praktizieren. Qaradawi habe sich mit großer Begeisterung des Themas angenommen und schließlich erklärt, dass ihm nichts aus der Scharia bekannt sei, was dagegenspreche. Junge Muslime mögen derlei Stellungnahmen nicht nur originell, sondern auch befreiend finden – und darüber hinwegsehen, dass derselbe Qaradawi vor Jahren die grausame Genitalbeschneidung von Mädchen für vereinbar mit der islamischen Ethik erklärt hatte. Immerhin rang sich Qaradawi, der an der Absolutheit seiner Meinung sonst eher wenig Zweifel hat, später zu einer Revidierung seines Urteils durch – mit der gleichen Vehemenz. »Qaradawi genießt das, was die Muslime Mardscha’iya nennen: eine Autorität zu sein, die man nachahmt und auf deren Rat viele Muslime hören«, sagt Aljazeera-Redakteur al-Khateeb, als der Abspann der Sendung »Die Scharia und das Leben« begonnen hat und die Techniker im Regie-Raum nach ihren Zigaretten greifen. Qaradawi ist, als die rote Lampe im Studio erlischt, in sich zusammengesackt. Spannung und Konzentration sind sekundenschnell der Müdigkeit gewichen. Der große Entertainer, den manche für einen emsigen Reformer halten und andere für einen Bulldozer, der jeden Ansatz wahrer Erneuerung des Islams erbarmungslos planiert, sackt in sich zusammen. Die Argumentationsmaschine schaltet sich selbst in den Ruhezustand. Bei diesem Anblick drängt sich die Frage auf, wer oder was nach Qaradawi kommen wird. Aber auch, was den wohl bekanntesten Turbanträger der Welt antreibt und bewegt. Der Glaube an die Ewiggültigkeit der koranischen Offenbarung? Seine Fans? Die Bettflucht des Alters? Oder einfach nur das erhabene Gefühl, immer wieder Recht zu haben? << KAMPF UM DEN ISLAM Neue Mullahs braucht das Land In den vergangenen zwölf Monaten verlor der schiitische Islam zwei seiner wichtigsten Vordenker: Muhammad Hussein Fadlallah und Hossein-Ali Montazeri waren die Anführer einer ganzen Generation von Gelehrten. Wer wird nach ihnen in die höchsten Ränge der Geistlichkeit aufsteigen? Von Christoph Sydow und Robert Chatterjee >> Einen solchen Trauerzug hatten Beiruts Vorstädte noch nicht gesehen: Hunderttausende drängten sich um den Sarg; Männer, Frauen und Kinder trugen das Konterfei des verstorbenen Großayatollahs Muhammad Hussein Fadlallah durch die Straßen. Mit Fadlallah verlor die arabische Welt Anfang Juli einen der wichtigsten schiitischen Geistlichen. Der 83-Jährige war ein so genannter Mardscha-e Taqlid – eine »Quelle der Nachahmung«, an der sich Millionen Gläubige orientierten. Der Mardscha steht an der Spitze der schiitischen Geistlichkeit: Er wird nicht gewählt, sondern erreicht seine Position durch die Anerkennung seiner Anhänger. Gegenwärtig gibt es weltweit etwa 60 schiitische Geistliche im Rang eines Mardschas. Wer in dieser Konkurrenz bestehen will, muss für alle Fragen des täglichen Lebens ein offenes Ohr und die passenden Antworten haben. Spätestens mit der Islamischen Revolution von 1979 wurde eine weiterer Aspekt deutlich: Der Einfluss der Religionsgelehrten ist auch politisch relevant. Ruhollah Khomeini beanspruchte im Iran nicht nur die politische Führerschaft für sich, er forderte auch das geistliche Monopol über sämtliche Schiiten ein. Die Gesellschaft formen, sich im öffentlichen Leben einbringen – das wollten aber viele von Khomeinis Zeitgenossen. Der Kern der aktivistischen Bewegung bildete sich in der irakischen Stadt Nadschaf, Muhammad Hussein Fadlallah war einer ihrer führenden Köpfe. Dass Khomeinis Anspruch auf die absolute Wahrheit in Religion und Politik diktatorische Züge annahm, erkannten er und andere arabische Kleriker schon früh. Später schlossen sich auch dissidente iranische Mardschas dieser Ansicht an, allen voran Großayatollah Hossein-Ali Montazeri. Den hatte Khomeini einst als seinen Nachfolger designiert. Kurz vor dem Tod des Revoluti- onsführers kam es aber zum Zerwürfnis. Montazeri wurde aller Ämter enthoben und später unter Hausarrest gestellt. An seiner Stelle wurde der theologisch weitaus weniger angesehene Ali Khamenei zum neuen religiösen und politischen Führer des Landes. Ende 2009 starb Großayatollah Montazeri. Damit verloren die oppositionellen Theologen ihr bekanntestes Sprachrohr. Er und Fadlallah hatten bis zuletzt ihre Vorstellung einer multipolaren schiitischen Geistlichkeit nach außen getragen. Nun lebt von den prominenten Vertretern der Nadschafer Schule nur noch einer: Der gebürtige Iraner Ali Sistani. Aber auch er ist schon 80 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen. Umso mehr stellt sich die Frage: Wer steigt nach ihnen in die höchsten Ränge der schiitischen Geistlichkeit auf? Khomeinis Enkel könnte zur Leitfigur werden »In jedem Fall wird das Ableben etablierter Mardschas wieder zu einer neuen Pluralisierung führen, ähnlich wie Mitte der 1990er Jahre, als nach dem Tod von Khomeini und Großayatollah Khoei ein Vakuum entstand, in das zahlreiche Prätendenten vorstießen«, prognostiziert Stephan Rosiny, SchiaExperte am »German Institute of Global and Area Studies« in Hamburg. Die Zeiten, in denen eine Handvoll Großayatollahs die Richtung vorgaben, scheinen fürs Erste vorbei zu sein. Traditionell liefern sich Nadschaf und das zweite große Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit, das iranische Qom, einen Wettstreit. Khomeinis Kon- zept der »Herrschaft des Rechtsgelehrten« setzte sich vor allem in Qom durch. Seinem Nachfolger Ali Khamenei ist es aber bis heute nicht gelungen, die dortige Hochschule in eine gleich geschaltete Kaderschmiede zu verwandeln. Auch in Qom protestierten Studenten im Sommer 2009 gegen die Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad. Khomeinis Erben kämpfen für die Islamische Republik und stellen gleichzeitig immer häufiger das System in Frage. Ihre neue Bezugsfigur könnte ausgerechnet der 38-jährige Khomeini-Enkel Hasan werden, der trotz Versammlungsverbot an Kundgebungen der »grünen Bewegung« teilnahm. Entscheidend für den Einfluss der Mardschas bleibt nach wie vor, eine möglichst große Gefolgschaft an Gläubigen um sich zu scharen. Angesichts einer wachsenden schiitischen Diaspora kommt dabei dem Internet eine entscheidende Rolle zu: Kaum ein Ayatollah kommt heute noch ohne eigene Website aus: Innerhalb weniger Stunden erhalten hier die Gläubigen Antworten auf ihre religiösen Fragen, eine Fatwa ist oft nur wenige Mausklicks entfernt. Daneben hat sich ein weiteres Kriterium herauskristallisiert: die familiäre Abstammung. Einige Familien bestimmen seit Generationen die Entwicklung des schiitischen Islams. Die ursprünglich aus dem Südlibanon stammenden Sadrs bringen seit dem 19. Jahrhundert in jeder Generation mindestens einen Großayatollah hervor. Derzeit schickt sich im Irak Muqtada al-Sadr an, in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten. Im Libanon könnte Ali Fadlallah, der 38 Jahre alte Sohn des verstorbenen Mardschas, seinem Vater mittelfristig nachfolgen. Ein offizielles Kriterium für die Erlangung eines religiösen Titels ist das dynastische Prinzip aber nicht. Khomeini etwa lehnte die Vererbung religiöser Autorität entschieden ab – sein << Enkel Hasan leidet bis heute darunter. zenith 3/2010 51 KAMPF UM DEN ISLAM Schariarote Lollipop-Welt mit Schattenseiten Der indonesische Islam gilt als moderat und asiatisch verspielt. Doch hinter den Kulissen hat der Druck, sich fromm und gottesfürchtig zu zeigen, stark zugenommen. Fundamentalisten geben den Ton an – die liberale Mehrheit schweigt Von Bettina David Polemik von Andreas Altmann >> Erfolgreiche Bestsellerautorin, vorbildliche Ehegattin und Mutter – und strenggläubige Muslimin: Die Asma Nadia steht für ein neues gesellschaftliches Ideal in Indonesien. Ihre trivialreligiösen Lebenshilferatgeber wie »Sei keine nervige Muslimin« behandeln Alltagsprobleme wie Mundgeruch, Pickel und freundliches Konversationsverhalten. Mit ihrem optimistischen Selbstbewusstsein verkörpert die 38-jährige Nadia beispielhaft das Gesicht des indonesischen Islams zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das öffentliche Leben ist sichtbar »islamischer« geworden, das traditionell in Indonesien kaum verbreitete Kopftuch hat längst seine provozierende Wirkung verloren und ist ein aus dem Alltag nicht mehr wegzudenkendes Accessoire einer neuen muslimisch-korrekten Selbstverständlichkeit. Doch die Scharia-konforme Lebensgestaltung wird nicht nur von einem explizit modern und global ausgerichteten Selbstverständnis getragen, sie verbindet sich auch problemlos mit asiatischer Verspieltheit. Genau wie ihre säkularen Schwestern inszenieren sich die verschleierten jungen Mädchen mithilfe ihrer Handy-Kameras gern ausgesprochen kokett und verführerisch – eifrige Adeptinnen nicht nur einer literalistischen Islam-Auslegung, sondern auch des kindlich-selbstverliebten Stils ostasiatischer Popkultur. Bücher und Zeitschriften für gläubige junge Leserinnen werben für eine kunterbunte Lollipop-Welt. Scharia als rosaroter Mädchen-Lifestyle. Alles also letztlich harmloses, modisch aufgepopptes Frömmlertum einer Jugend auf der Suche nach einem positiven Lebensentwurf zwi- 52 zenith 3/2010 schen globaler Modernität und islamischer Moral? Man möchte es gerne glauben, sozusagen Entwarnung geben: Ja, die indonesische Gesellschaft ist derzeit in einem großen Wandel begriffen, neben einer globalisierten Verwestlichung ist dabei die Neuentdeckung des Islams richtungweisend. Aber trotz aller äußeren Veränderungen handelt es sich doch noch um den »typisch indonesischen« Islam: moderat und liberal. Das Land mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung ist gern zitiertes Beispiel für einen »positiven« Islam, seit dem Sturz des Autokraten Mohamed Suharto 1998 muss es zudem immer wieder als Beweis dafür herhalten, dass Islam und Demokratie vereinbar sind. »Liberalismus« als gesellschaftliche Horrorvorstellung Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich die Lage als erheblich komplexer. Wer ist diese »liberale Mehrheit«? Der gesellschaftliche Druck, sich fromm und gottesfürchtig zu zeigen, hat deutlich zugenommen. Eines ist dabei sicher: als »liberal« wollen sich in Indonesien inzwischen die wenigsten bekennenden Muslime bezeichnet sehen. Hier haben im öffentlichen Diskurs längst die orthodoxen und fundamentalistischen Kräfte das Feld besetzt. So paradox es in europäischen Ohren klingen mag: Mit dem Wort »liberal« verbinden viele Indonesier auf ähnlich reflexhafte Weise gesellschaftliche Horrorvorstellungen wie Westler, wenn sie »Scharia« hören. »Liberal«, das ist eines der emotional am stärksten aufgeladenen Feindbilder, auf das alle vermeintlichen Übel der hedonistischen westlichen Gott- und Morallosigkeit projiziert werden. Das war nicht immer so. So ist in der gegenwärtigen Frömmigkeitsbewegung kaum noch etwas zu spüren von dem Geist, der in den 1980er Jahren von Nurcholis Madjid, dem 2008 verstorbenen Vordenker eines liberalen indonesischen Islams, unter dem Slogan »Islam Yes, Partai Islam No« propagiert wurde – eine klare Absage an den politischen Islam. Letzterer ist heute auf dem Vormarsch, getragen von einem neuen Islam-Verständnis, das ideologisch deutliche Einflüsse der Muslimbruderschaft aufweist. Seit Ende der 1980er Jahre bringen indonesische Studenten aus dem Nahen Osten radikale Ideen zurück in ihre Heimat. Währenddessen exportiert Saudi-Arabien den radikalen Wahhabismus durch großzügige Vergaben von Stipendien und die Finanzierung von Moscheebauten in Indonesien. Die beiden großen, traditionell moderaten islamischen Massenorganisationen Indonesiens, die traditionalistische »Nahdlatul Ulama« und die modernistische »Muhammadiyyah«, schlagen inzwischen Alarm: Immer mehr ihrer Moscheen und Institutionen würden systematisch von Anhängern der islamistischen PKS (»Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei«) und der radikalen »Hizb ut-Tahrir« (»Partei der Befreiung«) unterwandert und dann übernommen. Statt Nurcholis Madjids Slogan lautet das Zauberwort unzähliger Predigten heute kaffah – »total, allumfassend«. Der Islam als alle Bereiche des Lebens umfassender way of life, sein Anspruch auf Ganzheitlichkeit, gerade das ist es, was die ihren Glauben neu entdeckenden Muslime so begeistert: Der Islam ist perfekt, er hat auf alles eine konkrete Antwort. Kaffah ist nicht nur die gesellschaftliche Utopie radikaler Islamisten wie der »Hizb ut-Tahrir«, die besonders unter Studenten großen Zulauf verzeichnet, sondern auch metaphorischer Ausdruck einer Sehnsucht nach einem gottgefälligen Leben in spiritueller Geborgenheit. Es erstaunt kaum, dass die Grenzen zwischen orthodoxer Auslegung und fundamentalistischer Ideologisierung fließend sind. Die »neuen Frommen«, die das Gesicht des Mainstream-Islams verändern, konsultieren mit oft erstaunlich naiver Gutgläubigkeit fundamentalistische Medien wie die radikalislamische Zeitschrift Sabili, die an Universitäten und vor Moscheen ausliegt, und einschlägige Internetadressen wie hidayatullah.com und eramuslim.com. Diese liefern eine bizarre Mischung aus Größenwahn, Opferdiskurs, Verschwörungsparanoia einerseits und Lebenshilfe bei Beziehungsproblemen, Fragen zur religiösen Praxis sowie Tipps für Kindererziehung und Gesundheit andererseits. Radikale Medien bieten ein bizarre Mischung aus Größenwahn und Lebenshilfe In den beliebten Koranlesezirkeln geben ebenfalls die Hardliner den Ton an. Ein Paradox: Bislang moderat lebende Muslime erkennen die Radikalen vielfach als Vertreter eines »authentischen« Islams an – auch wenn sie noch längst nicht alles in die Alltagspraxis umzusetzen gewillt sind, was sie in den Predigten hören. Es sind vor allem die Aktivisten der PKS und der »Hizb ut-Tahrir«, die Eindruck auf die Jugend machen. Ihr selbstbewusster Idealismus und Aktionismus ist ansteckend, ihr kompromissloses Glaubensverständnis fasziniert. Und vor allem: Sie haben auf alle Fragen eine einfache, unmissverständliche Antwort – Scharia ist die Lösung aller gesellschaftlicher Probleme. »Angesichts der epidemischen politischen, sozialen und moralischen Missstände in diesem Land gibt es nur einen Weg: Zurück zur Scharia«, verkündet die Website der indonesischen »Hizb ut-Tahrir«. Entgegen ihrer expliziten Bekenntnisse mag die Mehrheit der indonesischen Muslime aus westlicher Sicht einen vergleichsweise »liberalen« Islam leben, doch »vertreten« im Sinne von bewusster, argumentativer Abgrenzung von neoorthodoxen und fundamentalistischen Kreisen wird dieser moderate Islam bisher nur selten, von der Verurteilung gewaltsamer Terrorakte abgesehen. Die Kompromisslosigkeit der Fundamentalisten fasziniert die Jugend Aber auch ein Bewusstsein dafür, dass die Bombenleger des Anschlags von Bali 2002 nur konsequent zu Ende dachten und ausführten, was in den Weltbildern so vieler Freitagspredigten und religiöser Literatur angelegt ist, fehlt. Die Einführung der Scharia in Aceh und lokale Scharia-Verordnungen in einigen Distrikten des Landes haben bezeichnenderweise nur zu einem Aufschrei von säkular-liberalen Aktivisten und NGOs geführt; Protest seitens der lokalen Bevölkerung blieb weitgehend aus. Die Abgrenzung gegenüber liberalen Strömungen und Minderheiten wie der Ahmadiyya, die als »unislamisch« diskreditiert und immer wieder Opfer von Übergriffen werden, scheint hingegen deutlich leichter zu fallen. Symptomatisch ist, dass die »moderaten« Laien oft längst die gleiche Sprache wie die Radikalen sprechen. Ob all die modisch gekleideten Besucher der »Islamischen Buchmesse« in Jakarta, die 2008 unter dem Motto »Die Schönheit der Scharia im Leben« stand, in ihrer recht naiv-undifferenzierten Schwärmerei für ein »schariagemäßes« Leben wirklich mit saudi-arabischen Zuständen glücklich werden würden? Es ist zu bezweifeln. Doch die gegenwärtige Idealisierung alles Religiösen macht eine echte Auseinandersetzung mit den inneren Dämonen Indonesiens kaum möglich. Noch scheint sich konservativ-religiöser Lifestyle-Pop wie in Asma Nadias Ratgeberbüchern recht gut mit ideologischem Fundamentalismus zu vertragen. Es bleibt abzuwarten, ob die Spaß- und Modeverliebtheit nicht nur der Jugend weiterhin stark genug ist, die repressive Rigidität des radikalen Diskurses aufzuweichen. << Von Bettina David ist Anfang 2010 beim Reise Know-How Verlag das Buch »KulturSchock Indonesien« erschienen. Weitere Informationen: www.reise-know-how.de. Illustration: Lesprenger KAMPF UM DEN ISLAM OKTY DYAH MOERPRATIWI (19) STUDENTIN, INDONESIEN »Für mich ist der Islam eine Religion der Würde, Gerechtigkeit und des Friedens. Er ist ein Leitfaden, ein guter und glücklicher Mensch in dieser Welt und dem, was danach kommt, zu sein.