Protoindustrialisierung

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Protoindustrialisierung
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20/08/2013 |
Protoindustrialisierung
P. bezieht sich erstens auf die gewerbl. Produktion vom 15. bis ins 19.
Jh., vor der Industrialisierung, bzw. auf eine Epoche mit geringem
techn. Fortschritt. Zweitens beinhaltet diese Produktion komplexe
Organisationsformen, die den Rahmen des einzelnen handwerkl.
Betriebs sprengen, nämlich das Kaufsystem, das Verlagssystem und die
Manufaktur. Abgesehen von der Manufaktur finden die meisten
Produktionsschritte ausserhalb der Eigenbetriebe der Unternehmer in
Heimarbeit statt. Deshalb geht die P. drittens mit der Entstehung von
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Gewerberegionen einher, in denen ein erhebl. Teil sowohl der städt. als für die Buchausgabe des HLS mit Bildern
auch der ländl. Haushalte (Ländliche Gesellschaft) gewerbl. Tätigkeiten illustriert. Bestellen Sie das HLS bei
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nachgehen. Viertens und letztens bezieht sich P. auf die
Massenherstellung gewerbl. Güter für überregionale oder internat.
Märkte.
Der Begriff der P. wurde 1972 vom Wirtschaftshistoriker Franklin Mendels geprägt. Die
Protoindustrialisierungsforschung untersucht die strukturellen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen,
besonders die Lebensstrategien und Verhaltensweisen der kleinen ländl. Produzenten. Sie hat einen älteren
gewerbegeschichtl. Ansatz, der sich v.a. auf Unternehmer, Organisationsformen und die räuml. Ausbreitung
der Gewerbe fokussierte, ersetzt.
Autorin/Autor: Ulrich Pfister
1 - Voraussetzungen in Europa
In der frühen Neuzeit bestand zwischen dem europ. Südwesten und dem Rest des Kontinents ein Preisabstand
(Preise). Güter des tägl. Bedarfs kosteten in den Städten der iber. Halbinsel das zweifache oder mehr als
anderswo in Europa. Die schweiz. Exportwirtschaft war deshalb vom 16. bis zum frühen 18. Jh. stark nach
Südwesten orientiert, mit Lyon als wichtigem Handelsplatz. Im späten 17. und frühen 18. Jh. erfolgte zudem
eine allg. Konsum- und Fleissrevolution in Europa. Die Menschen waren bereit, für denselben Lohn mehr zu
arbeiten, weil Konsum im Vergleich zu Freizeit mehr Nutzen für die soziale Distinktion und die Gewinnung von
Identität stiftete (Konsumverhalten). Diese Fleissrevolution beruhte auf dem Zusammenbruch ständ.
Aufwandsnormen und der vermehrten Verfügbarkeit aussereurop. Erzeugnisse, zu denen neben
Genussmitteln wie Tabak, Zucker, Tee oder Kaffee auch Manufakturgüter, insbesondere bedruckte und
bemalte Baumwolltücher aus Indien zählten. Das Schweizer Baumwollgewerbe spielte eine wichtige Rolle bei
der Verdrängung ind. Erzeugnisse vom europ. Markt im 18. Jh. Zeitgleich mit der Fleissrevolution fand auch
eine zweite kommerzielle Revolution im Handel statt. Neue Techniken in der Handelskorrespondenz oder der
Nutzung des Wechsels verbreiteten sich auch ausserhalb grosser Handels- und Finanzzentren und machten
den Besuch von Messen überflüssig. Der Vertrieb differenzierter Konsumgüter wurde erleichtert und die
Kaufleute wurden vermehrt sesshaft, sodass ihnen mehr Zeit für die Organisation der gewerbl. Produktion zur
Verfügung stand.
Autorin/Autor: Ulrich Pfister
2 - Voraussetzungen in der Schweiz
Da sich die P. häufig als eine Kommerzialisierung bäuerl. Technologien einstellte, spielte die autochthone
Gewinnung von Rohstoffen in der Frühphase der P. eine erhebl. Rolle (Gewerbepflanzen): Flachs in den
voralpinen Hügelgebieten der Nordostschweiz und des Grenzgebiets zwischen Aargau und Luzern sowie im
Jura, Schafwolle (Wolle) in den Voralpen von Freiburg und in Glarus sowie Eisenerz und Holz im Jura. Mit dem
Fortschreiten der P. wurden aber vermehrt importierte Rohwaren wie Seide und Baumwolle verarbeitet.
Die P. entwickelte sich einerseits im Umfeld von Städten wie Genf, St. Gallen und Zürich, die v.a. aus polit.
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Gründen wenig am Söldnergeschäft beteiligt waren und wo die Elite andere lukrative Betätigungsfelder
suchte. Andererseits beruhte die P. in voralpinen Zonen vielfach auf einem ländl. Unternehmertum, das die
Versorgung der hier früh nicht mehr autarken Bevölkerung mit alltägl. Konsumgütern wie Brot und Wein
gewährleistete oder sich wie etwa in Glarus im Wanderhandel betätigte. Der Verschuldung der unterbäuerl.
