Homer goes to Hollywood

Transcrição

Homer goes to Hollywood
1
Irene Polke
Homer goes to Hollywood
Zur Beurteilung von Wolfgang Petersens Troia-Film (I)
Gliederung
1.
2.
Petersens Troia-Film – ein Meisterwerk oder ein Machwerk?
Petersens Troia-Film – eine eigenwillige Adaption von Homers Ilias
......... S. 2
......... S. 3
2.1.
2.2.
2.3.
2.4.
2.5.
2.6.
2.7.
2.8.
2.9.
.........
.........
.........
.........
.........
.........
.........
.........
.........
Das Geschehen aus mythologischer Sicht
Die Kulissen und Kostüme aus archäologischer Sicht
Die Hintergrundmusik und die akustischen Spezialeffekte
Die Kampfszenen und die optischen Spezialeffekte
Die Leistungen einzelner Hauptdarsteller
Die Charakterzeichnung
Die Dialoggestaltung
Die Handlungsführung
Die Weltanschauung
S.
S.
S.
S.
S.
S.
S.
S.
S.
3
14
19
22
25
28
#
#
#
3.
Petersens Troia-Film – eine Chance für den Griechischunterricht
......... S. #
4.
Literaturverzeichnis
......... S. I
Vorbemerkungen
Bei diesem Aufsatz handelt es sich um die stark erweiterte Fassung eines Vortrags, den
ich am 6. November 2004 anläßlich des 4. Hessischen Altphilologentags an der PhilippsUniversität Marburg gehalten habe. Die Abschnitte 1. – 2.6. und eine vorläufige Version
von Abschnitt 4. werden zum gegenwärtigen, die Abschnitte 2.7. – 3. und die endgültige
Version von Abschnitt 4. zu einem späteren Zeitpunkt (bis Ende 2005) publiziert.
Aus stilistischen Gründen habe ich 1. die Schreibweisen „Troja“ und „Troia“ sowohl im
Text als auch im Literaturverzeichnis zu „Troia“ vereinheitlicht, 2. bei allen Maskulina auf
den Zusatz der entsprechenden Feminina („Kunden und Kundinnen“, „Rezensenten und
Rezensentinnen“ usw.) verzichtet.
2
1.
Petersens Troia-Film –
ein Meisterwerk oder ein Machwerk?
Für die einen: „ein sensationeller“, „ein großartiger“, „ein wunderbarer
Film“, „einfach klasse“, „einfach super“, „einfach spitze“, „absolut fantastisch“, „absolut mitreißend“, „atemberaubend“, „schlichtweg genial“, „der
beste Film des Jahres“ und ganz sicher „einer der besten Filme, die ich je
gesehen habe“ – „ein Meisterwerk“.1
Für die anderen: „Müll“, „Schrott“, eine „Katastrophe“, ein „Riesenflop“,
ein „Komplettdesaster“, ein „totaler Reinfall“, ein „absoluter Fehlgriff“, ein
„Griff ins Klo“, ein „schlechter Scherz“, einer „der schlechtesten Filme der
heutigen Zeit“, zumindest aber „der schlechteste Film [...], den ich je gesehen habe“ – ein „Machwerk“.2
Dies ist nur eine kleine Auswahl aus den über zweihundertfünfzig Kundenrezensionen, die der Internet-Buchhändler Amazon von Mai bis Oktober
2004 zu Wolfgang Petersens Troia-Film ins Netz gestellt hat3 – eine allerdings charakteristische Auswahl, da der Film seine Zuschauer offenbar polarisiert: Den zahlreichen Verehrern, die sich „total beeindruckt“ und „total
begeistert“ zeigen, stehen mindestens ebenso viele Verächter gegenüber,
die sich „bitter“, „unsäglich“ und „aufs übelste enttäuscht“ fühlen, deren
„Riesenenttäuschung“ sogar in erbitterte Wut umschlägt: „Selten habe ich
mich über einen Film so geärgert!“4
Die Lektüre dessen, was Verehrer und Verächter bei Amazon zu Protokoll
geben, ist für Griechischlehrer zwar desillusionierend.5
1
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 18. 5. 04 aus Ingolstadt; vom 22. 5. 04 aus
Fürth; vom 16. 5. 04 aus Rösrath; vom 13. 9. 04 aus Zürich; vom 11. 10. 04 aus Rheinland-Pfalz; vom 4. 8. 04 aus Neustadt-Glewe; vom 21. 5. 04 aus Österreich; vom 12. 10.
04 aus Konstanz; vom 18. 5. 04 aus Ingolstadt; vom 15. 5. 04 aus Ehingen; vom 23. 9.
04 aus [?]; vom 15. 5. 04 aus Bayern; vom 20. 5. 04 aus Remscheid.
2
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 21. 9. 04 aus Köln; vom 8. 10. 04 aus München; vom 4. 7. 04 aus [?]; vom 2. 6. 04 aus Bayern; vom 28. 9. 04 aus Kuchen; vom 5.
10. 04 aus Wuppertal; vom 8. 10. 04 aus [?]; vom 6. 7. 04 aus Pforzheim; vom 26. 5.
04 aus Bochum; vom 29. 8. 04 aus Seevetal; vom 5. 10. 04 aus Wuppertal; vom 28. 9.
04 aus Reutlingen.
3
www.amazon.de. Die Bezeichnung der Kundenaussagen als ‚Rezensionen‘ habe ich von
dort übernommen.
4
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 14. 5. 04 aus Legden; vom 30. 9. 04 aus Eisenach; vom 14. 5. 04 aus Recklinghausen; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen; vom
24. 5. 04 aus Deutschland; vom 5. 8. 04 aus Bayern; vom 19. 9. 04 aus Wuppertal.
5
Orthographie und Interpunktion folgen grundsätzlich weder dem alten noch dem neuen
Duden (allein die zahlreichen Schreibweisen für die Wörter Ilias und Achilles hätte man
so nicht für möglich gehalten). Auch die Regeln der Grammatik und Stilistik werden notorisch gebrochen (die meisten Aussagen sind umgangs- bzw. jugendsprachlich formuliert).
Fachkenntnisse über die Ilias sind nur vereinzelt vorhanden und fehlen oft sogar da, wo
die Verfasser sich fest in ihrem Besitz glauben (vgl. unten Anm. 6). – Trotzdem werde ich
die Amazon-Kunden in diesem Aufsatz ausführlich zu Wort kommen lassen (vgl. die folgende Begründung). Eindeutige Fehler habe ich stillschweigend korrigiert.
3
Trotzdem ist sie aus meiner Sicht lohnend. Denn der Standpunkt, von
dem aus die Amazon-Kunden den Film betrachten – es ist der des nicht
unbedingt informierten, aber doch jedenfalls interessierten Laien – dürfte
von dem der Griechischschüler nicht allzu weit entfernt sein. Wenn der
Lehrer also den Standpunkt der Schüler zur Kenntnis nehmen und einnehmen will, um den Film und von dort aus die Ilias zu erschließen, kann
es für ihn sehr hilfreich sein, dem Publikum zuzuhören, das sich bei Amazon vielstimmig und authentisch artikuliert: Worauf richtet dieses Publikum sein Augenmerk? Was interessiert es an dem Film? Wonach beurteilt
es den Film?
Nach meinem Eindruck, der sich auf die Analyse von etwa zweihundert
Amazon-Rezensionen stützt, kann man neun Interessenschwerpunkte unterscheiden: Die Zuschauer diskutieren vor allem darüber, wie authentisch
das Geschehen (1.) und die Kulissen (2.), wie angemessen die Musik (3.),
wie raffiniert die Kampfszenen und die optischen Spezialeffekte (4.), wie
ausdrucksstark die Darstellung (5.), wie vielschichtig die Charaktere (6.),
wie differenziert die Sprache (7.), wie komplex die Handlung (8.) und wie
tragfähig die durch den Film vermittelten Werte (9.) seien.
Diesen Interessenschwerpunkten widme ich im folgenden je einen Abschnitt (2.1. – 2.9.). Jeder Abschnitt enthält einen gedanklichen Dreischritt von den Zuschauern über Petersen zu Homer. Dadurch dient er zunächst der Beantwortung der Frage: Werden die Zuschauer Petersens
Troia und wird Petersen Homers Ilias wirklich gerecht?
2.
Petersens Troia-Film –
eine eigenwillige Adaption von Homers Ilias
2.1. Das Geschehen aus mythologischer Sicht
Zahlreiche Zuschauer werfen Petersen vor, daß sein Film den Mythos und
die Wirklichkeit, die sie aus der Ilias kennten, ‚falsch‘ darstelle. Empört
prangern sie eine Fülle vermeintlicher6 oder tatsächlicher ‚Fehler‘ an:
So monieren sie z.B., daß der Troianische Krieg im Film nicht zehn Jahre
„wie in der Ilias“, sondern (wahlweise) nur 21, 16, 15, 14, 12 oder gar 4
6
In einigen Fällen wird kritisiert, was überhaupt nicht kritikwürdig ist. So bemängelt etwa ein Rezensent, daß Petersen Troia ‚eigenmächtig‘ ans Meer verlegt habe (Rezension
vom 26. 5. 04 aus Bochum). Ein anderer belehrt seine Leser, daß man bisher ja noch gar
„keinen Beweis für die Existenz Troias gefunden“ habe (Rezension vom 9. 7. 04 aus Bad
Wörishofen). Ein dritter beschwert sich, daß „die zentrale Figur der Ilias, nämlich Kassandra, völlig fehlt“ (Rezension vom 8. 10. 04 aus München). Und ein vierter beklagt,
daß „das Troianische Pferd, das [doch] eigentlich das wichtigste ist bei dem Untergang
von Troia, absolute Nebensache ist“ (Rezension vom 22. 5. 04 aus Fürth): „Leider wurde
ich bitter enttäuscht. Der eigentliche Höhepunkt, meiner Meinung nach wäre das [...] die
List mit dem Troianischen Pferd gewesen, dauert dann mal ganze 5 Minuten in diesem
nicht enden wollenden 150-Minuten-Epos!“ (Rez. vom 14. 5. 04 aus Recklinghausen).