« ILHAM D. SANNANG (34) LEKTOR, INDONESIEN »Islam ist kein Substantiv, sondern ein Verb oder Adjektiv. Islam ist kein Ding, sondern ein Geisteszustand, der durch gutes Verhalten belegt wird. Er bezeichnet die Selbstaufgabe gegenüber Gott und den Beweis dieser Aufgabe durch das Vollbringen guter Taten. Laut dem Koran predigen demnach Abraham, Ismael, Isaak, Jakob, Jesus und alle anderen Propheten ihren Anhängern den Islam.« zenith 3/2010 53 Illustration: Lesprenger KAMPF UM DEN ISLAM CEM ÖZDEMIR (45) POLITIKER, DEUTSCHLAND »Der Islam ist genausowenig das Problem wie das Christentum, das Judentum oder andere Religionen, sondern die Menschen, die ihn fundamentalistisch interpretieren, ihre Sichtweise auch für andere verbindlich erklären und eine textkritische Auseinandersetzung verhindern.« KATAJUN AMIRPUR (39) IRANISTIN, DEUTSCHLAND »Es ist wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim. « KAZIM G. (57) UNTERNEHMER, SCHWEIZ »Islam ist Rückwärtsgewandtheit und Fanatismus.« 54 zenith 3/2010 Khomeinis Traum vom islamischen Revolutionsexport ist gescheitert – dabei konnte der Führer der Schiiten im Iran auch arabische Sunniten für seine Ideologie begeistern Von wegen Einheit! Von Wiebke Eden-Fleig >> Das Projekt ehrgeizig zu nennen, wäre untertrieben. Ruhollah Musavi Khomeini verkündete, die Einheit von Sunniten und Schiiten herbeiführen zu wollen – und ein 1400 Jahre altes Schisma zu überwinden. In der »Islamischen Revolution« von 1979 sollte sie ihren Anfang nehmen, im Kampf gegen die USA und Israel ihre große Klammer finden. Denn die Teilung der Muslime in zwei große Konfessionen bot Feinden nach Khomeinis Auffassung eine willkommene Angriffsfläche. So erstaunt es nicht, dass er zu dem Schluss kam, eigentlich gebe es überhaupt keine Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten. Das erschien vielen Nachbarländern des Iran wie eine Kampfansage. Nicht nur die sunnitischen Monarchien am Persischen Golf, auch die nationalistischen Regimes in Ägypten, Syrien und Irak sahen sich herausgefordert, denn der »Oberste Rechtsgelehrte« propagierte sein Herrschaftssystem als Vorbild. Unter dem Schlagwort »Revolutionsexport« säte er in den Folgejahren Keime des Umsturzes auch in den Nachbarländern. Anknüpfungspunkt dafür sollten die schiitischen Minderheiten sein, die von vielen sunnitischen Machthabern unterdrückten wurden: In Saudi-Arabien war es ihnen verboten, ihre Rituale auszuüben, in Afghanistan waren sie noch 120 Jahre zuvor als Sklaven verkauft worden. Daher zeigten viele Schiiten stets eine gewisse Sympathie für den schiitischen Iran – und für die Revolution. Doch nicht nur das: Auch sunnitische Islamisten konnten Khomeinis Ideologie etwas abgewinnen. So pries die ägyptische militante Gruppe Al-Gamaa al-Islamiya die Islamische Revolution, während regimetreue Gelehrte in Zeitungen krampfhaft schiitische Vorstellungen lächerlich machten. Teherans Machtanspruch kollidierte mit Riads Interesse. Den streng sunnitischen Saudis schmeckte es nicht, dass ihrem Fundamentalismus, mit dem sie bislang die säkularen Ideologien des Nahen Ostens unterlaufen hatten, auf einmal mit einem anderen Fundamentalismus begegnet wurde. Als Khomeini den saudischen »Schutz« über die Pilgerfahrt in Frage stellte, lieferten sich schiitische Pilger und Sicherheitskräfte während der Hadsch-Saison 1980 Handgreiflichkeiten. Seit den Aufständen der schiitischen Minderheit im selben Jahr nahm die saudische Führung den Iran dann als existenzielle Bedrohung wahr. Khomeini erreichte zwar viele Muslime auf emotionaler Ebene, weniger aber auf ideologischer. Er benutzte eine Sprache mit starken zwölferschiitischen Anklängen, eine theologische Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten förderte er weder verbal noch institutionell. Eher war eine »Schiitisierung« der Islamischen Revolution zu erkennen: wie in der Verankerung der Schia als Staatsreligion, in der Monopolisierung aller Machtpositionen in den Händen von Schiiten und in der Diskriminierung der sunnitischen Minderheiten, allen voran Kurden und Belutschen. Trotz hohen Propagandaaufwands wich die Euphorie unter vielen Sympathisanten daher bald Ernüchterung. Daraufhin stachelten die iranischen Ideologen zunehmend schiitische Minderheiten auf, um die Revolution mit Gewalt zu verbreiten – mit begrenztem Erfolg. Heute ist selbst im Iran die Idee der Einheit der Muslime nicht viel mehr als ein ideologisches Schlagwort aus der Frühphase der Revolution. Weder bei der Mehrheit der Geistlichkeit noch bei den allermeisten Gläubigen stieß sie auf nennenswerte Resonanz. 30 Jahre nach dem Sturz des Schahs wird der Islamischen Republik nicht nur vom Westen, sondern auch in den arabischen Nachbarländern bestenfalls mit Skepsis begegnet. Die Realität strafte Khomeinis Worte Lügen. Nur auf einem Gebiet ist die von ihm beschworene Einheit zwischen Sunna und Schia vollzogen: Bei der ideologischen und finanziellen Hilfe für militante Gruppen macht der Iran tatsächlich keinen Unterschied – sei es die schiitische Hiz<< bullah oder die sunnitische Hamas. KAMPF UM DEN ISLAM Mit teuflischen Zungen Der Abbasidenkalif al-Ma’mun, Sohn des großen Harun al-Raschid, förderte Philosophie und Wissenschaften – und setzte gegen religiöse Gelehrte eine Inquisition in Gang. Auch der Gründer einer strengen Rechtsschule geriet in deren Mühlen Von Veit Raßhofer ne Polemik von Andreas Altmann >> Waren es 30, 38 oder gar 68 Hiebe, die Ahmad Ibn Hanbal trafen? Die Quellen sind sich uneinig darin. Wie auch immer: Diese Erfahrung muss fürchterlich gewesen sein. Ibn Hanbal lebte zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Bagdad, der glanzvollen Metropole der abbasidischen Kalifen. In den wenigen Jahrzehnten seit der Gründung 762 war die »Stadt des Friedens« zu einer der größten der Welt gewachsen. Menschen aus aller Herren Länder lebten hier, Waren aus allen Teilen der Welt füllten Märkte und Lager. Die Religionen gaben sich ein Stelldichein. Vor allem die Wissenschaften wurden vom Kalifen al-Ma’mun, einem Sohn Harun al-Raschids, gefördert: Im »Haus der Weisheit« trafen sich die berühmtesten Gelehrten ihrer Zeit. Unter ihnen waren der Mathematiker al-Khwarizmi, der die Algebra neu erfand, und der Philosoph al-Kindi, der erste der islamischen Aristoteliker. Dschahiz, der freisinnige Literat, verfasste hier seine Werke. Dazu setzte eine umfangreiche Übersetzungstätigkeit ein: Griechische, persische und indische Quellen wurden ins Arabische übertragen und fortentwickelt. Dass man hinter das chinesische Geheimnis der Papierherstellung gekommen war, ließ einen regen Buchhandel entstehen. Wie aber stellte sich die Lage für Ahmad Ibn Hanbal dar? Die Gemeinde der Gläubigen war in Gefahr! Noch gab es keine ausgearbeitete islamische Theologie – stattdessen bediente sich die Elite der griechischen Philosophie, um Gott und die Welt zu erklären! Die Schiiten hatten sich so weit etabliert, dass der Kalif einen ihrer Führer zum Nachfolger designierte! Das Hofzeremoniell orientierte sich am persischen und byzantinischen Vorbild, genauso wie der Staatsapparat, der aus Christen, Sabäern und Zoroastriern bestand. Und alle brachten ihre eigenen Rechtsvorstellungen, philosophischen Ideen und Lebensarten mit. Einem rechtschaffenen Islamgelehrten wie Ibn Hanbal muss all das unheimlich gewesen sein. Die Folgerung, diesem abbasidischen Multikulti handfeste Traditionen gegenüberzustellen, lag nah. Ein umfassendes islamisches Recht, basierend auf dem Handeln des Propheten Muhammad und seiner Gefährten und Nachfolger, sollte das Leben regeln helfen. Ibn Hanbal war nicht der erste, der sich diesem Unterfangen stellte, und er war nicht allein: Sein Lehrer alSchafi’i hatte die methodischen Grundlagen geschaffen für ein Rechtswesen auf Basis von Koran und Sunna, der Tradition der Altvorderen. Nach Ibn Hanbal selbst ist die hanbalitische Rechtsschule benannt. Das Multikulti in Bagdad war Ibn Hanbal suspekt: Er fürchtete um die Grundlagen des Glaubens Das Vorhaben, ein unabhängiges Rechtswesen zu schaffen, erschien dem Kalifen al-Ma’mun jedoch als grobe Anmaßung. Schließlich war er es, der in letzter Instanz Recht sprach, der den Gläubigen den Weg wies – die Abbasiden leiteten ihren Machtanspruch und ihre religiöse Autorität aus der Zugehörigkeit zur Familie Muhammads ab – sie sahen sich außerdem als von Gott auserwählte Herrscher an. Dazu dürfte alMa’mun und den Angehörigen des Hofstaats die Popularität der tief gläubigen Traditionalisten missfallen haben. Doch wie konnte man ihnen Einhalt gebieten? Mit einer Reihe von Sendschreiben ab April 833 setzte al-Ma’mun jenen berühmten Prozess in Gang, der als »mihna – Prüfung« in die Ge- schichte einging: Nacheinander sollten die Richter, die Rechtsgelehrten und die Überlieferungsexperten öffentlich bezeugen, dass der Koran von Gott erschaffen worden sei. Was heute wie eine theologische Spitzfindigkeit anmutet, war ein Kernsatz der rationalistisch geprägten Mu’tazila-Strömung. Die Gegner dieser Position, zu denen auch Ibn Hanbal zählte, erklärten den Koran für ungeschaffen, also »ewig«. Im ersten Schreiben polemisierte der Kalif gegen diese Gelehrten, die sich selbst irrigerweise »Anhänger der Wahrheit, der Religion und der Einheit« nennen würden, während sie ihre Gegner als »Anhänger der Falschheit, des Unglaubens und der Zwietracht« schmähten. Dabei seien sie selbst »die Zunge des Teufels«, und man könne diesen Leuten keinesfalls trauen, schrieb al-Ma’mun. Ahmad Ibn Hanbal war einer von wenigen, die der Prüfung unterzogen wurden und sich nicht beugten. Er wurde eingekerkert und sollte dem Kalifen vorgeführt werden. Al-Ma’mun starb aber 833 unerwartet im Alter von 46 Jahren. Sein Nachfolger Mu’tasim beließ Ibn Hanbal zunächst in Haft, wahrscheinlich im September 835 erfolgte dann die eingangs beschriebene Strafe. Ob Ibn Hanbal letztlich standhaft blieb, wissen wir nicht. Nur ihm nahestehende Quellen behaupten das, eine unabhängige Bestätigung gibt es nicht. So sehr Ibn Hanbal in diesem Augenblick gelitten haben mag, langfristig betrachtet geriet die Strafe ihm zum Vorteil. Noch heute gilt er als einer der größten islamischen Gelehrten, die je gelebt haben, insbesondere Islamisten rühmen gerne seinen widerständigen Geist. Die Nachfolger al-Ma’muns dagegen verfolgten die mihna eher halbherzig, nach 15 Jahren wurde sie offiziell beendet. Das Kalifat hatte damit eine empfindliche Schlappe gegen die konservativen Rechtsgelehrten erlitten. Erst die Regierungen der Moderne haben es wieder gewagt, grundlegend in sunnitisch-islamische Belange und das Rechtswesen einzugreifen. << zenith 3/2010 55 KAMPF UM DEN ISLAM 03 04 01 02 Frontverläufe Wo um den Islam gerungen wird, ist die Politik nicht fern. Theokratien behaupten, gottgewollte Herrschaft zu verkörpern, aber selbst säkulare Staaten mischen sich in religiöse Angelegenheiten ein. Vier Beispiele + 01 MAROKKO Die Sufis des Königs Früher galten Sufi-Bruderschaften als abergläubisch und antimodern. Heute werden sie von der marokkanischen Politik als Mittel in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus benutzt Der Sufismus galt lange Zeit als Auslaufmodell. Im 19. Jahrhundert führten Herrscher und Kolonialisten in vielen muslimischen Ländern Bildungssysteme nach europäischem Vorbild ein, wodurch Religionsgelehrte und Sufis ihren Einfluss verloren. Und im 20. Jahrhundert wurden die Riten der mystischen Bruderschaften mit Aberglauben und Drogenkonsum assoziiert – etwas, womit man als moderner Bürger nichts zu tun haben wollte. Früher als in anderen arabischen Ländern fanden in Marokko jedoch viele Menschen zurück zum mystischen Islam. Spiritualität geriet en vogue – allerdings in einer neuen, synkretistischen Form: Über das kosmopolitische Bürgertum waren Yoga und Zen-Buddhismus nach Marokko gelangt. Schließlich distanzierte sich die Zen-Bewegung 56 zenith 3/2010 jedoch vom Buddhismus und näherte sich dem Sufismus an: Spirituelle Techniken und esoterische New-Age-Konzepte wurden dabei übernommen. In Marokko vollzog sich somit eine etwas andere Form der Islamisierung, nämlich in Richtung des »renovierten« Sufismus etwa der Boutchichiya-Bruderschaft: Die baut auf Koran und Sunna auf, dennoch billigt ihr Führer Sidi Hamza die Nichteinhaltung einiger Details der Scharia, um für breite Bevölkerungsschichten attraktiv zu sein. Der Scheich tritt nicht als Anführer auf und hält sich aus ökonomischen und politischen Angelegenheiten heraus. Das passt Marokkos König Mohammed VI. hervorragend ins Konzept. Um den Islamismus zu bekämpfen, nimmt »M6« verstärkt Religionsgelehrte und Intellektuelle in die Pflicht: Sie sollen eine »aufgeklärte religiöse Erneuerung« und einen »intellektuellen Aufschwung« gewährleisten. Für diesen Prozess ist insbesondere Religionsminister Ahmed Tawfiq zuständig. 2006 stellte er ein umfangreiches Handbuch zusammen, das der inhaltlichen Orientierung der Imame und Prediger dient; denn nicht alle sind vom Palast ferngesteuert. Die Gleichschaltung des religiösen Diskurses wird so vorangetrieben. Dass Tawfiq selbst Mitglied der Boutchichiya ist, zeigt, welches Gewicht der Palast dem SufiIslam beimisst. Die Boutchichiya, mittlerweile eine der größten Bruderschaften Marokkos, und andere Sufi-Orden werden als regimetreues Gegenmodell zum gewaltbereiten Fundamentalismus aufgebaut. Dass dies nicht immer funktioniert, zeigt jedoch die Boutchichiya selbst: Auch der Gründer der verbotenen islamistischen Oppositionsbewegung »Gerechtigkeit und Wohlfahrt«, Abdessalam Yassine, war einst Mitglied ngl der Bruderschaft. 02 SAUDI-ARABIEN Ausgegrenzte »Abtrünnige« Im wahhabitischen Königreich blicken Schiiten auf ein Jahrhundert politischer, wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung zurück. Radikalen Sunniten gelten sie bis heute als Irrgläubige Als er 1913 die Ostprovinz des späteren Königreichs Saudi-Arabien eroberte, erlegte Abdul >> DER NAHE OSTEN – DAS PURE ERLEBNIS! Reisen Sie mit Malév in den exotischen Nahen Osten. Buchen Sie jetzt und fliegen Sie von Berlin, Frankfurt, Hamburg oder Stuttgart nach Beirut, Damaskus oder Amman. Malév Flüge ab €268 * * Hin- und Rückflug inkl. Steuern Unsere attraktiven Sondertarife finden Sie unter www.malev.com oder kontaktieren Sie Ihr Reisebüro. W A malev.com 01 0 Jetzt buchen! 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Ich habe mich dazu entschieden, der Interpretation zu folgen, die ich als friedlichste und einfachste erachte.« 58 zenith 3/2010 TÜRKEI Schiiten ohne Scharia >> Aziz Al Saud den unterworfenen Schiiten die »Kopfsteuer« auf, die im Islam für nichtmuslimische Untertanen vorgesehen ist. Mit diesem Schritt entsprach er den Forderungen puristischer Sunniten, die den Schiiten absprachen, Muslime zu sein. Die als Wahhabiten bekannten Gelehrten verurteilten »abtrünnige« Praktiken der Schiiten, etwa die AschuraProzessionen, die an den Tod des Imams Hussein erinnern. Längst ist die Kopfsteuer wieder abgeschafft, doch bis heute sieht sich die schiitische Minderheit Vorwürfen ausgesetzt, den Islam zu verfälschen. Einflussreiche Verfechter dieser Sichtweise sind Scheich Abdallah Bin Jibrin oder der auf dem wahhabitischen TV-Kanal Al-Majd agitierende Scheich Nasir al-Umar; ihre Positionen bewegen sich zwischen der Aufforderung an die Schiiten, zum »wahren Islam« zu konvertieren, und dem Aufruf, sie zu töten. Etwa zehn Prozent der Saudis sind Schiiten, doch der Einfluss der Wahhabiten sorgt dafür, dass sie kaum an der Politik partizipieren. So gibt es keine schiitischen Minister oder Gouverneure. Selbst in der ölreichen Ostprovinz, in der sie den Sunniten zahlenmäßig zumindest ebenbürtig sind, stellen sie keinen einzigen Bürgermeister. Auch in der Armee und im Ölsektor sind sämtliche höheren Posten mit Sunniten besetzt. Im Bildungsbereich setzt sich die Diskriminierung nahtlos fort. Immerhin haben schiitische Führungspersönlichkeiten es in den letzten zehn Jahren geschafft, Kontakte zu moderaten wahhabitischen Gelehrten zu knüpfen. Gemeinsame Positionen gegenüber militanten Extremististen erleichterten eine Annäherung. Dass mit Aaidh al-Qarni ausgerechnet ein Wahhabit kürzlich eine »Charta der konfessionellen Koexistenz« vorgeschlagen hat, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Das Herrscherhaus spielt indes eine zwiespältige Rolle: Nach außen geriert sich König Abdallah als Verfechter des religiösen Dialogs. Allerdings hat er es mehrfach versäumt, verbale Attacken mächtiger Gelehrter auf Schiiten zu verurteilen. Doch immerhin dulden die Al Saud mittlerweile religiöse Prozessionen dort, wo Schiiten unter sich sind. Schließlich hat das von Abdallah initiierte »Nationale Dialogforum« Schiiten geholfen, Vorurteile zwischen ihnen und gesprächsbereiten Wahhabiten abzubauen. Ein kleiner Anfang, nicht mehr und dink nicht weniger. Das Alevitentum ist im Islambild der Türkei nicht vorgesehen. In früheren Jahrhunderten wurden die Anhänger dieser Glaubensrichtung vom Staat verfolgt – heute werden sie ignoriert Das »Massaker von Sivas« erschütterte am 2. Juli 1993 die ostantolische Stadt. Ein Mob legte Feuer in einem Hotel, in dem alevitische Intellektuelle und Künstler versammelt waren. 