Der Islam ist

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Der Islam ist
SAUDI-ARABIEN
Glasnost im Königreich
ISRAEL
Zehn Jahre Camp David II
PAKISTAN
3/2010
Das arrangierte Eheglück
12. JAHRGANG
ISSN 1439 9660
Deutschland Euro 6,80
I Österreich Euro 7,80 I BeNeLux Euro 7,90 I Schweiz sfr. 13,50
www.zenithonline.de
Kampf um
den Islam
Wer bestimmt, was
Muslime glauben
ENDLICH M
LEXIKON
ITREDEN:
FÜR D
ISLAMDEBIE
ATTE
Ab Seite 62
MIT DVD
Die Dokumentation
» Der Islam im
Sultanat Oman«
(Werbebeilage)
Der Film
Über Toleranz kann man reden, nachdenken und theoretisieren so viel man will, erleben kann
man sie nur in der eigenen Person. Dieses Erleben machte der Dokumentarfilmer und Grimme-Preisträger Wolfgang Ettlich zur Methode der filmischen Annäherung an die islamische
Der gelebte Islam in einer modernen
arabischen Gesellschaft
Kultur Omans. Der Zuschauer begleitet das Film-Team bei einer Reise durch das alltägliche
Leben im modernen Oman und gewinnt so Einblick in viele Aspekte der Gesellschaft, die dem
westlichen Besucher sonst verborgen bleiben.
Die Ausstellung
Film und Ausstellung sind zu sehen
informiert über den gelebten Islam in einer modernen arabischen Gesellschaft. Auf
vom 24. September bis 12. Oktober 2010 im Gasteig, München
20 Informationstafeln werden Themen angesprochen, die auch uns christlich geprägte Europäer berühren: Das Nebeneinander-Bestehen verschiedener Religionsgemeinschaften, der gelebte Islam im Alltag sowie die Rolle der Frau.
Weitere Termine und Informationen über die Wanderausstellung
"Religiöse Toleranz - der Islam im Sultanat Oman" unter:
www.religioese-toleranz.de
Der Film RELIGIÖSE TOLERANZ IN OMAN ist gegen eine Schutzgebühr
erhältlich unter www.oman-shop.com
Eine Initiative des Ministeriums für religiöse Stiftungen und Religionsangelegenheiten des Sultanats Oman.
Projektleitung: Mohammed Said Al-Mamari
Organisation, Konzeption und Realisation:
Georg Popp, ARABIA FELIX Synform GmbH, München - www.oman.de
Alex Moll, Ausstellungen und Medien, Solingen
Wolfgang Ettlich, MGS Filmproduktion, München
Gestaltung und graphische Umsetzung: Kegiseo GbR, Augsburg - www.kegiseo.com
Foto: Ziyah Gafić
zenith gratuliert.
Yousef ist ein Siegertyp. Bei Fußballturnieren räumt er Pokale
und Medaillen ab. Und auch den Ruf zum gemeinschaftlichen
Gebet übernimmt der 25-jährige Saudi gern.
Dass Yousef zuvor mehr als drei Jahre als Terrorist im
Gefängnis saß – sieht man es ihm an? Die saudische Regierung jedenfalls fand, dass er nur verwirrt sei, und schickte ihn
in ein Rehabilitationslager für militante Islamisten. Dort spielt
er tagein, tagaus Fußball und Tischtennis und lässt ideologische Umschulungen über sich ergehen. Dass er und andere
Ex-Terroristen zurück zur »wahren Religion« finden, lässt
Saudi-Arabien sich jedes Jahr viele Millionen kosten.
Den wahren Islam zu kennen, nehmen auch andere für sich
in Anspruch – ziemlich viele, genau genommen. Denn das
Glaubensbekenntnis klingt zwar eindeutig: »Es gibt keinen Gott
außer Gott, und Muhammad ist sein Prophet«. Alles weitere,
so müsste man jedoch hinzufügen, ist Auslegungssache.
Die umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, ist gespalten.
Nie zuvor war so umstritten, woran sich die knapp eineinhalb Milliarden Muslime auf der Welt orientieren sollen.
Sie befinden sich mitten in einem Kampf um die Deutungshoheit über ihre Religion. Ein Kampf, der im Herzen der
islamischen Welt ausgetragen wird, an ihren Rändern und
sogar im Westen. zenith widmet sich in dieser Ausgabe dem
»Kampf um den Islam« – und kehrt die übliche Sichtweise
um: Anstatt zu untersuchen, wie Islam und Islamismus die
Welt verändern, fragen wir: Wie verändert die Welt den Islam? Unsere Autoren gingen dieser Frage nach, von der Frühzeit des Islams zur Gegenwart, von Südostasien bis in den
Maghreb und sogar bis in die deutschen Zeitungsfeuilletons.
(Seiten 34–63)
Das Thema Religion beschäftigt uns auch in anderen Texten
dieses Hefts: Der irakische Autor Najem Wali hat das streng
religiöse Saudi-Arabien besucht. Was er dort vorfand, lässt ihn
von einem »Wandel fantastischen Ausmaßes« sprechen.
Walis Reisebericht »Glasnost im Königreich«: ab Seite 26.
Der Reiseschriftsteller Andreas Altmann lebte lange Zeit
in einem buddhistischen Zen-Kloster und in einem Aschram.
Dennoch ist seine Sicht auf Religionen pessimistisch.
Für zenith verfasste er eine Polemik über »prophetisches
Geraune und inbrünstigen Glaubensschmalz«: auf Seite 74.
Abonnenten von zenith erhalten mit dieser Ausgabe
erstmals eine neue Publikation: den zenith-BusinessReport.
Das Magazin befasst sich mit Wirtschaftsthemen in Afrika,
Nahost, Zentral- und Vorderasien und nimmt dabei auch
innovative Lösungen made in Germany in den Blick.
Schwerpunkt der Erstausgabe: Technologien, die den Orient
verändern. Der zenith-BusinessReport liegt der Auflage
für Abonnenten bei und kann auf Anfrage über
www.zenithonline.de bezogen werden.
zenith 3/2010
03
10
Aufbruch
Momina Durrani war 18, als sie ihre Heimat verließ, um in Pakistan
den Mann zu heiraten, den ihre Familie für sie ausgesucht hatte.
INHALT 3/2010
Titel: Ziyah Gafić
Foto links: Andrea Gjestvang
Foto Mitte links: Ahmed Hayman
Foto Mitte rechts: VII Network/Ziyah Gafić
Foto rechts: Lindsay L. Sayres/US Marine Corps
30
Abbruch
In Gaza gilt auch nach der Lockerung der israelischen Blockade das
Selbstversorger-Prinzip: Der zerbombte Flughafen dient als Baugrube.
Pakistan
10 Das arrangierte Glück
Traditionelle Eheschließungen spielen für viele Pakistaner
bis heute eine große Rolle, selbst in der europäischen Diaspora.
Die Geschichte einer jungen Frau zwischen Abschied und
Neubeginn – eine Bildreportage
23 Erst die Hochzeit, dann die Liebe
Im Westen sind arrangierte Ehen verpönt. Zu Unrecht?
Rubriken
03 Auftakt
06 Impressum
06 Unser Bild vom Orient
08 Profile
70 Orientalisches Netzgeflüster
76 Neue Bücher
80 Neue Musik
81 Der kleine Arabist
81 Diwan
82 Veranstaltungskalender
82 Ausblick
04
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Politik
26 Glasnost im Königreich
Im fundamentalistischen Saudi-Arabien macht sich langsam,
aber sicher Wandel bemerkbar. Ein Reisebericht des Schriftstellers
Najem Wali
30 Falsche Freiheit
Die Blockade des Gaza-Streifens durch Israel wurde gelockert.
Normalisiert hat sich das Leben für die Menschen dadurch nicht
32 Keine Partner für den Frieden
Vor zehn Jahren zerschlugen sich in Camp David die Hoffnungen
auf ein Ende des Nahostkonflikts. Das Scheitern Ehud Baraks wies
zwei populistischen Politikern den Weg zur Macht
34
Glaubenskrieger
Zwischen Macht und Moral – wer besitzt das Meinungsmonopol
über die Weltreligion
Weltreligion Islam? 30 Seiten zenith
zenith-Schwerpunkt.
-Schwerpunkt.
Schwerpunkt: Kampf um den Islam
36 Tee mit Terroristen
Mit sanften Mitteln versucht Saudi-Arabien ehemalige
Al-Qaida-Kämpfer zurück auf den rechten Pfad zu führen
40 Eine Religion im Belagerungszustand
Nie war die Deutungshoheit um die Weltreligion Islam so
umstritten wie heute. Daran hat auch der Westen Anteil
45 Was ist der Islam?
18 Antworten
46 »Der Koran ist eine reformatorische Schrift«
Wie der Islam zum Islam wurde – ein Gespräch mit dem
Orientalisten Josef van Ess
48 Yussufs Welt
Auf seine Worte hören Millionen Muslime: Yussuf al-Qaradawi.
Woher rührt der Erfolg des Fernseh-Scheichs?
51 Neue Mullahs braucht das Land
Die Schiiten suchen nach neuen Leitfiguren
52 Schariarote Lollipop-Welt mit Schattenseiten
Indonesien gilt als Land des liberalen Islams. Doch mittlerweile
geben fundamentalistische Gruppen den Ton an
54 Von wegen Einheit!
Warum Khomeinis Idee des Revolutionsexports scheiterte
55 Mit teuflischen Zungen
Im 9. Jahrhundert war Bagdad Zentrum der Weltgeschichte –
und Schauplatz der Inquisition des Kalifen
64
Wasserkämpfer
Ein US-Marine entdeckte in Afghanistan einen leeren Swimmingpool – und begann von Olympia zu träumen.
Schwerpunkt: Kampf um den Islam
56 Frontverläufe
Staat und Religion in der islamischen Welt – vier Beispiele
60 Invasion der Prediger
Ägypten erlebt einen Wettstreit religiöser Meinungsmacher,
der vor allem im Fernsehen ausgetragen wird
62 Lexikon der Islam-Klischees
Von Aufklärung bis Zwangsehe – eine kleine Übersetzungshilfe
für Islam-Freunde und Islam-Feinde
Sport
64 Sieben Freunde müsst ihr sein
Wie Afghanistan zu einer Wasserball-Mannschaft kam
Gesellschaft
66 Gefangen im Haus der Freiheit
Junge Flüchtlinge aus Afghanistan suchen eine bessere Zukunft
in Europa. Viele von ihnen stranden auf der Ferieninsel Lesbos
Kultur
72 »Das wahre Opfer ist bei uns immer der Israeli«
Der israelische Filmemacher Eyal Sivan im Interview über
Kulturpolitik in Israel und die Symbolik der Orange
74 Tun, helfen, Mund halten
Eine antireligiöse Polemik von Andreas Altmann
3/2010
05
IMPRESSUM
UNSER BILD VOM ORIENT
zenith
DIE ZAHL
Zeitschrift für den Orient
Deutscher Levante Verlag GmbH
Linienstraße 106, 10115 Berlin
Telefon (030) 398 35 188 - 0
Fax (030) 398 35 188 - 5
[email protected]
HERAUSGEBER
Moritz Behrendt, Yasemin Ergin, Daniel Gerlach, Christian
Meier, Veit Raßhofer, Jörg Schäffer, Reiner Sprenger
VERANTWORTLICH FÜR DIESES HEFT
Christian Meier (V.i.S.d.P.)
651
Milliarden US-Dollar
Auf diese Summe wird der Umsatz des globalen Marktes für
»Halal-Food«, also islamkonforme Lebensmittel, im Jahr 2010
geschätzt. Dies entspricht 16 Prozent des weltweiten Handels
mit Nahrungsmitteln – Tendenz steigend.
CHEF VOM DIENST
Marcus Mohr
01
REDAKTION HAMBURG
Postfach 13 03 86, 20103 Hamburg
E-Mail: [email protected]
ISRAEL
Endloser
Sommer
Leitung: Hannes Alpen, Yasemin Ergin
Hamida Behr, Bettina David, Wiebke Eden-Fleig, Nadim
Gleitsmann, Sven Hirschler, Kamila Klepacki, Elisabeth
Knoblauch, Matthias Naue, Veit Raßhofer, Miriam
Shabafrouz, Özgür Uludag, Schafiqa Zakarwal
Seit Jahren streiten Israelis über Beginn
und Ende der Sommerzeit. Dieses Jahr
wurde die Uhren-Umstellung von besondes lauten Protesten begleitet. Viele Israelis wünschen sich eine längere Sommerzeit, auf Druck orthodoxer Juden endet
sie jedoch schon vor dem hochheiligen
Fastentag Yom-Kippur.
BERLIN Lisa Akbary, Moritz Behrendt, Silke Brandt,
Robert Chatterjee, Christoph Dinkelaker, Daniel Gerlach,
Nils Metzger, Helen Staude, Christoph Sydow
OXFORD Dörthe Engelcke BASEL Sara Winter
KANDAHAR Felix Kühn
AUTOREN
Judith Althaus, Andreas Altmann, Florian Bigge,
Prof. Dr. Henner Fürtig, Henrik Meyer, Dominik Peters,
Carola Richter, Najem Wali, Kerstin Zilm
FOTOGRAFEN
01
Ziyah Gafic, Andrea Gjestvang, Ahmed Hayman,
Marcel Mettelsiefen, Megan E. Sindelar
03
ILLUSTRATOREN
Lesprenger, Veit Raßhofer
02
BILDREDAKTION
Marcel Mettelsiefen
GRAFIK
Helen Staude, Artdirektor: Lesprenger
DRUCK
GCC GmbH & Co. KG, Calbe
FACHBERATUNG
Belabbes Benkredda (Golfstaaten),Dulger(Außenwirt
Julius Velan (Immobilienwirtschaft)
DANKESCHÖN
Hanna, Anja, Astrid Thews, Christian Unger,
Julia Jaki, Sidonie Fernau, Christoph Ehrhardt,
Prof.Dr. Klaus Kreiser, Stefanie Herrmann
KONTAKT FÜR ANZEIGEN UND VERTRIEB
[email protected]
zenith ist IVW-geprüft,
gedruckte Auflage: 10 000 Exemplare;
zenith ist Bordmagazin bei Safi Airways
03
ALGERIEN
Ausgezeichnete
Literatur
04
Der algerische Verlag Barzakh erhält den
niederländischen Prinz-Claus-Preis 2010.
Der mit 100000 Euro dotierte Preis wird
für Verdienste in Kultur und gesellschaftlicher Entwicklung vergeben. Editions Barzakh wurde 2000 gegründet und will junge
algerische Literatur und die Werke namhafter Exil-Autoren zusammenführen.
GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE
Nr. 1 vom 1. Januar 2010
PERIODIZITÄT
Quartal
COPYRIGHT
by zenith – Zeitschrift für den Orient
Zitate nur mit Quellenangabe. Nachdruck nur
mit Genehmigung der Redaktion. Namentlich
gekennzeichnete Artikel geben die Meinung der Autoren
wieder, nicht aber unbedingt die der Redaktion.
Gegründet 1999/ISSN 1439 9660
Erhältlich unter www.zenithonline.de
und im Zeitschriftenhandel.
06
zenith 3/2010
DER SATZ
»Es wird Zeit, dass wir in Pakistan eine neue
politische Kultur einführen, die das Land auf
einen demokratischen Weg bringen kann.«
Pakistans ehemaliger Militärdiktator Pervez Musharraf (67), der angekündigt hat,
aus England zurückzukehren und eine neue Partei zu gründen.
DAS BILD
Schaufensterpuppe?
Verkaufte Braut?
Überraschungsgast?
02
SAUDI-ARABIEN
König gegen
Klerus
Saudi-Arabien versucht Islamgelehrten
den Mund zu verbieten. Im August hatte
König Abdullah das Recht, öffentlich Fatwas zu erteilen, auf wenige Kleriker beschränkt. Seither wurden mehrere FatwaDienste geschlossen. Ultrakonservative
Gelehrte torpedieren immer wieder Abdullahs Reformen.
04
JEMEN
Unruhen
halten an
Bewaffnete Auseinandersetzungen im
Jemen fordern immer wieder Todesopfer.
Während die Regierung mit den
Houthi-Rebellen im Norden seit einigen
Wochen über eine Waffenruhe verhandelt, kommt es im Süden des Landes
wieder vermehrt zu Anschlägen durch
Al-Qaida-Kämpfer.
Die junge pakistanischstämmige Norwegerin Momina Durrani
zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante. Lesen Sie ihre Geschichte ab Seite 10.
MITLEID FÜR ...
GAMAL MUBARAK
Der 47-Jährige entwickelt sich zum Prinz
Charles der ägyptischen Politik. Seit gut
zehn Jahren kursieren Gerüchte, Gamal
könne seinen greisen Vater Hosni als
Präsident beerben. Besser geworden sind
seine Chancen seitdem nicht gerade.
Sahen ihn Bürgerrechtler anfangs als
personifizierte Gefahr, Ägypten könne
sich in eine Erb-Demokratur verwandeln,
sagt heute sogar der Dissident Saad Eddin
Ibrahim, Gamal solle nächstes Jahr ruhig
kandidieren. Schließlich müsse dieses
Recht jedem Ägypter zugestanden werden.
Das ist beinahe liebevolles Mitleid für
den bislang verhinderten Thronfolger.
PROFILE
Die Geschichtsverliebte
Die ägyptische Bloggerin Zeinobia erinnert an den Glanz
der Vergangenheit – und kämpft für eine bessere Zukunft
>> Als die Herrscherin Zenobia im Jahr 274 Kaiser Aurelians Triumphzug durch Rom als Kriegsgefangene erdulden musste, lagen große Taten hinter ihr. Sie war es gewesen, die die große Krise des
Römischen Imperiums geschickt ausgenutzt hatte, um das im heutigen Syrien gelegene Palmyra
zu einer Großmacht zu formen. Erst durch militärische Intervention wurde sie bezwungen. Für
Wie im Agentenroman
dern des Getöteten aufrüttelten. »Gott sei Dank
ist mir noch nichts passiert – obwohl es das jederzeit könnte«, sagt Zeinobia, die aus Vorsicht
kein Bild von sich veröffentlicht.
Ihre Motivation, dennoch über Bürgerrechte
und Diskriminierung zu schreiben, bezieht sie
aus alten Fernsehserien und von Sängerinnen wie
Umm Kulthoum. In der jüngeren Generation sei
eine große Faszination für die Kultur der vergangenen Jahrzehnte entstanden: »Die Wiederentdeckung der Geschichte hilft Jugendlichen,
sich wieder zugehörig zu fühlen.« Nun will die
ägyptische Blogger-Bewegung eine politische Alternative zur Regierungspartei schaffen und den
Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei
zum Präsidentschaftskandidaten aufbauen. Kein
Wunschtraum, glaubt die Ägypterin: »Während
unser Einfluss lange Zeit überbewertet wurde,
fangen wir nun an, etwas zu erreichen. metz
Illustration: Lesprengr
»Zeinobia« verbirgt ihr Antlitz hinter einem
historischen Portrait – aus Angst vor Repressalien.
Zeinab Mohamed war es deshalb »eine Mischung
aus arabischem Nationalismus, Liebe zur Geschichte und Feminismus«, die sie dazu veranlasste, das Pseudonym »Zeinobia« zu wählen.
Aufgewachsen in der ägyptischen Mittelschicht, stellten politische Diskussionen beim
Abendessen nichts Ungewöhnliches für sie dar.
Waren Vater und Großvater noch in der Medienbranche beschäftigt, musste die Bürgerstochter ins Internet auswandern, um frei schreiben zu können. »Nicht viele meiner Freunde
wissen, dass ich blogge«, gesteht sie ein, »es ist
ein Segen und ein Fluch gleichermaßen.« Zu oft
werden kritische Journalisten und Internet-Aktivisten bedroht und verprügelt. Erst im Juni
starb der 28-jährige Khaled Said, Betreiber eines Internetcafés, im Polizeigewahrsam. Zeinobias Blog Egyptian Chronicles gehörte zu den
ersten Medien, die die Öffentlichkeit mit Bil-
Der neue Leiter des türkischen Geheimdienstes,
Hakan Fidan, sorgt für Beunruhigung beim strategischen
Partner Israel
>>Über zu wenig Arbeit kann sich Hakan
Fidan nicht beklagen. Gleich in seinen ersten
Tagen im Amt hatte der neue Chef des türkischen Geheimdienstes MIT mit außenpolitischen Verstimmungen und persönlichen Angriffen zu tun. Am 27. Mai trat Fidan seinen
neuen Posten an, vier Tage später stürmten israelische Soldaten das auf Gaza zusteuernde
Schiff »Mavi Marmara« der islamistischen türkischen Hilfsorganisation IHH. Manche sahen
hier einen Zusammenhang: So vermutete der
israelisch-amerikanische Spionagethriller-Autor Haggai Carmon, Fidan sei ein radikaler Islamist und seine Nominierung ein weiteres Zeichen für die israelfeindliche Politik von Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Weniger
verschwörungstheoretisch formulierte es die
seriöse israelische Zeitung Ha’aretz: Zwar gebe es keine Belege dafür, dass Fidan enge Kontakte zur IHH pflege, doch werde seine Person
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in Jerusalem mit Sorge gesehen. Und Verteidigungsminister Ehud Barak äußerte, Fidan sei
ein »Unterstützer des Iran« – vor einem Jahr
hatte sich der Türke vehement für das Recht der
Iraner auf zivile Nutzung der Kernkraft ausgesprochen.
Der Austausch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse werde nun eingeschränkt, berichten israelische Quellen. Traditionell arbeiten
MIT und Mossad eng zusammen. Ein Grund
dafür ist, dass der MIT meist von kemalistisch
gesinnten Militärs geführt wurde. Hakan Fidan dagegen hat nach 15 Jahren in der Armee
eine zivile Laufbahn eingeschlagen. Der 42jährige Akademiker gilt als enger Vertrauter
von Premier Erdogan und Außenminister Ahmet Davutoglu. Vor seinem jetzigen Posten leitete er die türkische Entwicklungshilfeagentur
TIKA und sondierte als Unterstaatsekretär für
Erdogan das außenpolitische Terrain.
Iran-Unterstützer oder Frauenförderer? Hakan
Fidan, neuer türkischer Geheimdienstchef.
In seinen öffentlichen Äußerungen wandte sich
der neue MIT-Chef bislang weniger außenpolitischen Minenfeldern zu als vielmehr der
Struktur seiner Behörde: Er wolle sich für eine professionellere Ausbildung der türkischen
Spione einsetzen, und er plane den Anteil der
Frauen in der Behörde zu erhöhen. Bislang ist
nur jeder fünfte Geheimdienstler in der TürMB
kei weiblich.
PROFILE
Foto: Botschaft des Sultanats Oman
Warten
auf den
letzten
Coup
Sultan Qabus führt den
Oman als Alleinherrscher.
Nun feiert er seinen 70.
Geburtstag. Wer von den
Gästen sein Nachfolger
wird, ist noch ein Staatsgeheimnis
Von Sven Hirschler
>> Die Vorbereitungen für das große Fest laufen auf Hochtouren. Am 18. November 2010
feiert seine Majestät Sultan Qabus Bin Said seinen 70. Geburtstag. Es gibt keinen unter den
knapp drei Millionen Omanis, so scheint es, der
dem Herrscher nicht wohlwollend gratulieren
würde. Die Untertanen sind zufrieden: Qabus
hat das Land geeint und dessen Reichtum an Öl
und Gas in Wohlstand verwandelt. Niemand
stellt daher gerne die Frage nach seiner Nachfolge. Eigentlich soll alles so weitergehen, seit
Qabus Sultan ist, wurde es ja stetig besser. Dabei hat alles mit einem Umsturz begonnen.
Als Qabus seinen Vater am 23. Juli 1970 vom
Thron ins Exil jagt, herrscht in dem Land am östlichen Ende der Arabischen Halbinsel ein loser,
mittelalterlicher Stammesverband unter britischer Aufsicht. Blutige Machtkämpfe bestimmen den Alltag der nomadischen Bergvölker
und der Fischer an der Küste. Die staatliche Fürsorge besteht aus drei Knabenschulen und einem
Krankenhaus – in einem Land, das fast so groß
ist wie Deutschland. Auslandsreisen sind Omanis ebenso verboten wie das Hören von Musik
oder das Tragen von Sonnenbrillen.
Der in England ausgebildete Qabus tritt mit
der Vision an, das Land zu modernisieren, ohne traditionelle Werte zu vernachlässigen. Den
Reichtum aus der Ölförderung nutzt er, um im
ganzen Land Stromkabel verlegen zu lassen. Er
führt eine kostenlose medizinische Grundversorgung ein und schafft ein flächendeckendes
Schulsystem. Es entsteht ein traditionelles islamisches Herrschaftssystem mit einer modernen
Verwaltung. Auch wenn der Sultan zugleich als
Ministerpräsident, Außen-, Finanz- und Verteidigungsminister fungiert, bezeichnen die Vereinten Nationen den Oman als »Musterstaat in
der arabischen Welt«.
Während die Hauptstraßen von Maskat für
den Parademarsch vorbereitet werden, schlagen
Analysten jedoch Alarm. »In weniger als einer
Generation muss die Volkswirtschaft neu aufgestellt werden«, urteilt der Wirtschaftsdienst
Germany Trade & Invest. Zu groß sei die Abhängigkeit vom Öl, das noch 60 Prozent der Ex-
porteinnahmen ausmacht. Selbst nach positiven
Schätzungen werden die Ölquellen in spätestens
20 Jahren versiegen. Um so wichtiger ist die Frage der Nachfolge des Monarchen: Bislang hat
Qabus – geschieden und kinderlos – niemanden
zum Thronerben aufgebaut. Möglich, dass er zögert, um Streitigkeiten innerhalb der Herrscherfamilie zu vermeiden. Formal ist alles eindeutig
geregelt: In dem 1996 erlassenen Grundgesetz
hat Qabus die Nachfolge auf den engeren männlichen Familienkreis begrenzt. Wenn der Sultan
stirbt, hat der Familienrat drei Tage Zeit, einen
Nachfolger zu bestimmen. Für den Fall, dass es
zu keiner Einigung kommt, hat Qabus vorgesorgt: Er hat bereits einen Brief hinterlegt, in
dem der Name seines Wunschkandidaten steht.
<<
Es wäre sein letzter großer Coup.
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P A K I S TA N
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Das arrangierte
Glück
Eine Bildre por tage von Andrea Gjestvang
MOMINA DURRANI WAR 18, ALS SICH IHR LEBEN SCHLAGARTIG
ÄNDERTE. DIE GEBÜRTIGE NORWEGERIN REISTE VON OSLO NACH
KARATSCHI, UM DEN MANN ZU HEIRATEN, DEN IHRE
FAMILIE FÜR SIE AUSGESUCHT HATTE – UND FORTAN MIT IHM
IN PAKISTAN ZU LEBEN. DIE BILDER IHRER HOCHZEIT MARKIEREN
DEN ABSCHIED VON IHREM ALTEN LEBEN
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Kennenlernen bei der Hochzeit
EINE TRADITIONELLE HOCHZEIT IN KARATSCHI DAUERT MEHRERE TAGE LANG. IN DIESER ZEIT FINDET DAS OFFIZIELLE KENNENLERNEN ZWISCHEN DER BRAUT UND IHRER ZUKÜNFTIGEN FAMILIE STATT. GANZ FREMD WAR MOMINA
DURRANI DIE FAMILIE IHRES MANNES JEDOCH NICHT: SIE HEIRATETE IHREN COUSIN MUHAMMAD FAIZ, DEN SIE SCHON
SEIT IHRER KINDHEIT KANNTE UND DEM SIE KURZ NACH IHREM 18. GEBURTSTAG VERSPROCHEN WURDE. DIE EHE
TATSÄCHLICH EINZUGEHEN, WAR MOMINAS FREIE ENTSCHEIDUNG, BETONT SIE HEUTE: »MEIN VATER WAR EIN PAAR
JAHRE ZUVOR GESTORBEN, ICH HATTE DAS GEFÜHL, SCHNELL ERWACHSEN WERDEN ZU MÜSSEN. MEIN LEBEN ALS
ERWACHSENE FRAU WOLLTE ICH MIT EINEM TRADITIONELLEN AKT BEGINNEN, MIT DER HEIRAT DES MANNES, DEN
MEINE FAMILIE FÜR MICH AUSGESUCHT HATTE.«
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P A K I S TA N
DIE FAMILIE IHRES EHEMANNES LEBT IN EINER GESCHLOSSENEN WOHNANLAGE, IN EINER WOHLHABENDEN GEGEND
KARATSCHIS. IN OSLO WUCHS MOMINA BEHÜTET AUF, VERREISTE NIE OHNE IHRE ELTERN UND GING NICHT AUS.
»ALS VERHEIRATETE FRAU HABE ICH MEHR FREIHEITEN, ALS ICH ES ALS JUNGES MÄDCHEN HATTE«, SAGT SIE HEUTE.
DOCH DIE POLITISCHE LAGE IN PAKISTAN MACHE IHR ZU SCHAFFEN: »AUSGANGSSPERREN, SELBSTMORDATTENTATE,
ALL DIESE DINGE BEUNRUHIGEN MICH SEHR. ICH FÜHLE MICH UNWOHL DABEI, MEINE KINDER UNTER SOLCHEN
BEDINGUNGEN AUFWACHSEN LASSEN ZU MÜSSEN.«
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Die Braut bestimmt mit
DASS IHRE SCHWIEGERELTERN DIE HOCHZEIT AUSRICHTEN, WAR MOMINAS AUSDRÜCKLICHER WUNSCH. NUR BEI DER
KLEIDERFRAGE WOLLTE SIE MITBESTIMMEN UND BEGLEITETE IHREN VERLOBTEN ZU JEDER ANPROBE. IHREN FREUNDEN
IN OSLO ERZÄHLTE SIE ZUNÄCHST NICHT, DASS SIE SICH MIT IHREM COUSIN VERLOBT HATTE. »VIELE LEUTE HABEN
VORURTEILE, DOCH ICH WOLLTE MICH NICHT VERTEIDIGEN MÜSSEN. ICH BIN ABER NICHT NAIV. SEHT EUCH MEINEN
MANN AN, ER SIEHT SO GUT AUS! WARUM HÄTTE ICH IHN NICHT HEIRATEN SOLLEN?«
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P A K I S TA N
KURZ NACH IHRER ANKUNFT IN PAKISTAN BEGANN FÜR MOMINA EIN STRAFFES SCHÖNHEITSPROGRAMM. MANIKÜRE,
PEDIKÜRE, FRISUREN UND MASSAGEN: DIE JUNGE FRAU MUSSTE EINEN REGELRECHTEN PFLEGEMARATHON ÜBER SICH
ERGEHEN LASSEN, UM AM ENDE EINE PERFEKTE BRAUT ABZUGEBEN. »ICH KONNTE IRGENDWANN NICHT MEHR UND
WOLLTE, DASS ES ENDLICH VORBEI IST. ICH WAR MÜDE UND GEREIZT UND MEINER HAUT HAT DIE GANZE PROZEDUR
AUCH NICHT GUT GETAN«.
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Langwierige Vorbereitungen
IHRE BESTE FREUNDIN AUS OSLO BEGLEITETE MOMINA, UM IHR BEI DER HOCHZEIT UND IM VORFELD ZUR SEITE ZU
STEHEN. TAGELANG HABE STÄNDIG IRGENDJEMAND AN IHR HERUMGEZUPFT, ERINNERT SICH MOMINA HEUTE. DOCH ZU
EINER GELUNGENEN PAKISTANISCHEN HOCHZEIT GEHÖRT NOCH VIEL MEHR ALS NUR EINE SCHÖNE BRAUT: VON DER EINLADUNGSKARTE BIS HIN ZUR AUSWAHL DER MUSIK UND DER HOCHZEITSTORTE MUSS ALLES PERFEKT ABGESTIMMT SEIN.
MOMINA WAR ES RECHT, DASS SIE SICH AUS DEN MEISTEN ENTSCHEIDUNGEN HERAUSHALTEN DURFTE: »ICH WAR FROH,
DASS ICH NUR DAFÜR VERANTWORTLICH WAR, GUT AUSZUSEHEN, UND MEINE SCHWIEGERELTERN SICH UM ALLES ANDERE
GEKÜMMERT HABEN.«
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Erste Fotos im neuen Zuhause
MOMINA UND MUHAMMAD POSIEREN IN IHREM HOCHZEITSGEMACH. DER RAUM BEFINDET SICH IM HAUS VON
MUHAMMADS FAMILIE. NACH DER HEIRAT ZOG MOMINA HIER EIN UND LEBT BIS HEUTE MIT IHREM MANN BEI IHREN
SCHWIEGERELTERN. »SIE HABEN MICH MIT VIEL LIEBE UND RESPEKT AUFGENOMMEN UND BEHANDELN MICH WIE
IHRE EIGENE TOCHTER«, SAGT MOMINA. DASS VIELE MENSCHEN IM WESTEN VORBEHALTE GEGEN DAS VON IHR
GEWÄHLTE LEBENSMODELL HABEN, IST IHR KLAR: »ICH HOFFE, DASS GESCHICHTEN WIE MEINE DABEI HELFEN
KÖNNEN, VORURTEILE ZU BESEITIGEN.«
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zenith 3/2010
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P A K I S TA N
Abschied von der Mutter
MOMINAS MUTTER KEHRTE NACH DER HOCHZEIT ZURÜCK NACH NORWEGEN, IHRE TOCHTER MUSSTE SIE ZURÜCKLASSEN. »DER ABSCHIED VON IHR WAR DAS EINZIG TRAURIGE AN MEINER HOCHZEIT«, SAGT MOMINA. DASS SIE SICH
ZU EINER ARRANGIERTEN EHE MIT IHREM COUSIN ENTSCHLOSS, HATTE AUCH DAMIT ZU TUN, DASS SIE IHRE MUTTER GLÜCKLICH MACHEN WOLLTE: »ICH HÄTTE ES NIEMALS ÜBER MICH GEBRACHT, IHR EINEN MANN ZU PRÄSENTIEREN, DEN ICH MIR SELBST AUSGESUCHT HÄTTE. NIEMALS. MEINE MUTTER IST MIR EXTREM WICHTIG, ICH HÄTTE
NIE IRGENDETWAS GETAN, DAS SIE ODER UNSERE FAMILIENTRADITIONEN HÄTTE VERLETZEN KÖNNEN.«
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zenith 3/2010
VIELE HOCHZEITSGÄSTE SCHENKEN DEM BRAUTPAAR SÜSSES GEBÄCK, EIN TRADITIONELLES MITBRINGSEL BEI PAKISTANISCHEN HOCHZEITEN. DIE KUCHEN SYMBOLISIEREN DIE VIELEN »SÜSSEN MOMENTE«, DIE FREUNDE UND VERWANDTE DEN FRISCHVERMÄHLTEN FÜR DIE ZUKUNFT WÜNSCHEN. »DAS SCHÖNSTE AN DER FEIER WAR, DASS ALLES SO
TRADITIONELL ABLIEF«, SO MOMINA HEUTE: »ES WAR UNVERGESSLICH, DIE SCHÖNSTEN TAGE MEINES LEBENS.« ZU IHRER
HOCHZEITSFEIER KAMEN FAST 600 LEUTE: »DIE MEISTEN KANNTE ICH DAMALS GAR NICHT.«
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P A K I S TA N
MOMINA BEISST IN EINEN HAMBURGER WÄHREND EINER DER VIELEN TERMINE IM SCHÖNHEITSSALON ZWISCHEN DEN
HOCHZEITSTAGEN. WIE OFT SIE SICH UMZIEHEN MUSSTE, WEISS SIE NICHT MEHR. TRADITIONELLE KLEIDER TRÄGT DIE
JUNGE FRAU HEUTE NUR NOCH AN BESONDEREN FESTTAGEN. IHRE VERBINDUNG IN DEN WESTEN HÄLT SIE AUFRECHT.