4
Tage lang dauere.7 Dagegen kann man zwar einwenden, daß auch die Ilias
lediglich 51 und von diesen lediglich 4 Tage eingehend schildere. Damit
kann man aber den Vorwurf nicht entkräften, „daß bei einem Krieg, der
zehn Jahre dauerte, das Kind von Hektor anfangs ein Baby war und komischerweise am Schluß auch.“8 In der Tat ist Astyanax ein Baby, als Hektor
aus Sparta zurückkommt, ein Baby, als Hektor vor dem Zweikampf mit
Achill in seine Wiege schaut, und immer noch ein Baby, als Andromache
mit ihm durch den Geheimgang aus Troia entkommt. Daraus muß man
entnehmen, daß die im Film gezeigten Ereignisse nicht als ein Teil des Gesamtgeschehens, sondern als dieses Gesamtgeschehen selbst gelten sollen – womit sich dann wirklich ein starker Kontrast zur Ilias ergibt (vgl.
unten Abschnitt 2.8.).
Götter (allgemein)
Auch sonst erlaubt sich der Film nicht wenige Freiheiten. Im nächsten Kapitel werde ich die klarsten Abweichungen von der archäologisch nachweisbaren Wirklichkeit benennen. In diesem möchte ich dagegen die deutlichsten Unterschiede zum traditionell geprägten Mythos auflisten, und
zwar – um dem Leser entgegenzukommen – mit Hilfe einer Tabelle.9
7
Film
Mythos
Im Film fehlen nahezu sämtliche
Götter, die aus der Ilias bekannt
sind.10
Im Mythos sind diese Personen unverzichtbare Handlungsträger.
Weder Zeus, Athene und Apollon, die zu den Hauptakteuren
der Ilias gehören, noch Aphrodite, Ares und Artemis, Hades,
Hera, Hermes und Hephaistos,
Poseidon und viele andere, die
in die Ilias-Handlung eingreifen,
treten im Film in Erscheinung
– mit Ausnahme von Achills
Mutter Thetis, die aber auch
nur kurz zu sehen und für Laien
kaum als Göttin zu erkennen ist.
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 27. 5. 04 aus Deutschland; vom 19. 5. 04 aus
Obernburg 2; vom 29. 6. 04 aus Bombay; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen; vom
18. 5. 04 aus Hessen; vom 24. 5. 04 aus Calden.
8
Rezension vom 5. 7. 04 aus Wien.
9
Dabei verzichte ich auf unmittelbare Zitate aus den Rezensionen, um einerseits Doppelungen vermeiden und andererseits Lücken schließen zu können, die sonst dem Sachverständnis und der Lesbarkeit Abbruch täten. Außerdem unterscheide ich nicht zwischen
Mythen, die (auch) in der Ilias, und solchen, die (nur) in anderen Schriften dokumentiert
sind. Für genauere Quellenangaben verweise ich auf Tripp (2001).
10
Vgl. Fritz Graf: Zum Figurenbestand der Ilias: Götter. In: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Prolegomena, S. 115 – 132. – Vgl. außerdem Magdalene Stoevesandt: FigurenIndex. Ebd., S. 173 – 207.
5
Boagrios
Menschen (allgemein)
Im Film fehlen zahlreiche Menschen, die in der Ilias erwähnt
werden.11
11
(Wie oben.)
Bei den Troianern fehlen u.a.
Hekabe und Deiphobos, die
Mutter und der Lieblingsbruder Hektors. Es fehlen Pandaros, der skrupellose Pfeilschütze, Pulydamas, der besonnene Ratgeber, sowie Laokoon
und Kassandra, die erfolglosen
Warner. Es fehlen Chryseis, die
attraktive Kriegsgefangene, und
Chryses, ihr ehrwürdiger Vater,
der mit der Bitte um ihre Freigabe die Ilias-Handlung überhaupt erst in Gang setzt.
Bei den Griechen fehlt u.a.
Iphigeneia, die unschuldige
Tochter Agamemnons, die der
Vater einst der Artemis geopfert hat, um mit der Flotte nach
Troia in See stechen zu können.
Es fehlen Aias, der Sohn des Oileus, Diomedes, der Sohn des
Tydeus, und Idomeneus, der
Sohn des Deukalion, die in der
Ilias zum engsten Führungszirkel der Griechen gehören.
Es fehlen Kalchas, der Seher,
Machaon, der Arzt, Talthybios,
der Herold, Thersites, der Revolutionär, und Phoinix, der Erzieher Achills, die in der Ilias
wichtige Sonderrollen spielen.
Im Film tritt ein hünenhafter
Thessaler namens Boagrios
auf, der von Achill zur Erleichterung aller Griechen überwunden wird.
Im Mythos gibt es Boagrios nicht.
Vgl. Magdalene Stoevesandt: Zum Figurenbestand der Ilias: Menschen. In: Homers
Ilias. Gesamtkommentar. Prolegomena, S. 133 – 143. – Vgl. außerdem dies.: FigurenIndex. Ebd., S. 173 – 207.
Aineias
Helena
Menelaos
Agamemnon
6
12
13
14
15
16
17
Im Film schickt Agamemnon
die Griechen aus persönlicher
Skrupellosigkeit zu dicht an die
Mauern und damit unmittelbar
in den Pfeilregen der Troianer
hinein, wo sie hohe Verluste
erleiden.
Im Mythos wird Agamemnon
durch Zeus zu der für die Griechen verhängnisvollen Entscheidung verführt.12
Im Film wird Agamemnon
von Briseis erdolcht, als er
mit brutaler Lüsternheit über
die scheinbar wehrlose Priesterin herfällt, um sie erst zu entjungfern und anschließend nach
Mykene zu verschleppen.
Im Mythos kehrt Agamemnon
mit Kassandra als Lustsklavin
nach Mykene zurück und wird
dort entweder von seiner Frau
Klytaimnestra beim Baden (Tragödiendichter) oder von deren
Liebhaber Aigisthos beim Essen
(Homer)13 erschlagen. So büßt
er für die Opferung seiner Tochter Iphigeneia, die im Film, wie
gesagt, nirgends vorkommt.
Im Film wird Menelaos von
Hektor getötet, als er beim
Duell gegen Paris haßerfüllt
auf den schon kampfunfähigen
Gegner eindringt, um diesem,
der sich unter den Schutz Hektors geflüchtet hat, den Todesstoß zu versetzen.
Im Mythos wird Menelaos von
dem Troianischen Pfeilschützen
Pandaros außer Gefecht gesetzt.14
Trotzdem überlebt er letztendlich
den Krieg.15
Im Film flieht Helena nach dem
Untergang Troias mit Aineias in
Richtung Rom.
Im Mythos kehrt Helena nach
dem Untergang Troias mit Menelaos ins heimische Sparta zurück.16
Im Film ist Aineias ein etwa
achtzehnjähriger Jüngling,
der erst aus der Versenkung
auftaucht, als Troia bereits
untergeht, und von Paris nach
seinem Namen gefragt wird.
Im Mythos ist Aineias der Ehemann einer Schwester des Paris
(Kreusa) und seit zehn Jahren der
erfolgreichste Verteidiger Troias
nach Hektor.17
Hom.
Hom.
Hom.
Hom.
Hom.
Hom.
Il. 2, 1 – 86.
Od. 4, 519 – 537; 11, 385 – 439.
Il. 4, 122 – 147. 183 – 187.
Od. 4, 1 – 624; 15, 1 – 182.
Od. 4, 1 – 624; 15, 1 – 182.
Il. 5. 13. 16. 17. 20 u.ö.
Priamos
Hektor, Andromache, Astyanax
Paris
7
18
19
20
21
Im Film segelt Paris mit Hektor
nach Sparta.
Im Mythos reist Paris alleine
nach Sparta.
Im Film wird Paris nach seiner
Niederlage gegen Menelaos
durch Hektor gerettet.
Im Mythos wird der besiegte
Paris durch Aphrodite mit einer
Wolke umhüllt und vom Schlachtfeld in Helenas Schlafgemach entrückt.18
Im Film ist Paris bei der Eroberung Troias noch am Leben.
Im Mythos ist Paris schon vor der
Eroberung Troias durch die Pfeile
des Philoktet gefallen.
Im Film stirbt Hektor direkt vor
den Augen Andromaches.
Im Mythos stirbt Hektor in Abwesenheit von Andromache.19
Im Film kann Andromache sich
mit Astyanax aus dem untergehenden Troia retten, nachdem
Hektor ihr prophezeit hat, daß
die Griechen die Frauen der
Troianer versklaven und die
Babies von den Mauern schleudern werden.
Im Mythos schleudert Neoptolemos das Baby Astyanax von der
Mauer und nimmt Andromache
als Sklavin mit nach Hause.20
Dort muß sie mit ihm – dem
Mörder ihres Sohnes und dem
Sohn des Mörders ihres Mannes,
ihrer sieben Brüder und ihres Vaters – das nächtliche Lager teilen.