37 Menschen starben – ein kollektives Trauma, aber auch ein Wendepunkt für die Aleviten. Seit der Tragödie wuchs ihr Selbstbewusstsein im Kampf um Anerkennung. Frommen Sunniten gelten sie als Häretiker. Ihre Frauen tragen kein Kopftuch, sie pilgern nicht nach Mekka, fasten nicht im Ramadan. Männer und Frauen beten gemeinsam bei Musik und Tanz, Alkohol ist kein Tabu und die Vorstellung einer Belohnung oder Bestrafung im Jenseits lehnen sie ab. Zwar ging das Alevitentum einst aus der Schia hervor, doch mit den Schiiten verbindet die den weltlich gesinnten Aleviten heute nur noch die Verehrung Alis. Die Nähe wurde ihnen dennoch zum Verhängnis: Als Schah Ismail 1501 die Schia zur Staatsreligion seines persischen Reichs machte, wurden die Aleviten von den mit Ismail verfeindeten, sunnitischen Osmanen als Ketzer verfolgt und mussten in die entlegensten Gebiete des Landes fliehen. Heute gehören etwa zwölf Millionen Türken der alevitischen Glaubensgemeinschaft an. Offiziell aber gibt es sie gar nicht. Die staatliche Religionsbehörde Diyanet, die ausschließlich den sunnitischen Islam vertritt, erkennt sie weder als eigenständige Religion noch als Strömung innerhalb des Islams an. Muslime sind Muslime – diese Sichtweise hat sich seit dem Osmanischen Reich nicht geändert. Anders als Moscheen erhalten alevitische Gotteshäuser keinerlei staatliche Unterstützung, und ihre Kinder werden gezwungen, am sunnitischen Religionsunterricht teilzunehmen – abmelden dürfen sich nur Juden und Christen. Vielleicht als Reaktion auf die Sunnitisierungspolitik verstehen manche Aleviten sich umgekehrt als Vertreter eines wahren, türkischen Islams, frei von arabischen Einflüssen. Zwar bemühte Ministerpräsident Erdogan sich immer wieder um die Aleviten, doch Reformen blieben bisher aus. Das könnte sich allmählich ändern: Nachdem im November 2008 Zehntausende Aleviten bei einer Großdemonstration in Ankara lautstark ihre Rechte einge- KAMPF UM DEN ISLAM fordert hatten, erklärte sich die Regierung zu Gesprächen bereit. Konkrete Ergebnisse wurden bislang nicht vermeldet, aber im vergangenen Juli gab es einen symbolischen Akt: An der Gedenkfeier für die Opfer von Sivas nahmen erstmals Regierungsvertreter teil. yer 04 USBEKISTAN Attraktive Heilsversprechen In Usbekistan treffen islamistische Strömungen auf einen repressiv-radikalen Staatsapparat. Längst sind auch moderate Gläubige in Schauprozessen hinter Gitter gewandert Die zentralasiatische Republik Usbekistan zeichnet sich durch besonders harsche Methoden im Umgang mit Dissidenten aus. Zu diesen zählt Präsident Islam Karimov auch Gläubige, die vom staatlich reglementierten Einheitsislam abweichen – vornehmlich so genannte Wahhabiten, in postsowjetisch-muslimischen Staaten die gängige Bezeichnung für Anhänger islamistischer Strömungen aller Art. Erst im Frühjahr wurden mehr als 400 Menschen unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung verurteilt. Viele der Inhaftierten werden der Hizb ut-Tahrir al-Islami zugerechnet, der einflussreichsten salafitisch-islamistischen Gruppierung Zentralasiens. 1952 in Jerusalem als Abspaltung der Muslimbruderschaft gegründet, fordert die »Partei der islamischen Befreiung« die Wiedererrichtung des Kalifats. Zwar lehnt die weltweit aktive Gruppe Gewalt zur Durchsetzung ihres Ziels ab. Da sie aber die herrschenden Regimes ideologisch bekämpft und die Abschaffung von Nationalstaaten vorsieht, ist sie fast überall in der islamischen Welt verboten. Vor allem in Usbekistan hat die Hizb ut-Tahrir zahlreiche Anhänger. Hohen Zuspruch findet sie unter Armen und Benachteiligten, denen der korrupte, bildungsfeindliche und wirtschaftlich desolate usbekische Staat keinerlei Perspektive bietet. Die antisemitische und antiwestliche Ideologie der Hizb ut-Tahrir offeriert hingegen ein attraktives Heilsversprechen und klare Feindbilder. Das Karimov-Regime bezeichnet diese Ideen als »importierten Islamismus« und konstruiert bewusst einen scharfen Gegensatz zum staatstreuen, apolitischen und somit »einheimischen« Islam. Über Mitgliederzahlen, Organisation und Finanzen der Hizb utTahrir existieren nur Vermutungen, da die klandestinen Strukturen der international agierenden Partei unter ihrem palästinensischen Führungskader klare Aussagen nicht zulassen. Manche Quellen sprechen von bis zu 80000 Mitgliedern allein in Usbekistan. Verschiedene Abspaltungen von der Hizb utTahrir haben sich von der Gewaltlosigkeit abgewendet; manche sehen sie daher als Trittbrett für den Einstieg in den islamistischen Terror. Hierfür gibt es keine klaren Beweise. Islam Karimovs Schreckensherrschaft jedoch profitiert von diesen Gerüchten: Die Anzahl der aufgrund ihrer Religiosität Inhaftierten wird allein in Usbekistan auf etwa 7000 geschätzt. Zahlreiche Todesfälle in Haft verschaffen den religiösen Regimegegnern indessen nur weiter Aufwind. win »Ein Buch, das den Kern der ewigen Krise im Nahen Osten trifft.« Jon Snow, Channel Four News »Die Botschaft ist klar und schlüssig. Es muss Schluss sein mit der Unterstützung arabischer Autokraten, Schluss damit, demokratische Wahlergebnisse zu verwerfen, die dem Westen nicht gefallen… Kaum ein Beobachter der Region ist bewanderter und erfahrener als David Gardner, und sein Buch – lebendig, eigensinnig und absolut lesenswert – ist ein längst überfälliger Weck- und Warnruf an die Politikmacher.« Gareth Evans, Präsident des Internationalen Krisenstabs und früherer Außenminister Australiens 2010. 246 S., geb. mit SU € 24,90 [D]/ sFr 42,90 ISBN 978-3-89678-829-0 Besuchen Sie uns auf www.primusverlag.de David Gardner ist Chef-Leitartikler und Associate Editor der Financial Times. Von 1995 bis 1999 war er der verantwortliche Middle East Editor der Zeitung. KAMPF UM DEN ISLAM Invasion der Prediger Der Wettstreit religiöser Meinungsmacher wird in Ägypten vor allem im Fernsehen ausgetragen. Laien erlassen Fatwas und machen damit traditionellen Rechtsgelehrten Konkurrenz. Die ägyptische Regierung lässt sie gewähren – nicht ohne politische Hintergedanken Von Carola Richter e Polemik von Andreas Altmann >> »Bete! Bete! Bete!«, presst der Prediger mit dem grauen Vollbart immer wieder zwischen den zu einem verkniffenen Lächeln gekräuselten Lippen hervor. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Inbrünstig sendet er seine Botschaft hinaus in den Orbit und von dort zurück nach Ägypten und in die übrige arabische Welt. Von demselben Satelliten kommen die Wellen von über einem Dutzend weiterer Islam-Sender, in denen Prediger heiser schreien oder geheimnisvoll flüstern, Frauen kompetent Fatwas erteilen oder komplett im Programm fehlen, traditionell gewandete Scheichs mit hennaroten Bärten oder junge Männer in Anzügen auftreten und islamische Musikvideos anmoderieren. In Ägypten manifestiert sich vor den Augen der Zuschauer eine Auseinandersetzung um den Islam und seine Auslegung, die so gar nichts mehr mit den Zeiten obrigkeitsstaatlicher Religionsvermittlung zu tun zu haben scheint. Als das Satellitenfernsehen Ende der 1990er Jahre seinen ersten Boom in der Region erlebte, gründete der saudische Geschäftsmann Salah Kamel einen religiösen Sender namens Iqra’ – zu Deutsch: »Lies!« Iqra’ fungierte als Initialzündung für den Ausbau privater islamischer Medien. Bis dahin war die Verbreitung des Islams im Wesentlichen eine staatlich sanktionierte Angelegenheit, die zwar durchaus in den Medien stattfand, aber von einem sehr traditionellen Stil geprägt war. Iqra’ dagegen setzte auf eine Vielfalt an Formaten, die von Diskussionsrunden über Anrufsendungen bis hin zu Live-Fatwa-Shows reich- 60 zenith 3/2010 ten. Mit Amr Khaled baute Iqra’ sogar einen einfachen und theologisch ungebildeten Prediger zum Star auf, der seine internationale Popularität nutzte, um Projekte gegen Arbeitslosigkeit oder für den Umweltschutz zu initiieren. Das Einschalten islamischer Kanäle verstehen Millionen Ägypter mittlerweile wie einen Moscheegang als religiösen Akt. Das wachsende Publikum wiederum beschleunigte die mediale Islamisierung. Auf Seiten der Sendergrün- Gebetsrufe als Klingeltöne – die Religion wird kommerzialisiert der verschmelzen dabei häufig kommerzielles und religiöses Kalkül: Für die saudischen Business-Tycoons, die die meisten Kanäle finanzieren, sind sie vor allem eine Vervollständigung ihres Senderbouquets, mit dem sie ihren Medienaktivitäten zugleich einen frommen Anstrich geben können. So steht der religiöse Sender Al-Risalah im Rotana-Netzwerk des saudischen Prinzen Walid Ibn Talal neben einem offenherzigen Musik- und einem Unterhaltungskanal, in dem schon mal über Prostitution geredet wird. Gebetsrufe als Klingeltöne, Islam- Songs zum Download und gebührenpflichtige Fatwa-Hotlines, mit denen die Sender sich ein Zubrot verdienen, zeugen von einem neuen Trend: der Verbindung von Kommerz und Religion. Während Kanäle wie der Pionier Iqra’, das populäre Al-Risalah und das neu gegründete 4Shbab – »Für die Jugend« – auf islamkonforme, aber kommerziell vermarktbare Unterhaltung mit Musik, Serien und Talkshows setzen, hat sich in den vergangenen Jahren ein neuer Strang besonders konservativer Sender etabliert, die von einigen Beobachtern mit dem Schlagwort »salafistisch« bezeichnet werden. Damit ist eine sehr schriftgetreue Islamauslegung gemeint, die sich auf die Zeiten des Propheten Muhammad und seiner Gefährten bezieht. Ein Siegeszug hat begonnen. Der konservative Islam-Sender Al-Nas – »Die Menschen« –, bei dem Frauen nicht moderieren dürfen, hat sich in nur einem Jahr zum Massenmedium gemausert. Al-Nas gehört zu einem ganzen Netzwerk religiös-puritanischer Kanäle: Der Tochterkanal Al-Khalijia spricht gezielt Familienthemen an, Al-Baraka konzentriert sich auf Themen aus der Wirtschaft und Al-Hafiz zeigt, wie man den Koran richtig erlernt. Der Sender Al-Rahma ist sogar vollständig in der Hand von Klerikern, die auf kommerzielle Elemente verzichten und in ihren Sendungen die religiöse Reinigung der arabisch-islamischen Welt beschwören. Die Fülle an existierenden Sendern hat dazu geführt, dass die generelle Freude religiö- ser Protagonisten über den islamischen Wiederaufschwung in Angst umgeschlagen ist: Angst vor dem Bedeutungsverlust etablierter Institutionen wie der Azhar-Universität. Ein verbissenes Ringen um die Deutungshoheit ist entbrannt. So kritisiert Gamal Qotb, ein ehemaliger Azhar-Funktionär, in einem Interview mit der Zeitung Al-Ahram: »Das Problem dieser Sender ist, dass sie Versionen des Islams importiert haben und propagieren, die keine Wurzeln in den meisten arabischen Ländern haben – und speziell nicht in Ägypten.« Und der Azharit Abdallah al-Naggar greift Al-Rahma wegen seines aufwiegelnden Tons an: »Der Islam braucht keine bombastischen Slogans.« Es schade nur, wenn Feindseligkeiten und Konflikte heraufbeschworen würden, moniert der Gelehrte. Droht der ägyptischen Gesellschaft die Saudisierung? Um der salafistischen Invasion standzuhalten, bemühen sich Azhar-Gelehrte mittlerweile ebenfalls um mediale Präsenz. Die aus diesem Wettbewerb resultierende Zunahme immer absurderer Fernseh-Fatwas führte dazu, dass das ägyptische Parlament 2008 sogar darüber debattierte, die Fatwa-Erteilung in den Medien ohne offizielle Lizenz zu verbieten. Letztendlich sah man von diesem Eingriff ab, lancierte aber zum Ramadan 2009 den privat finanzierten Sender Azhari TV. Der lässt nur zertifizierte Azhar-Absolventen auf den Bildschirm, um ein Gegengewicht zu den salafistischen Predigern zu schaffen. Angesichts dieser Auseinandersetzungen erstaunt die nach wie vor starke Präsenz der IslamSender in Ägyptens autoritär gesteuerter Fernsehlandschaft. Der Satellit NileSat, über den die meisten Programme abgestrahlt werden, liegt vollständig in staatlicher Hand. Auch die Media Production City in Kairo, in denen die Sendungen in der Regel produziert werden, steht unter staatlicher Kontrolle. Erst 2008 hatte die Arabische Liga auf Drängen von Ägypten und Saudi-Arabien eine Charta verabschiedet, um gegen Kanäle vorgehen zu können, die »die soziale Harmonie, die öffentliche Ordnung, die nationale Einheit oder traditionelle Werte beschädigen«. Die immer neue Vergabe ägyptischer Lizenzen an religiöse Sender wirkt angesichts des öffentlichen Islam-Streits jedoch nicht gerade wie eine Festigung der propagierten sozialen Harmonie. Etliche Beobachter gehen deshalb davon aus, dass das ägyptische Regime die religiösen Sender gezielt einsetzt: So sollen die Muslimbrüder davon abgehalten werden, die religiöse Agenda zu bestimmen. Denn während die Programme der neuen Fernsehprediger vor allem auf eine Islamisierung des Alltags setzen, nutzen die oppositionellen Muslimbrüder ihr religiöses Kapital, um politisch gegen die Machthaber mobil zu machen. Bei den Parlamentswahlen 2005 konnten die Islamisten trotz Wahlfälschung rund 20 Prozent der Mandate erobern, indem sie sich als tugendhaftere Alternative zu Mubarak & Co. präsentierten. Für letztere scheint es deshalb eine clevere Option zu sein, die Sehnsucht der Bürger nach religiöser Anleitung durch islamische TV-Sender zu befriedigen, ohne politische Zugeständnisse machen zu müssen. Die Sender können außerdem helfen, die Stabilität in dem von sozialen Ungleichheiten gekennzeichneten Land aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung ruhig zu stellen. »Unsere Prediger raten den Armen, zufrieden mit ihrem Leben zu sein und Ausgleich im Jenseits zu suchen,« beschreibt Atef Abdel Raschid, Gründer der Al-Nas-Gruppe, gegenüber Al-Ahram seine Senderpolitik. Die islamischen Sender folgen damit staatlichen Vorgaben, wie Abdel Raschid betont: »Wir stimmen mit der Regierung zu 90 Prozent überein und zu zehn Prozent nicht. Wir haben beschlossen, über diese zehn Prozent nicht zu debattieren.« Die Behörden haben diese loyale Sichtweise nicht zuletzt dadurch erwirkt, dass sie im Zuge der Verabschiedung der Satelliten-Charta 2008 mehrere kleine Islam-Sender kurzzeitig abschalteten. Der so demonstrierte lange Arm der Staatsmacht hat die Sender wieder auf die gewünschte apolitische Linie gebracht. Diese Strategie der Ablenkung vom eigenen politischen Unvermögen mag kurzfristig ein Erfolg für das Regime sein. Die Propaganda salafistischer Prediger, die in ihren Sendungen gegen den Westen und seine Verbündeten wettern, könnte jedoch schnell in Kritik an der prowestlichen Regierung umschlagen. Und auf Dauer sind die sozialen Folgen der medialen Islamisierung nicht abzusehen. Während einige Beobachter schon angstvoll von einer »Saudisierung« Ägyptens sprechen, die sich in einer strikteren Kleiderordnung und zunehmender Geschlechtertrennung niederschlagen könnte, sehen andere einen selbstbewussten Bezug auf den Islam im Alltag als förderlich für Ägyptens Entwicklung an. Die (noch) vorhandene Vielfalt der islamischen Medien spricht immerhin dafür, dass moderate Erneuerer radikalen Eiferern das Feld nicht kampflos überlassen werden. << Illustration: Lesprenger KAMPF UM DEN ISLAM VURAL ÖGER (68) UNTERNEHMER, DEUTSCHLAND »Der Islam leidet daran, dass sich politisch motivierte Splittergruppen fälschlich auf ihn berufen, aber zugleich an unverständiger Diskriminierung, teils sogar in Deutschland.« SALMA MUSA (29) ZAHNÄRZTIN, SUDAN »Islam ist eine falsch verstandene und falsch interpretierte Religion. Im Islam geht es um Vergebung und Frieden, und daher kommt ja auch das Wort Islam: Es ist das arabische Wort für Frieden.