SO OFT SIE KANN, BESUCHT SIE FAMILE UND FREUNDE IN NORWEGEN. »MEINE FREUNDE WOLLTEN NICHT, DASS
ICH HEIRATE. SIE HABEN SICH SORGEN GEMACHT, ABER MICH TROTZDEM UNTERSTÜTZT. HEUTE SEHEN SIE, WIE
GUT ES MIR GEHT.«
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zenith 3/2010
Foto: Anders Kjelleswvik
ANDREA GJESTVANG
wurde 1981 in Norwegen geboren.
Sie studierte Fotojournalismus in Oslo
und lebt heute in Berlin. Ihre Arbeiten
führen sie rund um die Welt und wurden
mehrfach ausgezeichnet. In diesem Jahr
gewann sie den 1. Preis im norwegischen
»Picture of the Year« Wettbewerb und
wurde für die von World Press Photo
organisierte »Joop Swart Masterclass
2010« ausgewählt. Die Fotos von
Momina Durranis Hochzeit entstanden
2006 im Rahmen eines Auftrags für
die norwegische Zeitung Verdens Gang.
MOMINA DURRANI
UND MUHAMMAD FAIZ
2006 in ihrem Hochzeitsgemach
und heute, vier Jahre später, mit den
Zwillingen Abdullah und Mustapha.
Sie bereut nicht, ihr Leben in
Norwegen gegen eine traditonelle
Ehe in Pakistan eingetauscht zu
haben, sagt Momina: »Ich habe
einen wundervollen und
fürsorglichen Ehemann, aber das
größte Geschenk sind unsere
beiden Söhne.«
P A K I S TA N
Erst die Hochzeit,
dann die Liebe
DIE LIEBESHEIRAT, IN DER ÖKONOMISCHE UND FAMILIÄRE
GESICHTSPUNKTE NICHT MEHR DIE HAUPTROLLE SPIELEN, IST AUCH
IM WESTEN EIN MODERNES PHÄNOMEN. HEUTZUTAGE SIND
ARRANGIERTE EHEN HIERZULANDE STARK VERPÖNT. ZU UNRECHT?
zept und meist ohne Alternative. Schätzungen
zufolge gehen etwa in Pakistan und Indien 99
Prozent aller Ehen aus arrangierten Verbindungen hervor. Scheidungen sind äußerst selten.
Nach Ansicht des indischen Psychoanalytikers
Sudhir Kakar funktionieren arrangierte Ehen in
Südasien deshalb so gut, weil die meisten jungen Menschen vor der Hochzeit kaum Kontakt
mit dem anderen Geschlecht haben und sich
deshalb in den Partner verlieben, mit dem sie die
ersten Erfahrungen machen.
Familie
statt
Online-Dating
In Europa, insbesondere in Deutschland, stehen
Frauenrechtlern die Haare zu Berge angesichts
solcher Aussagen. Die arrangierte Ehe gilt als
Form der Unterdrückung, wie sie nur in einem
patriarchalischen Umfeld möglich ist, das
Mädchen und Frauen diskriminiert. Wie groß
die Ressentiments sind, zeigen indirekt die von
der Organisation »Terre des Femmes« vor wenigen Jahren veröffentlichten Zahlen: Demnach
soll es in Deutschland jährlich etwa 30 000
Zwangsehen geben – eine Zahl, die unglaubFoto: Privat
>> Anstrengend, langwierig und frustrierend –
das ist sie oft, die Suche nach dem Partner fürs
Leben. Nicht selten bleibt sie ganz erfolglos, besonders in westlichen Großstädten, in denen die
Menschen die Verantwortung für die Wahl des
passenden Lebensgefährten alleine tragen. Der in
New York ansässige Fernsehsender CBS – einer der
größten in den USA – widmet sich diesem Problem mit einer neuen Reality-Show. Die Sendung
mit dem Titel »Arranged Marriages« will laut Beschreibung des Senders eine »in vielen Kulturen
erfolgreich praktizierte Tradition« in die USA holen: Heiratswillige Singles aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft sollen die bislang missglückte Partnersuche an Familie und Freunde
delegieren; die Kamera ist dabei, von der ersten
Kontaktanbahnung bis zu den Flitterwochen.
Eheschließung nach orientalischer Art für
ganz normale Amerikaner? Und das im Land
der unbegrenzten Freiheit? Schon lange vor Sendebeginn sorgte das neue Format für Wirbel,
wird aber von Kritikern wie Zuschauern mit
Neugier erwartet. Demnächst soll die Show starten, gute Einschaltquoten scheinen sicher.
Das Glück nicht dem Zufall sondern den Eltern überlassen – in Ländern des Nahen und
Mittleren Ostens ist das ein altbewährtes Kon-
würdig hoch wirkt. Allzu oft wird die arrangierte Ehe hierzulande mit der berüchtigten
Zwangsehe gleichgesetzt, nicht zuletzt dank
streitbarer Islamkritiker wie der Soziologin Necla
Kelek, die beide Heiratsformen über einen
Kamm scheren und pauschal verurteilen.
Bei allem Respekt vor dem Leid der tatsächlich von Zwangsehen Betroffenen muss man
doch unterscheiden. Die arrangierte Ehe wird
von Verwandten initiiert, aber grundsätzlich im
Einverständnis der Ehepartner geschlossen. Ehen
unter Zwang dagegen sind auch nach Ansicht
vieler islamischer Theologen ungültig, da jedwede Art von Zwangsausübung und Drohung
vom klassischen islamischen Eherecht abgelehnt
wird. Die Sozialpädagogin und Islamexpertin
Gaby Straßburger, vom Land Nordrhein-Westfalen als Sachverständige zum Thema Zwangsheirat bestellt, ist der Ansicht, dass Zwangsehen
keine arrangierten Ehen im klassischen Sinne
seien. Vielmehr würden bei ihnen familiäre
Machtverhältnisse dazu missbraucht, gegen die
Regeln der arrangierten Eheanbahnung eine
Heirat zu erzwingen. Das Ziel einer arrangierten Ehe dagegen bestehe darin, Glück und Stabilität dadurch zu sichern, dass man gemeinsam in der Familie prüft, ob die Voraussetzungen für das Gelingen der Ehe günstig sind.
Dennoch: Im Westen herrscht weitgehend
Konsens, dass arrangierte Ehen abzulehnen seien und in einer modernen Gesellschaft keinen
Platz hätten. Dabei sind die Unterschiede zu der
modernsten Form der Ehevermittlung eigentlich
gar nicht so groß: dem Online-Dating. Aktuellen Zahlen zufolge sind alleine in Deutschland
jeden Monat etwa sieben Millionen Singles in
elektronischen Partnerbörsen aktiv, um sich auf
Basis eines umfassenden Kriterienkatalogs potentielle Partner vorschlagen zu lassen. Nichts
anderes also als das, was im Orient die FamiliYasemin Ergin
en übernehmen.
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POLITIK
Glasnost im
Königreich
Saudi-Arabien ist bekannt für seine immensen
Öl-Reserven und seine äußerst strikte Auslegung des Islams.
Frauen dürfen nicht Auto fahren und müssen ihren
Körper komplett verhüllen. Doch unter der Oberfläche brodelt es.
Ein Reisebericht von Najem Wali
>> Wer hätte geahnt, dass in Buraida einmal
deutsche Gedichte rezitiert werden würden? Dass
dort die Poesie von Hölderlin, Rilke, Celan, Enzensberger, Krüger und Kirsch zum Vortrag
kommen würde? Die Stadt in der Region al-Qasim gilt als Heimat der wahhabitischen Denkschule und zahlreicher Al-Qaida-Kämpfer. Ich
selbst hätte mir nicht träumen lassen, einmal
auf einer Lesereise in Saudi-Arabien unterwegs
zu sein, um über meine Erfahrungen als Romanautor mit all ihren Tabubrüchen und über meine Beziehung zur deutschen Kultur und Dichtung zu berichten. Bis vor kurzem noch war
mein Roman »Die Reise nach Tell al-Lahm« in
Saudi-Arabien verboten.
Das Königreich erlebt einen Wandel großen
Ausmaßes: Es scheint, im Land sei ein Wettstreit
der Ideen losgetreten worden. Auf den Transparenten in Konferenzräumen ist nicht etwa von der
»Bewahrung der festen Grundlagen des Islams«
die Rede, sondern von »Austausch« und »Dialog«: Bildung, Gesundheitsversorgung, soziale
Dienstleistungen, Zivilverteidigung, Tourismus –
es gibt kaum ein Thema, zu dem nicht Tagungen und Gesprächsrunden veranstaltet werden.
Das gilt auch für die Emanzipation der Frau, den
Dialog der Religionen und der Konfessionen.
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Selbst über das saudische Kino wird eifrig debattiert, dabei galten bis vor kurzem noch alle
Kunstformen in Saudi-Arabien als überflüssiger
intellektueller Luxus, wenn nicht »Ketzerei«. Beispielsweise hätte das Verfassen von Prosa früher
dazu führen können, dass dem Schriftsteller die
Zunge abgeschnitten worden wäre.
Ausgerechnet in der erzkonservativen Stadt
Buraida findet man heute eine ausgesprochen
gut sortierte Bibliothek mit Büchern für jeden
Geschmack, ja sogar einen äußerst regen Literaturclub, der literarische Abende eigens für
Frauen veranstaltet. All dies belegt den mittlerweile existierenden intellektuellen Freiraum im
Königreich. Sicher, diese Clubs stehen unter der
Ägide des Kultur- und Informationsministeriums. Doch trotz der Kontrolle durch die Behörden können sie ungewohnt frei agieren und erhalten sogar ein recht ansehnliches Budget vom
Staat. Diese Freiheit bringt eine gewaltige Verantwortung mit sich: Es ist stets ein Leichtes,
kreatives Mittelmaß auf die Zensur zu schieben.
Den saudischen Intellektuellen muss es zunächst
gelingen, sich nicht mehr von der Schere im
Kopf behindern zu lassen, denn die Zensur von
außen wird es nicht mehr ewig geben, ganz so
wie das monolithische Denken des konservativ-
religiösen Diskurses gegenüber dem Wind des
Wandels kapituliert hat. Glasnost im Wüstenstaat: Die Literaturclubs sollten jedenfalls das
gegenwärtige, für Diskurse empfängliche Klima
nutzen, um an einem wesentlichen Tabu der
saudischen Gesellschaft zu kratzen: der Geschlechtertrennung.
In der Hafenstadt Dammam wohnen Frauen
der Lesung bei, allerdings in einem abgetrennten Raum des Literaturclubs, von wo aus sie das
Programm per Videoübertragung aus dem
Hauptsaal verfolgen. Einige hatten alle meine
Bücher gelesen. Am Ende diskutieren sie eifrig
mit mir, während ich bedauerlicherweise nur ihre Stimmen hören kann. In Riad sind bei der Lesung gar keine Frauen anwesend, in Buraida findet eine eigene Veranstaltung für sie statt. Nur in
Dschidda, im privaten Versammlungshaus von
Sami al-Akabawi sitzen Frauen und Männer gemeinsam im Saal, aber Dschidda hat schließlich
schon immer eine Vorreiterrolle gespielt.
Wie lange wird es dauern, bis in ganz SaudiArabien Männer und Frauen gemeinsam über
Literatur und über Geschlechterrollen diskutieren? Der Entwicklungsstand einer Gesellschaft
lässt sich doch am Fortschritt der Frauen in ihr
messen. Die Frauen in Saudi-Arabien haben in-
Foto: Getty Images
POLITIK
Gruppenbild mit Herrscher: König Abdullah mit den Teilnehmerinnen des »Nationalen Intellektuellen Dialogs«.
Das Foto, abgedruckt in den saudischen Zeitungen, wurde als Votum für die Abschaffung der Geschlechtertrennung aufgefasst.
zwischen einiges erreicht: Bei einem Besuch des
Landes kann man zu der Überzeugung gelangen,
dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Frauen am Steuer von Autos sitzen, bis sie ohne Begleitung eines männlichen Verwandten in der
Öffentlichkeit auftreten. In der Hauptstadt Riad
trotzen bereits vereinzelt junge Frauen den Spitzeln der Religionspolizei und zeigen in Einkaufszentren und Restaurants offen ihr Haar.
Einen wesentlichen Anstoß für die Debatte
über die Geschlechtertrennung gab der König
selbst, genauer gesagt ein symbolträchtiges Foto, das Ende April auf den Titelseiten der saudischen Zeitungen zu sehen war: König Abdullah und Kronprinz Sultan, umringt von einer
ganzen Schar von Frauen. Die Frauen waren
Früher drohte
man, ProsaSchriftstellern
die Zunge
abzuschneiden
Teilnehmerinnen des »Nationalen Intellektuellen Dialogs«. Was in anderen Ländern völlig banal erscheinen würde, gleicht in Saudi-Arabien
einer Sensation: Die höchste Macht im Staate
unterstützt die Aufhebung der Geschlechtertrennung. Es nicht das erste Mal, dass sich die
Männer an der Macht öffentlich für ein Miteinander der Geschlechter einsetzen, denn auch
an der im letzten Jahr gegründeten »König Abdullah Universität für Wissenschaft und Technik« studieren Männer und Frauen gemeinsam.
Das Foto erschien allerdings zu einem brisanten
Zeitpunkt: Kurz zuvor hatte der Leiter der saudischen Religionspolizei, Scheich Ahmad alGhamdi, öffentlich die Ansicht vertreten, dass
das Zusammentreffen der Geschlechter in Ausnahmefällen islamkonform sei. Prompt wurde
al-Ghamdi des Amtes enthoben, um kurz darauf
von allerhöchster Stelle wieder eingesetzt zu werden. Wenige Tage später ging dann dieses historische Bild durch die Presse – ganz so, als habe das Königshaus bewusst Position für die Reformer beziehen wollen.
Die Auseinandersetzung zwischen Reformern
und Konservativen um die Geschlechtertrennung ist derzeit das Topthema in Saudi-Arabien. Wer dieser Tage das Königreich besucht,
kommt nicht umhin, in den unterschiedlichsten
Bereichen der Gesellschaft Veränderungen zu
beobachten. Dabei geben die Bildungseinrichtungen den Takt vor: So folgten dem Beispiel
der neuen Universität eine Reihe privater Grundschulen, in denen Mädchen und Jungen bis zur
dritten Klasse Seite an Seite lernen. Ein nächster
Schritt wäre die Einstellung von Lehrerinnen,
denn bisher werden die gemischten Schulklassen ausschließlich von Männern unterrichtet.
Derartige Zeichen des Wandels mögen vielleicht nur Eingeweihten auffallen. Dem zufälligen Besucher dagegen wird wohl vor allem ins
Auge stechen, dass so viele saudische Frauen wie
nie zuvor im öffentlichen Leben präsent sind. Ihr
Anteil an der arbeitenden Bevölkerung wächst
ständig, denn viele Saudi-Araberinnen wollen
sich nicht länger gesellschaftlichen Zwängen
beugen, die ihre Bewegungsfreiheit auf einen
kleinen Raum zwischen Küche und Schlafzimmer beschränken. Saudische Frauen bekleiden
mittlerweile Top-Positionen, etwa als Pilotinnen oder Managerinnen. Damit haben sie eine
hitzige Debatte entfacht, bei der es längst nicht
mehr allein um die Definition der Rolle der Frau
jenseits traditioneller Vorstellungen geht. Nein,
es geht um die Gleichberechtigung der Frau per >>
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POLITIK
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Diskurs bremst den politischen Wandel aus. Mit
der Zeit mussten sich die Konservativen zwar
nolens volens daran gewöhnen, dass sie nur eine Stimme in einem vielstimmigen Konzert sind,
doch geben sie sich noch längst nicht geschlagen. Körperstrafen wie das Auspeitschen sind
weiterhin an der Tagesordnung. Trotz des Reformbedürfnisses in der Bevölkerung haben sich
der Diskurs und die Sanktionen zweier wesentlicher Institutionen nicht entwickelt: des »Obersten Rat der Religionsgelehrten« und des »Ausschusses zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters«.
Der Schlüssel zum erfolgreichen Wandel im
Königreich liegt in einer Veränderung der Strukturen dieser beiden Einrichtungen, einer Revision ihres intellektuellen Unterbaus, wenn nicht
gleich ihrer Abschaffung. Dieser Prozess könnte der lutherischen Reformbewegung gleichen,
die durch ganz Europa ging und die verknöcherte Strenge in der Religion in Frage stellte – und somit die Grundlage für individuelle
Freiheit und Aufklärung schaffte. Vielleicht ist es
ein erster Schritt in diese Richtung, dass sich
Frauen in Saudi-Arabien erfolgreich inner- und
außerhalb der Familie behaupten können.
Kommt als nächstes die Fahrerlaubnis? Wer
weiß, schließlich hat sich schon vieles in der
saudischen Gesellschaft verändert, was noch vor
kurzem völlig irreal erschienen wäre. Wie heißt
es doch in der alt-arabischen Dichtung: »Die
Zeit wird dir zeigen, was du nicht wusstest, und
Neuigkeiten bringen, die du zuvor nicht kanntest.« So hat der »Oberste Rat der Religionsgelehrten« kürzlich eine Fatwa gegen den Terrorismus erlassen: Darin verurteilen die Gelehrten
nicht nur diejenigen, die Gewaltakte ausüben,
sondern auch diejenigen, die terroristische Gruppen »moralisch oder finanziell« unterstützen.
Was wie ein kleiner Schritt für zivilisierte Länder klingt, ist ein Meilenstein für Saudi-Arabien. Mit welchen Neuigkeiten wird uns das Land
also morgen überraschen?
<<
Noch bleibt
die Kritik
innerhalb
der Anstandsgrenzen
ditionellen, strengen Denkweise zu begreifen,
dass sie wohl oder übel die Existenz anderer
Auslegungen akzeptieren und – um zu überleben – sich diesen stellen müssen. Nur wer sich
selbst und seine Kultur hinterfragt, kann feste
Regeln als Waffe gegen andere ins Feld führen.
In allen abgeschotteten Gesellschaften findet
sich die gleiche Argumentationslinie: Wie auf
einem zähen Kaugummi kauen religiöse wie
auch säkular-diktatorische Machthaber auf dem
ewig gleichen Argument der »festen Grundlagen« herum. Dabei bringt erst eine Erschütterung dieser »festen Grundlagen« das Denken
und seine aktive Beteiligung beim Aufbau der
Gesellschaft in Schwung.
Wie aber steht es mit den Perspektiven des
Wandels in Saudi-Arabien? Wie weit werden die
Reformen gehen? Welche roten Linien werden
sie nicht überschreiten? Den Liberalen ist klar,
dass sie noch einen langen, beschwerlichen Weg
vor sich haben, denn die politisierte Religion
mit ihren verstaubten Ansichten wird ihnen das
Feld nicht ohne weiteres überlassen. Aber sie
wissen ebenso, dass an einer Modernisierung
kein Weg vorbeiführt. Um seine Zukunft zu sichern, muss Saudi-Arabien grundlegende Strukturen überdenken. Das Öl und in dessen Gefolge billige Gastarbeiter aus Asien haben den Saudis Wohlstand beschert. Aber was, wenn das Öl
eines Tages versiegt und die unter primitiven
Bedingungen lebenden Gastarbeiter für ihre
Rechte mobil machen? Saudi-Arabien kann nicht
nur von einer Ideologie, von religiösen Schlagworten leben. Wie kann ein Land, in dem vom
Mittagsgebet um 12 bis um 16 Uhr die Arbeit
ruht, ausländische Investitionen anziehen?
Die Reformkräfte wissen, dass die Zukunft
von möglichen Veränderungen in der Politik abhängt, von der Zulassung politischer Vereinigungen, Organisationen und Parteien. Aber genau dies bleibt ein Tabu. In der Presse sind zwar
offene Worte über Bestechlichkeit, Vetternwirtschaft und die Leistung einzelner Ministerien
oder der Religionspolizei zu lesen. Doch diese
Kritik bleibt innerhalb vorgegebener Anstandsgrenzen und klammert die höchsten Vertreter
der Staatsmacht aus. Der zwar geschwächte, doch
weiterhin vorherrschende traditionell-religiöse
Übersetzung aus dem Arabischen: Nicola Abbas.
Foto: Alexander Schippel
>> Gesetz, um eine Aufhebung der männlichen Vormundschaft. Eine gleichberechtigte Beziehung
zwischen Männern und Frauen vor, während
und nach der Ehe würde die häusliche Gewalt
gegen Frauen und Kinder in Saudi-Arabien deutlich reduzieren. Das jedenfalls schreibt die saudische Frauenrechtsaktivistin Amira Kashghari
in ihrem Entwurf einer »Familien-Charta«, den
sie Ende April in Dschidda vorlegte.
In der Stellung der Frau zeigt sich das wahre
Gesicht einer Gesellschaft. Folgt man Aktivistinnen, sieht es dabei in Saudi-Arabien bislang
so aus: Die Rechtsstellung von Frauen ist
schwach und die Doktrin des konservativen politischen Islams duldet keine Widerrede. Bislang
waren Frauen von jeglicher gesellschaftlicher Interaktion auf politischer und wirtschaftlicher
Ebene ausgeschlossen, eine nur mangelhaft institutionalisierte Zivilgesellschaft hielt jahrzehntelang still und dachte gar nicht daran, dafür
einzutreten, die Beziehungen zwischen Frauen
und Männern gesetzlich verbindlich zu regeln.
Die Debatte offenbart, was unter der Oberfläche brodelt. Auf der einen Seite stehen dabei
Technokraten und Liberale, die mit Frauen etwa in der »Beratenden Versammlung« zusammenarbeiten. Sie befürworten die gesellschaftliche Partizipation von Frauen und erkennen
deren Potenzial an. Auf der anderen Seite betreiben verbohrte Religionsvertreter die Ausgrenzung des »schwachen Wesens Frau«. Die
Frau habe ihrem Mann zu gehorchen und seine Befehle auszuführen, selbst wenn dieser noch
drei weitere Frauen ehelicht, weil das islamische
Recht ihm dies gestattet.
Es wird kontrovers diskutiert – dominant
sind allerdings weiterhin die Vertreter der religiös-politischen Tradition, die sich, so der Akademiker Youssef Aba al-Khail, durch ein »völlig
amoralisches religiöses Gebaren« auszeichnen.
Unter dem Vorwand der Verteidigung vermeintlich unverrückbarer sozialer Regeln werden Menschen, die zu eigenständigem Denken
aufrufen, bekämpft und ihre innovativen Ideen
als »unislamisch« gebrandmarkt. Gemäß dem
vorherrschenden religiösen Diskurs ist, wer rationale Logik ins Spiel bringt, ein Ketzer. Dies
verhindert eine Modernisierung. Al-Khail begründet dies damit, dass das religiöse Erbe in
weiten Teilen der arabisch-islamischen Welt »unter dem Einfluss ideologisch ausgetragener politischer Konflikte festgelegt wurde«. Kein Wunder, so al-Khail, dass die dominierende Kultur
seiner Umwelt »nichts anderem so feindlich gegenübersteht wie dem Rationalismus«.
In Literaturclubs wird offen diskutiert, der
König lässt sich mit einer Frauengruppe fotografieren und in den Zeitungen ist deutliche
Kritik am religiösen Establishment zu lesen:
Langsam beginnen auch die Vertreter der tra-
NAJEM WALI
besuchte Saudi-Arabien im
Frühjahr 2010 im Rahmen
einer von der deutschen
Botschaft in Riad und saudischen Literaturclubs organisierten Lesereise. Er
wurde 1956 in Basra geboren; 1980 flüchtete er nach Deutschland. Zurzeit
lebt er in Berlin als Schriftsteller und Kulturkorrespondent der Zeitung Al-Hayat. Sein letztes Buch
»Reise in das Herz des Feindes. Ein Iraker in Israel« erschien 2009 im Carl Hanser Verlag.
:UKUNFTGESTALTEN
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POLITIK
Falsche Freiheit
>> Der Grenzübergang Erez spuckt die wenigen
Reisenden, die den Transit von Gaza nach Israel
wagen dürfen, förmlich aus. Zur Zeit passieren im
Durchschnitt täglich 80 Personen das metallene
Grenzgebäude, das eigentlich für die Durchreise
von bis zu 10000 Personen konzipiert ist. Das
Erez-Terminal, ein verlassen wirkendes Labyrinth
aus Sicherheitsschleusen, Gepäckbändern und
Überwachungskameras, das eine Stimme aus dem
Off mit knappen Anweisungen beherrscht, trägt
sicherlich seinen Teil dazu bei, den Besuch rückblickend wie eine Reise in eine andere Dimension
erscheinen zu lassen. Auf dem Parkplatz vor dem
Gebäude, nun wieder in Israel, scheint Gaza auf
einen Schlag weit weg, und die Erlebnisse der
vergangenen Tage kommen dem Besucher merkwürdig irreal vor.
Die 19 Stahltüren von Erez, die Israel vom
Gaza-Streifen trennen, bilden den Übergang zu
einer Welt, die auch nach der Lockerung der israelischen Blockade kaum an Normalität gewonnen hat. Mit dem Leben in Israel und selbst
im Westjordanland hat Gaza wenig gemeinsam.
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Seit drei Jahren gleicht der Gaza-Streifen einem Gefängnis,
kaum jemand darf hinein oder heraus. Auf internationalen
Druck hin hat Israel die Blockade im Juni 2010 gelockert.
Während Lebensmittel nun vermehrt eingeführt werden können,
bleibt den Bewohnern echte Freiheit nach wie vor verwehrt
Von Judith Althaus und Henrik Meyer
Fotos: Ahmed Hayman
Nur zehn Kilometer vom israelischen Technologiestandort Sderot entfernt bestimmen Pferdewagen und zankende Esel das Straßenbild.
Die neueste Errungenschaft der Tunnelwirtschaft sind zu Hunderten eingeführte dreirädrige Motorroller mit Ladefläche aus China; sie
dienen einem Rollstuhlfahrer ebenso zum Transport wie einer Gruppe Tagelöhner oder einer
Palette Zementsäcke. Trotzdem oder gerade deshalb herrscht ein reges Treiben auf den Straßen.
Geschäftsleute handeln mit allem, was verfügbar ist – ägyptischer Cola, deutschen Stoßdämpfern und israelischen Mangos. Grüne Hamas-
Banner und Türkei-Fahnen dominieren das
Straßenbild in diesem Sommer, wenige Wochen
nach der blutigen Erstürmung der »Freedom
Flotilla« durch israelische Soldaten.
Der Krach der Dieselmotoren, Ausdruck der
chronisch prekären Energieversorgung im Küstenstreifen, ist allgegenwärtig: Gazas einziges
Elektrizitätswerk kann seit Wochen nur noch
50 Prozent seiner Leistung liefern. Zunächst ließ
die israelische Regierung keinen Treibstoff ins
Land; nach der Lockerung der Blockade stellt
sich nun die Regierung in Ramallah quer. Vierzig Kilometer weiter südlich, in Rafah an der
POLITIK
Grenze zu Ägypten: Die durchlöcherte Fassade
eines mehrstöckigen Wohnhauses, Sandhügel
und die weißen Zeltplanen der Schmuggeltunnel rahmen ein sandiges Fußballfeld ein, das in
der Augusthitze brach liegt. Unter jedem der
vielleicht tausend Zeltdächer findet sich ein Tunneleingang, durch den, je nach Durchmesser
und Marktbedarf, Pepsi-Kartons, Farbeimer oder
Zementsäcke geschmuggelt werden. Auf schaukelgleichen Holzbrettern und mit Hilfe von elektrischen Seilwinden, die einst Gazas Fahrstühle
betrieben haben, lassen sich die Arbeiter zehn bis
zwanzig Meter in die Tunnel hinab. Unter Tage
verzweigen sich die Strecken, damit der Warenschmuggel nach einem israelischen Luftschlag
kein jähes Ende findet. Nur wenige Meter entfernt erinnert ein tiefer Krater, den eine israelische Rakete kürzlich in die Erde gerissen hat,
an die Kurzlebigkeit der Tunnel. Unweit davon
steht ein ägyptischer Grenzturm, von dem aus
sich das Geschehen bestens überblicken lässt.
Zankende Esel bestimmen
das Straßenbild
Nach Süden schweift der Blick zum offiziellen
und weniger betriebsamen ägyptisch-palästinensischen Grenzübergang – der angesichts des
regen unterirdischen Warenverkehrs beinahe
überflüssig wirkt. »Rafah ist endlich geöffnet«,
hatten palästinensische Gazetten euphorisch getitelt, als nach dem Flotilla-Zwischenfall Ende
Mai der Druck zur Lockerung der Blockade international so groß geworden war, dass Ägypten und Israel reagieren mussten. Aber genauso wie die Blockadepolitik dank der Tunnel nie
vollkommen war, ist auch diese Öffnung kein
Garant für Reisefreiheit.
An den misstrauischen Blicken des HamasGrenzsoldaten am Eingang zum Terminal vorbei gewährt der palästinensisch-ägyptische
Grenzübergang überraschende Einblicke. Alle
Schalter sind mit freundlich lächelnden Beamten besetzt, die Gepäckkontrollstation funktioniert, sogar die Klimaanlage im VIP-Bereich
läuft und erfrischt bärtige Beamte auf wuchtigen Polstermöbeln. Was fehlt, sind die Reisenden. »Um über Rafah ausreisen zu dürfen, ist ein
gültiges Visum für ein Drittland erforderlich«,
klärt der Sprecher des Grenzübergangs auf. Nach
drei Jahren Blockade nahezu ohne Personenverkehr und der Schließung vieler konsularischer Vertretungen im Zuge des Krieges im Winter 2008/2009 eine nicht ganz einfach zu erfüllende Voraussetzung. So sind es denn auch nicht
mehr als 400 Menschen, die pro Tag über Rafah
aus- und wieder einreisen. Denn ähnlich wie im
Jahr 2008, als die Hamas den Grenzzaun zu
Ägypten sprengte, wollen die wenigsten Palästinenser den Gaza-Streifen dauerhaft verlassen.
Mehr als 200
Lastwagen
passieren täglich
die Grenze bei
Kerem Shalom
Vielmehr wollen sie sich mit allem versorgen,
was dringend benötigt wird. Da Rafah aber offiziell kein Güterübergang ist, gilt die Regel: Jeder darf mitbringen, was er tragen kann. Und so
wird geschleppt, was das Zeug hält – Küchenmaschinen, Spielzeug, Make-up und Windeln.
Aber mehr als 60 Kilo schafft auch der stärkste
Gazaner nicht.
Deutlich mehr könnten die Lastwagen bewältigen, die in Sichtweite in einer kilometerlangen
Schlange am Grenzübergang Kerem Shalom warten. Aber auch nach der Lockerung der Blockade müssen die Fahrer quälend lange Sicherheitsprozeduren über sich und ihre Fahrzeuge ergehen lassen. Dennoch überqueren an den meisten
Tagen schon wieder mehr als 200 Lastwagen die
Grenze. Bis zu 400 sollen es im kommenden Jahr
sein, verspricht die israelische Regierung. War die
Qualität der Schmuggelware trotz hoher Preise
schlecht, ist das Angebot nun höher, die Qualität
besser und das Preisniveau niedriger.
Vor allem für die dringend benötigten Baumaterialien gelten jedoch immer noch strenge
Restriktionen. Ein paar Minuten entfernt zeitigt dies eigentümliche Konsequenzen. Am Südostzipfel des Gaza-Streifens zeugen marokkanische Monumentalbögen von der Aufbruchstimmung vergangener Jahre. Sie sind Überreste
des ehemaligen Flughafens von Gaza, die heute
verloren und zerbombt im Nirgendwo stehen.
Die Bewohner von Rafah nutzen dies auf ihre Weise: In den Einschlagskratern finden sie
Kiesel, auf denen die Landebahn gebaut wurde.
Sie füllen die Kiesel ab und transportieren sie in
Massen auf ihren dreirädrigen Motorrollern fort.
Fünf Schekel kostet ein Eimer Kies – ein Preis,
mit dem die Tunnelwirtschaft nicht konkurrieren kann. Und so finden die letzten Reste des
Flughafens ihre Weiterverwendung im Wiederaufbau der kriegszerstörten Häuser.
Es sind Absurditäten wie diese, die das Leben
in Gaza bestimmen – an die sich die Welt und
scheinbar auch die Gaza-Bewohner schon fast
gewöhnt haben. Westliche Politiker beschränken sich auf periodisch wiederkehrende Klagen
über die humanitären Nöte – und verkennen
dabei den Kern des Problems. Denn auch wenn
heute gut gefüllte Marktstände eine Linderung
der Not verheißen, überblenden sie damit nur
die Tatsache, dass zwar nicht alles in Gaza akut
lebensbedrohlich, aber nichts normal ist.
Hierunter leidet vor allem die junge Generation, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung
ausmacht. Unter Leitung des Flüchtlingshilfswerks UNRWA haben die Kinder von Gaza in
diesem Sommer Weltrekorde im synchronen
Dribbeln von Basketbällen und im gleichzeitigen Drachensteigen aufgestellt. Zeichen von spielerischer Normalität – »der Anomalie ihres Alltags zum Trotz«, wie UNRWA-Chef John Ging
erklärt.
Die Realität im Gazastreifen zeigt, dass ein
paar Tonnen Lebensmittel und wenige erlaubte Konsumgüter mehr nur die Spitze des Eisbergs sind. Eine Lockerung der Einfuhrbestimmungen greift zu kurz, denn das Paralleluniversum am Mittelmeer lechzt nach Freiheit mehr
als nach Brot.
<<
Der Flughafen
dient heute als
Baumaterial:
Palästinenser wie
dieser Junge
nutzen die von
israelischen
Bomben
gesprengten
Löcher, um Kies
auszugraben und
zu verkaufen.
zenith 3/2010
31
Rechtes Zünglein
an der Waage:
Seine politischen
Gegner sehen
in ihm einen
»finsteren
Rassisten«.
Eli Jishai kann
darüber nur
milde lächeln.
Keine Partner
für den Frieden
Der gescheiterte Gipfel von Camp David läutete vor zehn
Jahren eine Dekade der Gewalt für Israelis und Palästinenser ein.
Auch innenpolitisch verspielte Premier Ehud Barak die Macht.
Profitiert vom Absturz der Linken haben zwei ungleiche Partner
Von Dominik Peters
>> »Einen neuen Morgen« versprach Israels Ministerpräsident Ehud Barak im Juli 2000, kurz vor
dem Friedensgipfel Camp David II. Ihm, der
erst ein Jahr zuvor von einem begeisterten Friedenslager ins Amt gehoben worden war, werde
gelingen, was keiner seiner Vorgänger geschafft
hatte – Frieden mit den Palästinensern zu
schließen. Die internationale Presse reagierte
begeistert. Israelische Kommentatoren indes waren weniger euphorisch: Sie erklärten den USvermittelten Gipfel mit Palästinenserpräsident
Jassir Arafat schon vor Beginn für gescheitert.
Und so kam es auch: Beide Seiten schoben einander am Ende die Schuld in die Schuhe. Arafat beklagte sich über Baraks Weigerung, den
Palästinensern Souveränität über Jerusalems Altstadt zu gewähren. Barak erklärte, er habe in
dem Palästinenserführer keinen Partner gehabt.
32
zenith 3/2010
Einen weiteren Grund für den Misserfolg verschwieg der Premier jedoch: Er war zu den Verhandlungen gereist, ohne eine parlamentarische
Mehrheit hinter sich zu haben. Noch am Vorabend des Gipfeltreffens musste Barak den letzten von insgesamt einem Dutzend Misstrauensanträgen innerhalb eines Jahres abwehren und
nach Massenrücktritten seiner Koalitionäre zehn
von 22 Ministerportfolios selbst verwalten.