Im Film hat Priamos überhaupt
keine Lebenspartnerin.
Im Mythos hat Priamos außer seiner Hauptfrau Hekabe noch mindestens 2 – 3 Nebenfrauen (Laothoe, Kastianeira, ...).
Im Film hat Priamos nicht mehr
als 2 Söhne.
Im Mythos hat Priamos 50 Söhne
(Helenos, Troilos, Deiphobos ...)
und 12 Töchter (Laodikeia, Polyxene, Kassandra, Kreusa ...).21
Im Film wird Priamos von Agamemnon getötet.
Im Mythos wird Priamos von Neoptolemos getötet.
Hom. Il.
Hom. Il.
Hom. Il.
Vgl. den
3, 369 – 382.
22, 438 – 445.
6, 450 – 465.
Stammbaum der Dardaniden im Anhang von Autenrieth / Kaegi (1999).
Achill
Peleus
8
22
23
24
25
26
27
Im Film ist klar, daß Achills Vater Peleus schon tot ist, weil Priamos sagt, daß Peleus nicht habe erleben müssen, wie Achill
starb, er selbst hingegen, wie
Hektor starb.
Im Mythos ist das Schicksal des
Peleus zum Zeitpunkt der Handlung noch unklar. Es klärt sich
jedoch dahingehend, daß auch
Peleus seinen Sohn überlebt.22
Im Film befehligt Achill nur 1
Schiff mit 50 Myrmidonen.
Im Mythos befehligt Achill 50
Schiffe mit 2500 Myrmidonen.23
Im Film wird das Gesamtkontingent der Griechen von Odysseus auf 1000 Schiffe und von
Hektor auf 50000 Soldaten beziffert.
Im Mythos verfügen die Griechen
über eine Streitmacht von 1186
Schiffen und 59300 Soldaten.24
Es werden also etwas größere
und exaktere Zahlen als im Film
genannt.
Im Film verweigert Achill Agamemnon von Anfang an den
Gehorsam (beim Angriff auf
die Thessaler bleibt er im Bett
zurück, beim Angriff auf die
Troianer fährt er per Schiff
voraus).
Im Mythos hat Achill offenbar
stets loyal zu Agamemnon gestanden, bis sich die beiden im
zehnten Kriegsjahr „zum ersten
Mal im Streit entzweiten“.25
Im Film begegnet Achill sogar
den Göttern ohne Respekt:
Er enthauptet ihre Statuen,
ermordet ihre Priester, plündert ihre Tempel und prangert
danach ihre Ohnmacht an, derartige Frevel zu verhindern.
Im Mythos respektiert Achill die
Götter.26
Im Film legt Achill beim Wiedereintritt in den Kampf seine alte
Rüstung an.
Im Mythos hat Hektor dem
Patroklos, als er gefallen war,
die alte Rüstung Achills, die er
zur Täuschung trug, entrissen,
und Achill erhält von Thetis eine
neue, die der Schmiedegott Hephaistos für ihn angefertigt hat.27
Hom.
Hom.
Hom.
Hom.
Hom.
Hom.
Il.
Il.
Il.
Il.
Il.
Il.
16, 14 – 16.
16, 168 – 172.
2, 484 – 760.
1, 6.
1, 215 – 218; 24, 157 f. 186 f.
17, 183 – 208; 18, 428 – 19, 23.
Patroklos
9
28
Im Film schickt Achill vor der
Eroberung Troias die Myrmidonen nach Hause. Er selbst
gelangt im Bauch des Troianischen Pferdes in die Stadt,
sucht, während diese in Flammen steht, nach Briseis, findet
sie in den Klauen des Agamemnon, den sie soeben erdolcht
hat, und will sie in Sicherheit
bringen. Auf dem Weg aber
wird er von Paris an der Ferse
verwundet und stirbt, nachdem
er in wahrhaft herzzerreißender
Weise von der Geliebten Abschied genommen hat.
Im Mythos wird Achill schon
vor der Eroberung Troias von
Paris getötet. Daß ihn Paris genau in die Ferse trifft, ist dabei
der Fügung Apolls zu verdanken28
und nicht etwa dem Umstand,
daß Paris wochenlang mit einer Strohpuppe Pfeilschießen
geübt hat, wie der Film es darstellt. (Andere Version des Mythos: Achill wird von Paris und
Deiphobos hinterrücks ermordet,
als er um die Hand der Polyxene
anhalten will).
Im Film ist Patroklos Achills
jüngerer Vetter, ein Jugendlicher voller soldatischer Ideale, der von Achill das Kriegshandwerk lernt. Seine Leistungen auf diesem Gebiet beurteilt
Achill mit den Worten: „Du bist
ein guter Schüler, aber du bist
noch kein Myrmidone!“
Im Mythos ist Patroklos Achills
älterer Ziehbruder29 und Wagenlenker30 – ein erfahrener Mann,
dem Achill auch im Blick auf die
Kampfkraft vertraut. Zwischen
beiden besteht wahrscheinlich
ein päderastisches Verhältnis,
das der Film aber deswegen
ausspart, weil er die BriseisGeschichte in den Mittelpunkt
rücken will – Kommentar eines
Rezensenten: „O Gott, bloß keine
Homosexualität!“31
Im Film möchte Achill Patroklos wegen seiner jugendlichen
Unerfahrenheit nicht mitkämpfen lassen. Daher muß Patroklos, der sich unbedingt als erwachsener Krieger und Retter
der Griechen bewähren will,
Achills Rüstung heimlich entwenden, um an der Schlacht
teilnehmen zu können.
Im Mythos legt Patroklos Achills
Rüstung mit dessen Einwilligung
an, um zugunsten der Griechen
in den Kampf einzugreifen und
deren totalen Untergang zu verhindern.32
Hom. Il. 22, 358 – 360.
Hom. Il. 11, 786; 23, 89 f.
30
Hom. Il. 16, 145 – 154; 17, 75 – 78. 475 – 477.
31
Rezension vom 8. 10. 04 aus München. – Ein päderastisches Verhältnis zwischen Achill
und Patroklos konstatiert bereits Plat. Symp. 179 d 7 – 180 b 5.
32
Hom. Il. 16, 2 – 101.
29
Briseis
10
33
Im Film ist Briseis eine Hauptfigur, die handelnd und redend
Profil gewinnt. Die Liebe zwischen ihr und Achill wird breit
ausgemalt.
Im Mythos ist Briseis kaum mehr
als der Auslöser der Handlung.33
Die Liebe zwischen ihr und Achill
wird knapp angedeutet.34
Im Film ist Briseis eine Cousine von Paris und Hektor. Sie
stammt unmittelbar aus der
Stadt Troia. Als keusche Apollonpriesterin sucht sie, während
diese erobert wird, Schutz am
Altar ihres Gottes, wo sich jedoch Agamemnon in der Rolle
eines widerlichen Lustgreises
über sie hermacht, bis sie ihn
schließlich aus Notwehr ersticht.
Im Mythos hat Briseis keine verwandtschaftlichen Beziehungen
zum Troianischen Königshaus.
Sie stammt aus der Stadt Lyrnessos in der Umgebung Troias.
Bei der Eroberung dieser Stadt
hat Achill nicht allein ihre Eltern
und Brüder, sondern auch ihren
Ehemann umgebracht. Eine zölibatäre Priesterin war Briseis nie.35
Hom. Il. 1.
„Briseis, die schönhaarige“ (Hom. Il. 2, 689), „Briseis, die schönwangige“ (Hom. Il. 1,
184. 323. 346; 19, 246; 24, 676), die durch „den zarten Hals und das schöne Antlitz“ (Hom.
Il. 19, 285) die Blicke der Männer auf sich zieht, ist nicht nur allgemein „Göttinnen ähnlich“ (Hom. Il. 19, 286), sondern „gleichend der goldenen Aphrodite“ (Hom. Il. 19, 282).
Achill wählt sie deshalb als Beutefrau aus, nachdem er ihre Heimatstadt zerstört und ihre
Verwandten getötet hat (Hom. Il. 2, 688 – 694; 19, 60. 282 – 302). In ihrem Kummer wird
sie von Patroklos freundlich aufgenommen (ebd.), und auch Achill faßt mit der Zeit wohl
echte Zuneigung zu ihr: „Lieben allein denn ihre Gattinnen von den sterblichen Menschen
die Atreus-Söhne? Wo doch jeder gute und verständige Mann die Seine lieb hat und für
sie sorgt, so wie auch ich diese von Herzen lieb hatte, war sie auch eine Speergefangene“
(Hom. Il. 9, 340 – 343). Da sie diese Zuneigung vermutlich auch erwidert, läßt sich Briseis
nicht gern an Agamemnon überstellen (Hom. Il. 1, 348), der immerhin so anständig ist,
sie nicht anzurühren (Hom. Il. 9, 128 – 134; 19, 261 – 263) und zuletzt auch zurückzugeben
(Hom. Il. 19, 245 f.). Danach trauert sie mit Achill um Patroklos (Hom. Il. 19, 282 – 302)
und schläft so lange nicht mit ihm (Hom. Il. 24, 128 – 132), bis er seinen Seelenfrieden
wiedergefunden hat (Hom. Il. 24, 675 f.).
35
Hom. Il. 2, 688 – 694; 19, 282 – 302.