« Weitere Aussagen auf www.zenithonline.de. Die Zitate wurden auf Anfrage von zenith abgegeben oder Presse und Fachliteratur entnommen. zenith 3/2010 61 KAMPF UM DEN ISLAM GLOSSAR DER ISLAMKLISCHEES (ISLAMVERSTEHER) Von Aufklärung ... Die Debatte über den Islam in Europa entzündet sich immer wieder an Schlagworten. Dabei geraten Islamversteher und -kritiker oft heftig aneinander ... Islamkritiker – Einzelpersonen mit ProfilneuAufklärung – über die Vielfalt der islamischen rose, die die Gefahr des >Islamismus bewusst Lebensweisen ist notwendig, damit nicht mehr übertreiben, um billige Stimmungsmache zu bepauschal über den >Islam geurteilt wird. treiben. Sprechen Stammtischparolen aus, die Burka – Traditionelles Kleidungsstück afghanischer Frauen. In Europa selten zu sehen, also in einer >aufgeklärten Diskussion über den >Iswas soll die Aufregung? lam nichts zu suchen haben. Islamophobie – Von >Islamkritikern geschürte Christlich-jüdisches Erbe – Euphemismus dafür, dass Muslime in Europa nicht willkomStimmung gegen alles Muslimische. Die I. basiert men sind. Oder haben sich Christen und Juden mehr auf Ängsten in der Mehrheitsgesellschaft etwa immer gut verstanden? als auf Realitäten. Ein deutlicher Beleg für I. ist Dialog – Wir sollten reden! Und zwar über Geder Mord an der Ägypterin Marwa el-Sherbini meinsamkeiten, sonst kommen wir nicht zueinin Dresden. ander. Zu viel Konflikt führt nicht zu Ergebnissen, Judenfeindlichkeit – Sowohl Araber als auch Juden sind Semiten. Muslimischer wie die »Deutsche Islamkonferenz« zeigt. Ohne Antisemitismus widerspricht sich dadas Attribut interreligiös ist der D. nicht denkbar. Dschihad – heißt »Anstrengung« oder »Bemühung«. her selbst. Vielmehr sind Muslime Gemeint ist der Kampf gegen Versuchungen, um heute einer >Xenophobie ausgesetzt sich nicht vom Glauben abbringen zu lassen. Wird wie einst die Juden. leider oft als »Heiliger Krieg« missverstanden. Europäisierung des Islams – Dezente Kopftuch – Ein Stück Stoff, das Frauen Anpassung der religiösen Praktiken der sich aus den verschiedensten Motiven Muslime an die Gegebenheiten in Euroumbinden: Religiöse Erwägungen spielen pa im 21. Jahrhundert. Ist möglich, ohdabei ebenso eine Rolle wie der Wunsch der ne an den Grundpfeilern des >Islams zu Frauen, nicht von fremden Männern rütteln. Beispiele für die E. sind Moscheen belästigt zu werden. und >Minarette, die sich eine moderne Architektursprache zu eigen machen. Ex-Muslime – Man kann aus dem >Islam nicht Leitkultur – Ob nun deutsch oder europäisch, ob christlich oder abendländisch: soll verdeutaustreten. Man kann in diesem Sinne auch nicht lichen, dass bestimmte Menschen nicht nach eintreten, schließlich ist der Islam anders als die Europa gehören. Verkörpert als Konzept eine christlichen Kirchen in Deutschland keine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Wer seinen Wagenburgmentalität. Glauben nicht mehr ausleben möchte, der lebt Meinungsfreiheit – Vorwand der >Islamkritiker, dass alles erlaubt ist – sogar volksverhetzende ihn einfach nicht mehr aus. Schmähungen des >Propheten Muhammad. Fundamentalismus – Haltung der >IslamkritiMinarette – Zeichen dafür, dass Muslime in der ker, die mit heiligem Zorn ihre >Aufklärung vor Fremden verteidigen wollen. europäischen Gesellschaft angekommen sind Grundgesetz – Ist in weltanschaulicher Hinund sich nicht mehr in Hinterhofmoscheen versicht neutral, ist daher im gleichen Maße mit stecken müssen. dem >Islam vereinbar wie mit Christen- und Niqab – Gesichtsschleier der Frauen in SaudiJudentum. Das G. schützt in Artikel 4 in beArabien, ähnlich wie die >Burka bei europäisonderem Maße die >Religionsfreiheit. schen Musliminnen unüblich. Nicht mit dem >Kopftuch zu vergleichen. Hassprediger – formulieren in leicht verständOrientalisch – sind exotische Phantasien und lichem Deutsch in aller Öffentlichkeit Vorurteile über Muslime, um zum Kreuzzug gegen eine Sehnsüchte nach einer Fremdheit, die ein anregendes Gegenmodell zum nüchtern struktuangebliche Islamisierung Europas zu blasen. rierten Alltag in Europa symbolisiert. Islam – heißt Frieden. Prophet – Muhammad, von Muslimen sehr verIslamismus – Politischer Missbrauchs des >Isehrter Religionsstifter. Sollte daher mit Respekt lams durch einige wenige Radikale. Die Gefahr behandelt werden. des I. wird übertrieben. 62 zenith 3/2010 Quran, auch Koran – Interpretationsfähiges heiliges Buch der Muslime. Sollte im Religionsunterricht behandelt werden. Religionsfreiheit – Hohes Gut, das in Gefahr ist, weil aus falsch verstandener Emanzipation das Tragen von >Kopftüchern verboten werden soll und aus nicht nachvollziehbaren Gründen auch der Bau von >Minaretten. Scharia – Beschreibt den Weg der islamischen Rechtsfindung. Im Sinne der >Europäisierung des Islams kann die S. so interpretiert werden, dass sie mit dem >Grundgesetz vereinbar ist. Die S. sieht unter anderem vor, dass Geldgeschäfte nicht verzinst werden dürfen, was in der Finanzkrise auch für den Westen hilfreich gewesen wäre. Täuschung – Beliebtes Mittel der >Islamkritiker: Sie geben vor, dass die Islamisierung Europas unmittelbar bevorsteht, dabei geht es doch nur um die Etablierung der Rechte einer Minderheit. Toleranz – heißt, die Eigenheiten fremder Kulturen und Religionen zu akzeptieren, um ein gleichberechtigtes Miteinander zu ermöglichen. Ungläubige – Eigentlich müsste es »Andersgläubige« heißen; der interreligiöse >Dialog führt auch dazu, dass Angehörige der verschiedenen Religionen sprachlich sensibler miteinander umgehen. Verharmloser – sind >Islamkritiker, die ihre Provokationen (z.B. die Muhammad-Karikaturen) unter Verweis auf die >Meinungsfreiheit bewusst verniedlichen. Sind in den großen deutschen Medien leider in der Mehrheit. Wertegemeinschaft – Gemeinsamkeiten der drei abrahamitischen Weltreligionen, die vom gleichen Stamm kommend auch die gleichen Werte verkörpern. Xenophobie – zeigt sich auf Schulhöfen, wo Kinder ausgeschlossen werden, die nicht Deutsch sprechen. Zivilisation – Die islamische Z. hatte ihren Höhepunkt in Andalusien im Mittelalter. Unter islamischer Herrschaft wurde damals >Toleranz großgeschrieben. Zwangsehen – gab es in Europa auch bis weit ins 20. Jahrhundert. Z. werden vom >Quran nicht vorgesehen, sind daher ein kulturelles Problem und kein religiöses. KAMPF UM DEN ISLAM GLOSSAR DER ISLAMKLISCHEES (ISLAMKRITIKER) ... bis Zwangsehe ... weil sie zwar dieselbe Sprache sprechen, aber unter bestimmten Wörtern ganz Unterschiedliches verstehen. Eine Übersetzungshilfe Aufklärung – Hat der >Islam nie erlebt, weshalb Islamkritiker – Mutige Einzelpersonen, die mit er nicht mit der westlichen >Wertegemeinschaft der falschen >Toleranz gegenüber den Gefahren kompatibel ist. des >Islams hart ins Gericht gehen. Sprechen Burka – Symbol für die Unterdrückung der Frau die Meinung einer schweigenden Mehrheit aus, in islamischen Gesellschaften. Nicht mit der hiedie von den >Verharmlosern in den großen Mesigen >Leitkultur vereinbar, weshalb die B. verdien verschwiegen wird. boten gehört. Islamophobie – Soll suggerieren, dass Muslime Christlich-jüdisches Erbe – Grundlage der in Europa in der Opferrolle sind. Die angebliabendländischen >Zivilisation. Steht in dem Beche I. dient dazu, von der verbreiteten >Judengriff irgendwo das Wort islamisch? Na also! feindlichkeit vieler Einwanderer islamischen Glaubens abzulenken. Dialog – Wir müssen reden! Judenfeindlichkeit – Der Hass auf Israel wird Und zwar über die Provon muslimischen Migranten nach Europa bleme, sonst bleibt der transportiert, so dass der Antisemitismus hier eiD. überflüssiges Gene neue schreckliche Blüte erlebt und die westlaber, wie die »Deutliche >Wertegemeinschaft gefährdet. sche Islamkonferenz« zeigt. Dschihad – heißt Kopftuch – Ein Stück Stoff, das muslimischen Heiliger Krieg und wird Frauen durch islamisch-patriarchalische Strukvom >Quran vorgeschrieturen aufgezwungen wird. Politische Erwäben, um die >Ungläubigen zu bekämpgungen spielen dabei ebenso eine Rolle wie der fen. Wird leider oft von >Verharmlosern Wunsch der Männer, dass ihre Frauen nicht als Ringen mit den eigenen Unzulängvon der westlichen Freiheit belästigt werden. lichkeiten missverstanden. Europäisierung des Islams – Eine StraLeitkultur – Ob nun deutsch oder europäisch, tegie der >Täuschung. Das eigentliche Ziel ist die Islamisierung Europas. ob christlich oder abendländisch: verdeutlicht, Ex-Muslime – Man kann aus dem >Islam nicht dass bestimmte Verhaltensweisen nicht nach austreten. Die >Scharia sieht für diejenigen, die Europa gehören. Verkörpert als Konzept eine vom Glauben abfallen, die Todesstrafe vor. Noch auf der >Aufklärung beruhende >Wertegemeinschaft. ein Grund, weshalb der >Islam nicht mit dem Meinungsfreiheit – Hohes Gut, das in Gefahr >Grundgesetz vereinbar ist. ist, weil viele Zeitungen in Deutschland sich aus Fundamentalismus – Islamischer F. zielt auf die falsch verstandener >Toleranz nicht trauen, den Einführung der >Scharia in Europa ab. Führt Islam zu kritisieren. Wer hat denn bislang die uns direkt ins Mittelalter. Muhammad-Karikaturen abgedruckt? Grundgesetz – ist in weltanschaulicher HinMinarette – Zeichen dafür, die Muslime auch in sicht neutral, ist daher nicht mit dem >Islam Europa den Herrschaftsanspruch des >Islams vereinbar, da dieser die >Scharia über jedes weltdurchsetzen wollen. liche Recht stellt. Das G. schützt in Artikel 5 in Niqab – Noch so eine Form, Frauen unter Stoff besonderem Maße die >Meinungsfreiheit. zu verstecken, vergleiche >Burka und >KopfHassprediger – schüren in kaum verständlichen tuch. Sprachen in Hinterhofmoscheen Vorurteile über Orientalisch – sind Despotien sowie sexistische die >Ungläubigen, um zum >Dschihad gegen Haremsfantasien, die ein abstoßendes Gegenden Westen zu blasen. modell zur in Europa geregelten GleichberechIslam – heißt Unterwerfung. tigung symbolisieren. Islamismus – ist eigentlich nichts anderes als Prophet – Muhammad, arabischer Feldherr mit der >Islam. Eine politische Ideologie, die für die dubiosem Privatleben, sollte daher äußerst kriVorherrschaft der islamischen Religion in sämttisch behandelt werden. lichen Lebensbereichen steht. Die Gefahr des I. wird >verharmlost. Von Moritz Behrendt Quran, auch Koran – Unverständliche Ansammlung ideologischer Grundsätze aus dem 7. Jahrhundert im rückständigen Arabien. Sollte höchstens im Geschichtsunterricht behandelt werden. Religionsfreiheit – Vorwand der >Islamisten, dass alles erlaubt ist, sogar >Zwangsehen, Ehrenmorde und die Befreiung ihrer Töchter vom Schwimmunterricht. Scharia – Beschreibt das vermeintlich göttliche und daher unabänderliche islamische Gesetz, das im Rahmen der Islamisierung Europas auch hier eingeführt werden soll. Die S. sieht unter anderem vor, dass Frauen gesteinigt werden, wenn sie ihre Liebe auch ohne Trauschein ausleben. Täuschung – ist eine vom >Quran vorgeschriebene Strategie (taqiyya), um die >Ungläubigen in die Irre zu führen. Solange die Muslime in Europa in der Minderheit sind, faseln sie von der Friedfertigkeit ihrer Religion. Sind sie in der Mehrheit, wird die >Scharia eingeführt. Toleranz – Tu’ du mir nicht weh, ich tu’ dir auch nicht weh! Um den kuscheligen interreligiösen >Dialog ja nicht zu stören, werden islamisch begründete Verstöße gegen das >Grundgesetz hingenommen. Ungläubige – In ihren Überlegenheitsphantasien halten Muslime die Angehörigen anderer Religionen für minderwertig. Die Diskriminierung der Christen in Saudi-Arabien und der Türkei ist Vorbild für Europa, sobald hier die >Scharia eingeführt wird. Verharmloser – sind Gutmenschen, die mit Verweis auf die >Toleranz die Gefahren des >Islams bewusst vertuschen. Sind in den großen deutschen Medien leider in der Mehrheit. Wertegemeinschaft – Durch die >Aufklärung erreichte Gemeinsamkeiten westlicher Länder, die sich aus den Menschenrechten und dem >christlich-jüdischen Erbe speisen. Manifestieren sich in Deutschland im >Grundgesetz, das nicht mit dem >Islam vereinbar ist. Xenophobie – zeigt sich auf Schulhöfen in den Problemvierteln, wo Kinder ausgeschlossen werden, die nicht Türkisch sprechen. Zivilisation – erfordert >Aufklärung. Ist in Europa dank des >christlich-jüdischen Erbes entstanden. Muss sich wehrhaft zeigen gegen die Islamisierung und den >Fundamentalismus. Zwangsehen – Beispiel für die Rückständigkeit und Frauenfeindlichkeit islamischer Gesellschaften. Mutige Frauen, die Zwangsehen entfliehen, werden in der Regel durch Ehrenmorde kaltgestellt. zenith 3/2010 63 Foto: Megan E. Sindelar/US Marine Corps SPORT Sieben Freunde müsst ihr sein Ein amerikanischer Soldat findet in Afghanistan einen leeren Swimmingpool vor – und gründet das erste Wasserball-Team in der Geschichte des Landes. Nun soll er seine Mannschaft fit für Olympia machen Von Kerstin Zilm 64 zenith 3/2010 >> Der Traum von Jeremy Piasecki hat ein Datum: August 2016. Dann finden in Rio de Janeiro die Olympischen Sommerspiele statt. Piasecki will dabei sein – nicht als Spieler, sondern als Trainer einer besonderen Mannschaft: des afghanischen Wasserball-Nationalteams. Piasecki ist Reservist der US-Marines. Vor zwei Jahren arbeitete er als Verwaltungsexperte auf einem Stützpunkt der afghanischen Armee nahe Kabul. Dort fand er einen leer stehenden Swimmingpool. Das Becken war in einem ziemlich üblen Zustand, sagt der 32-Jährige: »Da lagen Abfall, Metall, Plastikflaschen, Glasscherben und Dreck im Pool. Einige nicht identifizierbare Gegenstände, darunter vermutlich ein totes Tier. Sagen wir: Dinge, die nicht in ein Becken gehören.« Denn wenn es nach Piasecki geht, ist eindeutig, was in einen Swimmingpool gehört: insgesamt 14 Sportler und ein – meist gelber – Ball. Am Wasserball fasziniere ihn die Kombination aus Kraft, Ausdauer, Geschicklichkeit und natürlich Teamarbeit, meint der Amerikaner. In seiner Heimat Kalifornien hatte er bereits Schulmannschaften trainiert. Piasecki beschloss also, ein Wasserball-Team für die afghanischen Soldaten zu gründen. Die erste olympische Medaille holte Afghanistan 2008 im Tae-Kwon-Do Die Voraussetzungen dafür waren 2008 nicht gerade rosig. Rund um den Pool streunten Straßenköter, wenige hundert Meter entfernt sind in die Luft gesprengte Gebäude zu sehen und ausgebrannte Fahrzeuge. Außerdem kann im Binnenstaat Afghanistan kaum jemand schwimmen. In den Sprachen des Landes gibt es noch nicht mal ein Wort für Wasserball. Trotzdem war der Pool dank Piaseckis Ausdauer und Überzeugungskraft wenige Monate später gefüllt mit frischem Wasser. Bei den ersten TryOuts, also dem Probetraining für die neue Mannschaft, tauchten mehr als 70 Soldaten auf. Ein großer Erfolg, findet der WasserballEnthusiast: »Die Soldaten kamen aus allen Foto: Megan E. Sindelar/US Marine Corps SPORT In den Sprachen Afghanistans gibt es kein Wort für Wasserball. Aber wer das erste Training überstanden hat, ist stolz, Teil der Mannschaft zu sein. Provinzen des Landes, hatten unterschiedlichste ethnische Hintergründe. In der Armee sorgt das immer wieder für Probleme. Aber beim Training haben alle zusammengehalten. Alle kamen, um Teil dieser Mannschaft zu sein.« Inzwischen gibt es sogar zwei WasserballTeams in Afghanistan. Piasecki, der Initator, kümmert sich darum, dass auch in anderen Armeestützpunkten Mannschaften aufgebaut werden können, dass die Sportler Badehosen bekommen und dass genügend Bälle und Tore vorhanden sind. Etwa zur gleichen Zeit, im August 2008, konnte sich Afghanistan über die erste olympische Medaille seiner Geschichte freuen: Rohullah Nikpai gewann in Peking im Tae-Kwon-Do eine Bronzemedaille. Wenige Tage nach diesem Ereignis erhielt Jeremy Piasecki vom Nationalen Olympischen Komitee Afghanistans einen Auftrag: Er soll ein Nationalteam aufbauen und dieses zu den Olympischen Spielen 2016 führen. Drei der besten Spieler starben im Kampf gegen die Taliban Keine leichte Aufgabe in einem Land, das sich mitten im Krieg befindet. Drei der besten Spieler der neuen Nationalmannschaft seien bei Kämpfen mit den Taliban gefallen, berichtet Piasecki. Um seinen Athleten eine Perspektive zu geben, will er für sie einen mehrmonatigen Aufenthalt in den USA organisieren. Das soll die Mannschaft nicht nur sportlich voranbringen, sagt der Nationalcoach. Ihm ist es wichtig, dass Afghanen und US-Amerikaner nicht nur in Kriegssituationen aufeinandertreffen: »Nur wenige Amerikaner verstehen, was es bedeutet, in einem Land zu leben, das seit Jahrzehnten im Krieg ist. Und die Afghanen könnten unser Land sehen und lernen, warum wir ihnen helfen wollen.