Ehud Barak hatte gehofft, in letzter Minute
mit einem diplomatischen Befreiungsschlag den
entscheidenden Treffer landen zu können, der
ihm daheim die Macht sichern würde. Stattdessen war er mit leeren Händen zurückgekehrt und
hatte sein Vertrauen bei der Bevölkerung verspielt. Trotzdem wollte Barak es noch einmal wissen: Für den Februar setzte er Neuwahlen an. Die
brachten ihm und seiner »Ha’Awoda – Die Ar-
beit« eine verheerende Niederlage ein, von der
sich die säkular-aschkenasische Partei bis heute
nicht erholt hat. Neuer Premier wurde LikudChef Ariel Scharon, ein Befürworter des Siedlungsbaus und Gegner des Oslo-Prozesses.
Am meisten profitiert vom Debakel der Linken hat allerdings die sephardisch-orthodoxe
Schas-Partei. Die stets mit schwarzem Anzug
und weißem Hemd gekleideten »Sephardischen
Tora-Wächter«, so die Übersetzung des vollen
Namens der politisch-religiösen Bewegung, waren nach Baraks Wahlsieg 1999 zum Königsmacher avanciert – und kurz vor dem Camp-David-Gipfel zum Königsmörder. Barak hatte bei
seinem Friedenskurs auf den Spiritus Rector der
Schas gebaut: den ehemaligen sephardischen
Oberrabiner Ovadia Josef, der sich in Friedensfragen bis dato meist moderat verhalten hatte.
Als sich im Vorfeld der Verhandlungen jedoch
abzeichnete, dass der Premier bereit war, das Tabu »Jerusalem« anzufassen, änderte Josef seinen
Kurs. »Barak rennt den Arabern wie ein Amokläufer nach«, schimpfte der in Bagdad geborene Rabbi und wies seine Minister an, die Regierungskoalition zu verlassen.
Seit jenen dramatischen Tagen im Sommer
2000 steht die Schas im Zentrum der Macht; sie
hat sich zum parlamentarischen Zünglein an
der Waage entwickelt. Mit ihrem Programm, einer Mischung aus Religiosität, ethnischem Stolz
und sozialem Mitgefühl, tritt sie auf als Interessenvertreterin der so genannten Mizrachim –
Juden aus arabischen Ländern, die rund ein Viertel der Bevölkerung Israels ausmachen. In den
letzten zehn Jahren holte man so in den mehrheitlich von arabischen Juden bewohnten Wahlkreisen die besten Ergebnisse und sicherte sich
auf alle Regierungen erheblichen Einfluss.
Insbesondere gilt das für den Vorsitzendem
der Partei, Elijahu Jishai. Der fünffache Familienvater und Karrierepolitiker verdiente sich seine Sporen schon in der ersten Regierung Benjamin Netanjahus, wurde 1999 Vorsitzender der
Schas und im Jahr darauf unter Ariel Scharon
Innenminister. Seit 2006 diente »Eli« Jishai dem
Premier Ehud Olmert als Minister für Industrie,
Handel und Arbeit, bis er im vergangenen Jahr
wieder den Sessel des Innenministers einnahm.
Seither macht er vor allem durch rechtspopulistische Ausfälle auf sich aufmerksam, hetzt gegen
Einwanderer und Homosexuelle.
Von ähnlichem Kaliber ist seine Politik gegenüber den Palästinensern: Der Mann mit grau
meliertem Bart und schwarzer Kippa schreckte
im März nicht davor zurück, ausgerechnet
während des Besuchs von US-Vizepräsident Joe
Biden den Bau von 1600 neuen Wohnungen in
Ramat Shlomo im israelisch annektierten OstJerusalem anzukündigen. Die diplomatische Krise, die seine Entscheidung auslöste, ließ den
Foto: Ira Abramov/Wikimedia Commons/lizensiert gemäß Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported/http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en
POLITIK
Hardliner kalt. Bereits zwei Monate später, kurz
nach Beginn der »indirekten« Friedensgespräche,
legte er nach und erklärte, man werde »überall
in Jerusalem, der ewigen und unteilbaren Hauptstadt des jüdischen Volkes«, weiter bauen.
Rückendeckung erhielt der Innenminister von
fast allen Kabinettskollegen, unter ihnen wenig
überraschend Außenminister Avigdor Lieberman
– der genau wie Jishai eine erstaunliche Karriere
im israelischen Polit-Betrieb hingelegt hat. Lieberman hatte nach seiner Einwanderung aus der
ehemaligen UdSSR schnell erste politische Kontakte als Saalordner bei Veranstaltungen des Studentenverbandes der konservativen Likud-Partei geknüpft. Noch in den 1990er Jahren war er
Parteimitglied und Bürochef Netanjahus gewesen.
Er rechnete sich persönlich dann aber bessere
Chancen als Unabhängiger aus und gründete
1999 seine eigene Partei »Israel Beitenu – Unser
Haus Israel«. Der studierte Sozialwissenschaftler
setzte auf die rund eine Million Einwanderer aus
der ehemaligen Sowjetunion, die er für sich mobilisieren wollte.
Das Bedürfnis
nach Sicherheit ist
größer als die
Sehnsucht nach
Frieden
Seine Strategie ging auf. Kurz nach Baraks Scheitern in Camp David begann eine Dekade der
Kriege und des Terrors, die bei vielen Israelis
Angst und Misstrauen erzeugte. Ihr Sicherheitsbedürfnis ist seither größer als ihre Friedenssehnsucht – wie es scheint, vor allem bei
Liebermans Wählerschaft. Insgesamt drei Mal
wurde der Mann aus Moldawien unter Ariel
Scharon und Ehud Olmert Minister.
Den vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere
erreichte Lieberman im vergangenen Jahr
während des Gaza-Krieges. Protestslogans arabischer Israelis gegen die Militäroperation »Gegossenes Blei« wandelte er um und nutzte sie
für seine Wahlkampagne, indem er schwadronierte: »Keine Loyalität – keine Staatsbürgerschaft. Nur Lieberman versteht Arabisch.« Mit
den unverhohlenen Drohungen gegen die Minderheit im eigenen Land schaffte er es, sich und
seine säkulare Rechtspartei als drittstärkste Kraft
im Parlament zu etablieren. Zum Leidwesen der
Arbeitspartei – und ihres Parteivorsitzenden Barak: Das politische Stehaufmännchen war 2007
Foto: Aussenministerium des Staates Israel
POLITIK
Im Wahlkampf
2009 galt er
der religiösen
Schas-Partei noch
als »Satan«:
Avigdor Lieberman
setzt sich für
Zivilehen und
Schweinefleischverkauf ein.
unerwartet aus dem inneren Exil zurückgekehrt,
hatte den Parteivorsitz zurückerobert und
kämpfte bei den Knessetwahlen 2009 verbissen
um die Macht – mit katastrophalem Ausgang.
Gerade einmal 13 Mandate konnte Awoda gewinnen und fuhr damit das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Der alte Krieger Barak
sicherte sich zwar den Posten des Verteidigungsministers, ignorierte dabei aber die Parteibasis. Die wollte kein drittes Mal seit 2001
unter einer rechtsgerichteten Regierung dienen,
sondern sich in der Opposition inhaltlich und
personell erneuern. Es half auch nichts, dass Barak als Einziger im März den Kabinett-Konsens
störte und Jishais Pläne öffentlich kritisierte, in
Ost-Jerusalem mehr Häuser für jüdische Familien bauen zu lassen. Sein Aufbäumen war ge-
nauso vergeblich wie vor zehn Jahren, als Rabbi Josef zur Schas-Revolte geblasen hatte.
Für Ehud Barak schließt sich dieser Tage der
Kreis. Beinahe wöchentlich liefert er sich mit
Rechten und Religiösen Auseinandersetzungen.
Genau wie vor zehn Jahren, als er in Camp David den Nimbus des Unbesiegbaren verlor – was
den Niedergang der Awoda einleitete und Schas
den Weg zur Macht wies. Heute überzeugt das
ungleiche Gespann Jishai-Lieberman viele israelische Wähler ausgerechnet mit dem Satz, den
Barak vor zehn Jahren nach dem gescheiterten
Friedensgipfel verkündet hatte: »Wir haben keinen Partner für den Frieden.«
<<
Weiterlesen auf www.zenithonline.de:
Der Niedergang der israelischen Linken.
Camp David II und die Folgen
Sitzverteilung
in der Knesset
nach den
Wahlen 1999
bis 2009
Awoda
Likud
Kadima
Schas
Israel Beitenu
Übrige
1999
26
19
17
4
54
1)
2003
19 2)
38
11
4 3)
48
2006
19 2)
12
29
12
11
37
2009
13
27
28
11
15
6
1) gesamt als Einheitsliste »Ein Israel« mit weiteren Linksparteien,
2) davon ein Sitz für die alliierte Partei »Meimad«, 3)in Einheitsliste mit der »Nationalen Union«
Quelle: Wahlamt der Knesset
zenith 3/2010
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SCHWERPUNKT
Der
Kampf
um den
Islam
Das Ringen um Macht
und Moral – eine Spurensuche
von der Frühzeit des Islams
bis zum radikalen
Fundamentalismus heute
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zenith 3/2010
Kopfwäsche für Dschihadisten: In einem Rehabilitationszentrum in Saudi-Arabien sollen
inhaftierte Al-Qaida-Kämpfer dem Terrorismus abschwören. Dass der Dschihad mit Gewalt
an und für sich nicht schlecht ist, finden aber auch die Organisatoren. Im Vordergrund
einer der Dozenten des Programms.
zenith 3/2010
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KAMPF UM DEN ISLAM
Der 23-jährige Muhammad beim morgendlichen Tee.
Für saudische Verhältnisse sind die Zimmer nicht
unbedingt luxuriös ausgestattet. Doch nichts soll an ein
Gefängnis erinnern. Die meisten der bis zu
30 »Begünstigten« saßen zuvor in saudischen Haftanstalten,
manche kamen aber auch direkt aus Guantanamo.
Tee mit Terroristen
Wie resozialisiert man Gotteskrieger?
Saudi-Arabien versucht es im
Umerziehungslager von Hayar auf
die sanfte Art und Weise
Fotos: VII Network/Ziyah Gafić
36
zenith 3/2010
KAMPF UM DEN ISLAM
Abwarten und Beten. Aufstehen um vier Uhr morgens: Die fünf
Pflichtgebete strukturieren den Tagesablauf im Umerziehungslager.
Die Wärter beten dabei gemeinsam mit den Häftlingen. Auch sonst
verbringen sie die meiste Zeit zusammen und kleiden sich gleich.
zenith 3/2010
37
KAMPF UM DEN ISLAM
Das »Care Center« von Hayar liegt am Rande der saudischen
Hauptstadt Riad. Wenn die Temperaturen es erlauben, können die
Häftlinge im Freien Fußball und Tischtennis spielen, drinnen locken
Fernseher, Videospiele und ein Hallenbad. Zum Pflichtprogramm
gehören ideologische Unterweisungen. Dabei sollen »Missverständnisse«
der jungen Männer über den Dschihad aufgeklärt werden: Nur die
Regierung in Riad dürfe den Heiligen Krieg ausrufen.
38
zenith 3/2010
KAMPF UM DEN ISLAM
Entspannt im Camp gegen den Terror. Die saudischen Behörden
betrachten die Insassen als verwirrte junge Männer, die vom rechten
Weg abgekommen seien. Die Häftlinge selbst beugen sich dieser
Interpretation. Einige von ihnen wurden während des Kampfes gegen
die Amerikaner im Irak gefangen. Nun dürfen sie sich bei Kunsttherapie
und Lektionen zur Aggressionsbewältigung austoben.
zenith 3/2010
39
KAMPF UM DEN ISLAM
Al-Qaida hat in Saudi-Arabien jahrelang erfolgreich Nachwuchterroristen rekrutiert. Für deren Wiedereingliederung gibt der Staat zehn Millionen Dollar im Jahr aus. Auch andere Länder versuchen die Verbreitung militanter Islam-Interpretationen durch Aussteigerprogramme einzudämmen.
Eine Religion
im Belagerungszustand
Der Streit um den richtigen Glauben spaltet
die Gemeinschaft der Muslime seit dem Tod des Propheten.
Aber nie zuvor war die Deutungshoheit über
den Koran so umkämpft wie heute.
Dafür sind nicht zuletzt die westlichen Islam-Debatten verantwortlichEi
Von Christian Meier
40
zenith 3/2010
von Andreas Altmann
KAMPF UM DEN ISLAM
Die Bilanz des vor sieben Jahren gegründeten Camps fällt gemischt aus: Einige der bislang etwa 3000
Entlassenen haben sich wieder der Gewalt zugewendet. Doch Saudi-Arabien glaubt an die Methode von
Hayar. Finanzielle Anreize und Strafandrohungen sollen Rückfälle verhindern.
>> Der Kampf um den Islam begann am 15.
März 2010. An diesem Tag weigerte sich eine
Gruppe Gläubiger, die ihr auferlegten Pflichten
zu erfüllen. Spannungen hatte es schon zuvor gegeben, nun trat das Zerwürfnis offen zutage.
Es ging um Geld, aber auch um Macht und Ideologie; einige der Delinquenten betrachteten ihre Mission sogar als dschihad, als »heiligen
Kampf«. Kurzzeitig sah es nach einem Sieg der
Rebellen aus, doch dann verloren sie ausgerechnet ihren prominentesten Unterstützer. Die
Auseinandersetzung führte schließlich zur Abspaltung der Gruppe, die sich einen neuen Namen gab und versprach, die ursprüngliche, ja
»wahre« Mission fortzuführen.
Dies zumindest kann man auf OnIslam.com
nachlesen, das von der geschassten Redaktion
des Internet-Portals IslamOnline.net seit kurzem betrieben wird. Zwischen den Redakteuren
und ihrem damaligen Arbeitgeber war im Früh-
jahr ein bizarrer Machtkampf entbrannt. Die
Website IslamOnline, eines der einflussreichsten
Islam-Portale weltweit, gehört einer in Katar beheimateten Stiftung. Als die Inhaber die Verlagerung der redaktionellen Arbeit in das Golfemirat ankündigten und über Nacht die Passwörter wechselten, gingen die 330 Mitarbeiter in
Kairo in Streik: Abgeschnitten vom Zugang zu
ihrer eigenen Seite, besetzten sie ihrerseits über
Wochen das Gebäude – letztlich erfolglos.
Demarkationslinie zwischen
Glauben und Sünde
Seither wird spekuliert: Hatte der Showdown
zwischen Kairo und Doha religiöse Hintergründe? Vieles spricht dafür, dass IslamOnline
den streng konservativen Besitzern zu modern
geworden war. Hinzu kommt eine delikate Personalie: Der bekannte TV-Mufti Yusuf al-Qara-
14 Jahrhunderte
nach Muhammads
Tod wirkt die
Gemeinschaft der
Muslime gespalten
und führungslos
dawi, dessen Mitwirken zum Erfolg der Seite
beigetragen hatte, solidarisierte sich überraschend mit der ägyptischen Redaktion – und
wurde von den Kataris prompt kaltgestellt.
Was auch immer die Auseinandersetzung verursacht haben mag, fest steht: Sie könnte tief >>
zenith 3/2010
41
KAMPF UM DEN ISLAM
Mohammad al-Fawzan in seiner neuen Wohnung. Vor wenigen Jahren wollte der ehemalige
Wachmann noch amerikanische Soldaten töten. Nun hat er erfolgreich die Rehabilitation durchlaufen.
Zum Lohn schenkte ihm der Staat Wohnung und Auto – und suchte ihm sogar eine Frau aus.
>> greifende Auswirkungen auf das Islamverständnis zahlreicher Muslime haben. Hunderttausende Menschen informieren sich Tag für
Tag bei IslamOnline, tauschen sich aus, suchen
theologischen Rat und praktische Lebenshilfe.
Wenn der Islam im 21. Jahrhundert ein zentrales globales Forum besitzt, dann dürfte das wohl
IslamOnline sein.
Das Hickhack um die Internet-Seite wirft ein
Schlaglicht auf ein Phänomen, das selten in seiner ganzen Bedeutung erkannt wird: Die islamische Welt erlebt einen erbitterten Kulturkampf. Er zeigt sich in auf den ersten Blick unscheinbaren Ereignissen, wie der Frage, wer die
redaktionellen Inhalte einer religiösen Website
erstellt. Er führt dazu, dass unliebsame Denker
wie der Ägypter Nasr Abu Zaid zu Glaubensabtrünnigen erklärt werden können. Er zeigt sich
in den Botschaften Osama Bin Ladens und selbst
in den Karikaturen eines Kurt Westergaard. Und
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zenith 3/2010
er ist, in seiner letzten Konsequenz, für den Tod
zahlloser Menschen verantwortlich – Nichtmuslimen wie Muslimen.
Einer von ihnen war der 70-jährige Scheich
Abdullah Dschasim aus Bagdad. Am selben Tag
im Mai 2010, an dem in Berlin die zweite »Deutsche Islamkonferenz« zusammentrat, wurde
Dschasim vor den Augen seiner Familie von AlQaida-Mitgliedern enthauptet. Der sunnitische
Prediger hatte es als Sünde bezeichnet, sich den
Terroristen anzuschließen – was den Dschihadisten Grund genug war, ihn zum Ketzer zu erklären und hinzurichten. Seinen Kopf hängten
sie zur Abschreckung an einem Strommast auf.
Abdullah Dschasim wurde ein Opfer theologisch notdürftig verbrämter Machtpolitik. Doch
die dem Mord zugrunde liegende Frage ist ein
zentraler Punkt in dieser schwer entwirrbaren
Auseinandersetzung um Glauben und Sünde:
Wann hört ein Muslim auf, Muslim zu sein?
Es ist die
zentrale Frage
in einem
Machtkampf
um Glauben
und Sünde:
Wann hört
ein Muslim auf,
Muslim zu
sein?
KAMPF UM DEM ISLAM
»Eine Grundfrage der islamischen Theologie
war es stets, die Demarkationslinie zwischen
Glauben und Unglauben zu definieren«, sagt
der Islamwissenschaftler Sven Kalisch. Das sei
deshalb entscheidend, weil nur der Glauben den
Eintritt ins Paradies ermögliche. Doch auch weltliche Konsequenzen können daraus folgen:
takfir ist die arabische Bezeichnung dafür, wenn
man einem anderen den Status als Muslim abspricht – und ihn somit praktisch für vogelfrei
erklärt. Denn die meisten islamischen Theologen sind der Ansicht, dass der Abfall vom Islam
mit dem Tod bestraft werden muss.
Dass der Vorwurf der Apostasie ein probates
Mittel darstellt, um sich unbequemer Widersacher zu entledigen, liegt auf der Hand. Takfir
ist, was Intellektuellen in islamischen Ländern
droht, wenn sie sich für eine Liberalisierung religiöser Traditionen einsetzen. Takfir trieb auch
den ägyptischen Theologen Nasr Abu Zaid in
den 1990er Jahren ins Exil. Seine Gegner argumentierten so: Abu Zaids Bücher bewiesen, dass
er kein Muslim sei, und darum dürfe er nicht
länger mit einer muslimischen Frau verheiratet
sein. Ein ägyptisches Gericht war bereit, diesem
Gedankengang zu folgen – der »Ketzer« Abu
Zaid wurde zwangsgeschieden, erhielt Morddrohungen und verließ schließlich seine Heimat. Mit diesem Vorgang hatte die takfirFraktion einen wichtigen Etappensieg errungen,
mit langfristigen Folgen: Noch nach seinem Tod
vor wenigen Monaten erschienen in ägyptischen
Zeitungen Nachrufe, die Abu Zaids Glauben in
Frage stellten.
Die Gelehrten sorgen sich
um die Einheit der Muslime
Auch wenn Idee und Praxis des takfir bis in
frühislamische Zeiten zurückreichen, war der
Zusammenhang von Sünde und Strafe stets umstritten. So schrieb im 8. Jahrhundert Abu Hanifa, der Namenspatron der hanafitischen
Rechtsschule: Wer sich eines Vergehens gegen
das göttliche Gesetz schuldig gemacht habe, sei
dennoch weiterhin als Muslim zu betrachten,
sofern er nur seinen Glauben an Allah und dessen Propheten Muhammad bekunde. Die Entscheidung wurde Gott überlassen und auf das
Jüngste Gericht vertagt. Theologen, die so dachten, hießen daher »Aufschieber«: Murdschiiten.
Neben ihnen gab es jedoch schon immer die
jungen Feuerköpfe, die eine aktivistische Ausle-
Wer bestimmt
auf Dauer,
was die mehr als
eine Milliarde
Muslime auf
der Welt glauben
sollen?
gung des Islams bevorzugten und andere Muslime ins Visier nahmen. Im 20. Jahrhundert wurde ihre Ideologie von arabischen Islamisten wieder aufgegriffen: Sie begannen Regierungen für
abtrünnig zu erklären, die ihrer Ansicht nach
nicht islamgemäß regierten. Manche hielten sogar die gesamte Gesellschaft um sich herum für
ungläubig. Schließlich erwuchsen aus diesem
Milieu Organisationen wie die Terrorgruppe AlQaida, die den Dschihad internationalisierten.
Auch deren Führer Osama Bin Laden betreibt
takfir: Die Herrscher Saudi-Arabiens etwa bezeichnete er als »Heuchler« – eine Anspielung auf
den Koran, wo die Heuchlerei als perfide Form
des Unglaubens auftritt. Das funktioniert freilich in beide Richtungen, und so müssen sich
auch Dschihadisten wie Bin Laden immer öfter
den Vorwurf gefallen lassen, sich durch ihr Denken und Tun außerhalb des Islams zu stellen.
Viele Gelehrte lehnen es indes ab, derartig
fundamentale Urteile über andere Muslime zu
fällen. Sie sind besorgt um die Einheit der
umma, der Weltgemeinschaft der Muslime. Doch
das Ziel, diese Einheit wiederherzustellen, führen
auch die Progressiven und die Radikalen im
Mund. Sie alle haben ganz bestimmte Vorstellungen davon, was den Islam ausmacht. In ihrem
Kampf um die Herzen und Köpfe der Muslime
ringen sie mit theologischen Traktaten, durch
Medienpropaganda und nicht zuletzt mit purer Gewalt um ein letztlich wohl unerreichbares Ziel: die Deutungshoheit über eine im 7.
Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel begründete Glaubensrichtung. Aber hat diese Deutungshoheit je bestanden?
Zeit seiner Geschichte ist der Islam eine uneinige und mit Konflikten beladene Religion gewesen. Insbesondere die Frage, was einen »richtigen« Muslim ausmache und wie er sich zu verhalten habe, bewegte Muhammads Gemeinde
von Beginn an. Schien dies anfangs noch eindeutig klärbar – äußerliche Merkmale wie das
Beten in eine bestimmte Richtung dienten nicht
zuletzt der Unterscheidung von anderen Religionen –, so wuchs die Unsicherheit darüber
seit dem Tod des Propheten unaufhaltsam. Als
der dritte Kalif Uthman im Jahr 656 ermordet
wurde und Muhammads Schwiegersohn Ali seine Nachfolge antreten wollte, erlebte die junge
Gemeinschaft ihre erste fitna – eine traumatische
Glaubensspaltung. Im Kern ging es um die Frage, wer nach Gottes Willen zur Herrschaft bestimmt sei: Nur die engsten Verwandten Muhammads, sprich Ali? Oder der Kandidat, auf
den sich die Gemeinde einigen würde?
Ist der Kalif Uthman
zu Recht getötet worden?
Die Vorwürfe auf beiden Seiten wogen schwer:
Hatte Ali bei dem Mord seine Hand im Spiel
gehabt, deckte er zumindest die Täter? War der
willkürlich agierende Uthman andererseits vielleicht zu Recht getötet worden, weil er den Islam missachtet hatte? Eine Frage, die die Gemüter bewegte, noch lange danach. Der »Aufschieber« Abu Hanifa zeigt sich rund hundert Jahre
später unentschieden: »Gott allein weiß es«.
Anders ein Teil der Schiiten, der Unterstützer
Alis: Erbost über seine Nachgiebigkeit – Ali hatte einem Schiedsgericht zugestimmt, anstatt in
der Schlacht gegen Uthmans Vetter Muawiya die
Entscheidung zu suchen – verließen sie seine
Anhängerschaft. Dies war nicht der Islam, wie
sie ihn verstanden. Einer von ihnen ermordete
Ali später aus Rache, während der siegreiche
Muawiya 661 die Dynastie der Umayyaden begründete.
Die offene Wunde der ersten fitna verheilte
nicht – genau genommen bis heute nicht. Über
Jahrhunderte hinweg blieb die Machtposition
der Kalifen prekär. Nicht nur bekämpften Schiiten und die herrschenden Dynastien einander,
auch traten immer wieder Einzelne auf, die eine besondere göttliche Mission für sich reklamierten. Dass die Hülle »Islam« von Theologen
erst allmählich mit Inhalt gefüllt wurde, ließ
selbst vermeintliche theologische Randaspekte >>
zenith 3/2010
43
KAMPF UM DEN ISLAM
>> wie die Frage der Ewigkeit des Korans in brisante
politische Konflikte ausarten. Wer über die Auslegung des Islams bestimmte, hielt die Schlüssel zur Herrschaft in seinen Händen – wer die
theologische Deutungsmacht anderen überließ,
stand dagegen auf verlorenem Posten. Als es den
Religionsgelehrten im 9. Jahrhundert gelang,
sich dauerhaft vom Einfluss der Kalifen zu befreien, schwand deren Bedeutung unaufhaltsam.
Auch die Religionsgelehrten als Gralshüter
des »wahren Islams« mussten sich jedoch immer
wieder gegen unliebsame Konkurrenz behaupten – bis in die Gegenwart. Seit auch theologisch ungebildete Muslime für sich in Anspruch
nehmen, religiöse Urteile zu fällen, zeigt sich
immer deutlicher: Die wichtigsten Quellen des
Islams, der Koran und die Hadith-Überlieferungen, sind gegenüber Missbrauch aller Art
ungeschützt. Der Kampf um den Islam ist heute vor allem ein Kampf um den richtigen Umgang mit diesen Schriften.
Verspätete Medienrevolution
in der arabischen Welt
Insbesondere der Koran erweist sich als anfällig
gegenüber religiöser Usurpation. Dies hängt zum
einen mit der verspäteten Medienrevolution in
der arabischen Welt zusammen. Als der Korantext 1926 mit der Kairoer Druckausgabe erstmals
massenhaft vertrieben wurde, ermöglichte dies
einen ganz neuen Zugang zu dem heiligen Buch
des Islams: »Seither lesen und goutieren die
Menschen den Koran auch in Alltagssituationen«, beschreibt der Islamforscher Reinhard
Schulze diese einschneidende Veränderung.
Zum anderen entstanden seit dem späten 19.
Jahrhundert eine Reihe reformerischer Bewegungen. Gelehrte wie der Ägypter Muhammad
Abduh plädierten dafür, Religion und Gesellschaft auf der Basis einer modernen Lektüre von
Koran und Hadith zu erneuern. Und die eine Generation später von einem Volksschullehrer gegründete »Muslimbruderschaft« nahm die religiöse Unterweisung gleich selbst in die Hand,
statt dem nachgeplapperten Wissen der religiösen Graubärte zu vertrauen.
Seither hat sich eine Kultur der indidivuellen
Koranauslegung etabliert – und zwar gleichermaßen unter fundamentalistischen Strömungen wie unter liberalen und progressiven Muslimen. Beide Seiten propagieren den idschtihad,
die eigenständige Urteilsfindung in religiösen
44
zenith 3/2010
Selbst wie man
einen Dschihad
zu führen hat,
ist unter Radikalen
inzwischen
umstritten
Fragen. Und beide Seiten kommen dabei zu völlig gegensätzlichen Ergebnissen; etwa bei Fragen zur Stellung der Frau. Dass dies nicht ständig Konfrontationen nach sich zieht, liegt an der
dezentralen Struktur des Islams, bei der keine
oberste Autorität den Glauben für alle verbindlich definieren muss. Es führt aber auch dazu,
dass die Weltanschauungen einzelner Gruppen
immer radikaler werden.
Insbesondere dort, wo Muslime unterschiedlicher Ausrichtung aufeinandertreffen,
kommt es daher immer wieder zu Zusammenstößen. Dass diese nicht in jedem Fall so unblutig verlaufen wie im Fall von IslamOnline,
musste erst vor wenigen Monaten Pakistan erfahren: Innerhalb weniger Wochen kam es in
Lahore zu Anschlägen auf zwei Moscheen der
Ahmadiyya-Bewegung und auf einen SufiSchrein, bei denen weit über hundert Menschen
starben. Urheber der Terrorakte waren die Taliban; die tieferen Gründe liegen jedoch in Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen IslamStrömungen des Landes verborgen: Streng genommen würden 20 Prozent der Pakistaner die
restlichen 80 Prozent im Grunde als »falsche«
Muslime betrachten, rechnete die Zeitschrift
Outlook India nach den Terrorakten vor. Der
1889 gegründeten Ahmadiyya wurde die Zugehörigkeit zum Islam 1974 vom Staat sogar offiziell abgesprochen, was ihre Mitglieder noch
verwundbarer macht.
Ein anderes Beispiel ist der Irak: Dort schlachtete Abu Musab al-Zarqawi bis zu seinem Tod
gezielt Schiiten ab und bezeichnete sie als »lauernde Schlangen« und »eindringendes Gift«. Das
zeigt zwar eher, wie kühl er mit religiösen Differenzen kalkulierte: Im Zweifel nahmen und
nehmen die Adepten von Al-Qaida & Co. auch
sunnitische Opfer in Kauf. Doch das ketzerische
Bild von Schiiten, das die Dschihadisten jahrelang verbreiteten, ist mittlerweile auch in den
sunnitischen Mainstream eingesickert.
Und dennoch sind Konflikte zwischen den
großen islamischen Konfessionen nicht mehr
die zentrale Herausforderung. Zwar wird immer wieder geschrieben, der Gegensatz zwischen
Sunniten und Schiiten werde die Zukunft des
Nahen und Mittleren Ostens prägen. In Wahrheit jedoch spielen sich die für den Islam insgesamt entscheidenden Entwicklungen und
Machtkämpfe längst jenseits konfessioneller
Grenzen ab. Die grundsätzlicheren Auseinandersetzungen werden heute innerhalb der religiösen Machtblöcke geführt: sei es im Iran, wo
Reformer und herrschende Theokraten um die
politischen Implikationen der schiitischen Lehre ringen, oder in Ägypten, wo die staatstreuen
Gelehrten der Azhar-Universität vergeblich gegen die von Islamisten propagierte Vollverschleierung argumentieren. Auch innerhalb der
Radikalenszene kommt es seit einigen Jahren
verstärkt zu Spaltungen und Anfeindungen: jüngere gegen ältere, moderatere gegen radikalere
Gotteskrieger. Dass dabei auch die takfir-Doktrin intern angezweifelt wird, zeigt: Selbst wie
man einen Heiligen Krieg zu führen hat, ist mittlerweile umstritten. Der Dschihad ist auch nicht
mehr das, was er einmal war.
Die Schiiten – eine »lauernde Schlange«
Der wichtigste Unterschied zu den Zerreißproben vergangener Tage dürfte jedoch woanders
liegen: Die Schlacht um die Macht im Hause
des Islams wird heute nicht mehr allein in der
islamischen Welt geschlagen. Und das liegt nicht
nur an der Existenz großer muslimischer Gemeinschaften in Europa und Amerika oder an
den geopolitischen Interessen des Westens.
Schon die Reformer der nahda, der arabischen
»Renaissance«, im 19. Jahrhundert waren – bewusst oder unbewusst – tief beeinflusst von europäischen Vorstellungen von Staat, Gesellschaft
und Religion. Seither hat Europa bei den verschiedenen Um- und Neudeutungen des Islams
ein gewichtiges Wort mitzureden. Auch wenn
manche hier wie dort es bis heute nicht wahrhaben wollen: Das geistesgeschichtliche Erbe Europas ist seit bald zwei Jahrhunderten ein Teil
des Islams und geht fortwährend in die sich verändernden Selbstdefinitionen der Muslime ein.
Dies gilt insbesondere für vermeintlich west-
KAMPF UM DEN ISLAM
»Der Islam
ist ...«
gel: Stets zeigt er etwas übergroß. Doch obwohl
sie um die Verfälschung wissen, versuchen die
Muslime sich dem Bild anzupassen.
Was Islam und Muslim-Sein bedeuten, kann
heute daher nicht mehr diskutiert werden, ohne die westlichen Positionen mitzudenken; und
sei es widerstrebend. Wie selektiv dies geschieht,
beweist der gegenwärtige Boom orientalisierender Malerei in den Golfmonarchien: In ihm manifestiert sich das Bedürfnis nach einem Bild
der eigenen Geschichte, das mit den klassischen
europäischen Klischees von Wüste und Harem
übereinstimmt.
Was Islam
bedeutet, kann
heute nicht
mehr ohne den
Westen diskutiert
werden
Doch ist eben nicht nur die orientalistische Malerei des 19. Jahrhunderts Teil dieses Prozesses,
sondern auch ein Karikaturist wie Kurt Westergaard. Ein Abu Zaid ebenso wie ein Bin Laden; ein
Ali Khamenei, der im Iran als Stellvertreter des
»verborgenen Imams« herrscht, ebenso wie eine
Amina Wadud, die in New York als Imamin Freitagsgebete leitet. Was Muslime sind und was sie
zu glauben haben, wird heute ebenso sehr in Europa entschieden wie in Mekka, ebenso sehr auf
IslamOnline wie in einer Koranschule in Bangladesch. In der islamischen Welt des 21. Jahrhunderts gibt es kein Zentrum und keine Peripherien mehr.
Zugleich wirkt die umma heute, 14 Jahrhunderte nach dem Tod Muhammads, gespalten und führungslos. Die Globalisierung hat eine ungeahnte Vielfalt von
Lebensentwürfen möglich gemacht. Mindestens ebenso stark wie der Trend zur Individualisierung ist aber derjenige zur Vereinheitlichung: Waren und Ideologien werden
standardisiert und weltweit verbreitet. Auch der
Islam wird sich dieser Entwicklung nicht entziehen können. Wer bestimmt auf Dauer, was die
rund anderthalb Milliarden Muslime auf der Welt
glauben sollen? Welcher der unterschiedlichen
Glaubensentwürfe wird sich am Ende durchsetzen? Wird sich überhaupt einer durchsetzen?
Ein guter Muslim würde wohl sagen:
»Gott allein weiß es.«
<<
Muhammad-Karikaturen beleidigend zu finden.
Ironischerweise hätten gerade die linken Multikulturalisten auf diese Weise die Fatwa gegen
den Schriftsteller Salman Rushdie »internalisiert«, schließt Malik.
Was er nicht schreibt, ist, dass diese Debatten
sich auch auf innerislamische Diskurse selbst auswirken: Bestimmte Akteure und Positionen werden
auf dem Umweg über ihre westliche Rezeption gestärkt, andere geschwächt. So wird beispielsweise
das französische »Burka-Verbot« in Marokko und
Ägypten inzwischen kontrovers diskutiert.
Selbst viele Gegner der Vollverschleierung
sprechen sich gegen die Zwangsenthüllung aus;
und sei es, weil sie hinter den europäischen Initiativen antiislamisches Sentiment vermuten.
Am Ende könnte dies sogar dazu führen, dass
immer mehr Muslime den niqab als Identitätssymbol akzeptieren – nach dem Motto: Was den
Europäern unrecht ist, sollte uns billig sein. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, fungiert
der Westen für die islamische Welt als Zerrspie-
Europa fungiert als
Zerrspiegel für den Islam
Weiterlesen: Weitere Beiträge zum Heftschwerpunkt »Kampf um den Islam« auf
www.zenithonline.de
Von »Der Islam
ist die Lösung« bis
hin zu »Islam ist
gleich Islamismus«:
Die Meinungen
über das Wesen der
im 7. Jahrhundert in
Arabien entstandenen
Religion gehen weit
auseinander. Die
folgenden Aussagen
zeigen aber auch:
Glaube ist eine private
Angelegenheit.