34
11
Kassandra
Eine engstens (nämlich als
Schwester) mit Paris und Hektor verwandte, aus Troia selbst
stammende, ehelose Apollonpriesterin, die beim Untergang
Troias, obwohl sie am Altar der
Athene Zuflucht gesucht hat,
schändlich mißbraucht wird,
ist hingegen Kassandra. Kassandra und ihr Vergewaltiger
Aias kommen im Film allerdings
nicht vor (der Film zeigt nur Aias,
den Sohn des Telamon, während
es hier um Aias, den Sohn des
Oileus, geht). Anscheinend hat
Petersen ihre Gestalten mit denen des Agamemnon und der
Briseis verschmolzen.
Im Mythos stirbt Achill vor Aias,
und Aias trägt den Leichnam des
Freundes vom Schlachtfeld, während Odysseus die Feinde, die
dies zu verhindern suchen, in
Schach hält. Der anschließende
Streit zwischen Aias und Odysseus um die Waffen Achills wird
von den anderen Heerführern zugunsten des Odysseus entschieden, woraufhin Aias dem Wahnsinn verfällt und eine Schafherde niedermetzelt in der Meinung,
dies seien die Personen, die ihm
Unrecht angetan hätten.36
Im Film wird der telamonische
Aias von Hektor im Zweikampf
getötet.
Im Mythos begeht Aias Selbstmord – als er wieder zur Besinnung kommt, stürzt er sich aus
Scham über seine Verblendung
in ein Schwert, das ihm Hektor
nach einem dramatischen Zweikampf, in dem keiner von beiden
den Sieg erlangt hatte, geschenkt
hat.37
Aias
Im Film stirbt Aias (der Sohn
des Telamon) vor Achill.
36
37
Hom. Od. 11, 541 – 567.
Hom. Il. 7, 17 – 312, bes.
206 – 312
(Duell),
303 f.
(Schwertübergabe).
Das Troianische Pferd
12
Im Film steht das Troianische
Pferd am Strand neben den Leichen mehrerer Griechen, die
von den Troianern aufgrund ihrer schwarzen Hautflecken als
Pesttote identifiziert werden.
Woher die Pest auf einmal kam,
wie sie sich unter den Griechen
ausbreitete und bekämpft wurde und vor allem: welche psychologischen Folgen sie ggf.
hatte, bleibt im Dunkeln.
Im Mythos finden die Troianer
beim Pferd38 nur den gänzlich
gesunden Griechen Sinon vor,
der sie mit einem Lügenmärchen
dazu veranlaßt, das Pferd in die
Stadt zu ziehen. Die Pest39 hat
mit dem Pferd auch nicht das
mindeste zu tun. Durch sie bestraft vielmehr Apollon die Griechen, weil Agamemnon [!] seinen (im Film gar nicht auftretenden) Priester Chryses entehrt hat.
Im Film deutet der Troianische
Oberpriester die Pest als Rache
Apolls für die Schändung seines
Tempels durch Achill [!] und
schlägt vor, das Pferd in den
Tempel des Poseidon [!] zu
bringen. Paris warnt dagegen
vergeblich: „Vater, verbrenne
es!“
Im Mythos warnt gerade der
Priester Laokoon vor der Aufnahme des Pferdes in die Stadt, und
das Pferd wird von den Troianern
der Athene [!] geweiht.
Derartige Beobachtungen lassen sich zu dem Befund zusammenfassen:
„Nein, nein und nochmals nein – an diesem Film ist einfach alles falsch!“40
Die Mehrheit der Rezensenten reagiert auf diesen Befund mit heftigen
Emotionen. Bei ihr findet sich die ganze Skala negativer Gefühle von der
Enttäuschung bis zur Empörung: „Der Film ist echt enttäuschend, da er
sich von der Ilias zu sehr entfernt hat.“ – „Glaubt denn Herr Petersen, keiner hat Homers Ilias gelesen? Wenn das, was er den Zuschauern präsentiert, unter künstlerische Freiheit fällt, möchte ich keine Verfilmung eines
geschichtlichen Epos mehr sehen.“ – „Ich frage mich, wo ist die Geschichte geblieben? Haben Petersen und sein Drehbuchautor die Ilias überhaupt
gelesen?“ – „Ich frage mich, was Wolfgang Petersen gelesen hat, bestimmt nicht die Ilias. Dieser Film ist ein wüstes Durcheinander von Namen aus der Ilias, hat aber [im Grunde] mit dem Epos von Homer nichts
gemein. Der Film ist vielleicht ein Highlight für Actionfans, für Kenner der
griechischen Mythologie ist er eine Zumutung!“ – „Alle Freunde der griechischen Mythologie [...] müssen bei diesem Film die Hände über dem
Kopf zusammenschlagen!“ – „Homer würde sich im Grab umdrehen, wenn
er wüßte, was Hollywood aus der Ilias gemacht hat!“41
38
Hom. Od. 4, 271 – 289; 8, 492 – 520.
Hom. Il. 1, 8 – 101.
40
Rezension vom 29. 6. 04 aus Bombay.
41
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 8. 10. 04 aus [?]; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen; vom 28. 9. 04 aus Kuchen; vom 19. 5. 04 aus München; vom 19. 5. 04 aus
Obernburg 2; vom 19. 9. 04 aus Wuppertal.
39
13
Sogar ein etwas zurückhaltenderer Kritiker kommt nicht umhin festzustellen: „[Troia ist] ein guter, aber gemessen an der historischen Vorlage [...]
kein sehr guter Film, der [...] nur teilweise an die Originallegende von
Troia in Homers Ilias heranreicht. Das ist einer der Klassiker schlechthin,
an dem man sich leicht die Finger verbrennen kann. Wolfgang Petersen
hat einen sehenswerten Film produziert, aber konnte nicht vermeiden,
sich dabei einige unangenehme Brandblasen zu holen. Er wird weder dem
Mythos selbst noch dem historischen Kern vollständig gerecht.“42
Diese Kritik erscheint nun allerdings den Verehrern Petersens beckmesserisch. Sie nehmen seinen Film mit vier Argumenten in Schutz:
Erstens sei die Ilias in unverfälschter Form heute keinem mehr zuzumuten: „Natürlich wird nicht die Originalgeschichte von Homer dargestellt
[...]. Da Homer einen Kampf der Götter beschreibt, bei dem die Menschen
nur als tragische und machtlose Marionetten erscheinen,43 wäre das auch
sicher keine gute Idee für ein großes Publikum. Für mich ist der Film ein
gelungener Versuch, darüber zu spekulieren, was die Menschen damals
wirklich motiviert haben könnte, vor Troia zu kämpfen. Über die starke
Verfremdung der Sage (die heutigen Zuschauern kaum zuzumuten gewesen wäre) [...] habe ich gerne hinweggesehen.“44
Zweitens dürfe man den Film nicht an einem Anspruch messen, den er
sich gar nicht gestellt habe: „Es wird Regisseur Wolfgang Petersen vorgeworfen, sich nicht eng genug an die Ilias gehalten zu haben. Das ist Unsinn, denn der Streifen hatte nie den Anspruch, Homers Werk exakt wiederzugeben.“45 Dieses Argument kann sich auf den Abspann des Films berufen, in dem es heißt: „Inspiriert [!] von Homers Ilias.“
Drittens müsse man den Gattungsunterschied zwischen einem Abenteuerfilm und einem Dokumentarfilm beachten: „Ich kann dieses allgemeine
Schlechtmachen dieses Films nicht verstehen. Man sollte nicht vergessen,
daß man es hier mit einem Spielfilm und nicht mit einer Dokumentation zu
tun hat.“ – „Historisch gesehen gibt es auch Fehler, jedoch spielen diese
hier nur eine untergeordnete Rolle, da dies ein Abenteuerfilm ist und keine
realistische Dokumentation.“ – „Ich kann nicht verstehen, wie verschiedene Leute die historische Authentizität als fast ausschließlichen Maßstab zur
Bewertung dieses Filmes anlegen. Denen sei hier gesagt, es gibt ‚Die Legende von Troia‘ von National Geographic, dort seid ihr vermutlich besser
aufgehoben. Wenn ich einen guten Abenteuerfilm sehen will, dann interessieren mich Spannung, Action, eine gute Geschichte (egal, ob 100% wahr
oder nicht), Emotionen und gute schauspielerische Leistungen. All dies ist
in Troia en masse vorhanden, und deshalb ist und bleibt es ein absolut
empfehlenswerter Film.“ – „Wer sich jedoch an jeder kleinen Ungereimtheit stört und im Kino nicht den Film schaut, sondern nur darauf
42
43
44
45
Rezension vom 24. 5. 04 aus Calden.
Diese leider immer noch populäre Meinung widerlegt überzeugend Schmitt (1990).
Rezension vom 16. 10. 04 aus Holzgerlingen.
Rezension vom 18. 10. 04 aus Anklam.
14
erpicht ist, logische Fehler aufzudecken [...], der sollte sich fortan mit
dem Dokumentationsprogramm von Arte oder Phoenix zufrieden geben
und dem Kino auf ewig fern bleiben, denn diese Personen haben gute Unterhaltung auch nicht verdient!“46
Und viertens solle man nicht immer nur denken, sondern einfach auch
einmal fühlen: „Man sollte sich nicht hinsetzen und erwarten, daß alles
wahrheitsgetreu dargestellt ist. Nein, man sollte sich hinsetzen und den
Film auf sich wirken lassen, fern von irgendwelchen Urteilen.“47
In einer Hinsicht wird man diese ‚Kritik der Kritik‘ auch ihrerseits kritisch
bewerten. Vorauszusetzen, daß die künstlerische Freiheit eines Regisseurs
bei einer Literaturverfilmung grenzenlos sei, ist zumindest problematisch.