« Mit seinem kalifornischen Enthusiasmus hat Piasecki bereits Reise- und Aufenthaltsgenehmigungen, Unterkunft und Trainingsmöglichkeiten für die Athleten organisiert. Was er noch braucht, ist das Geld für ihre Flüge. Piasecki hofft auf Spenden. Natürlich weiß er, dass es in Afghanistan Wichtigeres gibt als Wasserball. Aber wenn er davon erzählt, wie sehr seine Mannschaft zusammenhält, wie begeistert die Spieler inzwischen über den olympischen Traum sprechen, dann zeigt sich auch die integrative Kraft des Sports. << zenith 3/2010 65 Foto: Ulrike Gasser GESELLSCHAFT >> Stundenlang waren sie in der Dunkelheit der Nacht die Küste entlanggelaufen. Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Kaum hatten sie sich in Mytilini am Straßenrand niedergelassen, um sich ein wenig von den Strapazen zu erholen, wurden die vier afghanischen Jungen aufgegriffen und festgenommen. Reine Routine für die griechischen Polizisten, während der Traum der vier von einer besseren Zukunft in Sekundenschnelle zerplatzte. So ergeht es vielen der bis zu fünfhundert illegalen Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten, die Nacht für Nacht an den Küsten Griechenlands stranden. Auch auf der Insel Lesbos führen die ersten Schritte auf europäischen Boden oft direkt ins Gefängnis. Da es aber verboten ist, minderjährige Flüchtlinge zu inhaftieren, werden die jungen Afghanen nach Aggiasos gebracht, einem verschlafenen Bergdorf hoch über dem Mittelmeer. Angst vor den Bildern der Vergangenheit Unweit des Ortes, umgeben von tiefem, grünem Wald, gewährt den verängstigten Jungen ein schmuckloses Eingangstor Einlass. Ein langer, gerader Weg führt auf ein zweistöckiges Gebäude zu: die »Villa Azadi«, das »Haus der Freiheit«. Erst vor zwei Jahren wurde die leer stehende Klinik aus den 1930er Jahren mit geringen Mitteln zu einer Herberge für Jugendliche umgebaut. Heute gewährt die soziale Einrichtung bis zu hundert Flüchtlingen aus Afghanistan und dem Iran Unterschlupf. Alle hier sind Jungen, alle minderjährig und alle sind sie ohne Eltern hergekommen. Wie auch die Neuankömmlinge dieser Nacht, die nun in einer kalten, grauen Marmorhalle von einem mit Kinderhänden gemalten Plakat begrüßt werden: »Welcome Refugees!« Still weist ihnen Gregoris Kavarnos, Sozialarbeiter und Leiter des Heimes, vorübergehend vier alte Krankenhausbetten zu. Jetzt, früh am Morgen, sind die mintgrünen Türen zu den Zimmern der Villa Azadi noch geschlossen. Viele der Jugendlichen, die hier untergebracht worden sind, leiden unter Schlafstörungen und können oft die ganze Nacht nicht einschlafen. Sie haben Angst vor den Bildern der Vergangenheit, die vor ihren Augen tanzen, sobald sie diese schließen. Oft erlöst sie der Schlaf erst in den frühen Morgenstunden, und so dauert es bis zum späten Vormittag, bis die Jungen 66 zenith 3/2010 Gefangen im Haus der Freiheit Das griechische Lesbos liegt nur einen Katzensprung vom türkischen Festland entfernt, Strände und blaues Meer ziehen Urlauber aus ganz Europa an. Auf der Durchreise sind auch jugendliche Flüchtlinge aus Afghanistan. Sie sind auf der Touristeninsel hängen geblieben Von Ulrike Gasser ihre müden Glieder aus den Betten heben. In den letzten zwei Jahren hätten er und sein Team etwa 2500 junge afghanische Flüchtlinge betreut, schätzt Kavarnos. Vor allem im Sommer, wenn die See ruhiger ist, steige die Anzahl der Bewohner regelmäßig auf über hundert an: »Die Polizei schickt uns die Kinder oft, ohne sie vorher anzukündigen. Wir sind verpflichtet, alle unter 18 Jahren aufzunehmen, und müssen dann ganz schnell genügend Betten, Kleidung und Essen organisieren.« Wenn die Polizei die Flüchtlinge in die Villa bringt, sind diese eigentlich verpflichtet, Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Al- lerdings setzen sich die Mitarbeiter der Villa Azadi in vielen Fällen erfolgreich für ein längeres Bleiberecht ein. Das »Haus der Freiheit« verschafft den Neuankömmlingen eine Verschnaufpause auf der langen Hetzjagd von Afghanistan über den Iran und die Türkei bis nach Europa. Neben einem Schlafplatz, Essen und Kleidung bekommen die Jungen juristischen Beistand und ärztliche Versorgung. Es steht ihnen frei, zu gehen, wann immer sie wollen. Insgesamt 15 Mitarbeiter arbeiten in der Einrichtung, darunter ein Arzt, eine Psychologin, eine Anwältin und Übersetzer. »Das sind weitaus weniger, als es eine angemessene Betreuung der GESELLSCHAFT Afghanische Flüchtlingskinder im »Haus der Freiheit«. Doch in dem griechischen Bergdorf Aggiasos sind die Jungen vom Hindukusch nur geduldet. Jungen erfordern würde«, erklärt Kavarnos, der schon als Streetworker in Australien gearbeitet hat. Dennoch ist die Villa die größte Unterkunft für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in Griechenland und damit Vorzeigeobjekt der Behörden für Besucher. Wie lange das noch so bleibt, ist allerdings fraglich. Die Finanzierung des Hauses – getragen von Stiftungen und inoffiziellen Geldern des griechischen Gesundheitsministeriums – ist unsicher und die Bezahlung unregelmäßig. Bereits seit zwei Monaten wurde kein Gehalt mehr auf die Konten der Mitarbeiter überwiesen und für das Heim selbst ist lediglich die Grundversorgung gesichert (siehe Kasten). Die helle Vormittagssonne steht bereits hoch über der Insel, als das Haus endlich erwacht. Die Jungen schlurfen verschlafen mit braunen Schlappen über den grauen Linoleumboden. Iranische Popmusik hilft beim Aufstehen. Es dauert nicht lange, und die tägliche Zimmerkontrolle auf Sauberkeit beginnt. Während die letzten noch ihre Decken auf dem Balkon ausschütteln, eilen die ersten bereits zum Griechischunterricht. Andere Unterrichtsstunden kann die Villa nicht anbieten, denn für einen Englischlehrer fehlt zurzeit das Geld. »Wir versuchen schon seit langem, einige unserer Jungen in die Dorfschule zu schicken. Bislang weigern sich die Behörden aber vehement, die Schüler aufzunehmen«, sagt Kavarnos. Nur der jüngste Bewohner der Villa, der zehnjährige Qamran, darf jeden Morgen zusammen mit den griechischen Kindern die Schulbücher aufschlagen. Ein Wunsch vieler der Jungen, denn Bildung war in ihrem bisherigen Leben eine Luxusware. Die Jugendlichen vom Hindukusch sind Kriegswaisen, Opfer von Stammesfehden oder Streitigkeiten um Grund und Boden. Ihre Suche nach einer besseren Zukunft führte viele zunächst in den Iran. Dort leben die Afghanen ghettoisiert in einer Schattengesellschaft ohne Rechte. Selbst die Geburt in der Islamischen Republik gibt Einwanderern kein Anrecht auf die iranische Staatsbürgerschaft. »Ich hätte den Iran nicht verlassen, wenn ich nur einen Pass bekommen hätte«, erzählt Yassim, der aus Badakhschan im Norden Afghanistans stammt. Nicht einmal Schulen gibt es für die Immigranten, und so beginnen viele schon von Kindesbeinen an zu arbeiten. Der erbarmungslose Rassismus, Gewalt und Ausbeutung unter härte- »Überall auf der Welt werden wir behandelt, als wären wir geschmuggelte Drogen« sten Arbeitsbedingungen treiben viele der jungen Afghanen weiter in Richtung Europa. Vor seinem Aufbruch nach Europa hat Asef, der heute 18 Jahre alt ist, zehn Jahre lang illegal im Iran gelebt und gearbeitet. Immer in der Angst vor einer Abschiebung, denn schon der Weg zum nächsten Kiosk konnte das Ende bedeuten. »Das Gefühl, im Iran nicht am Leben zu sein, war am Ende stärker als meine Angst, zu gehen«, ergänzt Wahiz, der schon knapp zwei Jahre auf Lesbos ausharrt. Angst hat er immer noch – wie die anderen Jungen möchte auch er nicht, dass sein richtiger Name genannt wird. Auch bei Zahir, einem stillen, nachdenklichen Jungen, war es die Sehnsucht nach einem besseren Leben, die ihn veranlasst hat, seine Heimat zu verlassen. Ohne Wissen seiner Eltern machte er sich mit seinen drei besten Freunden auf den Weg nach Europa. Erst als sie bereits in der Türkei waren, rief er zu Hause an. »Geweint haben sie am Telefon«, erzählt er. Doch während es seine Freunde nach Skandinavien geschafft haben, wurde Zahir von der Polizei aufgegriffen und sitzt nun auf Lesbos fest. Wie es weitergeht? »Ich weiß es nicht. Meine Mutter möchte, dass ich zurückkomme, aber das ist nicht so einfach.« Es gibt keine Schlepper, die einen über das Meer wieder zurück nach Hause bringen. Und so geht er fast täglich hinunter in den Ort, um vom öffentlichen Telefon vor der orthodoxen Pilgerstätte Agia Panagia daheim anzurufen. Nur langsam gewöhnt sich das griechische Bergdorf an seine neuen Bewohner aus Zentralasien. Den Einwohnern ist unbegreiflich, dass ausgerechnet sie mit den Folgen des Krieges in Afghanistan konfrontiert werden. Auch nach zwei Jahren wenden sich noch die Köpfe der alten Männer in den Kaffeehäusern am Dorfplatz, wenn die jungen Afghanen ab und zu aus der Isolation des Flüchtlingszentrums fliehen. Denn viel Ablenkung von dem Stillstand, in dem sich die Jungen hier befinden, gibt es nicht. Gewichtheben, Fußballspielen, ein bisschen Kicker, Tischtennis. Sie sind nicht ausgelastet, und schnell wird eine Rangelei auf dem Gang zu einer handfesten Auseinandersetzung. Vor allem die Sehnsucht nach Mädchen ist groß, aber Chancen auf Begegnungen gibt es nur wenige. Die älteren Jungen gehen abends mal ein Bier trinken oder in die Dorf-Disko, wo sie dann mit der Dorfjugend und Touristen Sirtaki tanzen. Weibliche Bekanntschaften ergeben sich dabei selten. Und so vergehen die Tage, indem die Jungen – zwischen Stofftieren auf ihren Betten und Postern halbnackter Frauen an den Wänden – in ihren Zimmern sitzen, Tee trinken und darauf warten, dass die Zeit vergeht. Rassismus und Gewalt treiben sie nach Europa Bei manchen von ihnen liegt die Bootsfahrt vom Hafen Ayvalik in der Türkei bis nach Lesbos beinahe zwei Jahre zurück. Sie gehört zum gefährlicheren Teil ihrer Reise und raubt vielen der Jüngeren die Kraft, auf ihrem Weg nach Europa weiterzugehen. Immer wieder passieren schwere Unfälle, und viele Flüchtlinge ertrinken auf der nur etwa 20 Kilometer langen Überfahrt. Wenn sie Ayvalik erreichen, ist es für viele der jungen Afghanen das erste Mal in ihrem Leben, dass sie das Meer sehen. Für 1500 Dollar werden sie von den Schleppern in überfüllten und undichten Schlauch- und Holzbooten zusammengepfercht. »Wir sind in der Nacht losgefahren. Wasser ist in das Boot eingedrungen, deshalb haben wir all unsere Sachen ins Meer geworfen, um leichter zu werden. Als ich es endlich an die Küste geschafft hatte, hatte ich nichts mehr. Nicht einmal mehr Schuhe«, erzählt Hamid, einer der ersten Bewohner hier im Heim. In seinem Rucksack, den er über Bord warf, waren auch die einzigen verbliebenen Bilder seiner Familie. Da Lesbos in unmittelbarer Nähe des türkischen Festlands liegt, sind die Flüchtlingsströme nahezu unkontrollierbar für die griechische Küstenwache. Seit 2008 werden sie aus diesem Grund von der europäischen Grenzschutzagentur >> zenith 3/2010 67 GESELLSCHAFT >> Frontex unterstützt. Nacht für Nacht durchkämmen Patrouillenboote die griechischen Gewässer auf der Suche nach illegalen Einwanderern, unterstützt von Hubschraubern mit Wärmebildkameras. Der Umgang Griechenlands mit den Flüchtlingen steht immer wieder in der Kritik. Berichten von Organisationen wie Amnesty International zufolge sind Flüchtlinge wiederholt in türkische Gewässer zurückgeschoben und sogar in Seenot sich selbst überlassen worden. »Als wir die griechischen Boote haben kommen sehen, dachten wir, wir wären gerettet«, erzählt Yassim, der wegen eines Lecks im Boot bereits die Hoffnung aufgegeben hatte. »Wir konnten es nicht glauben, als die Polizei kehrtmachte, wir dachten doch, die Europäer wären gute Menschen.« Wenn die Flüchtlinge nicht gleich auf dem Wasser oder bei der Landung festgenommen werden, passiert das spätestens in Lesbos’ Hauptort Mytilini, wenn die Illegalen dabei erwischt werden, ihren Weg aufs europäische Festland fortzusetzen. Doch schon auf ihrem Weg nach Griechenland wurden die Getriebenen häufig von örtlichen Behörden inhaftiert. Der Grund ist immer derselbe: Illegalität. Homayon hat in drei verschiedenen Ländern knapp zehn Monate abgesessen. Barat war mit 17 Jahren schon vier Mal im Gefängnis: »Überall auf der Welt werden wir Afghanen behandelt, als wären wir geschmuggelte Drogen. Wir sind immer illegal, egal wohin wir gehen!« Ein Provisorium als Vorzeigeobjekt »Am wichtigsten sind für uns die Papiere. Wenn du illegal bist, bleibst du immer in einem Gefängnis«, erzählt Asef, der einen Antrag auf Asyl gestellt hat. Dafür bekam er die »rosa Karte«, eine vorübergehende Duldung mit Arbeitserlaubnis. Seitdem hilft er bei Maurerarbeiten unten im Dorf und gehört zu den wenigen, die es geschafft haben, einen Job zu finden. Obwohl die Saisonarbeit schwer ist und mit nur drei Euro die Stunde außerordentlich schlecht bezahlt, ist sie doch die einzige Möglichkeit für einige der Jungen, eigenes Geld zu verdienen. Geld, das sie dringend brauchen, um sich die teure Weiterreise mithilfe von Schleppern und Schleusern leisten zu können. Wer sonst weder Ersparnisse hat noch Unterstützung von der Familie bekommt, dem bleibt nur noch der Weg in die Kriminalität: Drogenhandel oder Prostitution. Wenn Asef und die anderen müden Arbeiter nach einem langen Tag in die Villa zurückkehren, ist schon fast Abendzeit. Bis der Gong durch die 68 zenith 3/2010 Teymur hat es bis nach Italien geschafft. Sein Anruf macht den anderen Hoffnung Lautsprecheranlage zum Essen ruft, spielt auf dem Bolzplatz neben dem pastellgelben Gebäude der FC Barcelona gegen Bayern München. Die Aufregung der Jungen ist bis in den zweiten Stock hinauf zu hören. Oben in den grauen Gängen versuchen selbstgemalte Bilder und Zeichnungen ein Gefühl von Heimeligkeit zu erzeugen. Das Gebäude ist baufällig, in einige Räume regnet es hinein und immer wieder fällt die Elektrizität aus. Fast scheint es, als wäre das Provisorium Villa Azadi ein ironisches Abbild der griechischen Einwanderungspolitik: Im ganzen Land fehlt es an Unterkünften für die vielen Flüchtlinge, die tagtäglich an Hellas’ Küsten gespült werden. Selbst die Gefängnisse der lokalen Polizeistationen sind überfüllt und für die nur acht Einrichtungen mit Minderjährigenbetreuung in ganz Griechenland existiert sogar eine Warteliste. Endlich hört man das Klirren und Klappern der metallenen Formtablette im Speisesaal. Es ist sieben Uhr dreißig und wieder geht ein langer Tag dem Ende zu. In Griechenland Asyl zu bekommen, ist für die meisten praktisch unmöglich; das treibt sie immer weiter. Neben einer extrem niedrigen Anerkennungsquote ist vor allem die Überlastung der griechischen Behörden ein Problem. Während 2008 nur zehn Prozent aller gestellten Anträge bearbeitet wurden, herrscht aufgrund der Wirtschaftskrise im Land heute beinahe ein Bearbeitungsstopp. Die Chancen auf einen positiven Bescheid tendieren daher gegen Null. »Viele können und wollen nicht in Griechenland bleiben«, bestätigt Gregoris Kavarnos. Er ist ebenfalls mit der Situation zunehmend unzufrieden: »Ich bin Sozialarbeiter. Mein Job wäre es, diese Jungen in die Selbstständigkeit zu begleiten. Aber als was? Etwa als griechische Staatsbürger? Das ist unmöglich.« Also zieht es die jungen Afghanen nach Deutschland, Schweden oder England – irgend- wohin, wo es die Möglichkeit einer legalen Existenz gibt. Diejenigen, die weiterwollen, versuchen es von Patras oder Athen aus. Für 3000 Euro verstecken Schlepper sie in einem Lastwagen unter den Waren oder im Fahrgestänge – mit hohem Unfallrisiko. Aber auch dieser Trick wird von den Behörden durchschaut. Hamid, ein Junge aus der afghanischen Provinz Helmand, hat sich schon mehrmals auf den Weg gemacht: »Einmal haben sie mich in Ungarn im Truck erwischt, ein zweites Mal in Serbien, als wir versucht haben, uns zu Fuß und mit dem Taxi durchzuschlagen. Drei Mal war ich deswegen schon im Gefängnis.