KRISTIANE BACKER (44)
MODERATORIN, GROSSBRITANNIEN
»Der Islam
ist mein Anker
im Himmel«
zenith 3/2010
Illustration: Lesprenger
lich-islamische Konflikte. Die Rushdie-Affäre
und der Karikaturenstreit waren im Kern politische Phänomene, nicht religiöse. Im Gegenteil – weniger hat der Islam sie herbeigeführt, als
sie den Islam beeinflusst haben dürften: Sowohl
Khomeinis Mordaufruf von 1989 gegen den Verfasser der »Satanischen Verse« als auch die Erhitzung der Gemüter um die dänischen Zeitungskarikaturen 2006 haben dazu beigetragen,
ein bestimmtes Bild vom »authentischen Islam«
in der westlichen und internationalen Öffentlichkeit zu verankern.
Der indisch-britische Publizist Kenan Malik
hat dies in einem Aufsatz treffend nachgezeichnet: In den Augen liberaler Europäer bedeute
ein »richtiger« Muslim zu sein mittlerweile, die
45
Illustration: Lesprenger
KAMPF UM DEN ISLAM
AYAAN HIRSI ALI (40)
PUBLIZISTIN, NIEDERLANDE UND USA
»Der Islam ist nicht
einfach ein Glauben;
er ist eine Lebensweise, eine gewalttätige
Lebensweise. Der
Islam ist durchtränkt
mit Gewalt, und er
fördert Gewalt.«
ABDELKARIM HENRY ANDERS (60)
FOTOSTYLIST UND SUFI, DEUTSCHLAND
»Islam ist für mich das
Erlernen des liebevollen
und vornehmen Umgangs
mit meiner Seele
und meinen
Mitmenschen.«
HIZBUR RAHMAN
OMAR ZUHDI (27)
KANDIDAT DER TV-SHOW
»JUNGER IMAM«, MALAYSIA
»Der Islam ist
eine Religion,
die Vergnügen
erlaubt, aber es
muss immer
Grenzen geben.«
46
zenith 3/2010
»Der Koran ist
eine reformatorische
Schrift«
Wann wurde der Islam zum Islam?
Der Orientalist Josef van Ess im
zenith-Gespräch über Prophetengenossen,
verrückte Gnostiker und die Gebetsgymnastik
der frühen Muslime
Interview: Christian Meier
Andreas Altmann
zenith: Herr van Ess, seit wann gibt es
den Islam?
Josef van Ess: Diese Frage ist überhaupt nicht
zu beantworten. Zumal man ja schon unterschiedlicher Meinung darüber ist, seit wann es
den Koran gibt. Eines ist klar: Als es den Koran
gab, gab es noch lange nicht den Islam.
Wie ist das zu verstehen?
Eine Religion braucht Generationen, bis sie weiß,
warum sie da ist. Als Offenbarungsreligion hat
der Islam bestimmte Grundvoraussetzungen:
ein Gottesbild und die Notwendigkeit eines Stifters etwa. Aus diesen Voraussetzungen folgen Optionen. Und dann müssen Entscheidungen gefällt werden – was Zeit
braucht, zum Teil Jahrhunderte. Durch
diese Entscheidungen wird der Entscheidungsspielraum immer weiter
eingegrenzt – sozusagen eine natürliche Erstarrung, die es bei allen Religionen gibt.
Häufig heißt es, der Islam brauche eine
Reformation – einen »islamischen Luther«,
um die Erstarrung aufzuhalten.
Ach, das ist doch ein alter Hut. Der Gedanke
taucht schon im späten 19. Jahrhundert auf, und
man hört es auch jetzt immer wieder. Dahinter
steht der etwas amorphe Wunsch nach Reform,
weil man mit der Gegenwart unzufrieden ist. Dabei ist schon der Koran eine reformatorische
Schrift – insofern, als die älteren Religionen als
Irrwege abgetan werden. Was natürlich eine Illusion ist: Der Koran ist nie zu den Anfängen
zurückgekehrt. Aber dahinter steht vermutlich
eine historische Erfahrung: Die Zeitgenossen des
Propheten erlebten das Christentum nicht als
einheitliche Religion, sondern als drei verschiedene »Kirchen«, die sich wüst beschimpften.
Und als was sahen die frühen Muslime sich
selbst? Wie ist der Islam zum Islam geworden?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Islam von
Muhammad noch gar nicht intendiert war. Anfangs wird bloß eine Gemeinde gebildet, die sich
eines besonders sittlichen oder frommen Lebenswandels befleißigen soll und die sich als
»die Gläubigen« bezeichnet: al-mu’minun.
Die Bezeichnung »Muslim« kommt erst viel
später in Gebrauch ...
Richtig – sie steht zwar schon im Koran, meint
aber nur ganz bestimmte Leute: die alten Kaaba-Verehrer aus Mekka, die sich dem Islam »unterwerfen«. Das zumindest schreibt der Islamforscher Fred Donner in seinem neuen Buch.
Unter den mu’minun waren seiner Ansicht nach
dagegen auch Juden und Christen. Die wurden
später ausgesondert – wohl zur Zeit des Kalifen
Abd al-Malik. Und dann wurde knapp hundert
Jahre nach der Hidschra der Islam zum Islam.
Ab diesem Zeitpunkt kann man von einer
etablierten islamischen Religion sprechen?
Ja und nein. Wir stellen uns das immer so vor:
Da ist eine Gruppe von Leuten, die denken sich
etwas aus und machen eine neue Religion auf.
Aber so war das ja nie. Natürlich hat es die
»Gläubigen« gegeben. Aber die wurden durch die
Eroberungskriege in alle Himmelsrichtungen
zerstreut. Die Folge war ein Konglomerat ver-
Foto: chm
KAMPF UM DEN ISLAM
Selbst an Orten wie Kufa oder später Bagdad
würde ich nicht von einem einheitlichen Islam
ausgehen. Bagdad war dafür ja auch viel zu groß,
es hatte unter Umständen eine Million Einwohner. Dass man da in jeder Moschee den Islam gleich verstanden hätte, halte ich für völlig
unmöglich. Wir haben ja Berichte von diesen
verrückten Gnostikern. Was die glaubten, muss
irgendwo ausgesprochen worden sein, und es
müssen sich auch Anhänger gefunden haben.
Ansonsten hätte man das gar nicht schriftlich
niedergelegt.
Sie zeichnen ein fast schon atomistisches
Bild vom Islam.
Oder ich stelle das gängige Bild auf den Kopf.
Die Pluralität steht am Anfang, die Einheit
kommt später. Ein Fundamentalist würde es genau umgekehrt sehen.
JOSEF VAN ESS gilt als einer der weltweit bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der islamischen Theologie und Philosophie. Von 1968
bis 1999 bekleidete er den Lehrstuhl für Islamkunde und Semitische Sprachen an der Universität Tübingen. Sein Hauptwerk »Theologie und
Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra«, zwischen 1991 und 1997 in sechs Bänden erschienen, ist in der Fachwelt mittlerweile
schlicht als »TG« bekannt. Im Juli wurde der
1934 geborene van Ess auf dem dritten »World
Congress for Middle Eastern Studies« in Barcelona für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
schiedener Nuclei. Vor allem in den neuen Garnisonsstädten – Basra, Kufa oder Fustat: Da
saßen dann ein paar so genannte Prophetengenossen, um die herum sich eine Sorte Islam
gruppierte. Aber ich bin überzeugt, dass das in
Kufa ganz anders aussah als in Fustat.
Aus welchem Grund? Waren diese Gebiete
voneinander isoliert?
Die Kommunikation zwischen den Zentren war
schwach. Natürlich sind die Leute gereist, und
vermutlich hatten sie irgendeinen Koran-Text,
an den sie sich hielten. Aber die Frage ist ja, ob
der Koran schon im Mittelpunkt stand. Aus meiner Sicht: Nein. Was die Gemeinde einte, war
vielmehr die Art des gemeinschaftlichen Gebets.
Diese merkwürdige Gymnastik, die man dabei
treibt – das ist ja singulär. Und das fiel jedem anderen auf. Was da dagegen an Überbau war, also was wir heute unter Islam verstehen – das
weiß der Himmel.
Heißt das, in den Städten haben sich jeweils
eigene Islam-Richtungen entwickelt?
Was war das einigende Band aller dieser
lokalen Gruppen und Islam-Varianten –
jenseits der Gebetsgymnastik?
Auf Dauer war das der Koran. Es brauchte etwas Zeit, bis er zusammengestellt und den Leuten zu Bewusstsein gekommen war. Aber in dem
Augenblick, wo man den Koran als verbindliche
Grundlage besaß, da gab es den Islam. Vermutlich begann das mit Abd al-Malik und den Inschriften am Felsendom in Jerusalem, wo der
Koran zitiert wird – nicht ganz wörtlich, übrigens. Später kam dann das islamische Recht hinzu. Aber auch danach gab es Gruppen, die von
anderen als Häretiker verketzert wurden. Der
das für frühe Gruppen, die sich gegen den Staat
erhoben. Beispielsweise der »verschleierte Prophet« Al-Muqanna’ im 8. Jahrhundert: Noch
Jahrhunderte später fanden sich Anhänger dieses Mannes in den Bergen Turkestans. Und wenn
Geographen hinfuhren und fragten: ›Seid ihr
Muslime?‹, dann sagten die Leute: ›Ja, so genau
wissen wir das auch nicht. Aber wir zahlen Steuern.‹ Die Christen hätten die im Mittelalter
schon längst ins Jenseits befördert.
Das klingt beinahe zu harmonisch,
um wahr zu sein.
Natürlich ist es manchmal ausgesprochen rabiat zugegangen. Mahmud von Ghazna etwa hat
viele einfach einen Kopf kürzer gemacht – aber
ganz bestimmte Leute, die ihm auch politisch im
Weg standen. Doch zu anderen Zeiten hat man
halbwegs friedlich nebeneinander her gelebt. Insofern bietet der Islam ein bunteres Bild als die
christliche Welt.
Würden Sie sagen, dass das auch für
die Gegenwart gilt?
Inzwischen ist die Sache in der Tat umgeschlagen: Durch die Medien ist es viel leichter möglich, ein verbindliches Bild vom Islam unter die
Leute zu bringen und etwa mit Geld durchzusetzen. Der Umschwung begann schon unter
den von uns so hoch geschätzten Reformatoren
des späten 19. Jahrhunderts wie Muhammad
Abduh. Die ja auch eine Rückkehr zur Schrift
propagierten – und damit auf einen Einheitsislam hinauswollten. Die Ironie der Geschichte
»Muhammads Zeitgenossen erlebten
das Christentum als drei sich wüst
beschimpfende Kirchen«
Begriff Häresie setzt eine Orthodoxie voraus.
Wie aber wollen Sie Orthodoxie im Islam definieren? Es hat natürlich Orthodoxien in unserem Sinne gegeben, aber sie waren immer lokal
und zeitlich begrenzt: In dem Augenblick, wo
man irgendwo eine bestimmte Islam-Interpretation verbindlich machte, gab es Gruppen, die
als abartig bezeichnet wurden. Aber grundsätzlich und überall verabscheut wurden nur ganz
wenige Gruppen, etwa die Ismailiten.
Wie ging man mit solchen »abartigen«
Gruppen um?
Selbst die Ismailiten wurden nicht ausgerottet.
Sie haben sich in Rückzugsgebiete flüchten müssen, aber sie haben überlebt. Noch viel mehr gilt
hat dann dazu geführt, dass schließlich der moderne Fundamentalismus daraus geworden ist.
Wobei dieser Fundamentalismus eben auch
eindeutig modern ist ...
Ganz gewiss: Da steckt viel mehr Moderne drin,
als wir so denken. Wenn wir daher Ansichten,
wie sie von Fundamentalisten vertreten werden, auf den Koran zurückführen, dann tun
wir damit zwar den Fundamentalisten einen
Gefallen, aber historisch gesehen ist das falsch.
Doch im Grunde habe ich keine Angst um die
islamische Welt. Ich bin sicher, dass auch die
Fundamentalisten es nicht zu einer Orthodoxie schaffen werden. Das ist einfach in der Re<<
ligion nicht angelegt.
zenith 3/2010
47
KAMPF UM DEN ISLAM
Yussufs Welt
Im Wettlauf um die Deutungshoheit im Islam
führt ein 83-Jähriger mit großem Vorsprung.
Der Erfolg der Marke Qaradawi hat viel mit
Produktionsabläufen moderner Medien zu tun.
Aber steht der Mann noch für etwas anderes
als für sich selbst?
Von Daniel Gerlach
Eine Polemik von Andreas Altmann
Foto: Zahid Hussein
>> Scheich Yussuf al-Qaradawi wohnt in einem vornehmen Anwesen. Für einen katholischen Bischof oder gar den Papst wäre seine
Stadtvilla an einer dunklen Ausfallstraße in Doha im Emirat Katar allerdings eher bescheiden.
Der sunnitische Islam kennt zwar keine Kirchenämter, aber Qaradawis Einfluss auf die islamische Welt hat Experten schon dazu veranlasst, ihn mit den allerhöchsten Vertretern des
Katholizismus zu vergleichen – eine »Ein-MannGlaubenskongregation« nannte ein Beobachter
des islamischen Medienbetriebs den Scheich,
der beinahe wöchentlich in der Prime Time des
Satellitensenders Aljazeera auftritt.
YUSSUF AL-QARADAWI erhielt seine theologische Ausbildung an der Universität Al-Azhar
in Kairo. Sein Buch »Erlaubtes und Verbotenes
im Islam« gilt vielen Muslimen als Leitfaden für
ein gottgefälliges Leben.
48
zenith 3/2010
Für manche ein Hetzer,
für andere ein Laissez-Faire-Scheich
Was ein 83-Jähriger, über dessen Leidenschaften
außer Büchern über den Islam kaum etwas bekannt ist, in einer dreigeschossigen Villa tut,
bleibt sein Geheimnis – Besucher empfängt Qaradawi nach arabischer Sitte in einem Raum im
Erdgeschoss mit Neon-Lampen und komfortablen, im Rechteck angeordneten Sitzmöbeln in
orientalischem Barock. Wie fast jeden Sonntagabend wartet dort bereits Motaz al-Khateeb, Redakteur der Sendung »Al-Scharia wa-l-Hayat –
Die Scharia und das Leben«. Die beiden Männer steigen nach einer kurzen Begrüßung in Qaradawis schwarze Mercedes-Limousine. Es ist
21 Uhr, in etwa einer Stunde beginnt die Sendung. Wie denn das Thema laute, fragt Qaradawi
seinen Redakteur. Die Antwort: »Fatwas und die
Politik«. Qaradawi ist zufrieden – das Thema
sagt ihm zu. Vor vier Jahren, als die erfolgreichste Islam-Sendung der Welt ihr zehnjähriges Jubiläum feierte, hatte Qaradawi einmal mit der
Faust auf den Tisch gehauen und gerufen, er
habe es satt, über die Kleinigkeiten des Lebens
zu reden, wenn es doch so viele große Themen
zu besprechen gebe.
Politik heißt für Qaradawi Weltpolitik. Die
Muslime in der Welt, verkündet er immer wieder, würden von »ihren Feinden« unterdrückt –
ob in Palästina, Afghanistan oder im Irak. Qaradawi beklagt die mangelnde Solidarität der muslimischen Staaten mit den geschundenen Glaubensbrüdern. Und er wettert regelmäßig gegen
seine Berufsgenossen, die rechtsgelehrten Ulama
von der Azhar-Universität in Kairo, die sich selbst
zu Kollaborateuren diktatorischer Regime und
des Westens machten. Wer die weltpolitischen
Ansichten des kleinen Bürgertums zwischen Marokko und Indonesien erfahren will, kann sie in
ihrer kondensiertesten Form bei diesem Mann
abrufen – fast jeden Sonntagabend auf Aljazeera.
»Der Scheich ist nicht unser einziger Studiogast«,
sagt Redakteur al-Khateeb, der sich oft gegen den
Vorwurf verteidigen muss, Aljazeera biete Qaradawi ein Meinungsmonopol, »aber er kommt
mindestens jeden zweiten Sonntag, denn er ist
nicht nur beliebt, sondern auch ungeheuer kompetent.«
Die Sendung ist so angesetzt, dass Muslime
in Europa sie um 20 Uhr mitteleuropäischer
Zeit empfangen können – am arbeitsfreien
Sonntag. Auf die Frage, wie er sich seinen eigenen Erfolg erkläre, sagt Qaradawi, während er
Qaradawi
und Al-Azhar:
Hassliebe zur
alten Heimat
sich gemächlich den Turban geraderückt, nur
einen Satz: »Die Menschen mögen Leute, die
die Wahrheit sprechen.«
Medienforscher sind sich einig: Qaradawi und
Aljazeera haben sich gegenseitig nach oben gebracht. Der Scheich sichert gute Einschaltquoten
und der Satellitensender verschafft ihm die hellstmögliche Bühne. Als die Sendung beginnt, wird
Qaradawi zur Rolle islamischer Rechtsgutachten
in der Politik befragt. Er denkt nicht daran, zur
Sache zur sprechen, sondern plaudert beinahe
zehn Minuten über einen anderen, verstorbenen
Islam-Gelehrten und das Gute, das dieser Mensch
an Gedanken hinterlassen habe. Was im westlichen Fernsehen kaum vorstellbar wäre: Qaradawi wird nicht unterbrochen. Aus der Regie gibt
Redakteur al-Khateeb dem Moderator einige Fragen durch, die per E-Mail in der Redaktion eingegangen sind. Es geht darum, ob die ägyptischen
Behörden die Tunnelbauten nach Gaza blockieren dürfen und ob die Islam-Gelehrten die Regierung kritisieren sollten.
Er ist unterhaltsam, grantig, plötzlich
rührend und dann wieder zornig
Der Moderator nickt – und lässt Qaradawi weiterplaudern. Der alte Mann ist unterhaltsam,
autoritär und grantig, plötzlich rührend, dann
wieder zornig und abermals charmant. Qaradawi kommt nicht ins Stocken. Er ist das, was
Fernsehleute gern als »authentisch« oder »telegen« bezeichnen – eine arabische Erfolgsmelange aus Marcel Reich-Ranicki, Heiner Geißler
und Peter Scholl-Latour. Auch die Produktionsabläufe im modernen Satellitenfernsehen
sind ein Schlüssel zum Verständnis des Phänomens Qaradawi: Das Team der Sendung ist klein;
doch mit einem eingespielten Profi wie ihm dauert die inhaltliche Vorbereitung keine 20 Minuten. Der Scheich parliert und polarisiert und
macht so aufwändige Recherchen oder vorproduzierte Beiträge überflüssig.
Seit über 30 Jahren tritt Qaradawi in TV-Studios auf – einen Reinfall haben Fernsehmacher
mit ihm noch nicht erlebt. Aljazeera behauptet,
dass 160 Millionen Menschen regelmäßig das
Programm des Senders konsumierten, »Die
Scharia und das Leben« zählt laut Konzernleitung zu den beliebtesten Formaten.
Dabei haben Qaradawi und die Sendung
durchaus Kritiker. Vor allem westliche Beobachter halten seine Interpretationen des Islams
für rückwärtsgewandt. Selbstmordattentate im
Krieg gegen Israelis und Amerikaner hat der
Scheich für islamkonform erklärt. Er steht den
ägyptischen Muslimbrüdern nahe und ging deshalb in den 1960er Jahren ins Exil nach Katar.
In Büchern, die er damals verfasste und nie revidierte, propagierte er die Todesstrafe für Ho-
Der Moderator
nickt beifällig
und lässt
den alten Grantler
reden
mosexuelle. 2006 führte er die Proteste gegen
die dänischen Muhammad-Karikaturen und
Papst Benedikt an, der seiner Ansicht nach den
Propheten diffamiert hatte. Eine abfällige Bemerkung über Weihnachtsschmuck in Katar kritisierte das Magazin Der Spiegel als üble Hetze
gegen Christen. Die USA und Großbritannieren belegten Qaradawi, der als äußerst reiselustig gilt, schon mit Einreiseverboten.
Am anderen Rand des Spektrums, etwa bei
den saudischen Wahhabiten, wird Qaradawi als
Laissez-Faire-Scheich angesehen, der den Islam
zu pragmatisch und modern auslege. Doch habe er zugleich sogar bei radikal-konservativen Salafisten Anhänger gefunden und sei »eine Autorität geworden«, schreibt der ägyptische Islamismus-Forscher Husam Tammam in einem
Aufsatzband mit dem Titel »Global Mufti«.
Bei der Kritik anderer islamischer Gelehrter
an Qaradawi schwingt nicht selten Neid mit: Weder die saudischen Kleriker noch Qaradawis geistliche Heimat, die Al-Azhar-Universität, können
ihm in Sachen Reichweite Paroli bieten. Unter
dem Markennamen Qaradawi laufen mehrere
erfolgreiche Internet-Dienste, über die Gläubige Rat und Rechtsgutachten zu Alltagsfragen des Islams beziehen können. Die
Medienmaschine, die ihm das von einem
konservativen Islam geprägte Emirat Katar seit Jahrzehnten zur Verfügung stellt,
war ursprünglich sehr klein, arbeitete aber
effizienter als die Konkurrenz in Kairo oder
Riad. Sendemasten gegen Minarette – so gestaltet sich der Wettkampf zwischen Qaradawi
und der Azhar, seit es Aljazeera gibt.
Eine Hassliebe: Einerseits ist Qaradawi offenbar sehr stolz auf seine Ausbildung an der
altehrwürdigen Gelehrtenschmiede und betont
die Bedeutung des klassischen islamischen Curriculums in einer Zeit, in der selbst ernannte
Prediger und Autoritäten dank des Internets wie
Unkraut aus dem Boden sprießen. Andererseits
macht er aus seiner Verachtung für die Nähe der
Azhar zur ägyptischen Regierung wenig Hehl. Er
war es auch, der in den 1960er Jahren den Protest gegen die so genannte Verwaltungsreform
anführte, die es der Regierung gestattete, den
Großscheich der Azhar direkt zu ernennen. Dass >>
Illustration: Lesprenger
KAMPF UM DEN ISLAM
IBRAHIM ABU NAGI (46)
PREDIGER, DEUTSCHLAND
»Der Islam ist
die einzige
Rettung vor
der ewigen
Verdammnis
in der Hölle.«
MUSTAFA YURTSEVEN (42)
IMAM, DEUTSCHLAND
»Der Islam hat drei Bedeutungen.
Der Islam ist Frieden, der Islam ist
Hingabe, der Islam ist Offenbarung.
Dies bedeutet für den Gläubigen
Befreiung am Tag der
Auferstehung.«
HARUN YAHYA (54)
PUBLIZIST, TÜRKEI
»Ein Muslim zu sein,
kann nicht mit Terror
versöhnt werden.
Ganz im Gegenteil,
der Islam ist die
Lösung und dient der
Verhinderung des
Terrors.«
zenith 3/2010
49
Illustration: Lesprenger
KAMPF UM DEN ISLAM
MUHAMMAD ALI (68)
BOXER, USA
»Der Islam ist
eine Religion
des Friedens.
Er belohnt
Terrorismus
oder das Töten
von Menschen
nicht.«
HAFI SAAD (35)
ARZT, SUDAN
»Islam ist viel
komplexer als
die vereinfachten
Stereotypen,
die man aus den Medien
kennt. Islam ist mehr als eine
Religion, es ist ein Lebensweg.
Es ist die Sprache, mit der
man Gott verehrt, der Frieden
im Herzen, im Geiste und in
der Seele, es ist die Liebe zu
dir selbst und zu der ganzen
Welt, es ist Mitgefühl und
Wärme für Freunde und
Fremde, Demut, Dankbarkeit,
Geduld und ruhige Kraft.
50
zenith 3/2010
>> er nach seiner Emigration selbst gemeinsam mit
dem Herrscherhaus Katars eine Scharia-Fakultät gründete und zum engeren Kreis um Emir
Hamad Bin Khalifa zählt, rührt bislang kaum an
Qaradawis Ruf, über politische Einflussnahme
erhaben zu sein. Tatsächlich scheint es, als habe das Emirat dem ägyptischen Exilanten in den
vergangenen Jahrzehnten die Rolle eines
Großmuftis und inoffiziellen Religionsministers
überlassen.
Inzwischen kommt es zu vorsichtigen Annäherungsversuchen zwischen Qaradawi und
der Azhar. Trotz ihres Ärgers sieht die einst
mächtigste Autorität im sunnitischen Islam heute ein, dass der berühmte Dissident im globalen
Kampf um den Islam ihr natürlicher Verbündeter sein müsste. Qaradawi trat als Gastredner
bei einer Alumni-Feier der Universität auf und
erging sich in Trauerbekundungen, als im vergangenen Jahr sein früherer Intimfeind, der alAzhar-Großscheich Muhammad Sayyid Tantawi, das Zeitliche segnete.
Eine andere Front, an der Qaradawi als Polemiker, aber auch als Mittler schillert, ist die
Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten: Einerseits prangerte er großspurig eine angebliche
schiitische Missionsverschwörung im Nahen
Osten an, die durch das Großmachtstreben des
Iran und das Erstarken der Schiiten im Irak zutage getreten sei. Andererseits kritisierte er den
Jargon der Wahhabiten und Salafisten, die Schiiten als Abtrünnige beschimpfen.
Welches Thema heute dran sei,
fragt er im Auto auf dem Weg
zum Studio
Sich selbst sieht er als Vertreter eines
»Islams der Mitte«, was man jedoch
nicht mit moderaten Positionen verwechseln sollte. Qaradawi predigt den
Dschihad – auch als bewaffneten Kampf
gegen die »Feinde der Muslime«. Seine Anhänger führen gegenüber westlicher Kritik aber
an, dass er das Dschihad-Konzept anderer islamistischer Ideologen auf einen »konstruktiven Weg«
geführt habe: Sein Verständnis vom Dschihad bestehe nicht in der Vernichtung eines vermeintlich
dekadenten Westens, sondern in der militärischen
Verteidigung von Muslimen dort, wo sie von fremden Mächten drangsaliert würden.
Wo also steht Qaradawi? Die Islamwissenschaftler Bettina Gräf und Jakob Skovgaard-Petersen, Herausgeber des Buches »Global Mufti«, kommen zu dem Schluss, dass Qaradawi
sich selbst gewiss als gemäßigt ansehe. Sie zeigen aber auch die Sinngrenzen solcher Begriffe
auf. »Was Homosexualität betrifft, ist er in der
arabischen Welt wohl Mainstream – für europäische Verhältnisse sicher nicht«, resümiert
Polemiker und
Mittler zugleich –
für Qaradawi kein
Widerspruch
das Autorenduo. Hinsichtlich der Rolle von
Frauen und ihrer Beteiligung in der Gesellschaft
dagegen vertrete Qaradawi für die islamische
Welt fortschrittliche Positionen; er zeige sich
stets bemüht, traditionelle Interpretationen in
der Scharia aufzubrechen. »Qaradawi ist erfrischend pragmatisch«, meint dazu ein Lektor der
einflussreichen islamischen Verlagsgruppe
»Mizan« im indonesischen Jakarta. Bei einer
Auslandsreise, so berichtet der Bewunderer des
Scheichs, sei Qaradawi einmal gefragt worden,
ob es nach der Scharia erlaubt sei, in der Ehe
Oralverkehr zu praktizieren. Qaradawi habe sich
mit großer Begeisterung des Themas angenommen und schließlich erklärt, dass ihm nichts aus
der Scharia bekannt sei, was dagegenspreche.
Junge Muslime mögen derlei Stellungnahmen nicht nur originell, sondern auch befreiend
finden – und darüber hinwegsehen, dass derselbe Qaradawi vor Jahren die grausame Genitalbeschneidung von Mädchen für vereinbar mit
der islamischen Ethik erklärt hatte. Immerhin
rang sich Qaradawi, der an der Absolutheit seiner Meinung sonst eher wenig Zweifel hat, später zu einer Revidierung seines Urteils durch –
mit der gleichen Vehemenz.
»Qaradawi genießt das, was die Muslime
Mardscha’iya nennen: eine Autorität zu sein, die
man nachahmt und auf deren Rat viele Muslime hören«, sagt Aljazeera-Redakteur al-Khateeb, als der Abspann der Sendung »Die Scharia und das Leben« begonnen hat und die Techniker im Regie-Raum nach ihren Zigaretten
greifen. Qaradawi ist, als die rote Lampe im Studio erlischt, in sich zusammengesackt. Spannung und Konzentration sind sekundenschnell
der Müdigkeit gewichen. Der große Entertainer, den manche für einen emsigen Reformer
halten und andere für einen Bulldozer, der jeden Ansatz wahrer Erneuerung des Islams erbarmungslos planiert, sackt in sich zusammen.
Die Argumentationsmaschine schaltet sich selbst
in den Ruhezustand.
Bei diesem Anblick drängt sich die Frage auf,
wer oder was nach Qaradawi kommen wird.
Aber auch, was den wohl bekanntesten Turbanträger der Welt antreibt und bewegt. Der Glaube an die Ewiggültigkeit der koranischen Offenbarung? Seine Fans? Die Bettflucht des Alters?
Oder einfach nur das erhabene Gefühl, immer
wieder Recht zu haben?
<<
KAMPF UM DEN ISLAM
Neue Mullahs
braucht das Land
In den vergangenen zwölf Monaten verlor der schiitische Islam zwei seiner
wichtigsten Vordenker: Muhammad Hussein Fadlallah und Hossein-Ali
Montazeri waren die Anführer einer ganzen Generation von Gelehrten.
Wer wird nach ihnen in die höchsten Ränge der Geistlichkeit aufsteigen?
Von Christoph Sydow und Robert Chatterjee
>> Einen solchen Trauerzug hatten Beiruts Vorstädte noch nicht gesehen: Hunderttausende
drängten sich um den Sarg; Männer, Frauen und
Kinder trugen das Konterfei des verstorbenen
Großayatollahs Muhammad Hussein Fadlallah
durch die Straßen. Mit Fadlallah verlor die arabische Welt Anfang Juli einen der wichtigsten schiitischen Geistlichen. Der 83-Jährige war ein so genannter Mardscha-e Taqlid – eine »Quelle der
Nachahmung«, an der sich Millionen Gläubige
orientierten.
Der Mardscha steht an der Spitze der schiitischen Geistlichkeit: Er wird nicht gewählt, sondern erreicht seine Position durch die Anerkennung seiner Anhänger. Gegenwärtig gibt es weltweit etwa 60 schiitische Geistliche im Rang eines
Mardschas. Wer in dieser Konkurrenz bestehen
will, muss für alle Fragen des täglichen Lebens ein
offenes Ohr und die passenden Antworten haben.
Spätestens mit der Islamischen Revolution von
1979 wurde eine weiterer Aspekt deutlich: Der
Einfluss der Religionsgelehrten ist auch politisch
relevant. Ruhollah Khomeini beanspruchte im
Iran nicht nur die politische Führerschaft für sich,
er forderte auch das geistliche Monopol über sämtliche Schiiten ein. Die Gesellschaft formen, sich
im öffentlichen Leben einbringen – das wollten
aber viele von Khomeinis Zeitgenossen.
Der Kern der aktivistischen Bewegung bildete
sich in der irakischen Stadt Nadschaf, Muhammad Hussein Fadlallah war einer ihrer führenden
Köpfe. Dass Khomeinis Anspruch auf die absolute Wahrheit in Religion und Politik diktatorische
Züge annahm, erkannten er und andere arabische
Kleriker schon früh. Später schlossen sich auch
dissidente iranische Mardschas dieser Ansicht an,
allen voran Großayatollah Hossein-Ali Montazeri. Den hatte Khomeini einst als seinen Nachfolger designiert. Kurz vor dem Tod des Revoluti-
onsführers kam es aber zum Zerwürfnis. Montazeri wurde aller Ämter enthoben und später unter Hausarrest gestellt. An seiner Stelle wurde der
theologisch weitaus weniger angesehene Ali Khamenei zum neuen religiösen und politischen Führer des Landes.
Ende 2009 starb Großayatollah Montazeri. Damit verloren die oppositionellen Theologen ihr
bekanntestes Sprachrohr. Er und Fadlallah hatten
bis zuletzt ihre Vorstellung einer multipolaren schiitischen Geistlichkeit nach außen getragen. Nun
lebt von den prominenten Vertretern der Nadschafer Schule nur noch einer: Der gebürtige Iraner Ali Sistani. Aber auch er ist schon 80 Jahre alt
und gesundheitlich angeschlagen. Umso mehr
stellt sich die Frage: Wer steigt nach ihnen in die
höchsten Ränge der schiitischen Geistlichkeit auf?
Khomeinis Enkel
könnte zur
Leitfigur werden
»In jedem Fall wird das Ableben etablierter Mardschas wieder zu einer neuen Pluralisierung führen,
ähnlich wie Mitte der 1990er Jahre, als nach dem
Tod von Khomeini und Großayatollah Khoei ein
Vakuum entstand, in das zahlreiche Prätendenten
vorstießen«, prognostiziert Stephan Rosiny, SchiaExperte am »German Institute of Global and Area
Studies« in Hamburg. Die Zeiten, in denen eine
Handvoll Großayatollahs die Richtung vorgaben,
scheinen fürs Erste vorbei zu sein.
Traditionell liefern sich Nadschaf und das zweite große Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit, das
iranische Qom, einen Wettstreit. Khomeinis Kon-
zept der »Herrschaft des Rechtsgelehrten« setzte
sich vor allem in Qom durch. Seinem Nachfolger
Ali Khamenei ist es aber bis heute nicht gelungen,
die dortige Hochschule in eine gleich geschaltete
Kaderschmiede zu verwandeln. Auch in Qom protestierten Studenten im Sommer 2009 gegen die
Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad. Khomeinis Erben kämpfen für die Islamische Republik und stellen gleichzeitig immer häufiger das System in Frage. Ihre neue Bezugsfigur könnte ausgerechnet der 38-jährige Khomeini-Enkel Hasan
werden, der trotz Versammlungsverbot an Kundgebungen der »grünen Bewegung« teilnahm.
Entscheidend für den Einfluss der Mardschas
bleibt nach wie vor, eine möglichst große Gefolgschaft an Gläubigen um sich zu scharen. Angesichts einer wachsenden schiitischen Diaspora
kommt dabei dem Internet eine entscheidende
Rolle zu: Kaum ein Ayatollah kommt heute noch
ohne eigene Website aus: Innerhalb weniger Stunden erhalten hier die Gläubigen Antworten auf
ihre religiösen Fragen, eine Fatwa ist oft nur wenige Mausklicks entfernt.
Daneben hat sich ein weiteres Kriterium herauskristallisiert: die familiäre Abstammung. Einige Familien bestimmen seit Generationen die Entwicklung des schiitischen Islams. Die ursprünglich
aus dem Südlibanon stammenden Sadrs bringen
seit dem 19. Jahrhundert in jeder Generation mindestens einen Großayatollah hervor. Derzeit schickt
sich im Irak Muqtada al-Sadr an, in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten. Im Libanon könnte Ali Fadlallah, der 38 Jahre alte Sohn des verstorbenen Mardschas, seinem Vater mittelfristig
nachfolgen. Ein offizielles Kriterium für die Erlangung eines religiösen Titels ist das dynastische
Prinzip aber nicht. Khomeini etwa lehnte die Vererbung religiöser Autorität entschieden ab – sein
<<
Enkel Hasan leidet bis heute darunter.
zenith 3/2010
51
KAMPF UM DEN ISLAM
Schariarote
Lollipop-Welt mit
Schattenseiten
Der indonesische Islam gilt als moderat und asiatisch verspielt.