Und anzunehmen, daß bei einer genaueren Adaption der Ilias ein langweiliger Dokumentarfilm entstanden wäre, heißt, die Ilias gründlich zu verkennen.
In anderer Hinsicht scheinen Petersens Verteidiger mir aber Recht zu haben: Wir Gräzisten sollten seinen Film nicht einfach deshalb verwerfen,
weil er in diesem oder jenem positiven Faktum von der bekannten TroiaGeschichte abweicht. Denn erstens verfielen wir damit dem puren Positivismus und der fanatischen Faktenhuberei. Zweitens verschafften wir uns
zum Schaden unseres Faches den Ruf von erbsenzählenden Besserwissern. Drittens müssen ja gerade wir uns dessen bewußt sein, daß die antiken Schriftsteller selbst die traditionellen Stoffe immer neu variiert, immer
neu für die jeweils eigene Zeit zum Sprechen gebracht haben. Und viertens gibt es noch sehr viel wichtigere, genuin künstlerische Kriterien, nach
denen sich der Wert eines Filmes bemißt, als die rein äußerliche Übereinstimmung mit seinem literarischen Vorbild. Es kann sogar künstlerisch
sinnvoll sein, sich nicht sklavisch genau an das Vorbild zu halten, wie im
nächsten Kapitel gezeigt werden wird.
2.2. Die Kulissen und Kostüme aus archäologischer Sicht
Auch die Frage nach der Übereinstimmung des Films mit den archäologischen Fakten wird, wie mir scheint, nicht ganz selten gestellt. Sie betrifft
sowohl die Kulissen als auch die Kostüme.
Hinsichtlich der Kulissen fällt das Urteil der Rezensenten eindeutig positiv
aus. Nur eine kleine Minderheit gibt zu Protokoll: „Die Kulissen sind nichts
Besonderes, wenn auch sicherlich viel Aufwand notwendig war.“ Eine gro-
46
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 12. 10. 04 aus Konstanz; vom 19. 5. 04 aus
Duisburg; vom 1. 10. 04 aus Stuttgart; vom 20. 9. 04 aus Niedersachsen.
47
Rezension vom [?] aus [?].
15
ße Mehrheit beurteilt die Kulissen hingegen als „toll“; man empfindet sie
nicht nur als ‚schön‘, sondern auch als ‚authentisch‘.48
Authentisch wären sie allerdings nur dann, wenn sie der Wirklichkeit derjenigen Zeit entsprächen, in die nach den neuesten Erkenntnissen der von
Homer beschriebene Untergang Troias datiert werden muß.49 Das ist die
Zeit um 1190 / 1180 v. Chr., in der die Troianische Hochkultur der Späten
Bronzezeit, das so genannte Troia VI a – i50 (ca. 1740 – 1190 / 1180 v.
Chr.51), sehr wahrscheinlich durch einen Krieg dem Erdboden gleichgemacht wurde.52 Von der Wirklichkeit dieser Zeit kann sich dank zahlreicher
Publikationen auch der Laie ein anschauliches Bild machen.53
48
In dieser Reihenfolge: Rezension vom 17. 5. 04 aus Wiesbaden; Rezensionen vom 21.
5. 04 aus Königswinter; vom 28. 5. 04 aus Klagenfurt; vom 22. 5. 04 aus Mühlheim.
49
Daß die Ilias einen historischen Kern hat, wird von dem Althistoriker Frank Kolb, dem
Klassischen Archäologen Dieter Hertel und dem Gräzisten Wolfgang Kullmann zwar heftig
bestritten. Diese Forscher vertreten jedoch nur eine Minderheitsmeinung. Die communis
opinio folgt dem Homerspezialisten Joachim Latacz, der auch mich überzeugende Gründe
dafür vorgetragen hat – v.a. in Latacz (2001) und Latacz (2003 b) –, daß es ‚den‘ Troianischen Krieg, in dem die Troianer durch mykenische Achaier besiegt wurden, tatsächlich
gab (um 1190 / 1180 v. Chr.) und daß die Erinnerung an ihn so lange durch mündliche
Heldendichtung bewahrt wurde, bis Homer sie in der Ilias in schriftliche Form goß (um
730 v. Chr.). Manfred Korfmann, der Spezialist für die Archäologie der Frühen Bronzezeit,
der seit 17 Jahren die Grabung in Troia leitet, will sich in philologischen Fragen nicht eindeutig festlegen. Seiner Meinung nach sprechen die archäologischen Befunde aber zumindest nicht gegen Latacz; vgl. Korfmann (2004) S. 13: „Diese Homerforscher waren
offenbar mehrheitlich von einem ‚historischen Kern‘ überzeugt. Eine solche Möglichkeit
halte ich selbstverständlich offen.“
50
Nach der überzeugenden Argumentation von Korfmann (2003) S. 31 sollte die von
Schliemann irrtümlich Troia VII a genannte Siedlungsschicht korrekt als Troia VI i bezeichnet werden. Zur Erläuterung: Auf dem Burgberg von Troia liegen insgesamt zehn
kulturell unterscheidbare Städte (durch römische Ziffern bezeichnet) mit insgesamt über
fünfzig Bauphasen (durch Minuskeln bezeichnet) wie die Schichten einer Torte übereinander; vgl. Korfmann (2001 a) S. 347. Über die kulturellen Unterschiede der zehn Städte
informieren ausführlich Brandau / Schickert / Jablonka (2004); zusammenfassend Siebler
(1990) S. 220 – 237 und Korfmann (2001 a).
51
Die Chronologie der fünfzig Siedlungsschichten ist inzwischen auch durch naturwissenschaftliche Methoden so weit gesichert, daß keine gravierenden Änderungen mehr zu
erwarten sind; vgl. Korfmann (2003) S. 19. Die Daten für Troia VI entnehme ich dem
Chronologieschema vom November 2003; vgl. ebd., S. 33.
52
Nach Korfmann (2003) S. 33 wurde Troia VI h um 1300 v. Chr. durch eine Brandkatastrophe oder ein Erdbeben, Troia VI i um 1190 / 1180 v. Chr. durch eine Brandkatastrophe oder einen verlorenen Krieg zerstört; vgl. ebd. S. 36 f.: „Alles das endet um 1190 /
1180 v.u.Z. in einer Katastrophe mit Bränden und Toten. Es gibt in der Tat Anzeichen dafür, daß es ein kriegerisches Ereignis war, und zwar ein verlorener Krieg. Dafür sprechen
nicht nur der Brand und die Skelettfunde und die flüchtige Bestattung einer Toten, sondern auch die Haufen von Schleudergeschossen, die man achtlos hat liegen lassen. So
verhält sich nur ein Sieger, den in einer eroberten Stadt andere Dinge als Schleudersteine interessieren. Wäre Troia oder Wilusa erfolgreich verteidigt worden, hätte man derartige Haufen schon kurz nach der Katastrophe abgetragen.“
53
Vgl. z.B. Korfmann / Mannsperger (1998) S. 38 – 41; Knossos und Troia; Troia – 130
Jahre nach Grabungsbeginn; Troia – 3000 Jahre Geschichte im Modell; Luce (2000);
Korfmann (2001 a) S. 348 – 352; Korfmann (2001 c); Korfmann (2003) S. 29 – 38;
Brandau / Schickert / Jablonka (2004) S. 50 – 111; Das antike Troia.
16
Petersen – bzw. sein Szenenbildner Nigel Phelps – setzt aber vielfach eine
ganz andere Realität ins Bild. Er tut dies nicht, weil die archäologisch verbürgten Tatsachen ihm egal gewesen wären. Ganz im Gegenteil: Es war
dem Regisseur „wichtig, daß der Film authentisch war, so authentisch wie
nur möglich.“54
So trägt er z.B. der Tatsache Rechnung, daß es in Troia VI eine 5 m dicke
und mindestens 8 m hohe, geböschte Steinmauer mit sägezahnartigen
Rücksprüngen und einem senkrechten, ebenfalls mehrere Meter hohen
Lehmziegelaufbau gab55 – auch im Film sieht man solch eine hohe, geböschte Mauer.56 Doch im Film umschließt diese Mauer das ganze Stadtgebiet. In Troia VI dagegen grenzte sie die Burg mit den Palästen von der
umliegenden, etwa fünfmal so großen Unterstadt ab, die ihrerseits durch
einen palisadengesäumten Verteidigungsgraben geschützt war.57
Im allgemeinen orientiert er sich also durchaus an der historischen Wirklichkeit, nur im einzelnen weicht er ganz offenbar von ihr ab.58 Warum er
das tut, läßt sich zeigen, indem man drei weitere Beispiele analysiert:
Erstens: Im Film sieht man etwa am Marktplatz von Troia kegelstumpfartige Steinsäulen.59 Deren Schaft besteht aus vier glatten, runden, sich
nach unten verjüngenden Trommeln, die hellbeige getönt sind, so daß sich
die Basis und das Kapitell, ein ebenfalls glatter, runder Wulst unter einer
quadratischen Deckplatte, mit ihrer braunen, schwarzen und weißen Fassung sehr schön davon abheben. Solche Säulen sind jedoch nicht aus troianischen, sondern aus minoischen Palästen bekannt, und zwar besonders
aus dem Palast von Knossos auf Kreta.60 Auch die berühmte Reliefdarstellung einer derartigen Säule am Löwentor von Mykene ist minoisch
54
Aussage von Nigel Phelps auf der Ergänzungs-DVD zu Troia. Petersen selbst ergänzt
ebd.: „Sie recherchierten in allen möglichen Büchern und Forschungsmaterialien des Britischen Museums. Es war faszinierend, was sie da entdeckten.“
55
So Korfmann (2001 a) S. 348 f.; Korfmann (2003) S. 29. – Vgl. auch die Abbildungen
bei Korfmann / Mannsperger (1998) S. 34. 45; Korfmann (2001 a) S. 350; Korfmann
(2001 c) S. 395. 397; Brandau / Schickert / Jablonka (2004) S. 66 f.