Klientel gegenüber dieser Händlerschicht in Form des Warenkredits kam dabei eine grosse Bedeutung zu: Der
Händler konnte der stets drohenden Zahlungsunfähigkeit seiner Klientel abhelfen, indem er sie mit gewerbl.
Arbeit versah und seine Ansprüche über Lohnabzüge befriedigte. Dadurch wurde reines Handelskapital,
vermittelt über die Verarmung weiter Bevölkerungskreise, quasi zwangsweise in protoindustrielles Kapital
verwandelt. In diesem Zusammenhang ist auch die schon von Zeitgenossen als ausbeuterisch betrachtete
Naturallöhnung, das sog. Trucksystem, zu verstehen. Da insbesondere Brot meist im Haushalt des
Unternehmers durch Frauen oder verwandte Männer hergestellt wurde, konnte familiale Arbeitskraft
protoindustrielles Kapital schaffen. Gleichzeitig befanden sich allerdings die Arbeitskräfte über das
Parallellaufen von Kredit, Arbeit und Versorgung mit Konsumgütern in einem ausgesprochenen
Abhängigkeitsverhältnis, das materiell vielfach zu ihren Ungunsten wirkte.
Gewerbl. Tätigkeiten wurden in Landgebieten lange, wenn auch in unterschiedl. Ausmass, mit landwirtschaftl.
Arbeit kombiniert. Die P. konnte sich deshalb v.a. in Zonen ausdehnen, die entweder ein arbeitsextensives
Nutzungssystem aufwiesen oder die durch eine grosse soziale Ungleichheit mit einem hohen Anteil landarmer
oder landloser Haushalte gekennzeichnet waren. Die erste Situation trifft besonders für das voralpine
Hügelland zu, wo schwerpunktmässig im 15. und 17. Jh. mit der Vertiefung der überregionalen Agrarmärkte
eine Verlagerung zu einer arbeitsextensiven Viehwirtschaft erfolgte. Die Kombination von Heimarbeit und
Viehwirtschaft ermöglichte vielenorts in der frühen Neuzeit noch eine Ausweitung der Siedlungsgrenze. Die
zweite Situation findet sich dagegen auch in Mittellandgebieten, die durch eine intensive Landwirtschaft
gekennzeichnet sind. In den Weinbaugebieten des Zürichsees etwa war die Koexistenz von arbeitsintensiver
Landwirtschaft mit Seidenweberei in der geschlechtsspezif. Arbeitsteilung begründet: Frauen arbeiteten im
Seidengewerbe - zum Teil lebten sogar Bauerntöchter als Mieterinnen in gewerblich ausgerichteten
Kleinbauernhaushalten - während sich Männer aus der Unterschicht und dem Kleinbauerntum als Taglöhner
oder Knechte in den Bauernbetrieben verdingten. Als dritte agrarstrukturelle Voraussetzung besonders für die
starke P. der Nordschweiz ist die Nähe zu den sich auf kommerziellen Getreidebau spezialisierenden Zonen im
süddt. Raum zu nennen (Elsass für Basel, Schwaben für Zürich und Nordostschweiz). Trotz hoher
Transportkosten stellte damit der abnehmende Selbstversorgungsgrad (im späten 18. Jh. in der Nordschweiz
noch ca. 60%) kein Hindernis für die P. dar.
Autorin/Autor: Ulrich Pfister
3 - Demografie, Familie und Lebensformen
Die Auswirkungen der P. auf die sozialen Verhältnisse und das Bevölkerungswachstum gestalteten sich je
nach Situation unterschiedlich. Mit der P. erhielten breite ländl. Schichten ein Lohneinkommen. Deshalb
wurden Konsumbedürfnisse vermehrt über den Markt befriedigt. Nahrung stillte nicht mehr nur den Hunger,
sondern diente auch zur Selbstdarstellung und zum kompensator. Konsum angesichts monotoner und
abstumpfender Arbeit: Weissbrot, Fleisch, Kaffee und Tabak hielten Einzug in die ländl. Ernährung. Eine v.a.
von jungen Erwachsenen getragene Freizeitkultur mit spezif. Formen der Geselligkeit und des demonstrativen
Konsums (Kleiderputz) entstand. Zudem konnten junge Leute dank dem Lohneinkommen unabhängig von
ihrer Familie bzw. ohne landwirtschaftl. Basis einen Haushalt gründen und die vermehrten Eheschliessungen
führten zu einem Bevölkerungswachstum.
In der Anfangszeit der P. waren die Löhne jedoch so gering, dass die gewerbl. Tätigkeit oft nur eine saisonale
Beschäftigung von Frauen und Kindern bildete. Die Familienorganisation änderte sich wenig und die
Bevölkerung wuchs nur dank einer allenfalls leicht unterdurchschnittl. Sterblichkeit. War die gewerbl.