Doch hinter den Kulissen hat der Druck, sich fromm und
gottesfürchtig zu zeigen, stark zugenommen. Fundamentalisten
geben den Ton an – die liberale Mehrheit schweigt
Von Bettina David
Polemik von Andreas Altmann
>> Erfolgreiche Bestsellerautorin, vorbildliche
Ehegattin und Mutter – und strenggläubige Muslimin: Die Asma Nadia steht für ein neues gesellschaftliches Ideal in Indonesien. Ihre trivialreligiösen Lebenshilferatgeber wie »Sei keine
nervige Muslimin« behandeln Alltagsprobleme
wie Mundgeruch, Pickel und freundliches Konversationsverhalten. Mit ihrem optimistischen
Selbstbewusstsein verkörpert die 38-jährige Nadia beispielhaft das Gesicht des indonesischen
Islams zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Das öffentliche Leben ist sichtbar »islamischer« geworden, das traditionell in Indonesien
kaum verbreitete Kopftuch hat längst seine provozierende Wirkung verloren und ist ein aus
dem Alltag nicht mehr wegzudenkendes Accessoire einer neuen muslimisch-korrekten Selbstverständlichkeit. Doch die Scharia-konforme
Lebensgestaltung wird nicht nur von einem explizit modern und global ausgerichteten Selbstverständnis getragen, sie verbindet sich auch
problemlos mit asiatischer Verspieltheit. Genau
wie ihre säkularen Schwestern inszenieren sich
die verschleierten jungen Mädchen mithilfe ihrer Handy-Kameras gern ausgesprochen kokett
und verführerisch – eifrige Adeptinnen nicht
nur einer literalistischen Islam-Auslegung, sondern auch des kindlich-selbstverliebten Stils ostasiatischer Popkultur. Bücher und Zeitschriften
für gläubige junge Leserinnen werben für eine
kunterbunte Lollipop-Welt. Scharia als rosaroter Mädchen-Lifestyle.
Alles also letztlich harmloses, modisch aufgepopptes Frömmlertum einer Jugend auf der
Suche nach einem positiven Lebensentwurf zwi-
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zenith 3/2010
schen globaler Modernität und islamischer Moral? Man möchte es gerne glauben, sozusagen
Entwarnung geben: Ja, die indonesische Gesellschaft ist derzeit in einem großen Wandel begriffen, neben einer globalisierten Verwestlichung ist dabei die Neuentdeckung des Islams
richtungweisend. Aber trotz aller äußeren Veränderungen handelt es sich doch noch um den
»typisch indonesischen« Islam: moderat und liberal. Das Land mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung ist gern zitiertes Beispiel
für einen »positiven« Islam, seit dem Sturz des
Autokraten Mohamed Suharto 1998 muss es zudem immer wieder als Beweis dafür herhalten,
dass Islam und Demokratie vereinbar sind.
»Liberalismus« als gesellschaftliche
Horrorvorstellung
Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich die
Lage als erheblich komplexer. Wer ist diese »liberale Mehrheit«? Der gesellschaftliche Druck,
sich fromm und gottesfürchtig zu zeigen, hat
deutlich zugenommen. Eines ist dabei sicher: als
»liberal« wollen sich in Indonesien inzwischen
die wenigsten bekennenden Muslime bezeichnet
sehen. Hier haben im öffentlichen Diskurs längst
die orthodoxen und fundamentalistischen Kräfte das Feld besetzt. So paradox es in europäischen
Ohren klingen mag: Mit dem Wort »liberal« verbinden viele Indonesier auf ähnlich reflexhafte
Weise gesellschaftliche Horrorvorstellungen wie
Westler, wenn sie »Scharia« hören. »Liberal«, das
ist eines der emotional am stärksten aufgeladenen
Feindbilder, auf das alle vermeintlichen Übel der
hedonistischen westlichen Gott- und Morallosigkeit projiziert werden.
Das war nicht immer so. So ist in der gegenwärtigen Frömmigkeitsbewegung kaum noch
etwas zu spüren von dem Geist, der in den
1980er Jahren von Nurcholis Madjid, dem 2008
verstorbenen Vordenker eines liberalen indonesischen Islams, unter dem Slogan »Islam Yes,
Partai Islam No« propagiert wurde – eine klare
Absage an den politischen Islam. Letzterer ist
heute auf dem Vormarsch, getragen von einem
neuen Islam-Verständnis, das ideologisch deutliche Einflüsse der Muslimbruderschaft aufweist.
Seit Ende der 1980er Jahre bringen indonesische Studenten aus dem Nahen Osten radikale
Ideen zurück in ihre Heimat. Währenddessen
exportiert Saudi-Arabien den radikalen Wahhabismus durch großzügige Vergaben von Stipendien und die Finanzierung von Moscheebauten in Indonesien.
Die beiden großen, traditionell moderaten
islamischen Massenorganisationen Indonesiens,
die traditionalistische »Nahdlatul Ulama« und
die modernistische »Muhammadiyyah«, schlagen inzwischen Alarm: Immer mehr ihrer Moscheen und Institutionen würden systematisch
von Anhängern der islamistischen PKS (»Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei«) und der
radikalen »Hizb ut-Tahrir« (»Partei der Befreiung«) unterwandert und dann übernommen.
Statt Nurcholis Madjids Slogan lautet das
Zauberwort unzähliger Predigten heute kaffah
– »total, allumfassend«. Der Islam als alle Bereiche des Lebens umfassender way of life, sein
Anspruch auf Ganzheitlichkeit, gerade das ist
es, was die ihren Glauben neu entdeckenden
Muslime so begeistert: Der Islam ist perfekt, er
hat auf alles eine konkrete Antwort. Kaffah ist
nicht nur die gesellschaftliche Utopie radikaler
Islamisten wie der »Hizb ut-Tahrir«, die besonders unter Studenten großen Zulauf verzeichnet,
sondern auch metaphorischer Ausdruck einer
Sehnsucht nach einem gottgefälligen Leben in
spiritueller Geborgenheit.
Es erstaunt kaum, dass die Grenzen zwischen
orthodoxer Auslegung und fundamentalistischer
Ideologisierung fließend sind. Die »neuen Frommen«, die das Gesicht des Mainstream-Islams
verändern, konsultieren mit oft erstaunlich naiver Gutgläubigkeit fundamentalistische Medien wie die radikalislamische Zeitschrift Sabili,
die an Universitäten und vor Moscheen ausliegt, und einschlägige Internetadressen wie
hidayatullah.com und eramuslim.com. Diese liefern eine bizarre Mischung aus Größenwahn,
Opferdiskurs, Verschwörungsparanoia einerseits
und Lebenshilfe bei Beziehungsproblemen, Fragen zur religiösen Praxis sowie Tipps für Kindererziehung und Gesundheit andererseits.
Radikale Medien
bieten ein bizarre
Mischung aus
Größenwahn und
Lebenshilfe
In den beliebten Koranlesezirkeln geben ebenfalls die Hardliner den Ton an. Ein Paradox: Bislang moderat lebende Muslime erkennen die Radikalen vielfach als Vertreter eines »authentischen« Islams an – auch wenn sie noch längst
nicht alles in die Alltagspraxis umzusetzen gewillt sind, was sie in den Predigten hören.
Es sind vor allem die Aktivisten der PKS und
der »Hizb ut-Tahrir«, die Eindruck auf die Jugend
machen. Ihr selbstbewusster Idealismus und Aktionismus ist ansteckend, ihr kompromissloses
Glaubensverständnis fasziniert. Und vor allem: Sie
haben auf alle Fragen eine einfache, unmissverständliche Antwort – Scharia ist die Lösung aller gesellschaftlicher Probleme. »Angesichts der
epidemischen politischen, sozialen und moralischen Missstände in diesem Land gibt es nur einen Weg: Zurück zur Scharia«, verkündet die
Website der indonesischen »Hizb ut-Tahrir«.
Entgegen ihrer expliziten Bekenntnisse mag die
Mehrheit der indonesischen Muslime aus westlicher Sicht einen vergleichsweise »liberalen«
Islam leben, doch »vertreten« im Sinne von bewusster, argumentativer Abgrenzung von neoorthodoxen und fundamentalistischen Kreisen
wird dieser moderate Islam bisher nur selten,
von der Verurteilung gewaltsamer Terrorakte
abgesehen.
Die Kompromisslosigkeit
der Fundamentalisten fasziniert
die Jugend
Aber auch ein Bewusstsein dafür, dass die Bombenleger des Anschlags von Bali 2002 nur konsequent zu Ende dachten und ausführten, was
in den Weltbildern so vieler Freitagspredigten
und religiöser Literatur angelegt ist, fehlt. Die
Einführung der Scharia in Aceh und lokale Scharia-Verordnungen in einigen Distrikten des Landes haben bezeichnenderweise nur zu einem
Aufschrei von säkular-liberalen Aktivisten und
NGOs geführt; Protest seitens der lokalen Bevölkerung blieb weitgehend aus. Die Abgrenzung gegenüber liberalen Strömungen und Minderheiten wie der Ahmadiyya, die als »unislamisch« diskreditiert und immer wieder Opfer
von Übergriffen werden, scheint hingegen deutlich leichter zu fallen. Symptomatisch ist, dass
die »moderaten« Laien oft längst die gleiche
Sprache wie die Radikalen sprechen.
Ob all die modisch gekleideten Besucher der »Islamischen Buchmesse« in Jakarta, die 2008 unter dem Motto »Die
Schönheit der Scharia im Leben« stand,
in ihrer recht naiv-undifferenzierten
Schwärmerei für ein »schariagemäßes«
Leben wirklich mit saudi-arabischen Zuständen glücklich werden würden? Es ist zu
bezweifeln. Doch die gegenwärtige Idealisierung alles Religiösen macht eine echte Auseinandersetzung mit den inneren Dämonen Indonesiens kaum möglich.
Noch scheint sich konservativ-religiöser Lifestyle-Pop wie in Asma Nadias Ratgeberbüchern recht gut mit ideologischem Fundamentalismus zu vertragen. Es bleibt abzuwarten,
ob die Spaß- und Modeverliebtheit nicht nur
der Jugend weiterhin stark genug ist, die repressive Rigidität des radikalen Diskurses aufzuweichen.
<<
Von Bettina David ist Anfang 2010 beim
Reise Know-How Verlag das Buch
»KulturSchock Indonesien« erschienen. Weitere
Informationen: www.reise-know-how.de.
Illustration: Lesprenger
KAMPF UM DEN ISLAM
OKTY DYAH MOERPRATIWI (19)
STUDENTIN, INDONESIEN
»Für mich ist der
Islam eine Religion der
Würde, Gerechtigkeit
und des Friedens. Er ist
ein Leitfaden, ein guter
und glücklicher
Mensch in dieser Welt
und dem, was danach
kommt, zu sein.«
ILHAM D. SANNANG (34)
LEKTOR, INDONESIEN
»Islam ist kein Substantiv,
sondern ein Verb oder Adjektiv.
Islam ist kein Ding, sondern
ein Geisteszustand, der durch gutes Verhalten belegt wird.
Er bezeichnet die Selbstaufgabe
gegenüber Gott und den Beweis
dieser Aufgabe durch das Vollbringen guter Taten. Laut dem
Koran predigen demnach
Abraham, Ismael, Isaak, Jakob,
Jesus und alle anderen Propheten
ihren Anhängern den Islam.«
zenith 3/2010
53
Illustration: Lesprenger
KAMPF UM DEN ISLAM
CEM ÖZDEMIR (45)
POLITIKER, DEUTSCHLAND
»Der Islam ist genausowenig das Problem wie
das Christentum, das
Judentum oder andere
Religionen, sondern
die Menschen, die ihn
fundamentalistisch
interpretieren, ihre
Sichtweise auch für
andere verbindlich
erklären und eine textkritische Auseinandersetzung verhindern.«
KATAJUN AMIRPUR (39)
IRANISTIN,
DEUTSCHLAND
»Es ist wichtiger,
ein guter Mensch
zu sein als ein
guter Muslim. «
KAZIM G. (57)
UNTERNEHMER, SCHWEIZ
»Islam ist
Rückwärtsgewandtheit
und Fanatismus.«
54
zenith 3/2010
Khomeinis Traum vom islamischen
Revolutionsexport ist gescheitert –
dabei konnte der Führer der Schiiten im Iran auch
arabische Sunniten für seine Ideologie begeistern
Von wegen Einheit!
Von Wiebke Eden-Fleig
>> Das Projekt ehrgeizig zu nennen, wäre untertrieben. Ruhollah Musavi Khomeini verkündete, die Einheit von Sunniten und Schiiten herbeiführen zu wollen – und ein 1400 Jahre altes
Schisma zu überwinden. In der »Islamischen Revolution« von 1979 sollte sie ihren Anfang nehmen, im Kampf gegen die USA und Israel ihre
große Klammer finden. Denn die Teilung der
Muslime in zwei große Konfessionen bot Feinden
nach Khomeinis Auffassung eine willkommene
Angriffsfläche. So erstaunt es nicht, dass er zu
dem Schluss kam, eigentlich gebe es überhaupt
keine Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten.
Das erschien vielen Nachbarländern des Iran
wie eine Kampfansage. Nicht nur die sunnitischen Monarchien am Persischen Golf, auch die
nationalistischen Regimes in Ägypten, Syrien
und Irak sahen sich herausgefordert, denn der
»Oberste Rechtsgelehrte« propagierte sein
Herrschaftssystem als Vorbild. Unter dem
Schlagwort »Revolutionsexport« säte er
in den Folgejahren Keime des Umsturzes auch in den Nachbarländern.
Anknüpfungspunkt dafür sollten die
schiitischen Minderheiten sein, die von
vielen sunnitischen Machthabern unterdrückten wurden: In Saudi-Arabien
war es ihnen verboten, ihre Rituale auszuüben, in Afghanistan waren sie noch 120
Jahre zuvor als Sklaven verkauft worden. Daher
zeigten viele Schiiten stets eine gewisse Sympathie
für den schiitischen Iran – und für die Revolution. Doch nicht nur das: Auch sunnitische Islamisten konnten Khomeinis Ideologie etwas
abgewinnen. So pries die ägyptische militante
Gruppe Al-Gamaa al-Islamiya die Islamische
Revolution, während regimetreue Gelehrte in Zeitungen krampfhaft schiitische Vorstellungen
lächerlich machten.
Teherans Machtanspruch kollidierte mit Riads
Interesse. Den streng sunnitischen Saudis
schmeckte es nicht, dass ihrem Fundamentalismus, mit dem sie bislang die säkularen Ideologien des Nahen Ostens unterlaufen hatten, auf
einmal mit einem anderen Fundamentalismus
begegnet wurde. Als Khomeini den saudischen
»Schutz« über die Pilgerfahrt in Frage stellte,
lieferten sich schiitische Pilger und Sicherheitskräfte während der Hadsch-Saison 1980 Handgreiflichkeiten. Seit den Aufständen der schiitischen Minderheit im selben Jahr nahm die saudische Führung den Iran dann als existenzielle
Bedrohung wahr.
Khomeini erreichte zwar viele Muslime auf
emotionaler Ebene, weniger aber auf ideologischer. Er benutzte eine Sprache mit starken zwölferschiitischen Anklängen, eine theologische
Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten förderte er weder verbal noch institutionell. Eher war
eine »Schiitisierung« der Islamischen Revolution
zu erkennen: wie in der Verankerung der Schia als
Staatsreligion, in der Monopolisierung aller Machtpositionen in den Händen von Schiiten und in
der Diskriminierung der sunnitischen Minderheiten, allen voran Kurden und Belutschen.
Trotz hohen Propagandaaufwands wich die
Euphorie unter vielen Sympathisanten daher
bald Ernüchterung. Daraufhin stachelten die
iranischen Ideologen zunehmend schiitische
Minderheiten auf, um die Revolution mit Gewalt zu verbreiten – mit begrenztem Erfolg.
Heute ist selbst im Iran die Idee der Einheit
der Muslime nicht viel mehr als ein ideologisches Schlagwort aus der Frühphase der Revolution. Weder bei der Mehrheit der Geistlichkeit noch bei den allermeisten Gläubigen
stieß sie auf nennenswerte Resonanz. 30 Jahre nach dem Sturz des Schahs wird der Islamischen Republik nicht nur vom Westen, sondern auch in den arabischen Nachbarländern
bestenfalls mit Skepsis begegnet. Die Realität
strafte Khomeinis Worte Lügen. Nur auf einem Gebiet ist die von ihm beschworene Einheit zwischen Sunna und Schia vollzogen: Bei
der ideologischen und finanziellen Hilfe für
militante Gruppen macht der Iran tatsächlich
keinen Unterschied – sei es die schiitische Hiz<<
bullah oder die sunnitische Hamas.
KAMPF UM DEN ISLAM
Mit teuflischen Zungen
Der Abbasidenkalif al-Ma’mun, Sohn des großen Harun al-Raschid,
förderte Philosophie und Wissenschaften – und setzte gegen
religiöse Gelehrte eine Inquisition in Gang. Auch der Gründer
einer strengen Rechtsschule geriet in deren Mühlen
Von Veit Raßhofer
ne Polemik von Andreas Altmann
>> Waren es 30, 38 oder gar 68 Hiebe, die
Ahmad Ibn Hanbal trafen? Die Quellen sind
sich uneinig darin. Wie auch immer: Diese Erfahrung muss fürchterlich gewesen sein.
Ibn Hanbal lebte zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Bagdad, der glanzvollen Metropole der
abbasidischen Kalifen. In den wenigen Jahrzehnten seit der Gründung 762 war die »Stadt
des Friedens« zu einer der größten der Welt gewachsen. Menschen aus aller Herren Länder lebten hier, Waren aus allen Teilen der Welt füllten
Märkte und Lager. Die Religionen gaben sich
ein Stelldichein.
Vor allem die Wissenschaften wurden vom
Kalifen al-Ma’mun, einem Sohn Harun al-Raschids, gefördert: Im »Haus der Weisheit« trafen sich die berühmtesten Gelehrten ihrer Zeit.
Unter ihnen waren der Mathematiker al-Khwarizmi, der die Algebra neu erfand, und der Philosoph al-Kindi, der erste der islamischen Aristoteliker. Dschahiz, der freisinnige Literat, verfasste hier seine Werke. Dazu setzte eine
umfangreiche Übersetzungstätigkeit ein: Griechische, persische und indische Quellen wurden ins Arabische übertragen und fortentwickelt.
Dass man hinter das chinesische Geheimnis der
Papierherstellung gekommen war, ließ einen regen Buchhandel entstehen.
Wie aber stellte sich die Lage für Ahmad Ibn
Hanbal dar? Die Gemeinde der Gläubigen war
in Gefahr! Noch gab es keine ausgearbeitete islamische Theologie – stattdessen bediente sich
die Elite der griechischen Philosophie, um Gott
und die Welt zu erklären! Die Schiiten hatten sich
so weit etabliert, dass der Kalif einen ihrer Führer zum Nachfolger designierte! Das Hofzeremoniell orientierte sich am persischen und byzantinischen Vorbild, genauso wie der Staatsapparat, der aus Christen, Sabäern und
Zoroastriern bestand. Und alle brachten ihre eigenen Rechtsvorstellungen, philosophischen
Ideen und Lebensarten mit.
Einem rechtschaffenen Islamgelehrten wie
Ibn Hanbal muss all das unheimlich gewesen
sein. Die Folgerung, diesem abbasidischen Multikulti handfeste Traditionen gegenüberzustellen, lag nah. Ein umfassendes islamisches Recht,
basierend auf dem Handeln des Propheten Muhammad und seiner Gefährten und Nachfolger,
sollte das Leben regeln helfen. Ibn Hanbal war
nicht der erste, der sich diesem Unterfangen
stellte, und er war nicht allein: Sein Lehrer alSchafi’i hatte die methodischen Grundlagen geschaffen für ein Rechtswesen auf Basis von Koran und Sunna, der Tradition der Altvorderen.
Nach Ibn Hanbal selbst ist die hanbalitische
Rechtsschule benannt.
Das Multikulti in
Bagdad war Ibn
Hanbal suspekt:
Er fürchtete um
die Grundlagen
des Glaubens
Das Vorhaben, ein unabhängiges Rechtswesen zu
schaffen, erschien dem Kalifen al-Ma’mun jedoch als grobe Anmaßung. Schließlich war er es,
der in letzter Instanz Recht sprach, der den Gläubigen den Weg wies – die Abbasiden leiteten
ihren Machtanspruch und ihre religiöse Autorität aus der Zugehörigkeit zur Familie Muhammads ab – sie sahen sich außerdem als von
Gott auserwählte Herrscher an. Dazu dürfte alMa’mun und den Angehörigen des Hofstaats
die Popularität der tief gläubigen Traditionalisten missfallen haben. Doch wie konnte man
ihnen Einhalt gebieten?
Mit einer Reihe von Sendschreiben ab April
833 setzte al-Ma’mun jenen berühmten Prozess
in Gang, der als »mihna – Prüfung« in die Ge-
schichte einging: Nacheinander sollten die Richter, die Rechtsgelehrten und die Überlieferungsexperten öffentlich bezeugen, dass der Koran von Gott erschaffen worden sei. Was heute
wie eine theologische Spitzfindigkeit anmutet,
war ein Kernsatz der rationalistisch geprägten
Mu’tazila-Strömung.
Die Gegner dieser Position, zu denen auch
Ibn Hanbal zählte, erklärten den Koran für ungeschaffen, also »ewig«. Im ersten Schreiben polemisierte der Kalif gegen diese Gelehrten, die
sich selbst irrigerweise »Anhänger der Wahrheit, der Religion und der Einheit« nennen würden, während sie ihre Gegner als »Anhänger der
Falschheit, des Unglaubens und der Zwietracht«
schmähten. Dabei seien sie selbst »die Zunge
des Teufels«, und man könne diesen Leuten keinesfalls trauen, schrieb al-Ma’mun.
Ahmad Ibn Hanbal war einer von wenigen,
die der Prüfung unterzogen wurden und sich
nicht beugten. Er wurde eingekerkert und sollte dem Kalifen vorgeführt werden. Al-Ma’mun
starb aber 833 unerwartet im Alter von 46 Jahren. Sein Nachfolger Mu’tasim beließ Ibn Hanbal zunächst in Haft, wahrscheinlich im September 835 erfolgte dann die eingangs beschriebene Strafe. Ob Ibn Hanbal letztlich
standhaft blieb, wissen wir nicht. Nur ihm nahestehende Quellen behaupten das, eine unabhängige Bestätigung gibt es nicht.
So sehr Ibn Hanbal in diesem Augenblick gelitten haben mag, langfristig betrachtet geriet
die Strafe ihm zum Vorteil. Noch heute gilt er
als einer der größten islamischen Gelehrten, die
je gelebt haben, insbesondere Islamisten rühmen gerne seinen widerständigen Geist.
Die Nachfolger al-Ma’muns dagegen verfolgten die mihna eher halbherzig, nach 15 Jahren wurde sie offiziell beendet. Das Kalifat hatte damit eine empfindliche Schlappe gegen die
konservativen Rechtsgelehrten erlitten. Erst die
Regierungen der Moderne haben es wieder gewagt, grundlegend in sunnitisch-islamische Belange und das Rechtswesen einzugreifen. <<
zenith 3/2010
55
KAMPF UM DEN ISLAM
03
04
01
02
Frontverläufe
Wo um den Islam gerungen wird, ist die Politik nicht fern.
Theokratien behaupten, gottgewollte Herrschaft zu verkörpern,
aber selbst säkulare Staaten mischen sich in religiöse
Angelegenheiten ein. Vier Beispiele +
01
MAROKKO
Die Sufis des Königs
Früher galten Sufi-Bruderschaften als
abergläubisch und antimodern. Heute
werden sie von der marokkanischen Politik als Mittel in der Auseinandersetzung
mit dem Islamismus benutzt
Der Sufismus galt lange Zeit als Auslaufmodell. Im 19. Jahrhundert führten Herrscher und
Kolonialisten in vielen muslimischen Ländern
Bildungssysteme nach europäischem Vorbild
ein, wodurch Religionsgelehrte und Sufis ihren
Einfluss verloren. Und im 20. Jahrhundert wurden die Riten der mystischen Bruderschaften
mit Aberglauben und Drogenkonsum assoziiert
– etwas, womit man als moderner Bürger nichts
zu tun haben wollte. Früher als in anderen arabischen Ländern fanden in Marokko jedoch
viele Menschen zurück zum mystischen Islam.
Spiritualität geriet en vogue – allerdings in einer neuen, synkretistischen Form: Über das
kosmopolitische Bürgertum waren Yoga und
Zen-Buddhismus nach Marokko gelangt.
Schließlich distanzierte sich die Zen-Bewegung
56
zenith 3/2010
jedoch vom Buddhismus und näherte sich dem
Sufismus an: Spirituelle Techniken und esoterische New-Age-Konzepte wurden dabei übernommen.
In Marokko vollzog sich somit eine etwas andere Form der Islamisierung, nämlich in Richtung des »renovierten« Sufismus etwa der Boutchichiya-Bruderschaft: Die baut auf Koran und
Sunna auf, dennoch billigt ihr Führer Sidi Hamza die Nichteinhaltung einiger Details der Scharia, um für breite Bevölkerungsschichten attraktiv zu sein. Der Scheich tritt nicht als Anführer auf und hält sich aus ökonomischen und
politischen Angelegenheiten heraus. Das passt
Marokkos König Mohammed VI. hervorragend
ins Konzept. Um den Islamismus zu bekämpfen,
nimmt »M6« verstärkt Religionsgelehrte und
Intellektuelle in die Pflicht: Sie sollen eine »aufgeklärte religiöse Erneuerung« und einen »intellektuellen Aufschwung« gewährleisten. Für
diesen Prozess ist insbesondere Religionsminister Ahmed Tawfiq zuständig. 2006 stellte er ein
umfangreiches Handbuch zusammen, das der
inhaltlichen Orientierung der Imame und Prediger dient; denn nicht alle sind vom Palast ferngesteuert. Die Gleichschaltung des religiösen
Diskurses wird so vorangetrieben.
Dass Tawfiq selbst Mitglied der Boutchichiya
ist, zeigt, welches Gewicht der Palast dem SufiIslam beimisst. Die Boutchichiya, mittlerweile eine der größten Bruderschaften Marokkos, und
andere Sufi-Orden werden als regimetreues Gegenmodell zum gewaltbereiten Fundamentalismus aufgebaut. Dass dies nicht immer funktioniert, zeigt jedoch die Boutchichiya selbst: Auch
der Gründer der verbotenen islamistischen Oppositionsbewegung »Gerechtigkeit und Wohlfahrt«, Abdessalam Yassine, war einst Mitglied
ngl
der Bruderschaft.
02
SAUDI-ARABIEN
Ausgegrenzte
»Abtrünnige«
Im wahhabitischen Königreich blicken
Schiiten auf ein Jahrhundert politischer,
wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung zurück. Radikalen Sunniten
gelten sie bis heute als Irrgläubige
Als er 1913 die Ostprovinz des späteren Königreichs Saudi-Arabien eroberte, erlegte Abdul >>
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KAMPF UM DEN ISLAM
Illustration: Lesprenger
03
MUSTEFA KEMAL ATATÜRK (1881-1938)
STAATSGRÜNDER, TÜRKEI
»Das Volk soll
wissen, dass
überall im Koran
das Gleiche steht
und dass es den
Pfaffen nur
darauf ankommt,
zu essen.«
AMR EL SAHER (26)
INGENIEUR, ÄGYPTEN
»Islam ist eine Religion
des Friedens mit sehr
vielen verschiedenen
Interpretationen. Manche
davon sind sehr komplex
und schwer zu verstehen.
Ich habe mich dazu
entschieden, der
Interpretation zu folgen,
die ich als friedlichste
und einfachste erachte.«
58
zenith 3/2010
TÜRKEI
Schiiten
ohne Scharia
>> Aziz Al Saud den unterworfenen Schiiten die
»Kopfsteuer« auf, die im Islam für nichtmuslimische Untertanen vorgesehen ist. Mit diesem Schritt entsprach er den Forderungen puristischer Sunniten, die den Schiiten absprachen, Muslime zu sein. Die als Wahhabiten
bekannten Gelehrten verurteilten »abtrünnige« Praktiken der Schiiten, etwa die AschuraProzessionen, die an den Tod des Imams Hussein erinnern.
Längst ist die Kopfsteuer wieder abgeschafft,
doch bis heute sieht sich die schiitische Minderheit Vorwürfen ausgesetzt, den Islam zu verfälschen. Einflussreiche Verfechter dieser Sichtweise sind Scheich Abdallah Bin Jibrin oder der
auf dem wahhabitischen TV-Kanal Al-Majd agitierende Scheich Nasir al-Umar; ihre Positionen
bewegen sich zwischen der Aufforderung an die
Schiiten, zum »wahren Islam« zu konvertieren,
und dem Aufruf, sie zu töten.
Etwa zehn Prozent der Saudis sind Schiiten,
doch der Einfluss der Wahhabiten sorgt dafür,
dass sie kaum an der Politik partizipieren. So gibt
es keine schiitischen Minister oder Gouverneure. Selbst in der ölreichen Ostprovinz, in der sie
den Sunniten zahlenmäßig zumindest ebenbürtig sind, stellen sie keinen einzigen Bürgermeister. Auch in der Armee und im Ölsektor sind sämtliche höheren Posten mit Sunniten besetzt. Im Bildungsbereich setzt sich
die Diskriminierung nahtlos fort.
Immerhin haben schiitische Führungspersönlichkeiten es in den letzten
zehn Jahren geschafft, Kontakte zu moderaten wahhabitischen Gelehrten zu
knüpfen. Gemeinsame Positionen gegenüber
militanten Extremististen erleichterten eine
Annäherung. Dass mit Aaidh al-Qarni ausgerechnet ein Wahhabit kürzlich eine »Charta der
konfessionellen Koexistenz« vorgeschlagen hat,
ist Ausdruck dieser Entwicklung.
Das Herrscherhaus spielt indes eine zwiespältige Rolle: Nach außen geriert sich König
Abdallah als Verfechter des religiösen Dialogs.
Allerdings hat er es mehrfach versäumt, verbale Attacken mächtiger Gelehrter auf Schiiten
zu verurteilen. Doch immerhin dulden die Al
Saud mittlerweile religiöse Prozessionen dort,
wo Schiiten unter sich sind. Schließlich hat das
von Abdallah initiierte »Nationale Dialogforum« Schiiten geholfen, Vorurteile zwischen
ihnen und gesprächsbereiten Wahhabiten abzubauen. Ein kleiner Anfang, nicht mehr und
dink
nicht weniger.
Das Alevitentum ist im Islambild der
Türkei nicht vorgesehen. In früheren
Jahrhunderten wurden die Anhänger
dieser Glaubensrichtung vom Staat
verfolgt – heute werden sie ignoriert
Das »Massaker von Sivas« erschütterte am 2. Juli 1993 die ostantolische Stadt. Ein Mob legte
Feuer in einem Hotel, in dem alevitische Intellektuelle und Künstler versammelt waren.
37 Menschen starben – ein kollektives Trauma,
aber auch ein Wendepunkt für die Aleviten. Seit
der Tragödie wuchs ihr Selbstbewusstsein im
Kampf um Anerkennung. Frommen Sunniten
gelten sie als Häretiker. Ihre Frauen tragen kein
Kopftuch, sie pilgern nicht nach Mekka, fasten
nicht im Ramadan. Männer und Frauen beten
gemeinsam bei Musik und Tanz, Alkohol ist kein
Tabu und die Vorstellung einer Belohnung oder
Bestrafung im Jenseits lehnen sie ab. Zwar ging
das Alevitentum einst aus der Schia hervor, doch
mit den Schiiten verbindet die den weltlich gesinnten Aleviten heute nur noch die Verehrung
Alis. Die Nähe wurde ihnen dennoch zum Verhängnis: Als Schah Ismail 1501 die Schia zur
Staatsreligion seines persischen Reichs machte,
wurden die Aleviten von den mit Ismail verfeindeten, sunnitischen Osmanen als Ketzer verfolgt und mussten in die entlegensten Gebiete
des Landes fliehen.
Heute gehören etwa zwölf Millionen Türken
der alevitischen Glaubensgemeinschaft an. Offiziell aber gibt es sie gar nicht. Die staatliche Religionsbehörde Diyanet, die ausschließlich den
sunnitischen Islam vertritt, erkennt sie weder als
eigenständige Religion noch als Strömung innerhalb des Islams an. Muslime sind Muslime
– diese Sichtweise hat sich seit dem Osmanischen Reich nicht geändert. Anders als Moscheen erhalten alevitische Gotteshäuser keinerlei staatliche Unterstützung, und ihre Kinder
werden gezwungen, am sunnitischen Religionsunterricht teilzunehmen – abmelden dürfen
sich nur Juden und Christen. Vielleicht als Reaktion auf die Sunnitisierungspolitik verstehen
manche Aleviten sich umgekehrt als Vertreter eines wahren, türkischen Islams, frei von arabischen Einflüssen.
Zwar bemühte Ministerpräsident Erdogan
sich immer wieder um die Aleviten, doch Reformen blieben bisher aus. Das könnte sich allmählich ändern: Nachdem im November 2008
Zehntausende Aleviten bei einer Großdemonstration in Ankara lautstark ihre Rechte einge-
KAMPF UM DEN ISLAM
fordert hatten, erklärte sich die Regierung zu
Gesprächen bereit. Konkrete Ergebnisse wurden
bislang nicht vermeldet, aber im vergangenen
Juli gab es einen symbolischen Akt: An der Gedenkfeier für die Opfer von Sivas nahmen erstmals Regierungsvertreter teil.
yer
04
USBEKISTAN
Attraktive
Heilsversprechen
In Usbekistan treffen islamistische Strömungen auf einen repressiv-radikalen
Staatsapparat. Längst sind auch moderate Gläubige in Schauprozessen hinter
Gitter gewandert
Die zentralasiatische Republik Usbekistan zeichnet sich durch besonders harsche Methoden im
Umgang mit Dissidenten aus. Zu diesen zählt
Präsident Islam Karimov auch Gläubige, die vom
staatlich reglementierten Einheitsislam abweichen – vornehmlich so genannte Wahhabiten, in
postsowjetisch-muslimischen Staaten die gängige Bezeichnung für Anhänger islamistischer
Strömungen aller Art. Erst im Frühjahr wurden
mehr als 400 Menschen unter dem Vorwand der
Terrorbekämpfung verurteilt. Viele der Inhaftierten werden der Hizb ut-Tahrir al-Islami zugerechnet, der einflussreichsten salafitisch-islamistischen Gruppierung Zentralasiens. 1952 in
Jerusalem als Abspaltung der Muslimbruderschaft gegründet, fordert die »Partei der islamischen Befreiung« die Wiedererrichtung des Kalifats. Zwar lehnt die weltweit aktive Gruppe Gewalt zur Durchsetzung ihres Ziels ab. Da sie aber
die herrschenden Regimes ideologisch bekämpft
und die Abschaffung von Nationalstaaten vorsieht, ist sie fast überall in der islamischen Welt
verboten.
Vor allem in Usbekistan hat die Hizb ut-Tahrir zahlreiche Anhänger. Hohen Zuspruch findet sie unter Armen und Benachteiligten, denen der korrupte, bildungsfeindliche und wirtschaftlich desolate usbekische Staat keinerlei
Perspektive bietet. Die antisemitische und antiwestliche Ideologie der Hizb ut-Tahrir offeriert
hingegen ein attraktives Heilsversprechen und
klare Feindbilder. Das Karimov-Regime bezeichnet diese Ideen als »importierten Islamismus« und konstruiert bewusst einen scharfen
Gegensatz zum staatstreuen, apolitischen und
somit »einheimischen« Islam. Über Mitgliederzahlen, Organisation und Finanzen der Hizb utTahrir existieren nur Vermutungen, da die klandestinen Strukturen der international agierenden Partei unter ihrem palästinensischen
Führungskader klare Aussagen nicht zulassen.
Manche Quellen sprechen von bis zu 80000 Mitgliedern allein in Usbekistan.
Verschiedene Abspaltungen von der Hizb utTahrir haben sich von der Gewaltlosigkeit abgewendet; manche sehen sie daher als Trittbrett
für den Einstieg in den islamistischen Terror.