56
Diese Mauer wurde kurz vor Ende der Dreharbeiten durch einen Hurrikan zerstört. Man
kam nicht umhin, sie in wochenlanger Arbeit wieder aufzubauen, da vor ihr der Zweikampf zwischen Achill und Hektor stattfinden mußte – als Höhepunkt des Films die einzige Szene, die bis dahin noch nicht gedreht worden war.
57
Vgl. Korfmann (2001 a) S. 348 f. und – diese früheren Angaben z.T. revidierend –
Korfmann (2003) S. 29. In der Debatte um die Existenz der troianischen Unterstadt, die
hier nicht dokumentiert werden kann, hat Korfmann m.E. alle Argumente für sich.
58
Vgl. die Aussage des Drehbuchautors David Benioff auf der Ergänzungs-DVD zu Troia:
„Das meiste haben sich die Designer ausgedacht. Sie mußten das Überlieferte mit Phantasie verbinden.“ Nigel Phelps bestätigt ebd.: „Wir mußten unsere eigene Sprache für die
Kunst der Stadt erfinden.“ Phelps nennt als wichtigste Abweichung von der historischen
Wirklichkeit die Vergrößerung der Maßstäbe, für die er sich an ägyptischen Bauwerken
orientiert habe, denn: „Um so einen epischen Film zu machen, braucht man epische Proportionen.“
59
Nigel Phelps erklärt auf der Ergänzungs-DVD zu Troia: „Wir hatten über 115 Säulen,
wohl an die 20 verschiedene Typen.“ Von diesen 20 vertreten die Säulen am Markt nur
einen Typ.
60
Abbildungen in: Marinatos (1986) Abb. 35 – 39.
17
beeinflußt.61 In Troia scheint es dagegen überhaupt keine Steinsäulen gegeben zu haben. Stattdessen benutzte man vermutlich Baumstämme, die
bündig auf Steinbasen aufgesetzt wurden.62
Den troianischen Säulentyp können sich nun freilich die wenigsten Zuschauer vorstellen. Eine kretische Säule haben hingegen die meisten
schon einmal gesehen (z.B. im Urlaub). Säulen, die denen von Kreta ähneln, werden also die meisten sofort mit den ‚alten Griechen‘ verbinden.
Zweitens: Im Film sieht man innerhalb Troias außer den Bauwerken auch
viele Bildwerke. Vielerorts erblickt man z.B. Statuen, die dem Typ eines
Kuros63 entsprechen. Ein Kuros steht aufrecht in Schrittstellung, ohne sein
Gewicht auf den vorderen Fuß zu verlagern; seine Arme liegen seitlich am
Körper an, so daß die Fäuste die Oberschenkel berühren; die Muskeln,
Haare und Gesichtszüge wirken stark stilisiert, jene letzteren insbesondere
durch das bekannte ‚archaische Lächeln‘. Zu datieren sind solche Kuroi
denn auch in die Hoch- bzw. Spätarchaik (ca. 600 – 490 v. Chr.). – Anderswo entdeckt man eine Skulptur des Apoll, die in ihrer knienden Haltung eindeutig an die Bogenschützen Paris64 und Herakles65 aus der Gruppe der Aigineten in der Münchener Glyptothek erinnert. Die berühmten
Giebelfiguren vom Tempel der Aphaia auf Aigina, die schon ungleich mehr
Dynamik als die Kuroi entfalten, gehören in die Frühklassik (ca. 480 v.
Chr.). – Wiederum woanders erkennt man den sogenannten Zeus vom
Kap Artemision.66 Diese weltberühmte Plastik, entstanden am Anfang der
Klassik (ca. 460 v. Chr.), zeigt den Gott als ernsthaften, bärtigen Mann in
der perfekt austarierten Bewegung eines kraftvollen Speerwerfers: Der
athletische Körper vollzieht eine Vierteldrehung nach rechts. Der rechte
Arm, dessen Hand den (verlorenen) Blitz umfaßte, holt nach hinten zu einem kraftvollen Wurf aus und ist dabei leicht angewinkelt, der linke Arm
ist waagerecht nach vorn gestreckt, um das Ziel anzupeilen. Die kraftvollen Beine bilden ein harmonisches Gegengewicht zu den Armen, sofern
das rechte in seitlicher Drehung gerade nach hinten gestreckt, das linke
aber leicht angewinkelt nach vorne gerichtet ist. Die Replik dieser ungemein eleganten Statue sieht leider vergleichsweise dicklich aus; sie verbindet die dynamische Armhaltung des Zeus vom Kap Artemision mit der
steifen Körperhaltung eines Kuros (die Beine stehen parallel nebeneinander, der Rumpf ist nicht gedreht); und zu allem Überfluß trägt sie nicht
61
Abbildungen in: Marinatos (1986) Abb. 163; Stierlin (2001) S. 24 f.
Diese Vermutung von Manfred Korfmann trägt der Tatsache Rechnung, daß sich zwar
behauene Steine fanden, die als Säulenbasen, aber keine, die als Säulentrommeln gedeutet werden konnten.
63
Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 11 – 13. 32 – 36. 53 – 57; Boardman / Dörig /
Fuchs / Hirmer (1977) Abb. 79 f. 83. 108 f. 117; Hampe / Simon (1980) Abb. 454 – 460.
465 – 469; Boardman (1997) Abb. 39 – 43; Hölscher (2002) S. 185.
64
Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 73 [mit problematischer Ergänzung der Mütze];
Boardman / Dörig / Fuchs / Hirmer (1977) Abb. 150 [dito]; Brinkmann (2003) S. 17. 45.
65
Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 82 f.; Boardman / Dörig / Fuchs / Hirmer (1977)
Abb. 151; Boardman (1997) Abb. 38 A.
66
Abbildungen in: Lullies (1956) Abb. 128 – 131; Simon (1980) S. 86 – 88; Boardman /
Dörig / Fuchs / Hirmer (1977) Abb. 158 f. und Taf. XXVIII; Boardman (1997) Abb. 86. –
Die Deutung der Statue als Poseidon ist inzwischen überholt.
62
18
nur zwei martialische Blitze in der Hand, sondern auch noch ein züchtiges
Tüchlein vor der Scham. – Als Kulissen ein und desselben Handlungszusammenhangs benutzt Petersen also Bildwerke unterschiedlicher Epochen. Hinzu kommt, daß die handelnden Personen knapp 2000 Jahre vor
diesen Epochen lebten und ganz andere kultische Gepflogenheiten hatten,
als es die Bildwerke annehmen lassen. So verehrten die Bewohner von
Troia VI als Verkörperungen des Gottes Apollon (Apaliunas) womöglich
rechteckige Steinstelen aus Muschelkalk, die auf Märkten, an Toren und
Kreuzungen aufgestellt wurden und dort z.T. heute noch stehen.67
Solche Steinstelen könnte nun aber kaum ein Kinobesucher als Kultgegenstände erkennen. Götterbilder im Stil der griechischen Archaik und
Klassik kennt hingegen fast jeder (und sei es nur aus dem Schaufenster
seines Optikers). Solche Götterbilder wird daher fast jeder mit der griechischen Antike assoziieren.
Drittens: Im Film sieht man eine anonyme Troianerin, die einen kostbaren
Kopfschmuck trägt. Er besteht aus unzähligen kleinen, durch Ringlein verbundenen Goldplättchen, die in der Form eines rechteckig ausgeschnittenen Ponys an einem Stirnband befestigt sind. Damit ähnelt er stark einem
Kopfschmuck, den auf einem berühmten, um 1875 entstandenen Photo
Sophia Schliemann zur Schau stellt68 – also einem der beiden Golddiademe69 aus dem faszinierenden Schatz, den Heinrich Schliemann 1873 in
Troia gefunden, nach seinem damaligen Wissensstand auf etwa 1200 v.
Chr. datiert und begeistert als ‚Schatz des Priamos‘ apostrophiert hatte.
Dieser Schatz (zur Unterscheidung von über zwanzig in Troia gefundenen
Schätzen70 wird er wissenschaftlich ‚Schatz A‘ genannt) wurde jedoch
nach neueren Erkenntnissen nicht erst um 1200 v. Chr., sondern schon
1300 Jahre vorher an seinem späteren Fundort vergraben.71 Laut Manfred
Korfmann, der nicht nur den Fundort, sondern auch die inzwischen in Moskau gehorteten72 Fundstücke analysiert hat, gehört er nicht ans Ende der
Späten Bronzezeit (Troia VI), sondern in die Mitte der Frühen Bronzezeit
67
Photos, Rekonstruktionen und einführende Erläuterung in: Brandau / Schickert /
Jablonka (2004) S. 58 – 60; wissenschaftliche Begründung in: Korfmann (1998).