« Manch einer hat schon bis zu sieben Mal versucht, nach Mitteleuropa zu gelangen. »Der Satte versteht die Hungrigen nicht«, meint Homayon. Das sei auch in Europa so. Glücklich ist, wen die Polizisten oder Grenzbeamten am Tag erwischen. Denn in der Nacht kommt es nicht selten zu Tätlichkeiten gegenüber den Flüchtlingen. Es wird von Tritten und Faustschlägen, Verletzungen am Kopf und ausgeschlagenen Zähnen berichtet. Die Jungen kommen nach solchen Übergriffen niedergeschlagen und deprimiert in die Villa zurück. Zurück zu ihren Freunden, von denen sie sich wenige Wochen zuvor verabschiedet haben, als wäre es für immer. Manche jedoch haben Glück. Wie Teymur, der gerade angerufen hat. Vorgestern Nacht ist er in Patras aufgebrochen, jetzt ist er in Mailand. Das sind die guten Nachrichten, die den Jungen Hoffnung geben, es weiter zu probieren. Dumpf schlagen die Türen, jemand schreit durch die Gänge und Handys dudeln bis tief in die Nacht Hits aus dem Nahen Osten. Es wird noch lange dauern, bis die Jungen heute Abend << einschlafen. OFFENES ENDE Das Flüchtlingszentrum der »Villa Azadi« wurde bislang von einer Stiftung der griechisch-orthodoxen Kirche unterstützt, die für diesen Zweck Geld aus einem Schattenetat des Gesundheitsministeriums erhielt. Doch mit Beginn der griechischen Finanzkrise wurden diese Mittel gestrichen. Die Stiftung kann die Villa nun nicht mehr unterhalten. Ende Juli 2010 wurden die Mitarbeiter der Einrichtung aufgefordert, unverzüglich ihre Arbeit niederzulegen. Die Jungen sind seither ohne Betreuung: Das überraschende Aus für die Flüchtlingsunterkunft ließ den Angestellten keine Möglichkeit, rechtzeitig nach ehrenamtlichem Ersatzpersonal zu suchen. KLEINANZEIGEN Arabien & Nordafrika Aus Liebe zur Langsamkeit Expeditionsreisen — Kameltreks Trekkingtouren — Individuelle Reisen Ihr Spezialist mit langjähriger Erfahrung bei Studien- & Erlebnisreisen nach Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten – für Individual- und Gruppenreisende Rub al-Khali Katalog anfordern bei: Bedu Expeditionen Peter Franzisky Neureutherstr. 10, D–80799 München Tel. 089-6243 9791, Fax 6243 9885 [email protected] www.bedu.de Reisen in die Sahara Algerien 6 Libyen 6 Mali 6 Mauretanien Niger 6 Sudan 6 Tschad www.desert-reisen.de Unser Jahreskatalog FERNE WELTEN ASIEN – CHINA – NAHOST jetzt im Reisebüro oder beim Veranstalter IKARUS TOURS GmbH Am Kaltenborn 49-51 · D - 61462 Königstein Tel. 0 61 74 – 29 02 0 · Fax: 0 61 74 – 2 29 52 E-Mail: [email protected] · www.ikarus.com DESERT REISEN Palmengartenstraße 4 60325 Frankfurt Fon +49 69 74093309 DESERT Orient Erleben www.diamir.de Kulturverträglich Reisen mit allen Sinnen Ihr Reisespezialist für Ägypten und Algerien Orient Ägypten Zu den Pyramiden in Kairo, den Tempeln und Gräbern in Luxor, dem nubischen Assuan und zum Tauchen ans Rote Meer. 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Herz der Sahara Algeriens erleben (Tamanrasset). Wüstentouren. Geschäftsreisen. Alle Reisen sind jederzeit buchbar ab 2 Personen. www.aegyptenerleben.de www.algerienferien.de Rosenheimer Str. 30, 81669 München Tel.Nr. 089 48 30 11 [email protected], [email protected] O R I E N TA L I S C H E S Netzgeflüster Ball im Kasten Niemand, kein Nasrallah und kein Mubarak, vermag die Araber zwischen Marokko und dem Oman so hinter sich zu scharen wie König Fußball. Auch in diesem Jahr versammelten sich Millionen arabische Fußballfans anlässlich der Weltmeisterschaft. Und in Ägypten guckten viele Fans zum Beginn der WM sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn in die Röhre. Schlimm genug, dass das ägyptische Team im entscheidenden Qualifikationsspiel schmachvoll gegen Algerien verloren hatte – jetzt sollten auch die meisten Partien nur im Pay-TV-Sender Aljazeera Sports übertragen werden. Das Staatsfernsehen hatte vergessen, die Rechte für alle Virtuelle Bruderschaft Der Siegeszug von Facebook geht auch im Nahen Osten ungebremst weiter. Im Mai 2010 waren 15 Millionen Internetnutzer aus den arabischen Staaten in dem Social Network angemeldet. Allein 3,4 Millionen von ihnen waren Ägypter. In den Weiten des Internet sind die meist jungen Facebook-User jedoch allerlei Versuchungen ausgesetzt. Da lauern Profile von Pornostars, und Werbung will zum Alkoholgenuss oder Glücksspiel verführen. Dem will die ägyptische Muslimbruderschaft nun ein eigenes, unverdorbenes Netzwerk entgegensetzen: »Ikhwanbook«. »Jetzt wollen wir das Internet für den wahren Islam!« Unter der Adresse www.ikhwanfacebook.com können Interessierte seit Anfang Juli ganz wie beim großen Vorbild aus Amerika Profile anlegen, Fotos hochladen und sich mit Freunden vernetzen. Die Seite soll offen sein für jeden, nicht 70 zenith 3/2010 Spiele zu erwerben. Notgedrungen wichen viele Fans auf illegale Live-Streams im Internet aus. Wegen der langsamen Internetverbindung am Nil war das für die meisten Zuschauer jedoch ein zweifelhaftes Vergnügen. In Facebook-Gruppen und Online-Foren machten genervte Fans ihrem Unmut Luft. »Bei den WM-Übertragungen sind wir noch rückständiger als Nordkorea«, tobte ein ägyptischer Zuschauer. In Ägypten guckten die Fans in die Röhre Umso euphorischer waren die Fußballfreunde in den Nachbarländern. Viele arabische Fans zeigten auf ihren Facbook- und Twitterprofilen Flagge und machten unmissver- nur für die ikhwan, also die islamistischen Muslimbrüder. Mit dem Netzwerk wolle man aber junge Leute für die Ideologie der Bruderschaft begeistern, so die Verantwortlichen. »Unser Gründer Hassan al-Banna verkündete seine Botschaft zunächst in Kaffeehäusern, also Orten, an denen sich viele Leute versammeln. Jetzt wollen wir das Internet nutzen, wo sich viele junge Menschen treffen, um für den wahren Islam zu werben«, erklärte die Bruderschaft auf ihrer Website. Neben den Ägyptern gehören bislang Palästinenser und Indonesier zu den eifrigsten Usern des neuen Angebots. Das meistgeklickte Foto auf der Seite ist ein Bild des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Frau. Technologisch kann Ikhwanbook mit dem US-Original bislang aber nicht mithalten. Es gibt keinen Chat, keine Spiele und auch Videos können nicht hochgeladen werden. Aber es gibt eben auch nichts, was zu unislamischem Verhalten verführen könnte. Facebook ist übrigens nicht die erste Website, die von den Muslimbrüdern kopiert wurde. Schon seit einigen Monaten gibt es das islamkonforme Internetlexikon »Ikhwanwiki«, Freitagspredigten und Koranrezitationen kann man sich bereits seit Anfang 2009 auf »Ikhwantube« zu Gemüte führen. ständlich deutlich, für wen ihr Herz schlug: Brasilien und Deutschland waren bei den meisten die Favoriten. Entsprechend groß war die Häme, die die Anhänger der Sambatruppe nach dem unerwarteten Ausscheiden im Viertelfinale über sich ergehen lassen mussten. Ganz anders die Anhänger von »al-Mannschaft«, wie Jogis Jungs von arabischen Fußballkommentatoren genannt werden. Tor-Mitschnitte mit arabischem Live-Kommentar entwickelten sich auf Youtube zu echten Rennern, auch in Deutschland. Nicht nur, dass der Mann am Mikro regelmäßig über die Namen Podolski und Schweinsteiger stolperte – so euphorisch wie arabische Stimmen haben Béla Réthy und Co. deutsche Tore noch nie bejubelt. Neu auf www.zenithonline.de Reise Inselhopping vor der Haustür An paradiesischen Orten in der Javanischen See können zivilisationsmüde Indonesier Robinson Crusoe spielen Politik/Hintergründe Gott, Allah und Föderalismus Wird Nigeria nach der Gewalt zwischen Muslimen und Christen geteilt? Kultur/Interview »Einflussnahme garantiert« Islamwissenschaftler Patrick Franke über die geplanten »Zentren für Islamische Studien« an deutschen Universitäten Foto: Momento K U LT U R Gilt als einer der »Dissidenten« des israelischen Kinos: der Dokumentarfilmer Eyal Sivan. »Das wahre Opfer ist bei uns immer der Israeli« Der israelische Regisseur Eyal Sivan beleuchtet in »Jaffa – The Orange’s Clockwork« den Nahostkonflikt durch die Orangenproduktion. Mit zenith sprach Sivan über die Symbolik der Frucht, seine Erfahrungen mit der israelischen Filmförderung und darüber, warum er »Waltz with Bashir« für einen unkritischen Film hält Interview: Dörthe Engelcke 72 zenith 3/2010 zenith: Wofür genau steht die Orange in Ihrem Film? Eyal Sivan: Die Orange ist vielleicht das einzige gemeinsame Symbol, das Israelis und Palästinenser haben; was natürlich nicht bedeutet, dass es für beide Seiten die gleiche Bedeutung hätte. Für Israelis und Zionisten verkörpert die Orange nationalen Stolz und die zionistische Idee par excellence: eine trostlose Einöde in fruchtbares Land zu verwandeln. Für Palästinenser symbolisierte die Orange das Land Palästina selbst, weil Palästina zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Land der Orangen bekannt war. Und später stand sie für die Zerstörung ihres Landes und die Vertreibung. Wenn man den Titel hört, denkt man automatisch an Stanley Kubricks Film »The Clockwork Orange«, der Gewalt als Freizeitbeschäftigung thematisiert. In Ihrem Film sieht man jedoch keine Gewaltszenen. Inwieweit besteht eine inhaltlich Verbindung zwischen Kubricks und Ihrem Film? Stanley Kubricks Idee der Gewalt als Teil der Identität war für mich ein wichtiges Element. Man ist entweder derjenige, der verletzt, oder derjenige, der verletzt wird. Hinzu kam Walter Benjamins Idee der Mechanik des Bildes. Bilder erlangen nur Bedeutung durch ständige Reproduktion – wie etwa in Werbefilmen, die »JaffaOrangen« anpreisen –, und dadurch wird das Bild ein Teil der eigenen Identität und Moral. Dieser mechanische Prozess wird ja auch im Sinnbild des Uhrwerks wieder aufgegriffen. Wann kam die Orangenproduktion in Palästina zum Erliegen? Nach 1948 installierten die Israelis Wassermesser in den Orangenhainen. Bis dahin hatten Palästinenser nicht für Wasser bezahlt. Auf einmal war Wasser sehr teuer. Die Menschen konnten es sich nicht leisten und die Bäume begannen zu sterben. Seit den 1990ern rodete Israel die Orangenbäume aus Sicherheitsgründen, weil sich angeblich Terroristen in den Orangenhainen verstecken. Stattdessen gab man den Palästinensern Erdbeerpflanzen, weil man sich zwischen denen nicht verkriechen kann. K U LT U R Sie haben Sie sich für Ihren aktuellen Film um finanzielle Unterstützung beim »Cinema Project« und der »Jerusalem Cinematheque« beworben. Ist es nicht heuchlerisch, Geld von einer Regierung zu nehmen, die man verachtet? Ich hatte mich zuvor noch nie um israelische Fördermittel beworben. Alle meine Filme wurden unabhängig produziert. Dann erzählte mir ein Freund von einem israelischen Filmwettbewerb zum Thema Geschichte Israels durch Archivmaterial. Ich habe eher aus Spaß mitgemacht, weil ich mir sicher war, dass das lustig werden und ich natürlich nicht gewinnen würde. Aber dann sprach man Ihnen das Geld zu … Ja, es war unglaublich. Die Jury entschied, dass mein Projekt gewinnen sollte. Nach der Entscheidung zog der israelische Fonds sein Geld zurück und sagte den Wettbewerb ab. Es dauerte sechs Monate, bis es einen neuen Wettbewerb gab. Man rief die Jury zusammen und sie stimmte erneut für mein Projekt. Aber dann begann eine Medienkampagne, die sogar eine Diskussion im Parlament auslöste. Die Tageszeitung Ma’ariv veröffentlichte eine Titelgeschichte unter der Überschrift »Von der Unabhängigkeit bis zum Selbstmord«. Gemeint war: Mir Geld für die Produktion eines Films zu geben, bedeute so viel wie seinen eigenen Selbstmord zu finanzieren. Es gab sogar einen Gesetzesentwurf, der besagte, dass Nichtzionisten keinen Zugang zu öffentlichen Fördergeldern erhalten sollten. Ich entschied daraufhin, mich nicht mehr um das Geld zu bewerben. Nichtsdestotrotz hatte Ihnen die Jury das Geld ursprünglich zugestanden, obwohl man weiß, dass Sie kritisch sind. Ist dies nicht Ausdruck einer kritischen Reflexion des eigenen Staates? Es war eine professionelle Jury, die aufgrund künstlerischer Gesichtspunkte abgestimmt hat. Die Tatsache, dass wir hervorheben, dass die israelische Regierung kritische Filme fördert, zeigt doch schon, dass etwas nicht stimmt. Niemand sagt: »Oh, wow, die deutsche Regierung gibt Fatih Akin Geld, um Filme über die schwierigen Lebensbedingungen der Türken in Deutschland zu drehen.« Es ist normal, dass ein Staat Geld für künstlerische Produktionen ausgibt. In Israel wird dieser eigentlich ganz normale Sachverhalt aber ständig hervorgehoben. Die französische Zeitung Libération hat gerade einen Artikel darüber veröffentlicht, wie Israel das so genannte kritische Kino als Schaufenster nutzt. »Ich habe Israel verlassen, aber Israel lässt mich niemals los« Können Sie uns ein Beispiel geben? Nehmen Sie nur den israelischen Film, der dieses Jahr für einen Oskar nominiert war. In »Ajami« führten ein israelischer Filmemacher, Yaro Shani, und ein palästinensischer Regisseur, Scandor Copti, Regie und wurden vom israelischen Filmfonds gefördert. Kurz vor der Oscar-Verleihung wurde Copti vom israelischen Fernsehen auf dem roten Teppich in Hollywood gefragt, wie er sich fühle, den israelischen Staat zu repräsentieren. Er antwortete: »Ich repräsentiere den israelischen Staat nicht, da der israelische Staat mich auch nicht repräsentiert.« Das war ein riesiger Skandal in Israel. EYAL SIVAN wurde 1964 in Haifa geboren, siedelte 1985 nach Paris über und arbeitete fortan als Autor und Dokumentarfilmer. Sein erstes Werk »Aqabat Jaber, Passing Through« von 1987 schildert das Leben von Palästinensern im Flüchtlingslager Aqabat Jaber. Sivans kontroverse Filme kreisen oft um den Nahostkonflikt sowie die Themen Erinnerungspolitik und Holocaust; der wortgewaltige Kritiker des israelischen Staates wurde unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. »Jaffa – The Orange’s Clockwork« kommt in Deutschland am 14. Oktober 2010 in die Kinos. Wie wurde der Trickfilm »Waltz with Bashir«, der den Libanon-Krieg aufarbeitet, in Israel aufgenommen? Als grandioser Exportschlager, der Israel weltweit viel Ehre einbringt. »Waltz with Bashir« ist ein cineastisches Meisterwerk, aber kein besonders kritischer Film. In dem Film geht es um einen traumatisierten ehemaligen Soldaten, der nach seinem Gedächtnis sucht und am Ende seine Erinnerung wiederfindet. Und was ist seine Erinnerung? Es ist die gleiche Erinnerung all derjenigen, die 1982 Fernsehen geguckt haben. Es sind dieselben Bilder. Wir erfahren nicht, was er wirklich gesehen oder getan hat. Das bedeutet, dass er in Wahrheit keine Erinnerung hat. Er hat ein kollektives Gedächtnis. Dieser Film, der vorgibt, gegen das Vergessen und die Verleugnung zu kämpfen, ist ein Film der Verleugnung und des Vergessens. Immerhin spielt der Film doch auf Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an, vor allem auf das Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila. Sieht man die Menschen, deren Rechte verletzt wurden? Hat man so wie in vielen anderen Kriegsfilmen den Feind, den Araber, gesehen? Nein. Das wahre Opfer des Konflikts ist immer der Israeli. Das ist in »Waltz with Bashir« nicht anders. Der Israeli ist derjenige, der traumatisiert ist und leidet. Er ist das menschliche Wesen, das unter inneren Konflikten leidet. Das ist Teil des israelischen Narrativs: Selbst wenn wir Täter sind, sind wir immer auch Opfer dieser schrecklichen Situation. Sie unterrichten und leben heute in London. Planen Sie, irgendwann nach Israel zurückzugehen, oder haben Sie das Land dauerhaft verlassen? Physisch habe ich Israel bereits sehr oft verlassen, aber die Idee des Weggehens ist problematisch. Ich habe Israel verlassen, aber Israel lässt mich niemals los. Im Jahr 1985 ging ich zum ersten Mal. Seitdem kehre ich regelmäßig zurück, etwa um zu unterrichten. Damals fragten mich die Menschen, wann ich denn ganz zurückkommen wolle. Ich sagte, wenn die Besatzung und die Apartheid enden. Dann bekam ich stets dieselbe Antwort: »Oh, du wirst also nie zurückkehren.