Hierfür gibt es keine klaren Beweise. Islam Karimovs Schreckensherrschaft jedoch profitiert
von diesen Gerüchten: Die Anzahl der aufgrund
ihrer Religiosität Inhaftierten wird allein in Usbekistan auf etwa 7000 geschätzt. Zahlreiche Todesfälle in Haft verschaffen den religiösen Regimegegnern indessen nur weiter Aufwind. win
»Ein Buch, das den Kern der ewigen Krise im Nahen Osten trifft.«
Jon Snow, Channel Four News
»Die Botschaft ist klar und schlüssig. Es muss Schluss
sein mit der Unterstützung arabischer Autokraten,
Schluss damit, demokratische Wahlergebnisse zu
verwerfen, die dem Westen nicht gefallen… Kaum ein
Beobachter der Region ist bewanderter und erfahrener
als David Gardner, und sein Buch – lebendig, eigensinnig und absolut lesenswert – ist ein längst überfälliger
Weck- und Warnruf an die Politikmacher.«
Gareth Evans, Präsident des Internationalen Krisenstabs
und früherer Außenminister Australiens
2010. 246 S., geb. mit SU
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David Gardner ist Chef-Leitartikler
und Associate Editor der
Financial Times. Von 1995 bis 1999
war er der verantwortliche
Middle East Editor der Zeitung.
KAMPF UM DEN ISLAM
Invasion
der Prediger
Der Wettstreit religiöser Meinungsmacher wird
in Ägypten vor allem im Fernsehen ausgetragen.
Laien erlassen Fatwas und machen damit
traditionellen Rechtsgelehrten
Konkurrenz. Die ägyptische Regierung lässt sie gewähren –
nicht ohne politische Hintergedanken
Von Carola Richter
e Polemik von Andreas Altmann
>> »Bete! Bete! Bete!«, presst der Prediger mit
dem grauen Vollbart immer wieder zwischen
den zu einem verkniffenen Lächeln gekräuselten Lippen hervor. Schweißperlen stehen auf
seiner Stirn. Inbrünstig sendet er seine Botschaft
hinaus in den Orbit und von dort zurück nach
Ägypten und in die übrige arabische Welt. Von
demselben Satelliten kommen die Wellen von
über einem Dutzend weiterer Islam-Sender, in
denen Prediger heiser schreien oder geheimnisvoll flüstern, Frauen kompetent Fatwas erteilen
oder komplett im Programm fehlen, traditionell gewandete Scheichs mit hennaroten Bärten
oder junge Männer in Anzügen auftreten und islamische Musikvideos anmoderieren.
In Ägypten manifestiert sich vor den Augen der
Zuschauer eine Auseinandersetzung um den Islam und seine Auslegung, die so gar nichts mehr
mit den Zeiten obrigkeitsstaatlicher Religionsvermittlung zu tun zu haben scheint. Als das Satellitenfernsehen Ende der 1990er Jahre seinen
ersten Boom in der Region erlebte, gründete der
saudische Geschäftsmann Salah Kamel einen religiösen Sender namens Iqra’ – zu Deutsch: »Lies!«
Iqra’ fungierte als Initialzündung für den Ausbau privater islamischer Medien. Bis dahin war
die Verbreitung des Islams im Wesentlichen eine
staatlich sanktionierte Angelegenheit, die zwar
durchaus in den Medien stattfand, aber von einem sehr traditionellen Stil geprägt war.
Iqra’ dagegen setzte auf eine Vielfalt an Formaten, die von Diskussionsrunden über Anrufsendungen bis hin zu Live-Fatwa-Shows reich-
60
zenith 3/2010
ten. Mit Amr Khaled baute Iqra’ sogar einen einfachen und theologisch ungebildeten Prediger
zum Star auf, der seine internationale Popularität nutzte, um Projekte gegen Arbeitslosigkeit
oder für den Umweltschutz zu initiieren.
Das Einschalten islamischer Kanäle verstehen Millionen Ägypter mittlerweile wie einen
Moscheegang als religiösen Akt. Das wachsende Publikum wiederum beschleunigte die mediale Islamisierung. Auf Seiten der Sendergrün-
Gebetsrufe als
Klingeltöne – die
Religion wird
kommerzialisiert
der verschmelzen dabei häufig kommerzielles
und religiöses Kalkül: Für die saudischen Business-Tycoons, die die meisten Kanäle finanzieren, sind sie vor allem eine Vervollständigung
ihres Senderbouquets, mit dem sie ihren Medienaktivitäten zugleich einen frommen Anstrich geben können. So steht der religiöse Sender Al-Risalah im Rotana-Netzwerk des saudischen Prinzen Walid Ibn Talal neben einem
offenherzigen Musik- und einem Unterhaltungskanal, in dem schon mal über Prostitution geredet wird. Gebetsrufe als Klingeltöne, Islam-
Songs zum Download und gebührenpflichtige
Fatwa-Hotlines, mit denen die Sender sich ein
Zubrot verdienen, zeugen von einem neuen
Trend: der Verbindung von Kommerz und Religion.
Während Kanäle wie der Pionier Iqra’, das
populäre Al-Risalah und das neu gegründete
4Shbab – »Für die Jugend« – auf islamkonforme, aber kommerziell vermarktbare Unterhaltung mit Musik, Serien und Talkshows setzen,
hat sich in den vergangenen Jahren ein neuer
Strang besonders konservativer Sender etabliert,
die von einigen Beobachtern mit dem Schlagwort »salafistisch« bezeichnet werden. Damit ist
eine sehr schriftgetreue Islamauslegung gemeint,
die sich auf die Zeiten des Propheten Muhammad und seiner Gefährten bezieht.
Ein Siegeszug hat begonnen. Der konservative Islam-Sender Al-Nas – »Die Menschen« –,
bei dem Frauen nicht moderieren dürfen, hat
sich in nur einem Jahr zum Massenmedium gemausert. Al-Nas gehört zu einem ganzen Netzwerk religiös-puritanischer Kanäle: Der Tochterkanal Al-Khalijia spricht gezielt Familienthemen an, Al-Baraka konzentriert sich auf
Themen aus der Wirtschaft und Al-Hafiz zeigt,
wie man den Koran richtig erlernt. Der Sender
Al-Rahma ist sogar vollständig in der Hand von
Klerikern, die auf kommerzielle Elemente verzichten und in ihren Sendungen die religiöse
Reinigung der arabisch-islamischen Welt beschwören. Die Fülle an existierenden Sendern hat
dazu geführt, dass die generelle Freude religiö-
ser Protagonisten über den islamischen Wiederaufschwung in Angst umgeschlagen ist: Angst
vor dem Bedeutungsverlust etablierter Institutionen wie der Azhar-Universität. Ein verbissenes Ringen um die Deutungshoheit ist entbrannt. So kritisiert Gamal Qotb, ein ehemaliger Azhar-Funktionär, in einem Interview mit
der Zeitung Al-Ahram: »Das Problem dieser Sender ist, dass sie Versionen des Islams importiert
haben und propagieren, die keine Wurzeln in
den meisten arabischen Ländern haben – und
speziell nicht in Ägypten.« Und der Azharit Abdallah al-Naggar greift Al-Rahma wegen seines
aufwiegelnden Tons an: »Der Islam braucht keine bombastischen Slogans.« Es schade nur, wenn
Feindseligkeiten und Konflikte heraufbeschworen würden, moniert der Gelehrte.
Droht der
ägyptischen
Gesellschaft die
Saudisierung?
Um der salafistischen Invasion standzuhalten,
bemühen sich Azhar-Gelehrte mittlerweile ebenfalls um mediale Präsenz. Die aus diesem Wettbewerb resultierende Zunahme immer absurderer Fernseh-Fatwas führte dazu, dass das ägyptische Parlament 2008 sogar darüber debattierte,
die Fatwa-Erteilung in den Medien ohne offizielle Lizenz zu verbieten. Letztendlich sah man
von diesem Eingriff ab, lancierte aber zum Ramadan 2009 den privat finanzierten Sender
Azhari TV. Der lässt nur zertifizierte Azhar-Absolventen auf den Bildschirm, um ein Gegengewicht zu den salafistischen Predigern zu schaffen.
Angesichts dieser Auseinandersetzungen erstaunt die nach wie vor starke Präsenz der IslamSender in Ägyptens autoritär gesteuerter Fernsehlandschaft. Der Satellit NileSat, über den die
meisten Programme abgestrahlt werden, liegt
vollständig in staatlicher Hand. Auch die Media
Production City in Kairo, in denen die Sendungen in der Regel produziert werden, steht
unter staatlicher Kontrolle. Erst 2008 hatte die
Arabische Liga auf Drängen von Ägypten und
Saudi-Arabien eine Charta verabschiedet, um
gegen Kanäle vorgehen zu können, die »die soziale Harmonie, die öffentliche Ordnung, die
nationale Einheit oder traditionelle Werte beschädigen«. Die immer neue Vergabe ägyptischer Lizenzen an religiöse Sender wirkt angesichts des öffentlichen Islam-Streits jedoch nicht
gerade wie eine Festigung der propagierten sozialen Harmonie.
Etliche Beobachter gehen deshalb davon aus,
dass das ägyptische Regime die religiösen Sender gezielt einsetzt: So sollen die Muslimbrüder
davon abgehalten werden, die religiöse Agenda
zu bestimmen. Denn während die Programme
der neuen Fernsehprediger vor allem auf eine Islamisierung des Alltags setzen, nutzen die oppositionellen Muslimbrüder ihr religiöses Kapital, um politisch gegen die Machthaber mobil zu machen. Bei den Parlamentswahlen 2005
konnten die Islamisten trotz Wahlfälschung rund
20 Prozent der Mandate erobern, indem sie sich
als tugendhaftere Alternative zu Mubarak & Co.
präsentierten.
Für letztere scheint es deshalb eine clevere
Option zu sein, die Sehnsucht der Bürger nach
religiöser Anleitung durch islamische TV-Sender zu befriedigen, ohne politische Zugeständnisse machen zu müssen. Die Sender können
außerdem helfen, die Stabilität in dem von sozialen Ungleichheiten gekennzeichneten Land
aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung ruhig
zu stellen. »Unsere Prediger raten den Armen,
zufrieden mit ihrem Leben zu sein und Ausgleich im Jenseits zu suchen,« beschreibt Atef
Abdel Raschid, Gründer der Al-Nas-Gruppe, gegenüber Al-Ahram seine Senderpolitik.
Die islamischen Sender folgen damit staatlichen Vorgaben, wie Abdel Raschid betont: »Wir
stimmen mit der Regierung zu 90 Prozent überein und zu zehn Prozent nicht. Wir haben beschlossen, über diese zehn Prozent nicht zu debattieren.« Die Behörden haben diese loyale
Sichtweise nicht zuletzt dadurch erwirkt, dass sie
im Zuge der Verabschiedung der Satelliten-Charta 2008 mehrere kleine Islam-Sender kurzzeitig
abschalteten. Der so demonstrierte lange
Arm der Staatsmacht hat die Sender wieder auf die gewünschte apolitische Linie gebracht.
Diese Strategie der Ablenkung vom
eigenen politischen Unvermögen mag
kurzfristig ein Erfolg für das Regime
sein. Die Propaganda salafistischer Prediger, die in ihren Sendungen gegen den
Westen und seine Verbündeten wettern,
könnte jedoch schnell in Kritik an der prowestlichen Regierung umschlagen. Und auf
Dauer sind die sozialen Folgen der medialen Islamisierung nicht abzusehen. Während einige
Beobachter schon angstvoll von einer »Saudisierung« Ägyptens sprechen, die sich in einer
strikteren Kleiderordnung und zunehmender
Geschlechtertrennung niederschlagen könnte,
sehen andere einen selbstbewussten Bezug auf
den Islam im Alltag als förderlich für Ägyptens
Entwicklung an. Die (noch) vorhandene Vielfalt
der islamischen Medien spricht immerhin dafür,
dass moderate Erneuerer radikalen Eiferern das
Feld nicht kampflos überlassen werden.
<<
Illustration: Lesprenger
KAMPF UM DEN ISLAM
VURAL ÖGER (68)
UNTERNEHMER, DEUTSCHLAND
»Der Islam leidet
daran, dass
sich politisch
motivierte
Splittergruppen
fälschlich auf
ihn berufen,
aber zugleich an
unverständiger
Diskriminierung,
teils sogar
in Deutschland.«
SALMA MUSA (29)
ZAHNÄRZTIN, SUDAN
»Islam ist eine falsch verstandene
und falsch interpretierte Religion.
Im Islam geht es um Vergebung
und Frieden, und daher kommt ja
auch das Wort Islam: Es ist das
arabische Wort für Frieden.«
Weitere Aussagen auf www.zenithonline.de.
Die Zitate wurden auf Anfrage von zenith
abgegeben oder Presse und Fachliteratur entnommen.
zenith 3/2010
61
KAMPF UM DEN ISLAM
GLOSSAR DER ISLAMKLISCHEES (ISLAMVERSTEHER)
Von Aufklärung ...
Die Debatte über den Islam in Europa entzündet sich immer wieder an Schlagworten.
Dabei geraten Islamversteher und -kritiker oft heftig aneinander ...
Islamkritiker – Einzelpersonen mit ProfilneuAufklärung – über die Vielfalt der islamischen
rose, die die Gefahr des >Islamismus bewusst
Lebensweisen ist notwendig, damit nicht mehr
übertreiben, um billige Stimmungsmache zu bepauschal über den >Islam geurteilt wird.
treiben. Sprechen Stammtischparolen aus, die
Burka – Traditionelles Kleidungsstück afghanischer Frauen. In Europa selten zu sehen, also
in einer >aufgeklärten Diskussion über den >Iswas soll die Aufregung?
lam nichts zu suchen haben.
Islamophobie – Von >Islamkritikern geschürte
Christlich-jüdisches Erbe – Euphemismus
dafür, dass Muslime in Europa nicht willkomStimmung gegen alles Muslimische. Die I. basiert
men sind. Oder haben sich Christen und Juden
mehr auf Ängsten in der Mehrheitsgesellschaft
etwa immer gut verstanden?
als auf Realitäten. Ein deutlicher Beleg für I. ist
Dialog – Wir sollten reden! Und zwar über Geder Mord an der Ägypterin Marwa el-Sherbini
meinsamkeiten, sonst kommen wir nicht zueinin Dresden.
ander. Zu viel Konflikt führt nicht zu Ergebnissen,
Judenfeindlichkeit – Sowohl Araber als
auch Juden sind Semiten. Muslimischer
wie die »Deutsche Islamkonferenz« zeigt. Ohne
Antisemitismus widerspricht sich dadas Attribut interreligiös ist der D. nicht denkbar.
Dschihad – heißt »Anstrengung« oder »Bemühung«.
her selbst. Vielmehr sind Muslime
Gemeint ist der Kampf gegen Versuchungen, um
heute einer >Xenophobie ausgesetzt
sich nicht vom Glauben abbringen zu lassen. Wird
wie einst die Juden.
leider oft als »Heiliger Krieg« missverstanden.
Europäisierung des Islams – Dezente
Kopftuch – Ein Stück Stoff, das Frauen
Anpassung der religiösen Praktiken der
sich aus den verschiedensten Motiven
Muslime an die Gegebenheiten in Euroumbinden: Religiöse Erwägungen spielen
pa im 21. Jahrhundert. Ist möglich, ohdabei ebenso eine Rolle wie der Wunsch der
ne an den Grundpfeilern des >Islams zu
Frauen, nicht von fremden Männern
rütteln. Beispiele für die E. sind Moscheen
belästigt zu werden.
und >Minarette, die sich eine moderne
Architektursprache zu eigen machen.
Ex-Muslime – Man kann aus dem >Islam nicht
Leitkultur – Ob nun deutsch oder europäisch,
ob christlich oder abendländisch: soll verdeutaustreten. Man kann in diesem Sinne auch nicht
lichen, dass bestimmte Menschen nicht nach
eintreten, schließlich ist der Islam anders als die
Europa gehören. Verkörpert als Konzept eine
christlichen Kirchen in Deutschland keine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Wer seinen
Wagenburgmentalität.
Glauben nicht mehr ausleben möchte, der lebt
Meinungsfreiheit – Vorwand der >Islamkritiker,
dass alles erlaubt ist – sogar volksverhetzende
ihn einfach nicht mehr aus.
Schmähungen des >Propheten Muhammad.
Fundamentalismus – Haltung der >IslamkritiMinarette – Zeichen dafür, dass Muslime in der
ker, die mit heiligem Zorn ihre >Aufklärung vor
Fremden verteidigen wollen.
europäischen Gesellschaft angekommen sind
Grundgesetz – Ist in weltanschaulicher Hinund sich nicht mehr in Hinterhofmoscheen versicht neutral, ist daher im gleichen Maße mit
stecken müssen.
dem >Islam vereinbar wie mit Christen- und
Niqab – Gesichtsschleier der Frauen in SaudiJudentum. Das G. schützt in Artikel 4 in beArabien, ähnlich wie die >Burka bei europäisonderem Maße die >Religionsfreiheit.
schen Musliminnen unüblich. Nicht mit dem
>Kopftuch zu vergleichen.
Hassprediger – formulieren in leicht verständOrientalisch – sind exotische Phantasien und
lichem Deutsch in aller Öffentlichkeit Vorurteile über Muslime, um zum Kreuzzug gegen eine
Sehnsüchte nach einer Fremdheit, die ein anregendes Gegenmodell zum nüchtern struktuangebliche Islamisierung Europas zu blasen.
rierten Alltag in Europa symbolisiert.
Islam – heißt Frieden.
Prophet – Muhammad, von Muslimen sehr verIslamismus – Politischer Missbrauchs des >Isehrter Religionsstifter. Sollte daher mit Respekt
lams durch einige wenige Radikale. Die Gefahr
behandelt werden.
des I. wird übertrieben.
62
zenith 3/2010
Quran, auch Koran – Interpretationsfähiges heiliges Buch der Muslime. Sollte im Religionsunterricht behandelt werden.
Religionsfreiheit – Hohes Gut, das in Gefahr
ist, weil aus falsch verstandener Emanzipation
das Tragen von >Kopftüchern verboten werden
soll und aus nicht nachvollziehbaren Gründen
auch der Bau von >Minaretten.
Scharia – Beschreibt den Weg der islamischen
Rechtsfindung. Im Sinne der >Europäisierung
des Islams kann die S. so interpretiert werden,
dass sie mit dem >Grundgesetz vereinbar ist. Die
S. sieht unter anderem vor, dass Geldgeschäfte nicht verzinst werden dürfen,
was in der Finanzkrise auch für den
Westen hilfreich gewesen wäre.
Täuschung – Beliebtes Mittel der
>Islamkritiker: Sie geben vor, dass
die Islamisierung Europas unmittelbar bevorsteht, dabei geht es
doch nur um die Etablierung der
Rechte einer Minderheit.
Toleranz – heißt, die Eigenheiten fremder Kulturen und Religionen zu akzeptieren, um ein
gleichberechtigtes Miteinander zu ermöglichen.
Ungläubige – Eigentlich müsste es »Andersgläubige« heißen; der interreligiöse >Dialog
führt auch dazu, dass Angehörige der verschiedenen Religionen sprachlich sensibler miteinander umgehen.
Verharmloser – sind >Islamkritiker, die ihre
Provokationen (z.B. die Muhammad-Karikaturen) unter Verweis auf die >Meinungsfreiheit
bewusst verniedlichen. Sind in den großen deutschen Medien leider in der Mehrheit.
Wertegemeinschaft – Gemeinsamkeiten der drei
abrahamitischen Weltreligionen, die vom gleichen Stamm kommend auch die gleichen Werte verkörpern.
Xenophobie – zeigt sich auf Schulhöfen, wo
Kinder ausgeschlossen werden, die nicht Deutsch
sprechen.
Zivilisation – Die islamische Z. hatte ihren
Höhepunkt in Andalusien im Mittelalter. Unter
islamischer Herrschaft wurde damals >Toleranz
großgeschrieben.
Zwangsehen – gab es in Europa auch bis weit
ins 20. Jahrhundert. Z. werden vom >Quran
nicht vorgesehen, sind daher ein kulturelles Problem und kein religiöses.
KAMPF UM DEN ISLAM
GLOSSAR DER ISLAMKLISCHEES (ISLAMKRITIKER)
... bis Zwangsehe
... weil sie zwar dieselbe Sprache sprechen, aber unter bestimmten Wörtern
ganz Unterschiedliches verstehen. Eine Übersetzungshilfe
Aufklärung – Hat der >Islam nie erlebt, weshalb
Islamkritiker – Mutige Einzelpersonen, die mit
er nicht mit der westlichen >Wertegemeinschaft
der falschen >Toleranz gegenüber den Gefahren
kompatibel ist.
des >Islams hart ins Gericht gehen. Sprechen
Burka – Symbol für die Unterdrückung der Frau
die Meinung einer schweigenden Mehrheit aus,
in islamischen Gesellschaften. Nicht mit der hiedie von den >Verharmlosern in den großen Mesigen >Leitkultur vereinbar, weshalb die B. verdien verschwiegen wird.
boten gehört.
Islamophobie – Soll suggerieren, dass Muslime
Christlich-jüdisches Erbe – Grundlage der
in Europa in der Opferrolle sind. Die angebliabendländischen >Zivilisation. Steht in dem Beche I. dient dazu, von der verbreiteten >Judengriff irgendwo das Wort islamisch? Na also!
feindlichkeit vieler Einwanderer islamischen
Glaubens abzulenken.
Dialog – Wir müssen reden!
Judenfeindlichkeit – Der Hass auf Israel wird
Und zwar über die Provon muslimischen Migranten nach Europa
bleme, sonst bleibt der
transportiert, so dass der Antisemitismus hier eiD. überflüssiges Gene neue schreckliche Blüte erlebt und die westlaber, wie die »Deutliche >Wertegemeinschaft gefährdet.
sche Islamkonferenz« zeigt.
Dschihad – heißt
Kopftuch – Ein Stück Stoff, das muslimischen
Heiliger Krieg und wird
Frauen durch islamisch-patriarchalische Strukvom >Quran vorgeschrieturen aufgezwungen wird. Politische Erwäben, um die >Ungläubigen zu bekämpgungen spielen dabei ebenso eine Rolle wie der
fen. Wird leider oft von >Verharmlosern
Wunsch der Männer, dass ihre Frauen nicht
als Ringen mit den eigenen Unzulängvon der westlichen Freiheit belästigt werden.
lichkeiten missverstanden.
Europäisierung des Islams – Eine StraLeitkultur – Ob nun deutsch oder europäisch,
tegie der >Täuschung. Das eigentliche Ziel ist
die Islamisierung Europas.
ob christlich oder abendländisch: verdeutlicht,
Ex-Muslime – Man kann aus dem >Islam nicht
dass bestimmte Verhaltensweisen nicht nach
austreten. Die >Scharia sieht für diejenigen, die
Europa gehören. Verkörpert als Konzept eine
vom Glauben abfallen, die Todesstrafe vor. Noch
auf der >Aufklärung beruhende >Wertegemeinschaft.
ein Grund, weshalb der >Islam nicht mit dem
Meinungsfreiheit – Hohes Gut, das in Gefahr
>Grundgesetz vereinbar ist.
ist, weil viele Zeitungen in Deutschland sich aus
Fundamentalismus – Islamischer F. zielt auf die
falsch verstandener >Toleranz nicht trauen, den
Einführung der >Scharia in Europa ab. Führt
Islam zu kritisieren. Wer hat denn bislang die
uns direkt ins Mittelalter.
Muhammad-Karikaturen abgedruckt?
Grundgesetz – ist in weltanschaulicher HinMinarette – Zeichen dafür, die Muslime auch in
sicht neutral, ist daher nicht mit dem >Islam
Europa den Herrschaftsanspruch des >Islams
vereinbar, da dieser die >Scharia über jedes weltdurchsetzen wollen.
liche Recht stellt. Das G. schützt in Artikel 5 in
Niqab – Noch so eine Form, Frauen unter Stoff
besonderem Maße die >Meinungsfreiheit.
zu verstecken, vergleiche >Burka und >KopfHassprediger – schüren in kaum verständlichen
tuch.
Sprachen in Hinterhofmoscheen Vorurteile über
Orientalisch – sind Despotien sowie sexistische
die >Ungläubigen, um zum >Dschihad gegen
Haremsfantasien, die ein abstoßendes Gegenden Westen zu blasen.
modell zur in Europa geregelten GleichberechIslam – heißt Unterwerfung.
tigung symbolisieren.
Islamismus – ist eigentlich nichts anderes als
Prophet – Muhammad, arabischer Feldherr mit
der >Islam. Eine politische Ideologie, die für die
dubiosem Privatleben, sollte daher äußerst kriVorherrschaft der islamischen Religion in sämttisch behandelt werden.
lichen Lebensbereichen steht. Die Gefahr des I.
wird >verharmlost.
Von Moritz Behrendt
Quran, auch Koran – Unverständliche Ansammlung ideologischer Grundsätze aus dem 7. Jahrhundert im rückständigen Arabien. Sollte höchstens im Geschichtsunterricht behandelt werden.
Religionsfreiheit – Vorwand der >Islamisten,
dass alles erlaubt ist, sogar >Zwangsehen, Ehrenmorde und die Befreiung ihrer Töchter vom
Schwimmunterricht.
Scharia – Beschreibt das vermeintlich göttliche
und daher unabänderliche islamische Gesetz,
das im Rahmen der Islamisierung Europas auch
hier eingeführt werden soll. Die S. sieht unter anderem vor, dass Frauen gesteinigt werden, wenn
sie ihre Liebe auch ohne Trauschein ausleben.
Täuschung – ist eine vom >Quran vorgeschriebene Strategie (taqiyya), um die >Ungläubigen in die Irre zu führen. Solange die Muslime in Europa in der Minderheit sind, faseln sie
von der Friedfertigkeit ihrer Religion. Sind sie
in der Mehrheit, wird die >Scharia eingeführt.
Toleranz – Tu’ du mir nicht weh, ich tu’ dir auch nicht
weh! Um den kuscheligen interreligiösen >Dialog
ja nicht zu stören, werden islamisch begründete
Verstöße gegen das >Grundgesetz hingenommen.
Ungläubige – In ihren Überlegenheitsphantasien
halten Muslime die Angehörigen anderer Religionen
für minderwertig. Die Diskriminierung der Christen
in Saudi-Arabien und der Türkei ist Vorbild für
Europa, sobald hier die >Scharia eingeführt wird.
Verharmloser – sind Gutmenschen, die mit Verweis auf die >Toleranz die Gefahren des >Islams
bewusst vertuschen. Sind in den großen deutschen Medien leider in der Mehrheit.
Wertegemeinschaft – Durch die >Aufklärung
erreichte Gemeinsamkeiten westlicher Länder,
die sich aus den Menschenrechten und dem
>christlich-jüdischen Erbe speisen. Manifestieren sich in Deutschland im >Grundgesetz, das
nicht mit dem >Islam vereinbar ist.
Xenophobie – zeigt sich auf Schulhöfen in den
Problemvierteln, wo Kinder ausgeschlossen werden, die nicht Türkisch sprechen.
Zivilisation – erfordert >Aufklärung. Ist in Europa dank des >christlich-jüdischen Erbes entstanden. Muss sich wehrhaft zeigen gegen die
Islamisierung und den >Fundamentalismus.
Zwangsehen – Beispiel für die Rückständigkeit und
Frauenfeindlichkeit islamischer Gesellschaften.
Mutige Frauen, die Zwangsehen entfliehen, werden in der Regel durch Ehrenmorde kaltgestellt.
zenith 3/2010
63
Foto: Megan E. Sindelar/US Marine Corps
SPORT
Sieben Freunde
müsst ihr sein
Ein amerikanischer Soldat findet in Afghanistan
einen leeren Swimmingpool vor – und
gründet das erste Wasserball-Team in der Geschichte
des Landes. Nun soll er seine Mannschaft fit für
Olympia machen
Von Kerstin Zilm
64
zenith 3/2010
>> Der Traum von Jeremy Piasecki hat ein Datum: August 2016. Dann finden in Rio de Janeiro
die Olympischen Sommerspiele statt. Piasecki
will dabei sein – nicht als Spieler, sondern als
Trainer einer besonderen Mannschaft: des afghanischen Wasserball-Nationalteams.
Piasecki ist Reservist der US-Marines. Vor
zwei Jahren arbeitete er als Verwaltungsexperte
auf einem Stützpunkt der afghanischen Armee
nahe Kabul. Dort fand er einen leer stehenden
Swimmingpool. Das Becken war in einem ziemlich üblen Zustand, sagt der 32-Jährige: »Da lagen Abfall, Metall, Plastikflaschen, Glasscherben und Dreck im Pool. Einige nicht identifizierbare Gegenstände, darunter vermutlich ein
totes Tier. Sagen wir: Dinge, die nicht in ein
Becken gehören.«
Denn wenn es nach Piasecki geht, ist eindeutig, was in einen Swimmingpool gehört: insgesamt 14 Sportler und ein – meist gelber – Ball.
Am Wasserball fasziniere ihn die Kombination
aus Kraft, Ausdauer, Geschicklichkeit und natürlich Teamarbeit, meint der Amerikaner. In seiner Heimat Kalifornien hatte er bereits Schulmannschaften trainiert. Piasecki beschloss also,
ein Wasserball-Team für die afghanischen Soldaten zu gründen.
Die erste olympische Medaille holte
Afghanistan 2008 im Tae-Kwon-Do
Die Voraussetzungen dafür waren 2008 nicht gerade rosig. Rund um den Pool streunten
Straßenköter, wenige hundert Meter entfernt sind
in die Luft gesprengte Gebäude zu sehen und
ausgebrannte Fahrzeuge. Außerdem kann im Binnenstaat Afghanistan kaum jemand schwimmen.
In den Sprachen des Landes gibt es noch nicht
mal ein Wort für Wasserball. Trotzdem war der
Pool dank Piaseckis
Ausdauer und Überzeugungskraft wenige
Monate später gefüllt
mit frischem Wasser.
Bei den ersten TryOuts, also dem Probetraining für die neue
Mannschaft, tauchten
mehr als 70 Soldaten
auf. Ein großer Erfolg,
findet der WasserballEnthusiast: »Die Soldaten kamen aus allen
Foto: Megan E. Sindelar/US Marine Corps
SPORT
In den Sprachen Afghanistans gibt es kein Wort für Wasserball. Aber wer das erste Training
überstanden hat, ist stolz, Teil der Mannschaft zu sein.
Provinzen des Landes, hatten unterschiedlichste
ethnische Hintergründe. In der Armee sorgt das
immer wieder für Probleme. Aber beim Training haben alle zusammengehalten. Alle kamen,
um Teil dieser Mannschaft zu sein.«
Inzwischen gibt es sogar zwei WasserballTeams in Afghanistan. Piasecki, der Initator,
kümmert sich darum, dass auch in anderen Armeestützpunkten Mannschaften aufgebaut werden können, dass die Sportler Badehosen bekommen und dass genügend Bälle und Tore vorhanden sind. Etwa zur gleichen Zeit, im August
2008, konnte sich Afghanistan über die erste
olympische Medaille seiner Geschichte freuen:
Rohullah Nikpai gewann in Peking im
Tae-Kwon-Do eine
Bronzemedaille. Wenige Tage nach diesem
Ereignis erhielt Jeremy
Piasecki vom Nationalen Olympischen
Komitee Afghanistans
einen Auftrag: Er soll
ein Nationalteam aufbauen und dieses zu
den
Olympischen
Spielen 2016 führen.
Drei der
besten Spieler
starben
im Kampf
gegen die
Taliban
Keine leichte Aufgabe in einem Land, das sich
mitten im Krieg befindet. Drei der besten Spieler der neuen Nationalmannschaft seien bei
Kämpfen mit den Taliban gefallen, berichtet
Piasecki. Um seinen Athleten eine Perspektive
zu geben, will er für sie einen mehrmonatigen
Aufenthalt in den USA organisieren. Das soll die
Mannschaft nicht nur sportlich voranbringen,
sagt der Nationalcoach. Ihm ist es wichtig, dass
Afghanen und US-Amerikaner nicht nur in
Kriegssituationen aufeinandertreffen: »Nur wenige Amerikaner verstehen, was es bedeutet, in
einem Land zu leben, das seit Jahrzehnten im
Krieg ist. Und die Afghanen könnten unser
Land sehen und lernen, warum wir ihnen helfen wollen.«
Mit seinem kalifornischen Enthusiasmus hat
Piasecki bereits Reise- und Aufenthaltsgenehmigungen, Unterkunft und Trainingsmöglichkeiten für die Athleten organisiert. Was er noch
braucht, ist das Geld für ihre Flüge. Piasecki
hofft auf Spenden. Natürlich weiß er, dass es in
Afghanistan Wichtigeres gibt als Wasserball. Aber
wenn er davon erzählt, wie sehr seine Mannschaft zusammenhält, wie begeistert die Spieler
inzwischen über den olympischen Traum sprechen, dann zeigt sich auch die integrative Kraft
des Sports.
<<
zenith 3/2010
65
Foto: Ulrike Gasser
GESELLSCHAFT
>> Stundenlang waren sie in der Dunkelheit der
Nacht die Küste entlanggelaufen. Dann ging auf
einmal alles sehr schnell. Kaum hatten sie sich in
Mytilini am Straßenrand niedergelassen, um sich
ein wenig von den Strapazen zu erholen, wurden
die vier afghanischen Jungen aufgegriffen und
festgenommen. Reine Routine für die griechischen Polizisten, während der Traum der vier
von einer besseren Zukunft in Sekundenschnelle zerplatzte.
So ergeht es vielen der bis zu fünfhundert illegalen Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten, die Nacht für Nacht an den Küsten
Griechenlands stranden. Auch auf der Insel Lesbos führen die ersten Schritte auf europäischen
Boden oft direkt ins Gefängnis. Da es aber verboten ist, minderjährige Flüchtlinge zu inhaftieren, werden die jungen Afghanen nach Aggiasos
gebracht, einem verschlafenen Bergdorf hoch
über dem Mittelmeer.
Angst vor den Bildern
der Vergangenheit
Unweit des Ortes, umgeben von tiefem, grünem
Wald, gewährt den verängstigten Jungen ein
schmuckloses Eingangstor Einlass. Ein langer, gerader Weg führt auf ein zweistöckiges Gebäude
zu: die »Villa Azadi«, das »Haus der Freiheit«.
Erst vor zwei Jahren wurde die leer stehende
Klinik aus den 1930er Jahren mit geringen Mitteln zu einer Herberge für Jugendliche umgebaut. Heute gewährt die soziale Einrichtung bis
zu hundert Flüchtlingen aus Afghanistan und
dem Iran Unterschlupf. Alle hier sind Jungen, alle minderjährig und alle sind sie ohne Eltern hergekommen. Wie auch die Neuankömmlinge dieser Nacht, die nun in einer kalten, grauen Marmorhalle von einem mit Kinderhänden gemalten
Plakat begrüßt werden: »Welcome Refugees!« Still
weist ihnen Gregoris Kavarnos, Sozialarbeiter
und Leiter des Heimes, vorübergehend vier alte
Krankenhausbetten zu.