Tätigkeit dagegen gut entlöhnt, erforderte sie meist einen erhebl. Kapitaleinsatz (wie in etlichen Branchen der
Weberei) und wurde von beiden Geschlechtern, wenn auch mit unterschiedlichen lebenszykl. Schwerpunkten,
ausgeübt. Erlaubte die Agrarstruktur die Investition kleiner Summen in die Erweiterung eines landwirtschaftl.
Betriebs, wie in einer Reihe von voralpinen Hügelzonen, wurden Einkommensteile gespart und in die
Landwirtschaft investiert; Statuskonsum bildete eine geringe Rolle. Die hohen Löhne erleichterten zwar das
Zusammensparen von Kapital für die Haushaltsgründung, die Höhe des auch für die protoindustrielle Tätigkeit
erforderl. Kapitals begrenzte jedoch das Absinken des Heiratsalters. Die Bevölkerung wuchs somit sowohl
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über eine tiefe Sterblichkeit als auch eine mässig hohe Fruchtbarkeit. Ein v.a. durch eine hohe
Heiratshäufigkeit und Fruchtbarkeit getragenes Bevölkerungswachstum, verbunden mit einer Verbreitung von
Statuskonsum, findet sich primär in Situationen, in denen auch einfache Produktionsschritte wie Spinnen
hohes Einkommen garantierte, wie z.B. im Baumwollboom zwischen ca. 1740 und 1785.
Autorin/Autor: Ulrich Pfister
4 - Politische Rahmenbedingungen
Wegen des geringen techn. Fortschritts waren neben dem Wachstum von Kapital und Bevölkerung auch die
Kosten des Zugangs zu den auswärtigen Märkten für die P. massgeblich. Neben den Transportkosten fielen
hierunter insbesondere die Transaktionskosten (Kosten der Information über Marktpartner, Preise und
Güterqualitäten; Kosten der Vertragsschliessung und -durchsetzung), die durch polit. Rahmenbedingungen
gesetzt wurden. Bis etwa zur Mitte des 17. Jh. trugen die im Umfeld von Solddienstabkommen mit
Nachbarstaaten geschlossenen Wirtschaftsabkommen über die Senkung der Transaktionskosten des schweiz.
Aussenhandels viel zur Konkurrenzfähigkeit des exportorientierten Gewerbes bei (Frankreich 1516 und 1521,
Venedig 1615 und 1618). Zwischen der 2. Hälfte des 17. Jh. und der Mitte des 18. Jh. waren dagegen
innerhalb der einzelnen Orte die zahlreichen in Zusammenarbeit zwischen kaufmänn. Direktorien (Zürich
1662, Basel 1682, in St. Gallen Umwandlung einer älteren Institution gegen 1730) und Behörden erarbeiteten
Gewerbegesetze mit dafür verantwortlich, dass die Transaktionskosten einer zwar komplexer werdenden,
aber immer noch dezentralen Produktion tief gehalten werden konnten. Der Aufschwung der 2. Hälfte des 18.
Jh., v.a. der Baumwollboom, vollzog sich schliesslich schon weitgehend ausserhalb staatlich gesetzter
Marktinstitutionen. Parallel dazu nahm die im 17. und frühen 18. Jh. sehr häufige Honoratiorentätigkeit von
Kaufleuten manchenorts ab.
Autorin/Autor: Ulrich Pfister
5 - Protoindustrialisierung als Voraussetzung der Industrialisierung
Hinsichtlich des Unternehmertums, der involvierten Branchen und der regionalen Verankerung (hiermit auch
der Arbeitskräfte) besteht in der Schweiz zwischen P. und Industrialisierung eine Kontinuität. Sie lässt sich
damit begründen, dass bereits in der P. grosse Gruppen von Menschen entstanden, die an Lohnarbeit
gewöhnt und auf sie angewiesen waren, und dass handwerkl. Können, Kapital und Wissen über Absatzmärkte
akkumuliert worden waren. Zudem führte die P. zur einer differenzierten Industriestruktur, innerhalb welcher
auf neue Herausforderungen flexibel und zu tiefen Kosten reagiert werden konnte. Bis zum späten 19. Jh.
waren die zentrale Produktion in Fabriken und die dezentrale Heimarbeit in vielen Branchen des
Textilgewerbes und in der Uhrenindustrie eng verzahnt. Teure Fabrikgebäude mit Maschinenparks waren auf
eine hohe Auslastung ausgelegt. In Phasen der Hochkonjunktur konnten zudem flexibel Heimarbeiter
beschäftigt werden, die in Schwächephasen wieder entlassen wurden.
Autorin/Autor: Ulrich Pfister
Quellen und Literatur
Literatur
– U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, 1992
– Proto-Industrialisierung in Europa, hg. von M. Cerman, S.C. Ogilvie, 1994
– Proto-industrialisation, hg. von R. Leboutte, 1996
– J. De Vries, The Industrious Revolution, 2008
Autorin/Autor: Ulrich Pfister
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