68
Abbildungen in: Der Schatz aus Troia, S. 11; Troia – Traum und Wirklichkeit, S. 460.
69
Historische Photos in: Siebler (1990) Abb. 38 oben Mitte und Taf. 26; Korfmann /
Mannsperger (1998) Abb. 93 oben Mitte. – Moderne Photos in: Korfmann (2001 b) S.
374 oben links; Der Schatz aus Troia, S. 24 oben links und S. 38 – 41.
70
Korfmann (2003) S. 25.
71
Der Schatz wurde vermutlich in der rechten (südlichen) Torwange der alten Toranlage
FL gefunden, in die er eingebracht worden sein könnte, um ihn als Bauopfer darzubringen
oder vor Diebstahl zu schützen: Korfmann (2001 b) S. 378 f.
72
Der Schatz gehört zu den Beständen des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, die 1941 zum Schutz vor Bombenangriffen in den Flakturm am Zoo gebracht wurden
und 1945 auf mysteriöse Weise von dort verschwanden. Bis 1993 galt er als verschollen.
Von den Versuchen, ihn wiederzufinden, erzählt überaus spannend der Film „Altes Gold
und neue Mythen“ auf der DVD „Troia – Schlachtfeld der Mythen“, der offenbar kurz vor
dem Zeitpunkt gedreht wurde, an dem das Moskauer Puschkin-Museum zugeben mußte,
den Schatz seit fast 50 Jahren in einem Geheimraum versteckt zu haben. – Ebenfalls
sehr fesselnd wird die Odyssee des Schatzes geschildert von Siebler (2001) S. 78 – 86.
19
(Troia II) und ist „wohl in die Zeit um 2500 v. Chr. oder auch etwas davor
zu datieren.“73
Da er aber als ‚Schatz des Priamos‘ zu Weltruhm gekommen ist, werden
wohl alle Kinobesucher, denen die Troianerin auffällt, deren Kopfputz mit
dem homerischen Troia verbinden.
Fazit: Daß die Kulissen auf diejenigen Kinobesucher, die keine archäologischen Spezialkenntnisse haben, authentisch wirken, ist eben deshalb
kein Zufall, weil sie in ganz bestimmter Hinsicht nicht authentisch sind.
Daraus schließe ich: Offenbar geht es Petersen erst in zweiter Linie um
historische Authentizität. In erster Linie will er erreichen, daß sich möglichst viele Zuschauer in die griechische Antike zurückversetzen können.
Deshalb zeigt er Bilder, die möglichst viele Zuschauer mit den ‚alten Griechen‘ assoziieren, wie die Säulen von Kreta, die Statuen von Aigina und
den Schatz aus Troia II. In diesen Bildern konzentriert sich unsere Vorstellung vom antiken Griechenland, sie sind Teile unseres kollektiven Gedächtnisses, während die Kultur von Troia VI, die im übrigen ja auch nicht
griechisch, sondern hethitisch beeinflußt war, erst allmählich in unser Bewußtsein dringt. Da Petersen, wie schon einmal erwähnt, keinen Dokumentarfilm, sondern einen ‚Straßenfeger‘ (‚Blockbuster‘) auszustatten hatte, erscheint mir dieses Vorgehen legitim.
Wer Petersen dafür kritisiert, sollte vielleicht auch einen Hinweis bedenken, den Korfmann mir kürzlich gesprächsweise gab: Wenn man sich eine
Tragödie des Euripides im Theater anschaue, stelle man sich doch auch
nicht die Frage, ob es im antiken Athen bereits Plüschsessel gab. Warum
aber solle man einem Filmregisseur nicht genauso viel künstlerische Freiheit einräumen wie einem Theaterregisseur?
2.3. Die Hintergrundmusik und die akustischen Spezialeffekte
Im Bezug auf die Musik und die Geräuschkulisse, auf denen die akustische
Wirkung von Troia beruht, hat die Frage nach der Authentizität von vornherein keinen Sinn.
Denn es gab zwar zum Zeitpunkt der Handlung74 bereits Musik. Es gab
professionelle Sänger (Aoiden), die an Königshöfen lebten und die Könige
etwa nach Tisch unterhielten, indem sie zu einem von ihnen genannten
Thema aus dem Stegreif ein hexametrisches, raffiniert mit Formeln durchsetztes Heldenlied (Epos) verfaßten und vortrugen, wobei sie sich selber
auf einer viersaitigen Leier (Phorminx) begleiteten.75 Den Schlußstrich unter diese jahrhundertealte Tradition der Mündlichen Dichtung (Oral
73
74
75
Korfmann (2001 b) S. 380.
Ca. 1190 / 1180 v. Chr.: Zerstörung Troias.
Abbildung in: Siebler (1990) Abb. 22.
20
Poetry)76 zog erst Homer, der, kurz nachdem die Griechen von den Phöniziern das Alphabet übernommen hatten,77 seine Lieder erstmals schriftlich
komponierte.78 Auch Homer aber läßt noch die frühere Praxis erkennen.
Denn in der Odyssee lokalisiert er angesehene Aoiden an den Höfen der
Könige Odysseus, Menelaos, Agamemnon und Alkinoos.79 Und in der Ilias
schreibt er über den König Achilleus: „[Sie fanden ihn,] wie er seinen Sinn
erfreute mit der hellstimmigen Leier, der schönen, kunstreichen, und ein
silberner Steg war auf ihr. [...] Mit dieser erfreute er seinen Mut und sang
die Rühme der Männer.“80
Dieser Song aber wäre kein Soundtrack für einen Sandalenfilm. (Wer sich
nicht vorstellen kann, wie die Kinobesucher auf sorgfältig rekonstruierte
antike Musik reagieren würden, möge einer Mittelstufenklasse die CD „Musique de la Grèce antique“81 vorspielen!)
Als James Horner den Soundtrack zu Troia verfaßte, stand er also vor der
Aufgabe, dem antiken Stoff mit modernen Mitteln gerecht zu werden. Wie
hat er diese Aufgabe bewältigt? Die Hofgeismarer Musiklehrerin Barbara
Menzel hat sein Werk auf meine Bitte hin analysiert.82 Sie schreibt:
„Die Musik zum Film Troia erschließt sich nicht gleich beim ersten Hören.
Erst bei genauerer Analyse erkennt man einige wiederkehrende Sequenzen, die man bestimmten Situationen oder Gedanken zuordnen kann. Diese Sequenzen möchte ich hier – obwohl sie im engeren Sinn keine Themen oder Motive sind – dennoch behelfsweise so nennen.
Der Film beginnt mit einer von einer einzelnen Frauenstimme gesungenen
Melodie, die eine klare rhythmische Struktur besitzt, sporadisch von kurzen Trommeleinwürfen begleitet wird und den Eindruck einer Improvisation erweckt. Da sie nicht in unser bestehendes mitteleuropäisches Tonsystem paßt, läßt sie sich nur schwer beschreiben. Sie erinnert an türkische oder asiatische Melodien mit Vierteltönen und einem geringen Tonumfang. Diese Melodie tritt im weiteren Verlauf des Films, besonders in
der zweiten Hälfte, immer in Verbindung mit dem Todesgedanken auf. Daher möchte ich sie als das ‚Todesthema‘ bezeichnen.
Der Film endet dagegen mit dem ‚Liebesthema’, einem Song, der jedesmal
dann erklingt, wenn abstrakt von der Liebe geredet oder die Liebe zweier
Personen konkret vor Augen geführt wird.
76
Vgl. die gelungene Darstellung dieser Tradition bei Schmitz (2002) S. 111 – 125.
Ca. 800 v. Chr.: Übernahme des Alphabets durch die Griechen.
78
Ca. 730 v. Chr.: Entstehung der Ilias; ca. 700 v. Chr.: Entstehung der Odyssee.
79
Vgl. Hom. Od. 1, 150 – 155. 325 – 364; 17, 260 – 263; 22, 329 – 380 (der Sänger Phemios
am Hof des Odysseus auf Ithaka); Hom. Od. 4, 15 – 19 (ein Sänger am Hof des Menelaos
in Sparta); Hom. Od. 3, 267 f. (ein Sänger am Hof des Agamemnon in Mykene); Hom. Od.
8, 43 – 47. 62 – 82 (der Sänger Demodokos am Hof des Alkinoos auf Scheria). Weitere Belege verzeichnet Autenrieth / Kaegi (1999) s.v. aeido, aoide, aoidos.
80
Hom. Il. 9, 186 – 189.
81
Nähere Angaben im Literaturverzeichnis.
82
Frau Menzel sei hiermit nochmals herzlich gedankt!
77
21
Außer diesen beiden ‚Themen‘ gibt es noch mehrere kleinere ‚Motive‘, die
entweder mit den ‚Themen‘ im Zusammenhang stehen oder von ihnen unabhängig sind:
Ein langgezogener, tiefer Streicherton markiert eine Bedrohung.
Trommelschläge ertönen im Vorfeld von Kämpfen. Sie kommen in zwei
Varianten vor. Die erste Variante bilden gleichmäßig aufeinander folgende
Schläge, die an das Pulsieren des Herzens erinnern. Durch die langsame
Steigerung des Tempos wird dabei die Spannung vor der Schlacht dargestellt. Die zweite Variante bilden drei bis fünf kurze, schnell aufeinander
folgende Schläge mit anschließender Pause. Sie erinnern an das Aufstampfen der Speere zum Zeichen der Kampfbereitschaft.