Jetzt, früh am Morgen, sind die mintgrünen
Türen zu den Zimmern der Villa Azadi noch geschlossen. Viele der Jugendlichen, die hier untergebracht worden sind, leiden unter Schlafstörungen und können oft die ganze Nacht nicht
einschlafen. Sie haben Angst vor den Bildern der
Vergangenheit, die vor ihren Augen tanzen, sobald sie diese schließen. Oft erlöst sie der Schlaf
erst in den frühen Morgenstunden, und so dauert es bis zum späten Vormittag, bis die Jungen
66
zenith 3/2010
Gefangen im
Haus der Freiheit
Das griechische Lesbos liegt nur einen Katzensprung
vom türkischen Festland entfernt, Strände und blaues Meer
ziehen Urlauber aus ganz Europa an. Auf der Durchreise sind
auch jugendliche Flüchtlinge aus Afghanistan. Sie sind auf
der Touristeninsel hängen geblieben
Von Ulrike Gasser
ihre müden Glieder aus den Betten heben. In den
letzten zwei Jahren hätten er und sein Team etwa 2500 junge afghanische Flüchtlinge betreut,
schätzt Kavarnos. Vor allem im Sommer, wenn die
See ruhiger ist, steige die Anzahl der Bewohner
regelmäßig auf über hundert an: »Die Polizei
schickt uns die Kinder oft, ohne sie vorher anzukündigen. Wir sind verpflichtet, alle unter 18
Jahren aufzunehmen, und müssen dann ganz
schnell genügend Betten, Kleidung und Essen organisieren.«
Wenn die Polizei die Flüchtlinge in die Villa
bringt, sind diese eigentlich verpflichtet, Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Al-
lerdings setzen sich die Mitarbeiter der Villa Azadi in vielen Fällen erfolgreich für ein längeres
Bleiberecht ein. Das »Haus der Freiheit« verschafft den Neuankömmlingen eine Verschnaufpause auf der langen Hetzjagd von Afghanistan
über den Iran und die Türkei bis nach Europa.
Neben einem Schlafplatz, Essen und Kleidung
bekommen die Jungen juristischen Beistand und
ärztliche Versorgung. Es steht ihnen frei, zu gehen, wann immer sie wollen.
Insgesamt 15 Mitarbeiter arbeiten in der Einrichtung, darunter ein Arzt, eine Psychologin, eine Anwältin und Übersetzer. »Das sind weitaus
weniger, als es eine angemessene Betreuung der
GESELLSCHAFT
Afghanische Flüchtlingskinder im »Haus der Freiheit«.
Doch in dem griechischen Bergdorf Aggiasos
sind die Jungen vom Hindukusch nur geduldet.
Jungen erfordern würde«, erklärt Kavarnos, der
schon als Streetworker in Australien gearbeitet
hat. Dennoch ist die Villa die größte Unterkunft
für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in
Griechenland und damit Vorzeigeobjekt der
Behörden für Besucher. Wie lange das noch so
bleibt, ist allerdings fraglich. Die Finanzierung
des Hauses – getragen von Stiftungen und inoffiziellen Geldern des griechischen Gesundheitsministeriums – ist unsicher und die Bezahlung unregelmäßig. Bereits seit zwei Monaten wurde kein Gehalt mehr auf die Konten der
Mitarbeiter überwiesen und für das Heim selbst
ist lediglich die Grundversorgung gesichert
(siehe Kasten).
Die helle Vormittagssonne steht bereits hoch
über der Insel, als das Haus endlich erwacht. Die
Jungen schlurfen verschlafen mit braunen Schlappen über den grauen Linoleumboden. Iranische
Popmusik hilft beim Aufstehen. Es dauert nicht
lange, und die tägliche Zimmerkontrolle auf Sauberkeit beginnt. Während die letzten noch ihre
Decken auf dem Balkon ausschütteln, eilen die
ersten bereits zum Griechischunterricht. Andere
Unterrichtsstunden kann die Villa nicht anbieten,
denn für einen Englischlehrer fehlt zurzeit das
Geld. »Wir versuchen schon seit langem, einige
unserer Jungen in die Dorfschule zu schicken.
Bislang weigern sich die Behörden aber vehement, die Schüler aufzunehmen«, sagt Kavarnos.
Nur der jüngste Bewohner der Villa, der zehnjährige Qamran, darf jeden Morgen zusammen
mit den griechischen Kindern die Schulbücher
aufschlagen. Ein Wunsch vieler der Jungen, denn
Bildung war in ihrem bisherigen Leben eine Luxusware.
Die Jugendlichen vom Hindukusch sind
Kriegswaisen, Opfer von Stammesfehden oder
Streitigkeiten um Grund und Boden. Ihre Suche
nach einer besseren Zukunft führte viele zunächst
in den Iran. Dort leben die Afghanen ghettoisiert in einer Schattengesellschaft ohne Rechte.
Selbst die Geburt in der Islamischen Republik
gibt Einwanderern kein Anrecht auf die iranische Staatsbürgerschaft. »Ich hätte den Iran nicht
verlassen, wenn ich nur einen Pass bekommen
hätte«, erzählt Yassim, der aus Badakhschan im
Norden Afghanistans stammt.
Nicht einmal Schulen gibt es für die Immigranten, und so beginnen viele schon von Kindesbeinen an zu arbeiten. Der erbarmungslose
Rassismus, Gewalt und Ausbeutung unter härte-
Ȇberall auf der
Welt werden
wir behandelt,
als wären wir
geschmuggelte
Drogen«
sten Arbeitsbedingungen treiben viele der jungen
Afghanen weiter in Richtung Europa. Vor seinem
Aufbruch nach Europa hat Asef, der heute 18 Jahre alt ist, zehn Jahre lang illegal im Iran gelebt und
gearbeitet. Immer in der Angst vor einer Abschiebung, denn schon der Weg zum nächsten
Kiosk konnte das Ende bedeuten. »Das Gefühl,
im Iran nicht am Leben zu sein, war am Ende
stärker als meine Angst, zu gehen«, ergänzt Wahiz, der schon knapp zwei Jahre auf Lesbos ausharrt. Angst hat er immer noch – wie die anderen Jungen möchte auch er nicht, dass sein richtiger Name genannt wird.
Auch bei Zahir, einem stillen, nachdenklichen
Jungen, war es die Sehnsucht nach einem besseren Leben, die ihn veranlasst hat, seine Heimat
zu verlassen. Ohne Wissen seiner Eltern machte
er sich mit seinen drei besten Freunden auf den
Weg nach Europa. Erst als sie bereits in der Türkei waren, rief er zu Hause an. »Geweint haben
sie am Telefon«, erzählt er. Doch während es seine Freunde nach Skandinavien geschafft haben,
wurde Zahir von der Polizei aufgegriffen und
sitzt nun auf Lesbos fest. Wie es weitergeht? »Ich
weiß es nicht. Meine Mutter möchte, dass ich
zurückkomme, aber das ist nicht so einfach.« Es
gibt keine Schlepper, die einen über das Meer
wieder zurück nach Hause bringen. Und so geht
er fast täglich hinunter in den Ort, um vom öffentlichen Telefon vor der orthodoxen Pilgerstätte Agia Panagia daheim anzurufen.
Nur langsam gewöhnt sich das griechische
Bergdorf an seine neuen Bewohner aus Zentralasien. Den Einwohnern ist unbegreiflich, dass
ausgerechnet sie mit den Folgen des Krieges in Afghanistan konfrontiert werden. Auch nach zwei
Jahren wenden sich noch die Köpfe der alten
Männer in den Kaffeehäusern am Dorfplatz,
wenn die jungen Afghanen ab und zu aus der
Isolation des Flüchtlingszentrums fliehen.
Denn viel Ablenkung von dem Stillstand, in
dem sich die Jungen hier befinden, gibt es nicht.
Gewichtheben, Fußballspielen, ein bisschen
Kicker, Tischtennis. Sie sind nicht ausgelastet,
und schnell wird eine Rangelei auf dem Gang zu
einer handfesten Auseinandersetzung. Vor allem
die Sehnsucht nach Mädchen ist groß, aber Chancen auf Begegnungen gibt es nur wenige. Die älteren Jungen gehen abends mal ein Bier trinken
oder in die Dorf-Disko, wo sie dann mit der Dorfjugend und Touristen Sirtaki tanzen. Weibliche
Bekanntschaften ergeben sich dabei selten. Und
so vergehen die Tage, indem die Jungen – zwischen Stofftieren auf ihren Betten und Postern
halbnackter Frauen an den Wänden – in ihren
Zimmern sitzen, Tee trinken und darauf warten,
dass die Zeit vergeht.
Rassismus und Gewalt
treiben sie nach Europa
Bei manchen von ihnen liegt die Bootsfahrt vom
Hafen Ayvalik in der Türkei bis nach Lesbos beinahe zwei Jahre zurück. Sie gehört zum gefährlicheren Teil ihrer Reise und raubt vielen der Jüngeren die Kraft, auf ihrem Weg nach Europa weiterzugehen. Immer wieder passieren schwere
Unfälle, und viele Flüchtlinge ertrinken auf der
nur etwa 20 Kilometer langen Überfahrt. Wenn
sie Ayvalik erreichen, ist es für viele der jungen
Afghanen das erste Mal in ihrem Leben, dass sie
das Meer sehen. Für 1500 Dollar werden sie von
den Schleppern in überfüllten und undichten
Schlauch- und Holzbooten zusammengepfercht.
»Wir sind in der Nacht losgefahren. Wasser ist in
das Boot eingedrungen, deshalb haben wir all
unsere Sachen ins Meer geworfen, um leichter
zu werden. Als ich es endlich an die Küste geschafft hatte, hatte ich nichts mehr. Nicht einmal mehr Schuhe«, erzählt Hamid, einer der ersten Bewohner hier im Heim. In seinem Rucksack, den er über Bord warf, waren auch die
einzigen verbliebenen Bilder seiner Familie.
Da Lesbos in unmittelbarer Nähe des türkischen Festlands liegt, sind die Flüchtlingsströme
nahezu unkontrollierbar für die griechische Küstenwache. Seit 2008 werden sie aus diesem Grund
von der europäischen Grenzschutzagentur >>
zenith 3/2010
67
GESELLSCHAFT
>> Frontex unterstützt. Nacht für Nacht durchkämmen Patrouillenboote die griechischen Gewässer auf der Suche nach illegalen Einwanderern, unterstützt von Hubschraubern mit Wärmebildkameras.
Der Umgang Griechenlands mit den Flüchtlingen steht immer wieder in der Kritik. Berichten von Organisationen wie Amnesty International zufolge sind Flüchtlinge wiederholt in türkische Gewässer zurückgeschoben und sogar in
Seenot sich selbst überlassen worden. »Als wir
die griechischen Boote haben kommen sehen,
dachten wir, wir wären gerettet«, erzählt Yassim,
der wegen eines Lecks im Boot bereits die Hoffnung aufgegeben hatte. »Wir konnten es nicht
glauben, als die Polizei kehrtmachte, wir dachten
doch, die Europäer wären gute Menschen.«
Wenn die Flüchtlinge nicht gleich auf dem
Wasser oder bei der Landung festgenommen werden, passiert das spätestens in Lesbos’ Hauptort
Mytilini, wenn die Illegalen dabei erwischt werden, ihren Weg aufs europäische Festland fortzusetzen. Doch schon auf ihrem Weg nach Griechenland wurden die Getriebenen häufig von
örtlichen Behörden inhaftiert. Der Grund ist immer derselbe: Illegalität. Homayon hat in drei
verschiedenen Ländern knapp zehn Monate abgesessen. Barat war mit 17 Jahren schon vier Mal
im Gefängnis: »Überall auf der Welt werden wir
Afghanen behandelt, als wären wir geschmuggelte Drogen. Wir sind immer illegal, egal wohin
wir gehen!«
Ein Provisorium
als Vorzeigeobjekt
»Am wichtigsten sind für uns die Papiere. Wenn
du illegal bist, bleibst du immer in einem Gefängnis«, erzählt Asef, der einen Antrag auf Asyl
gestellt hat. Dafür bekam er die »rosa Karte«, eine vorübergehende Duldung mit Arbeitserlaubnis. Seitdem hilft er bei Maurerarbeiten unten
im Dorf und gehört zu den wenigen, die es geschafft haben, einen Job zu finden. Obwohl die
Saisonarbeit schwer ist und mit nur drei Euro
die Stunde außerordentlich schlecht bezahlt, ist
sie doch die einzige Möglichkeit für einige der
Jungen, eigenes Geld zu verdienen. Geld, das sie
dringend brauchen, um sich die teure Weiterreise mithilfe von Schleppern und Schleusern leisten
zu können. Wer sonst weder Ersparnisse hat noch
Unterstützung von der Familie bekommt, dem
bleibt nur noch der Weg in die Kriminalität: Drogenhandel oder Prostitution.
Wenn Asef und die anderen müden Arbeiter
nach einem langen Tag in die Villa zurückkehren,
ist schon fast Abendzeit. Bis der Gong durch die
68
zenith 3/2010
Teymur hat
es bis nach
Italien geschafft.
Sein Anruf macht
den anderen
Hoffnung
Lautsprecheranlage zum Essen ruft, spielt auf
dem Bolzplatz neben dem pastellgelben Gebäude der FC Barcelona gegen Bayern München. Die
Aufregung der Jungen ist bis in den zweiten Stock
hinauf zu hören. Oben in den grauen Gängen
versuchen selbstgemalte Bilder und Zeichnungen ein Gefühl von Heimeligkeit zu erzeugen.
Das Gebäude ist baufällig, in einige Räume regnet es hinein und immer wieder fällt die Elektrizität aus.
Fast scheint es, als wäre das Provisorium Villa Azadi ein ironisches Abbild der griechischen
Einwanderungspolitik: Im ganzen Land fehlt es
an Unterkünften für die vielen Flüchtlinge, die
tagtäglich an Hellas’ Küsten gespült werden. Selbst
die Gefängnisse der lokalen Polizeistationen sind
überfüllt und für die nur acht Einrichtungen mit
Minderjährigenbetreuung in ganz Griechenland
existiert sogar eine Warteliste.
Endlich hört man das Klirren und Klappern
der metallenen Formtablette im Speisesaal. Es ist
sieben Uhr dreißig und wieder geht ein langer Tag
dem Ende zu.
In Griechenland Asyl zu bekommen, ist für
die meisten praktisch unmöglich; das treibt sie
immer weiter. Neben einer extrem niedrigen Anerkennungsquote ist vor allem die Überlastung
der griechischen Behörden ein Problem. Während
2008 nur zehn Prozent aller gestellten Anträge
bearbeitet wurden, herrscht aufgrund der Wirtschaftskrise im Land heute beinahe ein Bearbeitungsstopp. Die Chancen auf einen positiven Bescheid tendieren daher gegen Null. »Viele können
und wollen nicht in Griechenland bleiben«, bestätigt Gregoris Kavarnos. Er ist ebenfalls mit der
Situation zunehmend unzufrieden: »Ich bin Sozialarbeiter. Mein Job wäre es, diese Jungen in
die Selbstständigkeit zu begleiten. Aber als was?
Etwa als griechische Staatsbürger? Das ist unmöglich.« Also zieht es die jungen Afghanen nach
Deutschland, Schweden oder England – irgend-
wohin, wo es die Möglichkeit einer legalen Existenz gibt.
Diejenigen, die weiterwollen, versuchen es von
Patras oder Athen aus. Für 3000 Euro verstecken
Schlepper sie in einem Lastwagen unter den Waren oder im Fahrgestänge – mit hohem Unfallrisiko. Aber auch dieser Trick wird von den
Behörden durchschaut. Hamid, ein Junge aus der
afghanischen Provinz Helmand, hat sich schon
mehrmals auf den Weg gemacht: »Einmal haben
sie mich in Ungarn im Truck erwischt, ein zweites Mal in Serbien, als wir versucht haben, uns zu
Fuß und mit dem Taxi durchzuschlagen. Drei
Mal war ich deswegen schon im Gefängnis.«
Manch einer hat schon bis zu sieben Mal versucht, nach Mitteleuropa zu gelangen. »Der Satte versteht die Hungrigen nicht«, meint Homayon. Das sei auch in Europa so.
Glücklich ist, wen die Polizisten oder Grenzbeamten am Tag erwischen. Denn in der Nacht
kommt es nicht selten zu Tätlichkeiten gegenüber den Flüchtlingen. Es wird von Tritten und
Faustschlägen, Verletzungen am Kopf und ausgeschlagenen Zähnen berichtet. Die Jungen kommen nach solchen Übergriffen niedergeschlagen
und deprimiert in die Villa zurück. Zurück zu
ihren Freunden, von denen sie sich wenige Wochen zuvor verabschiedet haben, als wäre es für
immer.
Manche jedoch haben Glück. Wie Teymur, der
gerade angerufen hat. Vorgestern Nacht ist er in
Patras aufgebrochen, jetzt ist er in Mailand. Das
sind die guten Nachrichten, die den Jungen Hoffnung geben, es weiter zu probieren.
Dumpf schlagen die Türen, jemand schreit
durch die Gänge und Handys dudeln bis tief in
die Nacht Hits aus dem Nahen Osten. Es wird
noch lange dauern, bis die Jungen heute Abend
<<
einschlafen.
OFFENES ENDE Das Flüchtlingszentrum der
»Villa Azadi« wurde bislang von einer Stiftung
der griechisch-orthodoxen Kirche unterstützt,
die für diesen Zweck Geld aus einem Schattenetat des Gesundheitsministeriums erhielt. Doch
mit Beginn der griechischen Finanzkrise wurden diese Mittel gestrichen. Die Stiftung kann
die Villa nun nicht mehr unterhalten.
Ende Juli 2010 wurden die Mitarbeiter der Einrichtung aufgefordert, unverzüglich ihre Arbeit
niederzulegen. Die Jungen sind seither ohne
Betreuung: Das überraschende Aus für die
Flüchtlingsunterkunft ließ den Angestellten keine Möglichkeit, rechtzeitig nach ehrenamtlichem Ersatzpersonal zu suchen.
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O R I E N TA L I S C H E S
Netzgeflüster
Ball im Kasten
Niemand, kein Nasrallah und kein Mubarak,
vermag die Araber zwischen Marokko und dem
Oman so hinter sich zu scharen wie König Fußball. Auch in diesem Jahr versammelten sich
Millionen arabische Fußballfans anlässlich der
Weltmeisterschaft. Und in Ägypten guckten viele Fans zum Beginn der WM sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinn in die Röhre. Schlimm genug, dass das ägyptische Team
im entscheidenden Qualifikationsspiel schmachvoll gegen Algerien verloren hatte – jetzt sollten
auch die meisten Partien nur im Pay-TV-Sender
Aljazeera Sports übertragen werden. Das Staatsfernsehen hatte vergessen, die Rechte für alle
Virtuelle
Bruderschaft
Der Siegeszug von Facebook geht auch im Nahen Osten ungebremst weiter. Im Mai 2010 waren 15 Millionen Internetnutzer aus den arabischen Staaten in dem Social Network angemeldet. Allein 3,4 Millionen von ihnen waren
Ägypter. In den Weiten des Internet sind die
meist jungen Facebook-User jedoch allerlei Versuchungen ausgesetzt. Da lauern Profile von
Pornostars, und Werbung will zum Alkoholgenuss oder Glücksspiel verführen. Dem will die
ägyptische Muslimbruderschaft nun ein eigenes, unverdorbenes Netzwerk entgegensetzen:
»Ikhwanbook«.
»Jetzt wollen wir das Internet
für den wahren Islam!«
Unter der Adresse www.ikhwanfacebook.com
können Interessierte seit Anfang Juli ganz wie
beim großen Vorbild aus Amerika Profile anlegen, Fotos hochladen und sich mit Freunden vernetzen. Die Seite soll offen sein für jeden, nicht
70
zenith 3/2010
Spiele zu erwerben. Notgedrungen wichen viele Fans auf illegale Live-Streams im Internet aus.
Wegen der langsamen Internetverbindung am
Nil war das für die meisten Zuschauer jedoch ein
zweifelhaftes Vergnügen. In Facebook-Gruppen
und Online-Foren machten genervte Fans ihrem
Unmut Luft. »Bei den WM-Übertragungen sind
wir noch rückständiger als Nordkorea«, tobte
ein ägyptischer Zuschauer.
In Ägypten guckten
die Fans in die Röhre
Umso euphorischer waren die Fußballfreunde in den Nachbarländern. Viele arabische
Fans zeigten auf ihren Facbook- und Twitterprofilen Flagge und machten unmissver-
nur für die ikhwan, also die islamistischen Muslimbrüder. Mit dem Netzwerk wolle man aber
junge Leute für die Ideologie der Bruderschaft
begeistern, so die Verantwortlichen. »Unser Gründer Hassan al-Banna verkündete seine Botschaft
zunächst in Kaffeehäusern, also Orten, an denen
sich viele Leute versammeln. Jetzt wollen wir das
Internet nutzen, wo sich viele junge Menschen
treffen, um für den wahren Islam zu werben«,
erklärte die Bruderschaft auf ihrer Website. Neben den Ägyptern gehören bislang Palästinenser
und Indonesier zu den eifrigsten Usern des neuen Angebots. Das meistgeklickte Foto auf der Seite ist ein Bild des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Frau.
Technologisch kann Ikhwanbook mit dem
US-Original bislang aber nicht mithalten. Es
gibt keinen Chat, keine Spiele und auch Videos
können nicht hochgeladen werden. Aber es gibt
eben auch nichts, was zu unislamischem Verhalten verführen könnte. Facebook ist übrigens
nicht die erste Website, die von den Muslimbrüdern kopiert wurde. Schon seit einigen Monaten gibt es das islamkonforme Internetlexikon
»Ikhwanwiki«, Freitagspredigten und Koranrezitationen kann man sich bereits seit Anfang
2009 auf »Ikhwantube« zu Gemüte führen.
ständlich deutlich, für wen ihr Herz schlug:
Brasilien und Deutschland waren bei den
meisten die Favoriten. Entsprechend groß war
die Häme, die die Anhänger der Sambatruppe nach dem unerwarteten Ausscheiden im
Viertelfinale über sich ergehen lassen mussten. Ganz anders die Anhänger von »al-Mannschaft«, wie Jogis Jungs von arabischen Fußballkommentatoren genannt werden. Tor-Mitschnitte mit arabischem Live-Kommentar
entwickelten sich auf Youtube zu echten Rennern, auch in Deutschland. Nicht nur, dass
der Mann am Mikro regelmäßig über die Namen Podolski und Schweinsteiger stolperte –
so euphorisch wie arabische Stimmen haben
Béla Réthy und Co. deutsche Tore noch nie bejubelt.
Neu auf www.zenithonline.de
Reise
Inselhopping vor der Haustür
An paradiesischen Orten in der Javanischen
See können zivilisationsmüde
Indonesier Robinson Crusoe spielen
Politik/Hintergründe
Gott, Allah und Föderalismus
Wird Nigeria nach der Gewalt zwischen
Muslimen und Christen geteilt?
Kultur/Interview
»Einflussnahme garantiert«
Islamwissenschaftler Patrick Franke über
die geplanten »Zentren für Islamische
Studien« an deutschen Universitäten
Foto: Momento
K U LT U R
Gilt als einer der
»Dissidenten« des israelischen
Kinos: der Dokumentarfilmer
Eyal Sivan.
»Das wahre Opfer
ist bei uns immer
der Israeli«
Der israelische Regisseur Eyal Sivan
beleuchtet in »Jaffa – The Orange’s
Clockwork« den Nahostkonflikt durch
die Orangenproduktion.
Mit zenith sprach Sivan über die
Symbolik der Frucht, seine
Erfahrungen mit der israelischen
Filmförderung und darüber, warum
er »Waltz with Bashir«
für einen unkritischen Film hält
Interview: Dörthe Engelcke
72
zenith 3/2010
zenith: Wofür genau steht die Orange
in Ihrem Film?
Eyal Sivan: Die Orange ist vielleicht das einzige gemeinsame Symbol, das Israelis und Palästinenser haben; was natürlich nicht bedeutet,
dass es für beide Seiten die gleiche Bedeutung
hätte. Für Israelis und Zionisten verkörpert die
Orange nationalen Stolz und die zionistische
Idee par excellence: eine trostlose Einöde in
fruchtbares Land zu verwandeln. Für Palästinenser symbolisierte die Orange das Land Palästina selbst, weil Palästina zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Land der Orangen bekannt war.
Und später stand sie für die Zerstörung ihres
Landes und die Vertreibung.
Wenn man den Titel hört, denkt man
automatisch an Stanley Kubricks Film »The
Clockwork Orange«, der Gewalt als
Freizeitbeschäftigung thematisiert. In
Ihrem Film sieht man jedoch keine
Gewaltszenen. Inwieweit besteht eine
inhaltlich Verbindung zwischen Kubricks
und Ihrem Film?
Stanley Kubricks Idee der Gewalt als Teil der
Identität war für mich ein wichtiges Element.
Man ist entweder derjenige, der verletzt, oder
derjenige, der verletzt wird. Hinzu kam Walter
Benjamins Idee der Mechanik des Bildes. Bilder
erlangen nur Bedeutung durch ständige Reproduktion – wie etwa in Werbefilmen, die »JaffaOrangen« anpreisen –, und dadurch wird das
Bild ein Teil der eigenen Identität und Moral.
Dieser mechanische Prozess wird ja auch im
Sinnbild des Uhrwerks wieder aufgegriffen.
Wann kam die Orangenproduktion in
Palästina zum Erliegen?
Nach 1948 installierten die Israelis Wassermesser in den Orangenhainen. Bis dahin hatten
Palästinenser nicht für Wasser bezahlt. Auf einmal war Wasser sehr teuer. Die Menschen konnten es sich nicht leisten und die Bäume begannen zu sterben. Seit den 1990ern rodete Israel
die Orangenbäume aus Sicherheitsgründen, weil
sich angeblich Terroristen in den Orangenhainen verstecken. Stattdessen gab man den Palästinensern Erdbeerpflanzen, weil man sich zwischen denen nicht verkriechen kann.
K U LT U R
Sie haben Sie sich für Ihren aktuellen Film
um finanzielle Unterstützung beim »Cinema
Project« und der »Jerusalem Cinematheque«
beworben. Ist es nicht heuchlerisch, Geld von
einer Regierung zu nehmen, die man
verachtet?
Ich hatte mich zuvor noch nie um israelische
Fördermittel beworben. Alle meine Filme wurden unabhängig produziert. Dann erzählte mir
ein Freund von einem israelischen Filmwettbewerb zum Thema Geschichte Israels durch Archivmaterial. Ich habe eher aus Spaß mitgemacht,
weil ich mir sicher war, dass das lustig werden
und ich natürlich nicht gewinnen würde.
Aber dann sprach man Ihnen das Geld zu …
Ja, es war unglaublich. Die Jury entschied, dass
mein Projekt gewinnen sollte. Nach der Entscheidung zog der israelische Fonds sein Geld
zurück und sagte den Wettbewerb ab. Es dauerte sechs Monate, bis es einen neuen Wettbewerb gab. Man rief die Jury zusammen und sie
stimmte erneut für mein Projekt. Aber dann
begann eine Medienkampagne, die sogar eine
Diskussion im Parlament auslöste. Die Tageszeitung Ma’ariv veröffentlichte eine Titelgeschichte unter der Überschrift »Von der Unabhängigkeit bis zum Selbstmord«. Gemeint war:
Mir Geld für die Produktion eines Films zu geben, bedeute so viel wie seinen eigenen Selbstmord zu finanzieren. Es gab sogar einen Gesetzesentwurf, der besagte, dass Nichtzionisten keinen Zugang zu öffentlichen Fördergeldern
erhalten sollten. Ich entschied daraufhin, mich
nicht mehr um das Geld zu bewerben.
Nichtsdestotrotz hatte Ihnen die Jury das Geld
ursprünglich zugestanden, obwohl man weiß,
dass Sie kritisch sind. Ist dies nicht Ausdruck
einer kritischen Reflexion des eigenen Staates?
Es war eine professionelle Jury, die aufgrund
künstlerischer Gesichtspunkte abgestimmt hat.
Die Tatsache, dass wir hervorheben, dass die israelische Regierung kritische Filme fördert, zeigt
doch schon, dass etwas nicht stimmt. Niemand
sagt: »Oh, wow, die deutsche Regierung gibt Fatih Akin Geld, um Filme über die schwierigen
Lebensbedingungen der Türken in Deutschland
zu drehen.« Es ist normal, dass ein Staat Geld für
künstlerische Produktionen ausgibt. In Israel
wird dieser eigentlich ganz normale Sachverhalt
aber ständig hervorgehoben. Die französische
Zeitung Libération hat gerade einen Artikel darüber veröffentlicht, wie Israel das so genannte
kritische Kino als Schaufenster nutzt.
»Ich habe Israel
verlassen, aber
Israel lässt mich
niemals los«
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Nehmen Sie nur den israelischen Film, der dieses Jahr für einen Oskar nominiert war. In »Ajami« führten ein israelischer Filmemacher, Yaro
Shani, und ein palästinensischer Regisseur, Scandor Copti, Regie und wurden vom israelischen
Filmfonds gefördert. Kurz vor der Oscar-Verleihung wurde Copti vom israelischen Fernsehen auf dem roten Teppich in Hollywood gefragt, wie er sich fühle, den israelischen Staat zu
repräsentieren. Er antwortete: »Ich repräsentiere den israelischen Staat nicht, da der israelische Staat mich auch nicht repräsentiert.« Das
war ein riesiger Skandal in Israel.
EYAL SIVAN wurde 1964 in Haifa geboren,
siedelte 1985 nach Paris über und arbeitete
fortan als Autor und Dokumentarfilmer. Sein
erstes Werk »Aqabat Jaber, Passing Through«
von 1987 schildert das Leben von Palästinensern im Flüchtlingslager Aqabat Jaber. Sivans
kontroverse Filme kreisen oft um den Nahostkonflikt sowie die Themen Erinnerungspolitik
und Holocaust; der wortgewaltige Kritiker des
israelischen Staates wurde unter anderem mit
dem Grimme-Preis ausgezeichnet. »Jaffa – The
Orange’s Clockwork« kommt in Deutschland
am 14. Oktober 2010 in die Kinos.
Wie wurde der Trickfilm »Waltz with Bashir«,
der den Libanon-Krieg aufarbeitet, in Israel
aufgenommen?
Als grandioser Exportschlager, der Israel weltweit viel Ehre einbringt. »Waltz with Bashir« ist
ein cineastisches Meisterwerk, aber kein besonders kritischer Film. In dem Film geht es um einen traumatisierten ehemaligen Soldaten, der
nach seinem Gedächtnis sucht und am Ende
seine Erinnerung wiederfindet. Und was ist seine Erinnerung? Es ist die gleiche Erinnerung all
derjenigen, die 1982 Fernsehen geguckt haben.
Es sind dieselben Bilder. Wir erfahren nicht, was
er wirklich gesehen oder getan hat. Das bedeutet, dass er in Wahrheit keine Erinnerung hat. Er
hat ein kollektives Gedächtnis. Dieser Film, der
vorgibt, gegen das Vergessen und die Verleugnung zu kämpfen, ist ein Film der Verleugnung
und des Vergessens.
Immerhin spielt der Film doch auf
Menschenrechtsverletzungen und
Kriegsverbrechen an, vor allem auf das
Massaker in den Flüchtlingslagern von
Sabra und Shatila.
Sieht man die Menschen, deren Rechte verletzt
wurden? Hat man so wie in vielen anderen
Kriegsfilmen den Feind, den Araber, gesehen?
Nein. Das wahre Opfer des Konflikts ist immer
der Israeli. Das ist in »Waltz with Bashir« nicht
anders. Der Israeli ist derjenige, der traumatisiert
ist und leidet. Er ist das menschliche Wesen, das
unter inneren Konflikten leidet. Das ist Teil des
israelischen Narrativs: Selbst wenn wir Täter
sind, sind wir immer auch Opfer dieser schrecklichen Situation.
Sie unterrichten und leben heute in London.
Planen Sie, irgendwann nach Israel
zurückzugehen, oder haben Sie das Land
dauerhaft verlassen?
Physisch habe ich Israel bereits sehr oft verlassen, aber die Idee des Weggehens ist problematisch. Ich habe Israel verlassen, aber Israel lässt
mich niemals los. Im Jahr 1985 ging ich zum
ersten Mal. Seitdem kehre ich regelmäßig zurück,
etwa um zu unterrichten. Damals fragten mich
die Menschen, wann ich denn ganz zurückkommen wolle. Ich sagte, wenn die Besatzung
und die Apartheid enden. Dann bekam ich stets
dieselbe Antwort: »Oh, du wirst also nie zurückkehren.«
zenith 3/2010
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K U LT U R
Tun, helfen,
Mund halten
Foto: Karin Lange
Alle Religionen predigen von der Grandiosität ihrer
Götter und Weissagungen. Doch auf prophetisches Geraune
und inbrünstigen Glaubensschmalz sollten wir heute
besser verzichten. Eine Polemik von Andreas Altmann
mmer werden wir aufgefordert, »großen
Respekt vor den Religionen« zu zeigen.
Ergriffenes Schaudern soll über uns kommen, wenn von den »göttlichen Weissagungen« die Rede ist. Welch Mumpitz! Respekt
wovor? Vor dem klerikalen Lichtertalg, dem prophetischen Geraune, dem inbrünstigen Glaubensschmalz? Alles fabriziert, um uns Angst und
Schrecken einzujagen. Davor Respekt? Vor der
Intoleranz, zu der sie uns aufwiegeln? Vor der
Denkfaulheit, in der wir uns üben sollen? Vor
dem schafsfrommen, schafsblöden Geleier?
Bedenkt man die Untaten des Christentums,
mit Hilfe derer es viele Jahrhunderte lang von sich
reden machte, so ist die »christliche Nächstenliebe« eine hübsche Erfindung, die mit der von Jesus angemahnten Liebe nichts zu tun hat. Zumindest nicht in der Wirklichkeit. Die Kirche
schien sich eher an das blutrünstige Alte Testament zu halten als an die Aufrufe zu Verständnis
und Güte. Beim Islam ging es nicht menschenfreundlicher zu. Die Anzahl der Blutbäder, die er
sich in vielen Teilen der Welt genehmigt hat, verweist direkt oder indirekt auf die vielen Textstellen im »heiligen« Koran, die zu diesen Blutbädern
anspornten. Da hilft auch kein Gutmenschen-Sermon über den Islam, die »Religion des Friedens«.
Er hilft so wenig wie der penetrante Hinweis auf
die »Missverständnisse«, denen Mohammed, der
Friedensreiche, ausgesetzt sei. Ganz offensichtlich
sind wir anderen, wir Nicht-Muslime, nicht willens, die Botschaft, die friedvolle, zu entdecken.
Und der Buddhismus? Nun, ich will seine Heiligsprechung nicht übertreiben. Denn seine Getreuen sind grundsätzlich nicht besser oder intelligenter. Nehmen wir Tibet. Seit Jahrzehnten legt
sich ein leichter Schauer der Ergriffenheit auf das
westliche Herz, wenn der Name dieses Landes fällt.
Weil man sich, zu Recht, gegen die Banditenpolitik Pekings empört. Und weil man, zu Unrecht, die
Ex-Theokratie im Himalaya für den Inbegriff frohsinnig-schneeverwehter Glückseligkeit hielt. Dem
ist nicht so. Ein knappes Drittel der vierzehn La-
I
74
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mas wurde ermordet. Opfer erbitterter, innerreligiöser Richtungskämpfe. Als die Kommunisten
Tibet 1950 überrannten und annektierten, nahmen
sie 1,5 Millionen Quadratkilometer in Besitz, deren Infrastruktur der einer Bananenrepublik glich.
Kaum Straßen, keine Krankenhäuser, keine nichtreligiösen Schulen, dafür Analphabetentum, hohe
Kindersterblichkeit, Bettelarmut, Bonzen-Korruption und untereinander verfeindete Klöster.
Das entschuldigt die chinesischen Barbareien in
nichts, aber es wirft kein strahlendes Licht auf eine Weltanschauung, die angetreten ist, Eigenverantwortung zu lehren.
Ach, wenn uns
wenigstens eine Frau
erlösen würde ...
Die Liste der Sünden, die im Namen Buddhas begangen wurden, ist lang. Japan – oh, heiliger ZenBuddhismus – könnte ein Bataillon strammer
Mönche aufweisen, die gern und innig Schwert
und Schießgewehr zückten. Im Zweiten Weltkrieg
stand die buddhistische Führung resolut hinter
Kaiser Hirohito und bejubelte den größenwahnsinnigen Kriegstreiber. Oder im Bürgerkrieg in Sri
Lanka: Die Mehrheit der buddhistischen Singhalesen kämpfte gegen die Minderheit der hinduistischen Tamilen, die einen eigenen Staat forderten. Man konnte sich nur wundern über die Härte, mit der sich Ordensleute für ein schonungsloses
Vorgehen gegen die Aufständischen aussprachen.