« zenith 3/2010 73 K U LT U R Tun, helfen, Mund halten Foto: Karin Lange Alle Religionen predigen von der Grandiosität ihrer Götter und Weissagungen. Doch auf prophetisches Geraune und inbrünstigen Glaubensschmalz sollten wir heute besser verzichten. Eine Polemik von Andreas Altmann mmer werden wir aufgefordert, »großen Respekt vor den Religionen« zu zeigen. Ergriffenes Schaudern soll über uns kommen, wenn von den »göttlichen Weissagungen« die Rede ist. Welch Mumpitz! Respekt wovor? Vor dem klerikalen Lichtertalg, dem prophetischen Geraune, dem inbrünstigen Glaubensschmalz? Alles fabriziert, um uns Angst und Schrecken einzujagen. Davor Respekt? Vor der Intoleranz, zu der sie uns aufwiegeln? Vor der Denkfaulheit, in der wir uns üben sollen? Vor dem schafsfrommen, schafsblöden Geleier? Bedenkt man die Untaten des Christentums, mit Hilfe derer es viele Jahrhunderte lang von sich reden machte, so ist die »christliche Nächstenliebe« eine hübsche Erfindung, die mit der von Jesus angemahnten Liebe nichts zu tun hat. Zumindest nicht in der Wirklichkeit. Die Kirche schien sich eher an das blutrünstige Alte Testament zu halten als an die Aufrufe zu Verständnis und Güte. Beim Islam ging es nicht menschenfreundlicher zu. Die Anzahl der Blutbäder, die er sich in vielen Teilen der Welt genehmigt hat, verweist direkt oder indirekt auf die vielen Textstellen im »heiligen« Koran, die zu diesen Blutbädern anspornten. Da hilft auch kein Gutmenschen-Sermon über den Islam, die »Religion des Friedens«. Er hilft so wenig wie der penetrante Hinweis auf die »Missverständnisse«, denen Mohammed, der Friedensreiche, ausgesetzt sei. Ganz offensichtlich sind wir anderen, wir Nicht-Muslime, nicht willens, die Botschaft, die friedvolle, zu entdecken. Und der Buddhismus? Nun, ich will seine Heiligsprechung nicht übertreiben. Denn seine Getreuen sind grundsätzlich nicht besser oder intelligenter. Nehmen wir Tibet. Seit Jahrzehnten legt sich ein leichter Schauer der Ergriffenheit auf das westliche Herz, wenn der Name dieses Landes fällt. Weil man sich, zu Recht, gegen die Banditenpolitik Pekings empört. Und weil man, zu Unrecht, die Ex-Theokratie im Himalaya für den Inbegriff frohsinnig-schneeverwehter Glückseligkeit hielt. Dem ist nicht so. Ein knappes Drittel der vierzehn La- I 74 zenith 3/2010 mas wurde ermordet. Opfer erbitterter, innerreligiöser Richtungskämpfe. Als die Kommunisten Tibet 1950 überrannten und annektierten, nahmen sie 1,5 Millionen Quadratkilometer in Besitz, deren Infrastruktur der einer Bananenrepublik glich. Kaum Straßen, keine Krankenhäuser, keine nichtreligiösen Schulen, dafür Analphabetentum, hohe Kindersterblichkeit, Bettelarmut, Bonzen-Korruption und untereinander verfeindete Klöster. Das entschuldigt die chinesischen Barbareien in nichts, aber es wirft kein strahlendes Licht auf eine Weltanschauung, die angetreten ist, Eigenverantwortung zu lehren. Ach, wenn uns wenigstens eine Frau erlösen würde ... Die Liste der Sünden, die im Namen Buddhas begangen wurden, ist lang. Japan – oh, heiliger ZenBuddhismus – könnte ein Bataillon strammer Mönche aufweisen, die gern und innig Schwert und Schießgewehr zückten. Im Zweiten Weltkrieg stand die buddhistische Führung resolut hinter Kaiser Hirohito und bejubelte den größenwahnsinnigen Kriegstreiber. Oder im Bürgerkrieg in Sri Lanka: Die Mehrheit der buddhistischen Singhalesen kämpfte gegen die Minderheit der hinduistischen Tamilen, die einen eigenen Staat forderten. Man konnte sich nur wundern über die Härte, mit der sich Ordensleute für ein schonungsloses Vorgehen gegen die Aufständischen aussprachen. Wie Generäle hetzten sie. Das zeigt: Auch der Buddhismus hat »schmutzige Hände«, schuldbeladene. Und trotzdem: Sein Schwarzbuch ist – im Vergleich – dünn, sehr dünn, seine Blutlachen noch überschaubar. Das hat wohl (auch) damit zu tun, dass in seinen Schriften kein Schlachtruf steht, der gellend zu Kreuzzügen, Heiligen Kriegen und anderen Schlächtereien antrieb. Nie gab es eine mörderische Inquisition, nie eine Conquista, nie »Hexen«-Verbrennungen, nie sollten »Ungläubige« mit Feuer und Schwert bekehrt werden, nie schrieb jemand eine Rechtfertigung für schwunghaften Sklavenhandel. Und entscheidend – damit fällt der Hauptschuldige aller in seinen Namen begangenen Verbrechen weg – kein »Gott« kommt im Buddhismus vor. Er ist vollendet gottlos, nichts »Heiliges« schwirrt durchs Universum. Buddha war nichts als irdisch, kein »Gottessohn eines Gottvaters«, nie »Prophet des Allgütigen«, keine Inkarnation »göttlicher Macht«, er war immer, immer nur Mensch. Wie beruhigend. Nota bene: Meine Kritik an den Monotheismen bezieht sich immer auf die Institutionen, die »Stellvertreter Gottes«, die Hochwürden und Muftis und Ayatollahs, ihre angemaßten »Gottesworte«, ihre als »heilig« angepriesenen Bücher. Immer randvoll mit Sprüchen des »Herrn«. Heißt der Herr nun Gott oder Allah. (Wie einleuchtend, dass Damen als Sprüchemacher bei den patriarchalischen Märchenerzählern nicht vorkommen. Eine reine Männerwirtschaft. Wenn uns wenigstens eine Frau erlösen würde. Das nur am Rande.) Der Verriss betrifft nicht, nicht grundsätzlich, die Christen und Muslime, die diesen beiden Religionen angehören. Unter ihnen gibt es Männer und Frauen, die sich – vorbildlicher als mancher Buddhist – für das Wohl anderer einsetzen. Das irdische, wohlgemerkt. Die es dabei sogar schaffen, nicht mit brennenden Augen demjenigen, dem sie gerade helfen (und wäre er gottlos), von der Grandiosität ihrer Religion zu predigen. Sie tun, sie hel<< fen, sie halten den Mund. ANDREAS ALTMANN lebt als Autor in Paris; für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. In seinen Texten setzt Altmann sich immer wieder kritisch mit dem Thema Religion auseinander. 2010 erschien das Buch »Triffst du Buddha, töte ihn! Ein Selbstversuch« bei DuMont. www.andreas-altmann.com. 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Chronist oder Künstler? Der Fotograf Ara Güler. Prosaische Schönheit des Alltäglichen Der Fotograf Ara Güler fängt die Verwandlung Istanbuls ein. In Zeitlupe hält die Moderne in seiner Heimatstadt Einzug Ganz gewöhnliche Zeitungsfotos? Gewiss nicht! »Ara Güler gelingt es, die Seele Istanbuls in seinen Bildern darzustellen«, schreibt Orhan Pamuk im Vorwort des Bandes. Der Fotograf Güler, geboren 1928, sieht sich weniger als Künstler denn als Chronist der Veränderung Istanbuls in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er hat dabei immer die Menschen im Blick: Fischer, die ihre Netze flicken, Straßenhändler, die ihre Ware feilbieten, oder Arbeitslose, die ihre Zeit in Kneipen verbringen. Die Fotos lassen sich lesen wie eine Reportage von Egon Erwin Kisch, mit ihrer Liebe zum Detail und der prosaischen Schönheit des Alltäglichen. Die Stadt, in der Tatkraft und Zerfall aufeinanderprallen, ist dabei nicht nur Hintergrund – sie kommuniziert mit den Menschen. Istanbul ist auf Gülers Fotos immer in Bewegung – allerdings ist diese meist langsam. Seien es die Fischerboote auf dem Bosporus, die von den Bugwellen der Dampfschiffe gemächlich hin und her geschaukelt werden, oder der zähe Verkehr auf der Galatabrücke. Die Moderne trifft bei Güler nicht orkanartig auf Istanbul und seine Bewohner; vielmehr nimmt sie nach und nach ihren Platz, prägt sich in die Seele der Stadt ein, ohne das Alte komplett zu verdrängen. So wird aus bloßer Dokumentation große Kunst. MB Ara Güler Istanbul mit einem Vorwort von Orhan Pamuk Du Mont, Köln 2010, 183 Seiten, 34,95 Euro. zenith 3/2010 77 L I T E R AT U R Experiment gelungen Ein Sammelband über Saudi-Arabien stellt die richtigen Fragen – und verschafft so Zugang zu einem verschlossenen Land Von Henner Fürtig Saudi-Arabien ist für viele Menschen bis heute ein Buch mit sieben Siegeln. Das Angebot an seriösen Quellen ist selbst für Wissenschaftler und Spezialisten überschaubar, Feldforschung oder auch kürzere Studienaufenthalte gelingen nur nach längerer Vorbereitung und auch dann nicht immer. Dem Tourismus öffnet sich das Land äußerst zögerlich; der interessierte Laie kann sich daher in der Regel kein eigenes Bild machen und weiß im Allgemeinen nicht viel mehr als das, was ihm die Medien vermitteln. Diese zeigen vor allem eine auf immensem Erdölreichtum aufgebaute moderne Fassade, hinter der sich unverändert »archaische« Verhältnisse verbergen. Für die Erzeugung einer solchen Wahrnehmung genügt allein der – nicht einmal üppige – Fluss immer gleicher Bilder von glitzernden Wolkenkratzern, kühnen Verkehrsstraßen und tief verschleierten Frauen. Spätestens seitdem bekannt wurde, dass 14 der 19 Attentäter vom 11. September 2001 saudische Pässe besaßen, verbreitete sich zudem das Wissen, dass in Saudi-Arabien eine besonders rigide Islamauslegung praktiziert wird, der Wahhabismus. An den Informationshunger und die Neugier dieses Leserkreises wendet sich das von Ulrike Freitag herausgegebene Buch. Der Islamwissenschaftlerin und Direktorin des Berliner »Zentrums Moderner Orient« war es 2008 gelungen, eine Gruppe Studierender zu einer ausführlichen Exkursion nach Saudi-Arabien zu führen. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden in einem Seminar verarbeitet, und je näher dessen Ende rückte, desto unumstößlicher wurde der Wunsch der Beteiligten, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Das Experiment kann als gelungen gelten, weil gerade in dieser »Herkunftsgeschichte« die größte Stärke des Buches liegt. Die ausgewiesene Wissenschaftlerin Freitag gibt der Edition Rahmen und Struktur. Die Studierenden haben dem Leser zwar in der Regel ei- 78 zenith 3/2010 niges an Wissen voraus, entdecken aber »unbekümmert« vor allem dort Neues und Faszinierendes, wo auch der prospektive Leser zuerst hinschauen würde: Wie und in welcher Form werden Konflikte zwischen Regierenden und Regierten in Saudi-Arabien ausgetragen, wie stark ist die Opposition und was will sie? Wie ist es wirklich um die gesellschaftliche Rolle der Frau bestellt? Mit welchen Instrumenten setzt das Königshaus seinen Machtanspruch um? Werden die zahlreichen Arbeitsmigranten eher als Belastung oder als Gewinn wahrgenommen? Haben die traditionell diskriminierten saudischen Schiiten unterdessen ihren »Frieden« mit den Herrschern gemacht? Die Themenvielfalt zeigt sich nicht zuletzt in Beiträgen zum »neuen saudischen Roman«, zur Pilgerfahrt nach Mekka und zu Chancen – beziehungsweise Herausforderungen – des saudischen Marktes für deutsche Unternehmen. Wer ist Saudi-Arabiens »neue Mitte«? Nach einem komprimierten Geschichtsabriss durch Freitag gelingen den meisten Beiträgen klare, bisweilen sogar überraschende Blicke hinter die Kulissen der saudischen Gesellschaft. Die Autorinnen und Autoren bringen entscheidende Probleme Saudi-Arabiens zur Sprache und bewerten bisherige Lösungsansätze. Dabei lassen sie sich selten blenden, sondern finden ein Gleichgewicht zwischen gesunder Skepsis und Anerkennung. Überdies versäumen sie nicht, auf divergierende Wahrnehmungen und Äußerungen innerhalb der saudischen Öffentlichkeit hinzuweisen. Per Saldo bauen die Beiträge gut aufeinander auf und liefern jeweils die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit den folgenden Themen. So steht der Beitrag über das »Nationale Dialogforum« nicht von ungefähr am Anfang, weil er gleich zu Beginn des Bu- Ulrike Freitag (Hg.) Saudi-Arabien. Ein Königreich im Wandel? Schöningh, Paderborn 2010, 183 Seiten, 34,95 Euro. ches mit wichtigen Herausforderungen an den saudischen Staat vertraut macht, die dann von den meisten der folgenden Beiträge aufgegriffen werden. Das gelingt allerdings nicht durchgängig. So hätte an einigen Stellen auf umfangreiche historische Rückblicke zugunsten einer Vertiefung des gewählten Themas verzichtet werden können, zumal die Einleitung die Geschichte Saudi-Arabiens ausreichend dargelegt hat. Das gilt nicht zuletzt für den Beitrag über die »neue Mitte« in Saudi-Arabien, speziell über die gegenwärtigen Positionen des Islamisten Salman alAuda, über die man gern mehr erfahren hätte. Wertvoll wären Beiträge zur Bildungsproblematik und zur Lage der Jugend gewesen. In einer außerordentlich jungen Gesellschaft wie der saudischen – drei von vier Saudis sind jünger als 30 Jahre alt – werden diese Probleme immer dringlicher; nicht von Grund wurden sie auch schon im Nationalen Dialogforum prominent thematisiert. Ein resümierendes Fazit hätte dem Buch ebenfalls gut getan, aber auch so sind seine Verdienste unstrittig: Man muss kein Spezialist sein, um nach der Lektüre über ein stimmigeres, kenntnisreicheres und zudem aktuelles Bild Saudi-Arabiens zu verfügen. << HENNER FÜRTIG ist Direktor des Instituts für Nahoststudien (IMES) und Professor für Geschichte an der Universität Hamburg. L I T E R AT U R WEITERE NEUERSCHEINUNGEN mehr auf www.zenithonline.de/literatur Ibn Battuta Tidiane N’Diaye Ruprecht Polenz Die Wunder des Morgenlandes Der verschleierte Völkermord Besser für beide. Die Türkei gehört in die EU C.H. Beck, München 2010, 256 Seiten, 24,95 Euro. Rowohlt, Hamburg 2010, 252 Seiten, 19,95 Euro. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2010, 107 Seiten, 10,00 Euro. Mehrjährige Berufserfahrung, darunter in Führungsfunktion beim Herrscher von Indien, geübt im Umgang mit heiklen Situationen, weit herumgekommen und dennoch fest im Glauben: Ibn Battutas »Reisen durch Afrika und Asien« lassen sich auch als Bewerbungsschreiben lesen. Das legt zumindest der Islamwissenschaftler Ralf Elger mit seinen klugen Kommentaren zu der Neuübersetzung nahe. Der große arabische Weltreisende aus dem 14. Jahrhundert wollte sich womöglich beim Sultan von Marokko um einen Job bewerben. Zu diesem Zweck polierte er seinen Lebenslauf auf, erfand manche Reise und schrieb bei anderen Globetrottern ab. Fazit: Reisen bildet, Lesen auch. Schreiben wir doch in den Klappentext, dass dieses »mutige Buch« ein Tabu breche. Schließlich geht es um Afrika, da interessiert sowieso niemanden, ob das stimmt. Das angebliche Tabu-Thema ist der muslimische Sklavenhandel: Der senegalesisch-französische Anthropologe Tidiane N’Diaye wirft den Arabern vor, in Afrika mindestens ebenso verheerend geplündert zu haben wie die Europäer. Hilfreich für den Autor: Diese These wurde bereits in zahllosen Bestsellern des 19. Jahrhunderts vertreten, als moralische Rechtfertigung für den europäischen Kolonialismus. N’Diaye zitiert ausgiebig aus diesen Quellen, aktuelle Forschung interessiert ihn weniger. Fazit: Starke Worte können fehlende Substanz nicht verschleiern. Es gibt sie doch noch, die neuen Argumente in der festgefahrenen Debatte über den EU-Beitritt der Türkei. Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz erinnert daran, dass die Wurzeln des Christentums auch in Anatolien liegen und dass es Politiker seiner Partei waren, die der Türkei lange Zeit die Mitgliedschaft in der EU anboten. Beides scheint heute vergessen. Von der Merkelschen »privilegierten Partnerschaft« hält der Außenpolitiker wenig, ebenso wie von einer Emotionalisierung der Debatte. Vor dem Beitritt, das macht Polenz ebenfalls deutlich, stehen noch lange Verhandlungen und nicht zuletzt eine tiefgreifende Verfassungsreform in der Türkei. Fazit: Nüchtern vorgetragene Argumente MB müssen nicht langweilig sein. ),-9,0<5. 