Wie Generäle hetzten sie.
Das zeigt: Auch der Buddhismus hat »schmutzige Hände«, schuldbeladene. Und trotzdem: Sein
Schwarzbuch ist – im Vergleich – dünn, sehr dünn,
seine Blutlachen noch überschaubar. Das hat wohl
(auch) damit zu tun, dass in seinen Schriften kein
Schlachtruf steht, der gellend zu Kreuzzügen, Heiligen Kriegen und anderen Schlächtereien antrieb.
Nie gab es eine mörderische Inquisition, nie eine
Conquista, nie »Hexen«-Verbrennungen, nie sollten »Ungläubige« mit Feuer und Schwert bekehrt
werden, nie schrieb jemand eine Rechtfertigung für
schwunghaften Sklavenhandel. Und entscheidend
– damit fällt der Hauptschuldige aller in seinen Namen begangenen Verbrechen weg – kein »Gott«
kommt im Buddhismus vor. Er ist vollendet gottlos, nichts »Heiliges« schwirrt durchs Universum.
Buddha war nichts als irdisch, kein »Gottessohn
eines Gottvaters«, nie »Prophet des Allgütigen«,
keine Inkarnation »göttlicher Macht«, er war immer, immer nur Mensch. Wie beruhigend.
Nota bene: Meine Kritik an den Monotheismen bezieht sich immer auf die Institutionen, die
»Stellvertreter Gottes«, die Hochwürden und Muftis und Ayatollahs, ihre angemaßten »Gottesworte«, ihre als »heilig« angepriesenen Bücher. Immer randvoll mit Sprüchen des »Herrn«. Heißt
der Herr nun Gott oder Allah. (Wie einleuchtend,
dass Damen als Sprüchemacher bei den patriarchalischen Märchenerzählern nicht vorkommen.
Eine reine Männerwirtschaft. Wenn uns wenigstens eine Frau erlösen würde. Das nur am Rande.)
Der Verriss betrifft nicht, nicht grundsätzlich, die
Christen und Muslime, die diesen beiden Religionen angehören. Unter ihnen gibt es Männer
und Frauen, die sich – vorbildlicher als mancher
Buddhist – für das Wohl anderer einsetzen. Das irdische, wohlgemerkt. Die es dabei sogar schaffen,
nicht mit brennenden Augen demjenigen, dem sie
gerade helfen (und wäre er gottlos), von der Grandiosität ihrer Religion zu predigen. Sie tun, sie hel<<
fen, sie halten den Mund.
ANDREAS ALTMANN
lebt als Autor in Paris; für seine Reportagen wurde
er mehrfach ausgezeichnet. In seinen Texten setzt
Altmann sich immer wieder kritisch mit dem Thema Religion auseinander. 2010 erschien das Buch
»Triffst du Buddha, töte ihn! Ein Selbstversuch«
bei DuMont. www.andreas-altmann.com.
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Bei Ara Güler stehen
die Menschen im Vordergrund.
Aufnahme von 1982 aus
dem frommen Stadtteil Fatih.
76
zenith 3/2010
Fotos: Ara Güler, Orhan Pamuk: »Istanbul«
L I T E R AT U R
Zu Wasser und zu Land –
Istanbul ist stets in Bewegung,
wenn auch eher gemächlich.
Die Galatabrücke im Jahr 1965.
Chronist oder Künstler?
Der Fotograf Ara Güler.
Prosaische Schönheit
des Alltäglichen
Der Fotograf Ara Güler fängt die Verwandlung Istanbuls ein.
In Zeitlupe hält die Moderne in seiner Heimatstadt Einzug
Ganz gewöhnliche Zeitungsfotos? Gewiss nicht!
»Ara Güler gelingt es, die Seele Istanbuls in seinen Bildern darzustellen«, schreibt Orhan Pamuk im Vorwort des Bandes. Der Fotograf Güler,
geboren 1928, sieht sich weniger als Künstler
denn als Chronist der Veränderung Istanbuls in
der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er hat dabei immer die Menschen im Blick: Fischer, die ihre
Netze flicken, Straßenhändler, die ihre Ware feilbieten, oder Arbeitslose, die ihre Zeit in Kneipen verbringen. Die Fotos lassen sich lesen wie
eine Reportage von Egon Erwin Kisch, mit ihrer Liebe zum Detail und der prosaischen Schönheit des Alltäglichen. Die Stadt, in der Tatkraft
und Zerfall aufeinanderprallen, ist dabei nicht
nur Hintergrund – sie kommuniziert mit den
Menschen. Istanbul ist auf Gülers Fotos immer
in Bewegung – allerdings ist diese meist langsam. Seien es die Fischerboote auf dem Bosporus, die von den Bugwellen der Dampfschiffe
gemächlich hin und her geschaukelt werden,
oder der zähe Verkehr auf der Galatabrücke.
Die Moderne trifft bei Güler nicht orkanartig
auf Istanbul und seine Bewohner; vielmehr
nimmt sie nach und nach ihren Platz, prägt
sich in die Seele der Stadt ein, ohne das Alte
komplett zu verdrängen. So wird aus bloßer
Dokumentation große Kunst.
MB
Ara Güler
Istanbul
mit einem Vorwort
von Orhan Pamuk
Du Mont, Köln 2010,
183 Seiten, 34,95 Euro.
zenith 3/2010
77
L I T E R AT U R
Experiment gelungen
Ein Sammelband über Saudi-Arabien
stellt die richtigen Fragen –
und verschafft so Zugang zu einem
verschlossenen Land
Von Henner Fürtig
Saudi-Arabien ist für viele Menschen bis heute ein Buch mit sieben Siegeln. Das Angebot an
seriösen Quellen ist selbst für Wissenschaftler
und Spezialisten überschaubar, Feldforschung
oder auch kürzere Studienaufenthalte gelingen
nur nach längerer Vorbereitung und auch dann
nicht immer. Dem Tourismus öffnet sich das
Land äußerst zögerlich; der interessierte Laie
kann sich daher in der Regel kein eigenes Bild
machen und weiß im Allgemeinen nicht viel
mehr als das, was ihm die Medien vermitteln.
Diese zeigen vor allem eine auf immensem Erdölreichtum aufgebaute moderne Fassade, hinter der sich unverändert »archaische« Verhältnisse verbergen. Für die Erzeugung einer solchen Wahrnehmung genügt allein der – nicht
einmal üppige – Fluss immer gleicher Bilder
von glitzernden Wolkenkratzern, kühnen Verkehrsstraßen und tief verschleierten Frauen.
Spätestens seitdem bekannt wurde, dass 14 der
19 Attentäter vom 11. September 2001 saudische
Pässe besaßen, verbreitete sich zudem das Wissen, dass in Saudi-Arabien eine besonders rigide Islamauslegung praktiziert wird, der Wahhabismus.
An den Informationshunger und die Neugier
dieses Leserkreises wendet sich das von Ulrike
Freitag herausgegebene Buch. Der Islamwissenschaftlerin und Direktorin des Berliner »Zentrums Moderner Orient« war es 2008 gelungen,
eine Gruppe Studierender zu einer ausführlichen Exkursion nach Saudi-Arabien zu führen.
Die gewonnenen Erkenntnisse wurden in einem
Seminar verarbeitet, und je näher dessen Ende
rückte, desto unumstößlicher wurde der Wunsch
der Beteiligten, die Ergebnisse zu veröffentlichen. Das Experiment kann als gelungen gelten, weil gerade in dieser »Herkunftsgeschichte« die größte Stärke des Buches liegt.
Die ausgewiesene Wissenschaftlerin Freitag
gibt der Edition Rahmen und Struktur. Die Studierenden haben dem Leser zwar in der Regel ei-
78
zenith 3/2010
niges an Wissen voraus, entdecken aber »unbekümmert« vor allem dort Neues und Faszinierendes, wo auch der prospektive Leser zuerst
hinschauen würde: Wie und in welcher Form
werden Konflikte zwischen Regierenden und
Regierten in Saudi-Arabien ausgetragen, wie
stark ist die Opposition und was will sie? Wie ist
es wirklich um die gesellschaftliche Rolle der
Frau bestellt? Mit welchen Instrumenten setzt
das Königshaus seinen Machtanspruch um?
Werden die zahlreichen Arbeitsmigranten eher
als Belastung oder als Gewinn wahrgenommen?
Haben die traditionell diskriminierten saudischen Schiiten unterdessen ihren »Frieden« mit
den Herrschern gemacht? Die Themenvielfalt
zeigt sich nicht zuletzt in Beiträgen zum »neuen saudischen Roman«, zur Pilgerfahrt nach
Mekka und zu Chancen – beziehungsweise Herausforderungen – des saudischen Marktes für
deutsche Unternehmen.
Wer ist Saudi-Arabiens
»neue Mitte«?
Nach einem komprimierten Geschichtsabriss
durch Freitag gelingen den meisten Beiträgen
klare, bisweilen sogar überraschende Blicke hinter die Kulissen der saudischen Gesellschaft. Die
Autorinnen und Autoren bringen entscheidende Probleme Saudi-Arabiens zur Sprache und
bewerten bisherige Lösungsansätze. Dabei lassen sie sich selten blenden, sondern finden ein
Gleichgewicht zwischen gesunder Skepsis und
Anerkennung. Überdies versäumen sie nicht,
auf divergierende Wahrnehmungen und Äußerungen innerhalb der saudischen Öffentlichkeit hinzuweisen. Per Saldo bauen die Beiträge
gut aufeinander auf und liefern jeweils die
Grundlage für eine Auseinandersetzung mit den
folgenden Themen. So steht der Beitrag über das
»Nationale Dialogforum« nicht von ungefähr
am Anfang, weil er gleich zu Beginn des Bu-
Ulrike Freitag (Hg.)
Saudi-Arabien.
Ein Königreich im
Wandel?
Schöningh,
Paderborn 2010,
183 Seiten,
34,95 Euro.
ches mit wichtigen Herausforderungen an den
saudischen Staat vertraut macht, die dann von
den meisten der folgenden Beiträge aufgegriffen werden.
Das gelingt allerdings nicht durchgängig. So
hätte an einigen Stellen auf umfangreiche historische Rückblicke zugunsten einer Vertiefung
des gewählten Themas verzichtet werden können, zumal die Einleitung die Geschichte Saudi-Arabiens ausreichend dargelegt hat. Das gilt
nicht zuletzt für den Beitrag über die »neue Mitte« in Saudi-Arabien, speziell über die gegenwärtigen Positionen des Islamisten Salman alAuda, über die man gern mehr erfahren hätte.
Wertvoll wären Beiträge zur Bildungsproblematik und zur Lage der Jugend gewesen. In einer außerordentlich jungen Gesellschaft wie der
saudischen – drei von vier Saudis sind jünger als
30 Jahre alt – werden diese Probleme immer
dringlicher; nicht von Grund wurden sie auch
schon im Nationalen Dialogforum prominent
thematisiert. Ein resümierendes Fazit hätte dem
Buch ebenfalls gut getan, aber auch so sind seine Verdienste unstrittig: Man muss kein Spezialist sein, um nach der Lektüre über ein stimmigeres, kenntnisreicheres und zudem aktuelles
Bild Saudi-Arabiens zu verfügen.
<<
HENNER FÜRTIG ist Direktor des Instituts
für Nahoststudien (IMES) und Professor für
Geschichte an der Universität Hamburg.
L I T E R AT U R
WEITERE NEUERSCHEINUNGEN
mehr auf www.zenithonline.de/literatur
Ibn Battuta
Tidiane N’Diaye
Ruprecht Polenz
Die Wunder des
Morgenlandes
Der verschleierte
Völkermord
Besser für beide. Die
Türkei gehört in die EU
C.H. Beck,
München 2010, 256 Seiten,
24,95 Euro.
Rowohlt,
Hamburg 2010, 252 Seiten,
19,95 Euro.
Edition Körber-Stiftung,
Hamburg 2010, 107 Seiten,
10,00 Euro.
Mehrjährige Berufserfahrung, darunter in
Führungsfunktion beim Herrscher von Indien,
geübt im Umgang mit heiklen Situationen,
weit herumgekommen und dennoch fest im
Glauben: Ibn Battutas »Reisen durch Afrika
und Asien« lassen sich auch als Bewerbungsschreiben lesen. Das legt zumindest der Islamwissenschaftler Ralf Elger mit seinen klugen
Kommentaren zu der Neuübersetzung nahe.
Der große arabische Weltreisende aus dem 14.
Jahrhundert wollte sich womöglich beim Sultan von Marokko um einen Job bewerben. Zu
diesem Zweck polierte er seinen Lebenslauf
auf, erfand manche Reise und schrieb bei anderen Globetrottern ab. Fazit: Reisen bildet,
Lesen auch.
Schreiben wir doch in den Klappentext, dass
dieses »mutige Buch« ein Tabu breche. Schließlich geht es um Afrika, da interessiert sowieso
niemanden, ob das stimmt. Das angebliche Tabu-Thema ist der muslimische Sklavenhandel:
Der senegalesisch-französische Anthropologe
Tidiane N’Diaye wirft den Arabern vor, in Afrika mindestens ebenso verheerend geplündert
zu haben wie die Europäer. Hilfreich für den
Autor: Diese These wurde bereits in zahllosen
Bestsellern des 19. Jahrhunderts vertreten, als
moralische Rechtfertigung für den europäischen
Kolonialismus. N’Diaye zitiert ausgiebig aus diesen Quellen, aktuelle Forschung interessiert ihn
weniger. Fazit: Starke Worte können fehlende
Substanz nicht verschleiern.
Es gibt sie doch noch, die neuen Argumente in
der festgefahrenen Debatte über den EU-Beitritt der Türkei. Der CDU-Politiker Ruprecht
Polenz erinnert daran, dass die Wurzeln des
Christentums auch in Anatolien liegen und dass
es Politiker seiner Partei waren, die der Türkei
lange Zeit die Mitgliedschaft in der EU anboten.
Beides scheint heute vergessen. Von der Merkelschen »privilegierten Partnerschaft« hält der
Außenpolitiker wenig, ebenso wie von einer
Emotionalisierung der Debatte. Vor dem Beitritt, das macht Polenz ebenfalls deutlich, stehen
noch lange Verhandlungen und nicht zuletzt eine tiefgreifende Verfassungsreform in der Türkei. Fazit: Nüchtern vorgetragene Argumente
MB
müssen nicht langweilig sein.
),-9,0<5. 2(55 4(5
50*/; ),:;,33,5
aber die Anregu
Trotz Neoliberalismus, der offiziellen Doktrin
der Erde, ist die Menschheit so unfrei wie nie
zuvor: Wir sind Knechte des Geldes, Opfer der
Umweltzerstörung, Sklaven des Wachstums und Diener einer Freiheit geworden, die sich selber zerstört.
Aber es geht auch anders: Wo die Befreiung anfängt und wo sie hinführt, das zeigt der neue Zeitpunkt zum Schwerpunktthema «die grosse Befreiung»
– scharfsinnige Essays, konkrete Beispiele und jede
Menge Anregung, sich auf den Weg zu machen.
<UZLY=VYZJOSHN
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Ein Schnupperabo mit drei
Nummern für 18 Euro.
.HYHU[PL! wenn Ihnen die erste
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gelebter Träume glauben.
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MUSIK
Dr. Motte im Vollrausch Der Dabke-Tanz oszilliert
beim Syrer Omar Souleyman zwischen Techno
und arabischer Folklore. So seltsam das anmutet –
der Faszination dieser Musik kann man sich
nur schwer entziehen
Der iPod läuft auf voller Lautstärke. Und nach einer gefühlten Ewigkeit erschaudert einen die Erkenntnis, dass man die vergangenen Lieder in spastischer Ekstase vor dem Spiegel verbracht hat. Aber
wie sonst sollte man zu »Jazeera Nights« tanzen?
So tyrannisch ist diese rhythmisch-lärmende Musik, dass sie den Hörer an die Grenze zwischen
Wahn und Rausch führt. Und der Musiker selbst,
der Syrer Omar Souleyman, ist auf seine Art ein
liebevoller Tyrann. Weil seine Musik den Hörer
wie eine Zwangsjacke umschließt, die erst dann abfällt, wenn man diesen Grenzpunkt erreicht hat.
Souleyman hat seit 1994 etwa 500 Tonträger
veröffentlicht. Wenige Studio- und viele LiveAufnahmen, die in Syrien in Kassettengeschäften stapelweise ausliegen. Seine große Popularität führt ihn von Damaskus über Bagdad nach
Dubai, auf große und kleine Hochzeiten. Nun
war er erstmals in Europa auf Tour, und gerade
ist hier sein neues Album erschienen: »Jazeera
Nights« ist eine musikalische Zusammenstellung aus den letzten 15 Jahren. Souleyman ist im
Westen angekommen.
Die Sonnenbrille, der dicke schwarze Schnäuzer, die rote Kuffiyeh: Ist Souleyman der arabische
Albtraum an einem amerikanischen Flughafen,
oder die – Verzeihung – coolste Sau des Orients?
Omar Souleyman macht aus der beliebten Dabke-Musik, diesem stampfenden nahöstlichen Tanz,
einen pfeilschnellen Hybriden, knetet galoppierende arabische Instrumente und rasende elektronische Beats zusammen. Er singt mal traurig,
mal harsch, immer aber unerschrocken zu diesem
Amalgam aus traditionellen irakischen, kurdischen
und türkischen Klängen und synthetischen Schepperbreaks. Die Musik kommt einem Euphorieausbruch gleich. Ein hartes, melodiöses und lautes Trommelfeuer.
Man könnte – hier im Westen – an einen Dr.
Motte im Vollrausch denken, doch ist die Musik keine spaßtrunkene Techno-Tirade. Sie wird
zur Poesie. Und damit zum Meisterstück. Wo
die Beats einem nur so um die Ohren fliegen, da
wirkt die Stimme Souleymans wie eine traumhafte Beschwörung. Souleyman hat bei seinen
Auftritten immer einen kettenrauchenden
Poeten dabei, der ihm ab und an Wörter ins
Ohr flüstert. Die Wörter gereichen ihm zu märchenhaften Improvisationen, zu einer Poesie,
die verstörend-dramatisch ist. Florian Bigge
Omar Souleyman
Jazeera Nights
Sublime Frequencies 2010,
www.myspace.com/
omarsouleyman
WEITERE NEUERSCHEINUNGEN
Diverse
Egypt Noir – Nubian
Soul Treasures
S.M.O.D.
SMOD
»Egypt Noir« enthält zehn Tracks zeitgenössischer nubischer, also oberägyptischer, Musiker.
Unter ihnen sind bekannte Sänger wie Mahmoud
Fadl oder Ali Hassan Kuban. Die CD birgt wirklich ausgesprochen schöne Soulschätze. Groovig
und anspruchsvoll.
www.piranha.de
Für sein drittes Album hat das Rap’n’Folk-Trio aus
Mali den musikalischen Tausendsassa Manu Chao
als Produzenten verpflichtet. Dass die Musik dann
nach Letzterem klingt, ist sicher beabsichtigt und
tut dem Genuss keinen Abbruch. Sommerleichter Hip-Hop mit gehaltvollen Texten.
www.smod.fr
Piano solo, radikal
Rami Khalifé verstört. Und der
junge Komponist macht seinem
großen Namen alle Ehre
ben, seine Musik ist eigenständig. Auf der CD
»Chaos« setzt er sich mit dem »Harb Tammuz«
dem »Julikrieg« von 2006 auseinander, wie der
Schlagabtausch zwischen Israel und der Hizbullah im Libanon genannt wird – inzwischen
gängiger Topos in der Beiruter Kunstszene.
»Chaos« ist ein »Zyklus von fünf Perioden«, namentlich »Geburt«, »Zerstörung«, »Chaos« und
»Wiedergeburt«; die dritte Periode bleibt namenlos. Piano solo, das aber radikal. Den Klangkörper konsequent nutzend, auch malträtiertend, zwingt Khalifé dem Hörer seine Gefühle
auf. Sein Spiel reißt mit, hinein in die Schrecken
des Krieges. Dass das mit einem Piano möglich
ist! Etwa die vierte Periode: Sie verstört, beschwört Ängste herauf, induziert Unbehagen,
Seine Vita ist beeindruckend. Rami Khalifé erhielt eine erstklassige Ausbildung in Frankreich
und an der Julliard School of Music in New
York, er studierte beim libanesischen Pianisten
Abd El Rahman El Bacha sowie beim BartokSchüler György Sandor. Dass er eine Reihe von
renommierten Preisen einheimsen konnte, versteht sich da fast von selbst. Dabei ist er erst 30
Jahre alt, Sohn des großen Oud-Virtuosen Marcel Khalifé. Sein Talent mag Rami vom Vater ha-
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zenith 3/2010
Hosam Hayek
Ghareeb fe Watani
Leicht melancholisch, passend zum Titel »Ghareeb fe Watani«, oder englisch »Stranger in My
Homeland«, hört sich das Oud-Spiel Hosam
Hayeks an. Alles zusammen passt auch zum
palästinensischen Hintergrund des Interpreten.
Trotz aller Schwermut: eine schöne Einspielung.
www.hosamhayek.com
Rami Khalifé
Chaos
Galileo MC 2010,
www.ramikhalife.com
Anspannung. Teils geht Khalifé brachial vor, teils
subtil, immer aber mit großer intellektueller
Strenge. Er beherrscht sein Instrument, und auf
ganz andere Weise beherrscht er auch den Hörer. Das Ganze erhält durch die einzelnen Sätze
und deren Nuancierung eine Richtung. Und
Hoffnung. Zu wünschen ist, dass diese Aufnahvr
me die verdient Anerkennung erhält.
DIWAN
Illustration: Veit Raßhofer
DER KLEINE ARABIST
Tausendmal
zensiert
Verbote sind für Araber nichts Neues. Parteien,
Bilder, moderne technische Geräte – irgendetwas wird irgendwo im Nahen Osten immer
gerade verboten. Vorzugsweise wenn a) Sex,
b) freie Meinungsäußerung oder c) Kritik an
Allah im Spiel sind. Sämtliche drei Tatbestände lassen sich zumeist bequem unter »Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Moral«
zusammenfassen.
Jetzt hat es also mal wieder »Tausendundeine Nacht« erwischt, die sexsprudelnde, mit
Herrscherkritik durchsogene und auch religiös
wenig zimperliche Geschichtensammlung aus
dem Orient. Beziehungsweise beinahe: Der mit
der Sache befasste Staatsanwalt in Kairo lehnte
es glatt ab, die Klage einer islamistischen Anwaltsvereinigung weiter zu verfolgen. Die Advokatentruppe mit dem schönen Namen »Anwälte ohne Grenzen« hatte den Staat daran
hindern wollen, die Erzählungen in einer neuen Volksausgabe zu vertreiben. Sie störte sich
dem Vernehmen nach insbesondere an »schamlosem sexuellem Vokabular« und »Sarkasmus
gegenüber dem göttlichen Wesen«.
Liberale Kulturschaffende schrien auf, und
sei es, weil sie schon die Schlagzeilen in europäischen Zeitungen kommen sahen: »Die
Moslems, jetzt wollen sie Märchen verbieten
…« Dabei handelt es sich nicht um das erste
Mal: Schon 1985 gab es in Ägypten eine, letztlich erfolglose, Klage gegen die Geschichten –
damals unter dem Vorwurf, sie seien ein pornographisches »Instrument zur Zerstörung der
Volksseele«.
Auch die Volksseelen des Westens waren
immer wieder in Gefahr. 1873 wurde der Vertrieb
von »Tausendundeine Nacht« in den USA de
facto verboten, durch ein formal bis heute gültiges Gesetz. Und natürlich sind einige der
berühmtesten europäischen Übersetzungen
entschärft worden, häufig durch die Autoren
selbst. Die Fassung des Orientreisenden Richard Burton – die das sexuelle Element stark
betonte – wiederum konnte im viktorianischen
England nicht erscheinen und musste 1885 in
Indien gedruckt werden. Folgten die grenzenlosen Gesetzesgelehrten also letztlich nur bewährtem europäischem Vorbild? Wohl nicht –
auch der Vorsitzende des ägyptischen Schriftstellerverbands warf ihnen vielmehr vor, sich
»wie die Taliban« zu benehmen. Das Publikum fällte indes sein eigenes Urteil: Die erste
Druckauflage der neuen Ausgabe war binnen
48 Stunden ausverkauft. Schließlich weiß man
nie, wann das nächste Verbot kommt. chm
Echsenjagd
>>Heißer Sommer 2010! Dem Königreich Saudi-Arabien bescherte er aufregende Trends
und dramatische Reformen: Laut Erlass des Königs müssen sich Prediger und Gelehrte öffentliche Äußerungen fortan staatlich zertifizieren lassen. Seine Majestät selbst ließ sich erstmalig mit einer Frauengruppe fotografieren. Und in einer TV-Seifenoper wurde plötzlich über
Polyandrie diskutiert – die Beziehung einer Frau zu mehreren Männern. Auch in den Bereichen Sport, Freizeit und Ernährung steht das Land Kopf: Big Mac und SUV weichen der Jagd
auf Nahrung nach dem alten beduinischen Prinzip Mann gegen Tier – oder präziser gesagt:
Scheich gegen Reptil.
Glaubt man Presseberichten, zählt das Jagen und Grillen von Echsen in der Wüste zu den
neuesten Hobbies saudischer Männer. Während einige Gourmets bequem zur Schrotflinte
greifen, um die Wechselblüter zu erlegen, ziehen wahre Naturburschen die Jagd per Handfang
vor. Für die Volksgesundheit eine gute Nachricht: Fast 70 Prozent der Saudis leiden an Fettleibigkeit und Bewegungsmangel. Temperaturen von über 50 Grad Celsius im Sommer machen Sport im Freien zu einer schweißtreibenden Sache. Aber selbst während des Fastenmonats Ramadan, der 2010 in den heißen August fiel, ließen sich einige Wüstensöhne nicht von
der Jagd abhalten.
Naturschützer sehen die Artenvielfalt in Saudi-Arabien dadurch nicht gefährdet. Gesundheitsexperten warnen jedoch vor dem hohen Cholesteringehalt des Echsenbratens. Die manuelle Jagd auf Stachel- und Dornschwanzagamen kann zudem zu kleinen Schnittverletzungen führen. Skinke und Lacertidae wiederum, so genannte »echte Eidechsen«, verursachen durch
ihre Wendigkeit bei ungeübten Jägern manchmal Stauchungen, Verspannungen und Bandscheibenvorfälle – für ein gutes Tackling muss man sich im Lauf nach unten beugen und gegebenenfalls zu Boden werfen.
Auch um die Frage, ob der Genuss von Echsen islamisch statthaft sei, ist eine Diskussion
entbrannt: Eine Reihe islamischer Überlieferungen (ahadith) befasst sich mit Eidechsen, Geckos
und Salamandern, die der Prophet als »miese Kreaturen« bezeichnet haben soll. Manche Gelehrte halten den Verzehr beinbewehrter Reptilien und Amphibien für makruh – nicht empfohlen, aber tolerabel. Andere weisen darauf hin, dass der Verzehr von »Sandeidechsen« unbedenklich sei; jedenfalls habe der Prophet seine Gefährten niemals daran gehindert. Von islamischer Seite spricht also nichts gegen Gerichte wie einen Varanus Yemenensis in Dattelsauce,
Stenodactylus Arabicus an Pfefferschoten oder ein deftiges Scincus-Scincus-Sandwich.
Radikale Salafisten werden bei derlei Köstlichkeiten allerdings Zurückhaltung üben: Laut
einer Überlieferung, die unter den Anhängern dieser besonders strenggläubigen Strömung große
Popularität genießt, soll Allah die Feinde des Islams einst in Schweine, Affen und Eidechsen
verwandelt haben. Selbst in der saudischen Wüste, im Ramadan bei über 50 Grad, ist man aldge
so nicht davor gefeit, auf einen Ungläubigen zu beißen.
zenith 3/2010
81
Foto: Marcel Mettelsiefen
AUSBLICK
IM NÄCHSTEN HEFT 4/2010
Sommerweiden
Wie werden Frauen in Tadschikistan ihre Männer los?
Blutbilder
Ein zenith-Schwerpunkt: Wie gesund ist der Orient?
Drogenhändler
Hat Pakistan nicht schon genug Probleme?
DER ZENITH-KALENDER
Wie grün ist der Islam?
Praktisches Umwelthandeln in
muslimischen Einrichtungen
Hamideh Mohagheghi, Uta Rasche (FAZ),
Ayman Mazyek u.a.
Akademie der Diözese
Rottenburg-Stuttgart
www.akademie-rs.de
Loccum, 05.-07.11.2010
Das Bewusstsein für die Umwelt und für
konsequentes ökologisches Handeln entwickelt
sich in europäischen muslimischen Verbänden
und Organisationen erst langsam. Wie ist der
Umweltgedanke islamisch begründet?
Welche praktischen Umsetzungsmöglichkeiten
gibt es in muslimischen Organisationen und
Gemeinden? Wie können zivilgesellschaftliche
Initiativen und Organisationen in dieser Frage
zusammenarbeiten?
Ev. Akademie Loccum
www.loccum.de
Eine neue Rolle Afrikas in der Welt?
Kochel am See, 29.11.-03.12.2010
Afrika ist unser Nachbarkontinent, aber wir
wissen wenig über ihn. Der Kontinent verändert
sich rapide, internationale Akteure entdecken das
wirtschaftliche Potenzial Afrikas. Wie können die
Afrikaner selbst den ungeheuren Herausforderungen wie Klimawandel, Ernährungskrise und
AIDS begegnen? Wie können wir in Europa
sinnvolle internationale Politik gegenüber Afrika
gestalten?
Georg-von-Vollmar-Akademie e.V.
www.vollmar-akademie.de
Sahure
Tod und Leben eines großen Pharaos
Frankfurt, bis 28.11.2010
Sahure regierte von ca. 2428 bis 2416 v. Chr.
als König des Alten Reichs, der so genannten
Pyramidenzeit. Unter allen bekannten
Pyramidenkomplexen kommt der etliche
Superlative vereinenden Anlage Sahures in
Abusir nahe Kairo eine Sonderstellung zu.
Es werden hochkarätige Originale – Reliefs,
Architekturelementen, Skulpturen, Vasen und
wertvollen Papyri – aus internationalen Museen
gezeigt. Ein eigenes Kapitel widmet die
Ausstellung Ludwig Borchardt, dem Entdecker
der Nofretete und von Sahures
Pyramidenkomplex.
Liebieghaus Skulpturensammlung
www.liebieghaus.de
Ein neuer Libanon?
Zur neuen Rolle der Religion in
einem zerrissenen Land
Hofgeismar, 12.-14.11.2010
Im Libanon werden seit einigen Jahren neue
Entwicklungen sichtbar, die sich auch auf die
gesamte Region auswirken. Dabei geht es vor
allem um ein neues religiöses und kulturelles
Selbstbewusstsein der schiitisch-muslimischen
Bevölkerungsmehrheit. Ein Teil davon ist in der
Hizbullah-Bewegung unter den politischen und
militärischen Einfluss des Iran geraten.
Authentische Berichte aus dem Libanon sollen
ins Gespräch mit Experten-Analysen aus dem
Libanon und aus Deutschland gebracht werden.
Ev. Akademie Hofgeismar
ekkw.de/akademie.hofgeismar
Kurdische Kinder und Jugendliche
KONZERTE
Identitätskrisen, Kulturbrüche und Perspektiven
in Kurdistan und Deutschland
Ruhrtriennale in Bochum
Bad Boll, 10.-12.12.2010
Untersucht wird die Bildungs- und Integrationssituation kurdischer Kinder und Jugendlicher im
türkischen und nordirakischen Teil Kurdistans
sowie in Deutschland. Welche Folgen haben
Identitätskrisen und Kulturbrüche und wie
können diese bearbeitet werden?
Ev. Akademie Bad Boll
www.ev-akademie-boll.de
Stuttgart-Hohenheim,
19.-21.11.2010
Die enge Verknüpfung mit der Integrationsdebatte
beschert dem christlich-islamischen Dialog zwar
große gesellschaftliche Relevanz, bringt aber
auch die Gefahr von Instrumentalisierungen mit
sich. In einer kritischen Selbstvergewisserung
unter Dialogakteuren geht es darum,
inwiefern der christlich-islamische Dialog aktuell
neu justiert werden muss.
Mit Heiner Bielefeldt, Jamal Malik, Josef Freise,
82
zenith 3/2010
Mit dem Yakaza Ensemble,
Fairuz Derinbulut, Aynur Do¤an, Burhan Öçal
und Istanbul Oriental Ensemble
03.10.2010 Love’s Deep Ocean
AUSSTELLUNGEN
Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute
Christlich-islamischer Dialog auf dem Prüfstand
02.10.2010 Aflk fiarkilari –
Liebeslieder
Alim & Ferghana Qasimov
www.ruhrtriennale.de
Das fremde Abendland?
Zwischen politischen Erwartungen
und theologischem Anspruch
Auf der diesjährigen Ruhrtriennale sind
weltberühmte Musiker und Sänger aus der
Türkei und Aserbaidschan zu Gast.
Karlsruhe, bis 07.11.2010
Die Sonderausstellung beschäftigt sich mit der
wenig bekannten Rezeption der westlichen Kultur
im Osten. Jenseits gängiger kulturwissenschaftlicher Theorien um den »Okzidentalismus« und
aller stereotypen Einteilungen möchte die
Ausstellung anhand ausgewählter Themen und
Exponate die besondere historische Konstellation
darstellen, in der die Neugier des Orients am
Westen im Verlauf der vergangenen 200 Jahre
eine neue Dimension erreicht hat.
Badisches Landesmuseum Karlsruhe
www.landesmuseum.de
6. Oriental & Flamenco
Gypsy Festival
30 Künstler aus sieben Nationen bieten
einzigartige Fusionen zwischen Abendland
und Orient. U.a. mit »Dhoad« aus Rajasthan,
der Ssassa-Formation »El Hiyam« mit dem
syrischen Violonisten und Sänger Zaher Assaf
und den Tänzerinnen Assale Ibrahim,
Leonor Moro und Ratna.
12.10.2010
13. und 14.10.2010
15.10.2010
16.10.2010
17.10.2010
www.gypsyfestival.ch
Dreieich
Neuchatel
Morges
Zürich
Luzern
Foto: Levent Canseven
VORTRÄGE/KONGRESSE/SEMINARE
Redaktion: Bettina David
Kurdistans Liedermacherin: Gülistan Perwer.
Gülistan Perwer Quartett
(Kurdistan)
Gülistan Perwer gilt als Nachfolgerin der
legendären kurdischen Sängerin Eyse San.
Erstmalig präsentiert sie nun mit drei jungen
kurdischen Musikerinnen eigene Lieder ihres
ausdrücklich femininen Repertoires.
01.11.2010
03.11.2010
04.11.2010
05.11.2010
07.11.2010
08.11.2010
09.11.2010
11.11.2010
14.11.2010
15.11.2010
16.11.2010
17.11.2010
18.11.2010
19.11.2010
20.11.2010
21.11.2010
23.11.2010
25.11.2010
26.11.2010
Bonn
Düsseldorf
Wuppertal
Essen
St. Augustin
Münster
Siegen
Gütersloh
Paderborn
Aachen
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Gronau
Detmold
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Mit großer Wucht betrat der Islam vor 1400 Jahren die Bühne der
Weltgeschichte, verkündet von einem Mann, der sich als „Siegel
der Propheten“ verstand, verbreitet von Gläubigen, die rasch ein
riesiges Reich eroberten. Aber was wissen wir eigentlich über diese
Religion, die während ihres „Goldenen Zeitalters“ die christliche
Welt weit in den Schatten stellte? Der genaue Blick auf Quellen und
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