2(55 4(5 50*/; ),:;,33,5 aber die Anregu Trotz Neoliberalismus, der offiziellen Doktrin der Erde, ist die Menschheit so unfrei wie nie zuvor: Wir sind Knechte des Geldes, Opfer der Umweltzerstörung, Sklaven des Wachstums und Diener einer Freiheit geworden, die sich selber zerstört. Aber es geht auch anders: Wo die Befreiung anfängt und wo sie hinführt, das zeigt der neue Zeitpunkt zum Schwerpunktthema «die grosse Befreiung» – scharfsinnige Essays, konkrete Beispiele und jede Menge Anregung, sich auf den Weg zu machen. <UZLY=VYZJOSHN a\T2LUULUSLYULU! Ein Schnupperabo mit drei Nummern für 18 Euro. .HYHU[PL! wenn Ihnen die erste Nummer nicht gefällt, genügt eine Mitteilung zur Stornierung. Der Zeitpunkt erscheint zweimonatlich und schreibt für Menschen, die an die Kraft gelebter Träume glauben. ALP[W\UR[ c/o Synergia Verlag, Erbacher Str. 107, 64287 Darmstadt, T 061 51 428 910 ^^^aLP[W\UR[JO Für intelligente O ptimis t innen und kons t r uk tive S keptiker ngen dazu!! MUSIK Dr. Motte im Vollrausch Der Dabke-Tanz oszilliert beim Syrer Omar Souleyman zwischen Techno und arabischer Folklore. So seltsam das anmutet – der Faszination dieser Musik kann man sich nur schwer entziehen Der iPod läuft auf voller Lautstärke. Und nach einer gefühlten Ewigkeit erschaudert einen die Erkenntnis, dass man die vergangenen Lieder in spastischer Ekstase vor dem Spiegel verbracht hat. Aber wie sonst sollte man zu »Jazeera Nights« tanzen? So tyrannisch ist diese rhythmisch-lärmende Musik, dass sie den Hörer an die Grenze zwischen Wahn und Rausch führt. Und der Musiker selbst, der Syrer Omar Souleyman, ist auf seine Art ein liebevoller Tyrann. Weil seine Musik den Hörer wie eine Zwangsjacke umschließt, die erst dann abfällt, wenn man diesen Grenzpunkt erreicht hat. Souleyman hat seit 1994 etwa 500 Tonträger veröffentlicht. Wenige Studio- und viele LiveAufnahmen, die in Syrien in Kassettengeschäften stapelweise ausliegen. Seine große Popularität führt ihn von Damaskus über Bagdad nach Dubai, auf große und kleine Hochzeiten. Nun war er erstmals in Europa auf Tour, und gerade ist hier sein neues Album erschienen: »Jazeera Nights« ist eine musikalische Zusammenstellung aus den letzten 15 Jahren. Souleyman ist im Westen angekommen. Die Sonnenbrille, der dicke schwarze Schnäuzer, die rote Kuffiyeh: Ist Souleyman der arabische Albtraum an einem amerikanischen Flughafen, oder die – Verzeihung – coolste Sau des Orients? Omar Souleyman macht aus der beliebten Dabke-Musik, diesem stampfenden nahöstlichen Tanz, einen pfeilschnellen Hybriden, knetet galoppierende arabische Instrumente und rasende elektronische Beats zusammen. Er singt mal traurig, mal harsch, immer aber unerschrocken zu diesem Amalgam aus traditionellen irakischen, kurdischen und türkischen Klängen und synthetischen Schepperbreaks. Die Musik kommt einem Euphorieausbruch gleich. Ein hartes, melodiöses und lautes Trommelfeuer. Man könnte – hier im Westen – an einen Dr. Motte im Vollrausch denken, doch ist die Musik keine spaßtrunkene Techno-Tirade. Sie wird zur Poesie. Und damit zum Meisterstück. Wo die Beats einem nur so um die Ohren fliegen, da wirkt die Stimme Souleymans wie eine traumhafte Beschwörung. Souleyman hat bei seinen Auftritten immer einen kettenrauchenden Poeten dabei, der ihm ab und an Wörter ins Ohr flüstert. Die Wörter gereichen ihm zu märchenhaften Improvisationen, zu einer Poesie, die verstörend-dramatisch ist. Florian Bigge Omar Souleyman Jazeera Nights Sublime Frequencies 2010, www.myspace.com/ omarsouleyman WEITERE NEUERSCHEINUNGEN Diverse Egypt Noir – Nubian Soul Treasures S.M.O.D. SMOD »Egypt Noir« enthält zehn Tracks zeitgenössischer nubischer, also oberägyptischer, Musiker. Unter ihnen sind bekannte Sänger wie Mahmoud Fadl oder Ali Hassan Kuban. Die CD birgt wirklich ausgesprochen schöne Soulschätze. Groovig und anspruchsvoll. www.piranha.de Für sein drittes Album hat das Rap’n’Folk-Trio aus Mali den musikalischen Tausendsassa Manu Chao als Produzenten verpflichtet. Dass die Musik dann nach Letzterem klingt, ist sicher beabsichtigt und tut dem Genuss keinen Abbruch. Sommerleichter Hip-Hop mit gehaltvollen Texten. www.smod.fr Piano solo, radikal Rami Khalifé verstört. Und der junge Komponist macht seinem großen Namen alle Ehre ben, seine Musik ist eigenständig. Auf der CD »Chaos« setzt er sich mit dem »Harb Tammuz« dem »Julikrieg« von 2006 auseinander, wie der Schlagabtausch zwischen Israel und der Hizbullah im Libanon genannt wird – inzwischen gängiger Topos in der Beiruter Kunstszene. »Chaos« ist ein »Zyklus von fünf Perioden«, namentlich »Geburt«, »Zerstörung«, »Chaos« und »Wiedergeburt«; die dritte Periode bleibt namenlos. Piano solo, das aber radikal. Den Klangkörper konsequent nutzend, auch malträtiertend, zwingt Khalifé dem Hörer seine Gefühle auf. Sein Spiel reißt mit, hinein in die Schrecken des Krieges. Dass das mit einem Piano möglich ist! Etwa die vierte Periode: Sie verstört, beschwört Ängste herauf, induziert Unbehagen, Seine Vita ist beeindruckend. Rami Khalifé erhielt eine erstklassige Ausbildung in Frankreich und an der Julliard School of Music in New York, er studierte beim libanesischen Pianisten Abd El Rahman El Bacha sowie beim BartokSchüler György Sandor. Dass er eine Reihe von renommierten Preisen einheimsen konnte, versteht sich da fast von selbst. Dabei ist er erst 30 Jahre alt, Sohn des großen Oud-Virtuosen Marcel Khalifé. Sein Talent mag Rami vom Vater ha- 80 zenith 3/2010 Hosam Hayek Ghareeb fe Watani Leicht melancholisch, passend zum Titel »Ghareeb fe Watani«, oder englisch »Stranger in My Homeland«, hört sich das Oud-Spiel Hosam Hayeks an. Alles zusammen passt auch zum palästinensischen Hintergrund des Interpreten. Trotz aller Schwermut: eine schöne Einspielung. www.hosamhayek.com Rami Khalifé Chaos Galileo MC 2010, www.ramikhalife.com Anspannung. Teils geht Khalifé brachial vor, teils subtil, immer aber mit großer intellektueller Strenge. Er beherrscht sein Instrument, und auf ganz andere Weise beherrscht er auch den Hörer. Das Ganze erhält durch die einzelnen Sätze und deren Nuancierung eine Richtung. Und Hoffnung. Zu wünschen ist, dass diese Aufnahvr me die verdient Anerkennung erhält. DIWAN Illustration: Veit Raßhofer DER KLEINE ARABIST Tausendmal zensiert Verbote sind für Araber nichts Neues. Parteien, Bilder, moderne technische Geräte – irgendetwas wird irgendwo im Nahen Osten immer gerade verboten. Vorzugsweise wenn a) Sex, b) freie Meinungsäußerung oder c) Kritik an Allah im Spiel sind. Sämtliche drei Tatbestände lassen sich zumeist bequem unter »Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Moral« zusammenfassen. Jetzt hat es also mal wieder »Tausendundeine Nacht« erwischt, die sexsprudelnde, mit Herrscherkritik durchsogene und auch religiös wenig zimperliche Geschichtensammlung aus dem Orient. Beziehungsweise beinahe: Der mit der Sache befasste Staatsanwalt in Kairo lehnte es glatt ab, die Klage einer islamistischen Anwaltsvereinigung weiter zu verfolgen. Die Advokatentruppe mit dem schönen Namen »Anwälte ohne Grenzen« hatte den Staat daran hindern wollen, die Erzählungen in einer neuen Volksausgabe zu vertreiben. Sie störte sich dem Vernehmen nach insbesondere an »schamlosem sexuellem Vokabular« und »Sarkasmus gegenüber dem göttlichen Wesen«. Liberale Kulturschaffende schrien auf, und sei es, weil sie schon die Schlagzeilen in europäischen Zeitungen kommen sahen: »Die Moslems, jetzt wollen sie Märchen verbieten …« Dabei handelt es sich nicht um das erste Mal: Schon 1985 gab es in Ägypten eine, letztlich erfolglose, Klage gegen die Geschichten – damals unter dem Vorwurf, sie seien ein pornographisches »Instrument zur Zerstörung der Volksseele«. Auch die Volksseelen des Westens waren immer wieder in Gefahr. 1873 wurde der Vertrieb von »Tausendundeine Nacht« in den USA de facto verboten, durch ein formal bis heute gültiges Gesetz. Und natürlich sind einige der berühmtesten europäischen Übersetzungen entschärft worden, häufig durch die Autoren selbst. Die Fassung des Orientreisenden Richard Burton – die das sexuelle Element stark betonte – wiederum konnte im viktorianischen England nicht erscheinen und musste 1885 in Indien gedruckt werden. Folgten die grenzenlosen Gesetzesgelehrten also letztlich nur bewährtem europäischem Vorbild? Wohl nicht – auch der Vorsitzende des ägyptischen Schriftstellerverbands warf ihnen vielmehr vor, sich »wie die Taliban« zu benehmen. Das Publikum fällte indes sein eigenes Urteil: Die erste Druckauflage der neuen Ausgabe war binnen 48 Stunden ausverkauft. Schließlich weiß man nie, wann das nächste Verbot kommt. chm Echsenjagd >>Heißer Sommer 2010! Dem Königreich Saudi-Arabien bescherte er aufregende Trends und dramatische Reformen: Laut Erlass des Königs müssen sich Prediger und Gelehrte öffentliche Äußerungen fortan staatlich zertifizieren lassen. Seine Majestät selbst ließ sich erstmalig mit einer Frauengruppe fotografieren. Und in einer TV-Seifenoper wurde plötzlich über Polyandrie diskutiert – die Beziehung einer Frau zu mehreren Männern. Auch in den Bereichen Sport, Freizeit und Ernährung steht das Land Kopf: Big Mac und SUV weichen der Jagd auf Nahrung nach dem alten beduinischen Prinzip Mann gegen Tier – oder präziser gesagt: Scheich gegen Reptil. Glaubt man Presseberichten, zählt das Jagen und Grillen von Echsen in der Wüste zu den neuesten Hobbies saudischer Männer. Während einige Gourmets bequem zur Schrotflinte greifen, um die Wechselblüter zu erlegen, ziehen wahre Naturburschen die Jagd per Handfang vor. Für die Volksgesundheit eine gute Nachricht: Fast 70 Prozent der Saudis leiden an Fettleibigkeit und Bewegungsmangel. Temperaturen von über 50 Grad Celsius im Sommer machen Sport im Freien zu einer schweißtreibenden Sache. Aber selbst während des Fastenmonats Ramadan, der 2010 in den heißen August fiel, ließen sich einige Wüstensöhne nicht von der Jagd abhalten. Naturschützer sehen die Artenvielfalt in Saudi-Arabien dadurch nicht gefährdet. Gesundheitsexperten warnen jedoch vor dem hohen Cholesteringehalt des Echsenbratens. Die manuelle Jagd auf Stachel- und Dornschwanzagamen kann zudem zu kleinen Schnittverletzungen führen. Skinke und Lacertidae wiederum, so genannte »echte Eidechsen«, verursachen durch ihre Wendigkeit bei ungeübten Jägern manchmal Stauchungen, Verspannungen und Bandscheibenvorfälle – für ein gutes Tackling muss man sich im Lauf nach unten beugen und gegebenenfalls zu Boden werfen. Auch um die Frage, ob der Genuss von Echsen islamisch statthaft sei, ist eine Diskussion entbrannt: Eine Reihe islamischer Überlieferungen (ahadith) befasst sich mit Eidechsen, Geckos und Salamandern, die der Prophet als »miese Kreaturen« bezeichnet haben soll. Manche Gelehrte halten den Verzehr beinbewehrter Reptilien und Amphibien für makruh – nicht empfohlen, aber tolerabel. Andere weisen darauf hin, dass der Verzehr von »Sandeidechsen« unbedenklich sei; jedenfalls habe der Prophet seine Gefährten niemals daran gehindert. Von islamischer Seite spricht also nichts gegen Gerichte wie einen Varanus Yemenensis in Dattelsauce, Stenodactylus Arabicus an Pfefferschoten oder ein deftiges Scincus-Scincus-Sandwich. Radikale Salafisten werden bei derlei Köstlichkeiten allerdings Zurückhaltung üben: Laut einer Überlieferung, die unter den Anhängern dieser besonders strenggläubigen Strömung große Popularität genießt, soll Allah die Feinde des Islams einst in Schweine, Affen und Eidechsen verwandelt haben. Selbst in der saudischen Wüste, im Ramadan bei über 50 Grad, ist man aldge so nicht davor gefeit, auf einen Ungläubigen zu beißen. zenith 3/2010 81 Foto: Marcel Mettelsiefen AUSBLICK IM NÄCHSTEN HEFT 4/2010 Sommerweiden Wie werden Frauen in Tadschikistan ihre Männer los? Blutbilder Ein zenith-Schwerpunkt: Wie gesund ist der Orient? Drogenhändler Hat Pakistan nicht schon genug Probleme? DER ZENITH-KALENDER Wie grün ist der Islam? Praktisches Umwelthandeln in muslimischen Einrichtungen Hamideh Mohagheghi, Uta Rasche (FAZ), Ayman Mazyek u.a. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart www.akademie-rs.de Loccum, 05.-07.11.2010 Das Bewusstsein für die Umwelt und für konsequentes ökologisches Handeln entwickelt sich in europäischen muslimischen Verbänden und Organisationen erst langsam. Wie ist der Umweltgedanke islamisch begründet? Welche praktischen Umsetzungsmöglichkeiten gibt es in muslimischen Organisationen und Gemeinden? Wie können zivilgesellschaftliche Initiativen und Organisationen in dieser Frage zusammenarbeiten? Ev. Akademie Loccum www.loccum.de Eine neue Rolle Afrikas in der Welt? Kochel am See, 29.11.-03.12.2010 Afrika ist unser Nachbarkontinent, aber wir wissen wenig über ihn. Der Kontinent verändert sich rapide, internationale Akteure entdecken das wirtschaftliche Potenzial Afrikas. Wie können die Afrikaner selbst den ungeheuren Herausforderungen wie Klimawandel, Ernährungskrise und AIDS begegnen? Wie können wir in Europa sinnvolle internationale Politik gegenüber Afrika gestalten? Georg-von-Vollmar-Akademie e.V. www.vollmar-akademie.de Sahure Tod und Leben eines großen Pharaos Frankfurt, bis 28.11.2010 Sahure regierte von ca. 2428 bis 2416 v. Chr. als König des Alten Reichs, der so genannten Pyramidenzeit. Unter allen bekannten Pyramidenkomplexen kommt der etliche Superlative vereinenden Anlage Sahures in Abusir nahe Kairo eine Sonderstellung zu. Es werden hochkarätige Originale – Reliefs, Architekturelementen, Skulpturen, Vasen und wertvollen Papyri – aus internationalen Museen gezeigt. Ein eigenes Kapitel widmet die Ausstellung Ludwig Borchardt, dem Entdecker der Nofretete und von Sahures Pyramidenkomplex. Liebieghaus Skulpturensammlung www.liebieghaus.de Ein neuer Libanon? Zur neuen Rolle der Religion in einem zerrissenen Land Hofgeismar, 12.-14.11.2010 Im Libanon werden seit einigen Jahren neue Entwicklungen sichtbar, die sich auch auf die gesamte Region auswirken. Dabei geht es vor allem um ein neues religiöses und kulturelles Selbstbewusstsein der schiitisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Ein Teil davon ist in der Hizbullah-Bewegung unter den politischen und militärischen Einfluss des Iran geraten. Authentische Berichte aus dem Libanon sollen ins Gespräch mit Experten-Analysen aus dem Libanon und aus Deutschland gebracht werden. Ev. Akademie Hofgeismar ekkw.de/akademie.hofgeismar Kurdische Kinder und Jugendliche KONZERTE Identitätskrisen, Kulturbrüche und Perspektiven in Kurdistan und Deutschland Ruhrtriennale in Bochum Bad Boll, 10.-12.12.2010 Untersucht wird die Bildungs- und Integrationssituation kurdischer Kinder und Jugendlicher im türkischen und nordirakischen Teil Kurdistans sowie in Deutschland. Welche Folgen haben Identitätskrisen und Kulturbrüche und wie können diese bearbeitet werden? Ev. Akademie Bad Boll www.ev-akademie-boll.de Stuttgart-Hohenheim, 19.-21.11.2010 Die enge Verknüpfung mit der Integrationsdebatte beschert dem christlich-islamischen Dialog zwar große gesellschaftliche Relevanz, bringt aber auch die Gefahr von Instrumentalisierungen mit sich. In einer kritischen Selbstvergewisserung unter Dialogakteuren geht es darum, inwiefern der christlich-islamische Dialog aktuell neu justiert werden muss. Mit Heiner Bielefeldt, Jamal Malik, Josef Freise, 82 zenith 3/2010 Mit dem Yakaza Ensemble, Fairuz Derinbulut, Aynur Do¤an, Burhan Öçal und Istanbul Oriental Ensemble 03.10.2010 Love’s Deep Ocean AUSSTELLUNGEN Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute Christlich-islamischer Dialog auf dem Prüfstand 02.10.2010 Aflk fiarkilari – Liebeslieder Alim & Ferghana Qasimov www.ruhrtriennale.de Das fremde Abendland? Zwischen politischen Erwartungen und theologischem Anspruch Auf der diesjährigen Ruhrtriennale sind weltberühmte Musiker und Sänger aus der Türkei und Aserbaidschan zu Gast. Karlsruhe, bis 07.11.2010 Die Sonderausstellung beschäftigt sich mit der wenig bekannten Rezeption der westlichen Kultur im Osten. Jenseits gängiger kulturwissenschaftlicher Theorien um den »Okzidentalismus« und aller stereotypen Einteilungen möchte die Ausstellung anhand ausgewählter Themen und Exponate die besondere historische Konstellation darstellen, in der die Neugier des Orients am Westen im Verlauf der vergangenen 200 Jahre eine neue Dimension erreicht hat. Badisches Landesmuseum Karlsruhe www.landesmuseum.de 6. Oriental & Flamenco Gypsy Festival 30 Künstler aus sieben Nationen bieten einzigartige Fusionen zwischen Abendland und Orient. U.a. mit »Dhoad« aus Rajasthan, der Ssassa-Formation »El Hiyam« mit dem syrischen Violonisten und Sänger Zaher Assaf und den Tänzerinnen Assale Ibrahim, Leonor Moro und Ratna. 12.10.2010 13. und 14.10.2010 15.10.2010 16.10.2010 17.10.2010 www.gypsyfestival.ch Dreieich Neuchatel Morges Zürich Luzern Foto: Levent Canseven VORTRÄGE/KONGRESSE/SEMINARE Redaktion: Bettina David Kurdistans Liedermacherin: Gülistan Perwer. Gülistan Perwer Quartett (Kurdistan) Gülistan Perwer gilt als Nachfolgerin der legendären kurdischen Sängerin Eyse San. Erstmalig präsentiert sie nun mit drei jungen kurdischen Musikerinnen eigene Lieder ihres ausdrücklich femininen Repertoires. 01.11.2010 03.11.2010 04.11.2010 05.11.2010 07.11.2010 08.11.2010 09.11.2010 11.11.2010 14.11.2010 15.11.2010 16.11.2010 17.11.2010 18.11.2010 19.11.2010 20.11.2010 21.11.2010 23.11.2010 25.11.2010 26.11.2010 Bonn Düsseldorf Wuppertal Essen St. Augustin Münster Siegen Gütersloh Paderborn Aachen Hagen Köln Gronau Detmold Ahlen Brilon Hamm Remscheid Gelsenkirchen www.klangkosmos-nrw.de MEHR WISSEN GLAUBEN. ÜBER DEN Jetzt im Handel. Im Abo günstiger: spiegel-geschichte.de/abo oder 0180 2 775566* Geschichten hinter der Geschichte: Mit großer Wucht betrat der Islam vor 1400 Jahren die Bühne der Weltgeschichte, verkündet von einem Mann, der sich als „Siegel der Propheten“ verstand, verbreitet von Gläubigen, die rasch ein riesiges Reich eroberten. Aber was wissen wir eigentlich über diese Religion, die während ihres „Goldenen Zeitalters“ die christliche Welt weit in den Schatten stellte? Der genaue Blick auf Quellen und Geschichte des Islam zeigt vor allem eins: So reichhaltig wie die Überlieferung ist, so vielfältig sind auch die inneren Widersprüche. Jetzt in SPIEGEL GESCHICHTE. Für 7,50 Euro im Handel. *6 Ct./Anruf aus dem deutschen Festnetz; Mobilfunk max. 0,42 Euro/Min. Sonderteil: Islam-Wissen von A bis Z. TANGENTE NORMA Uhren mit der „Tendenz zum Nichts“ (Jean-Paul Sartre): Jetzt gibt es NOMOS-Modelle auch in Schwarz. Ihr Vorbild sind jene reduzierten Instrumente im Keller, die Gas und Wasser zählen. Wie sie verkörpern auch die Glashütter Uhren mit gehärteten schwarzen Gehäusen das unbestechlich Genaue – drum Norma, was wie NOMOS Gesetz und Ordnung heißt. 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