Ein kurzes Trompetensignal begleitet sowohl das Anrücken und Aufstellen
der Heere als auch die darauf folgenden Kampfhandlungen.
Etwas länger und melodiöser ist ein anderes Blechbläsermotiv, das ähnlich
wie eine Fanfare klingt und als ‚Siegesmotiv der Troianer‘ angesprochen
werden könnte. Es ertönt zum ersten Mal, als Paris mit Helena in Troia
einzieht, und zum zweiten Mal, als die Troianer aus der Schlacht, die auf
den Zweikampf zwischen Paris und Menelaos folgt, siegreich hervorgehen.
Insgesamt fällt auf, daß Musik im Film Troia allgegenwärtig ist, zwar meist
im Hintergrund und nahezu verdeckt durch Dialoge, aber immer wieder
hervortretend und durch stilistische Wechsel neue Szenen vorbereitend
oder untermalend.“
Die Musik ist also, wie es scheint, durchaus durchdacht gemacht. Den Geschmack der meisten Zuhörer trifft sie dennoch nicht:
Während eine Minderheit der Zuhörer von „mitreißender Musik“ schwärmt
und den „tollen Soundtrack“ als „sehr gelungen“ beurteilt, da er „eine äußerst beklemmende Atmosphäre aufbauen konnte“, bewertet die Mehrheit
den Soundtrack als „durchschnittlich bis schlecht“, als langweilig, als nervtötend, ja sogar als eine „Zumutung“. Ein besonders mißfälliger Kritiker
charakterisiert das Werk von „James-ich-habe-schon-Besseres-komponiertHorner“ durch den Ausdruck „pseudo-griechische Jammergesänge.“ Ein
zweiter räumt ein: „Eine authentische musikalische Untermalung ist hier
sicherlich wichtig, allerdings kommt einem nach ungelogen sechs Minuten
leiernden Gesanges die Freude an dieser Kunst abhanden.“ Und ein dritter
gesteht: „Was habe ich mich im Kinosessel gewunden, als stundenlang
dieses Frauengeheule aus den Boxen dröhnte, das war eine Qual!“83
83
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 15. 5. 04 aus Augsburg; vom 14. 5. 04 aus
Recklinghausen; vom 17. 9. 04 aus Stuttgart; vom 17. 9. 04 aus Stuttgart; vom 16. 5.
04 aus Berlin; vom 2. 6. 04 aus Bayern; vom 6. 7. 04 aus Pforzheim; vom 1. 9. 04 aus
Rosenheim; vom [?] aus [?]; vom 4. 8. 04 aus Deutschland; vom 16. 5. 04 aus Berlin.
22
An der Geräuschkulisse, die ja ebenfalls zur akustischen Wirkung von
Troia beiträgt, sind die Zuhörer schon gleich gar nicht interessiert – vermutlich, weil sie dem Irrtum erliegen, daß die Geräusche durch das
Geschehen, das sie sehen, natürlich verursacht und nicht im Studio
künstlich erzeugt worden seien. Vor diesem Hintergrund übergehe auch
ich das Thema ‚Geräusche‘, verweise jedoch auf die Ergänzungs-DVD zu
Troia, die diverse Bonus-Materialien zugänglich macht und so auch
Aufschluß über die akustischen Spezialeffekte bietet.
2.4. Die Kampfszenen und die optischen Spezialeffekte
Sehr interessiert sind die Zuschauer dagegen an den optischen Spezialeffekten. Diese betreffen vor allem die Simulation einer 1000 Schiffe starken Flotte und eines 70000 Mann starken Heeres mit Hilfe von Computerprogrammen.
Die Fans des Films sparen auch hier nicht mit Superlativen wie „brillant“,
„genial“, „gigantisch“, „grandios“ usw. Ein Kritiker urteilt dagegen: „Die
tausend Schiffe, die die Ägäis in der Ansteuerung auf Troia durchkreuzen,
sind von Petersen eindrucksvoll ins Bild gebracht. Doch man spürt die
Leichtigkeit, mit der sie am Computer aus nur fünf Schiffsmodellen erstellt
wurden – irgendwie eine Verhöhnung der akribischen Differenzierung der
Ilias.“ Und zwei weitere Kritiker meinen: „Auch optisch bleibt der Film hinter den Erwartungen zurück – Schiffe, Soldaten etc. werden einfach bei
jeder Gelegenheit digital hintereinander kopiert, so daß das Schlachtfeld
bis an den Horizont gefüllt ist und damit mehr Mannen kämpfen, als damals vermutlich die Welt bevölkert haben.“ „Unter einem Monumentalfilm
verstehe ich aber mehr als computeranimierte Heere.“84
So problemlos, wie sie scheint, war die Sache aber denn doch nicht. Nick
Davis, der IT-Fachmann, der für die optischen Spezialeffekte verantwortlich war, beschreibt die Schwierigkeiten, die es zu bewältigen galt (ich zitiere die deutsche Fassung der Ergänzungs-DVD):
„Eine der größten Herausforderungen war die Erschaffung einer Flotte. Wir
mußten 1000 Schiffe bauen [...]. Wir nahmen die Pläne der Ausstattungsabteilung und bauten zwei von ihren Schiffen nach und dann fünf oder
sechs Variationen davon. Wir erstellten sie am Computer. Computerarmeen haben gerudert, aber der Hintergrund war echt. Der Ozean ist
immer echt [...]. Wir erarbeiteten ein Aufnahmesystem, bei dem wir
schwimmende Bojen und verschiedene Boote auf dem Ozean treiben ließen, so daß wir sehen konnten, wie wir das drehen wollten. Eine bewegte
Kamera auf einer bewegten Plattform auf einem bewegten Ozean ist ziemlich kompliziert. Aber wir [...] entwickelten Software, durch die wir tolle
84
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 17. 5. 04 aus Hameln; vom 19. 5. 04 aus
Oer-Erkenschwick; vom 1. 6. 04 aus Augsburg; vom 16. 5. 04 aus Weimar; vom 13. 6.
04 aus Bad Nenndorf; vom 24. 5. 04 aus Wien; vom 25. 9. 04 aus Gemünden.
23
Aufnahmen hinbekamen. Und dann konnten wir 1000 Schiffe bauen und
sie per Computer in diese Sequenz einfügen.
Bei dieser Aufnahme hatten wir das Gefühl, daß da zu viele Boote waren.
Alle sagten, daß es zu viele waren. Das stimmt nicht. Es sind weniger als
1000 Schiffe hier. Aber in der Realität [...] ist es einfach unmöglich, 1000
Schiffe aufzunehmen. Auch wenn es 1000 Schiffe gäbe, wären sie über
den Ozean verstreut. Sie segeln zu nah beieinander. Sie nehmen sich gegenseitig den Wind. Also überzeugten wir Wolfgang [Petersen] davon, etwa 60% ’rauszunehmen. Jetzt sieht es besser aus. Selbst 300 oder 400
Schiffe sehen in so einer Aufnahme noch gewaltig aus.“
Noch aufwendiger sei die Generierung der beiden Heere gewesen. Um
gleichzeitig 50000 Griechen und 20000 Troianer ins Bild zu setzen, sei
wiederum eine spezielle Software entwickelt worden. Mit dieser Software
„konnten wir Bewegungen aufnehmen, die von echten Stuntleuten stammten, die verschiedene Stunts machten, vom Gehen über das Rennen hin
zum Kämpfen, Schwertkampf, Kampf mit Schutzschilden, [...] IneinanderKrachen [...]. Danach kann die Software dann all diese Bewegungsaufnahmen zusammenfügen, und das innerhalb von wenigen Bildern. [Die]
50000 [Soldaten] sind immer unterschiedlich, es gibt nie dieselben. [...]
Wir gaben jedem Soldaten einen anderen aggressiven Ausdruck. So konnten wir [dem Computer z.B.] sagen, wer gewinnen und verlieren würde
[gemeint: sollte]. Dann läßt man den Computer machen und erstellt [...]
eine Simulation der Handlung. Der Computer wählt alle für ihn relevanten
Bewegungsaufnahmen aus für den nächsten Schritt und die nächste Bewegung dieser Figur. Es ist wie virtuelles Schachspielen.“
Dabei versuchten die ‚Schachspieler‘ stets, nicht weniger Realität als möglich und nicht mehr Virtualität als nötig in den Film einzubringen: „Wir
wollten so viel reale Action wie möglich im Film haben mit echten kämpfenden Menschen und echten Schiffen.“ Nur wo dies an die Grenzen des
Machbaren stieß, griffen sie auf ihre Software zurück, wobei sie sich immerhin ernsthaft bemühten, unterscheidbare ‚Soldaten‘ zu erschaffen.
Um nun freilich abzuschätzen, wie erfolgreich sie dabei waren, muß man
von Troia aus – wenn auch nur kurz – auf die Ilias hinblicken.85
Was hier die optischen, sind dort die literarischen Spezialeffekte, durch die
vor dem Auge des Publikums das Bild einer unermeßlichen Streitmacht
entsteht.
Zu Homers literarischer Technik gehört es, zahlreiche Nebenfiguren einzuführen, die man unter der Bezeichnung ‚Kleine Kämpfer‘ subsumiert.86
85
Leider würde ein umfassender Vergleich – der u.a. eine genaue Analyse des Flottenund des Troerkatalogs in der Ilias voraussetzen würde (Hom. Il. 2, 484 – 759. 786 – 877;
vgl. die Erläuterungen von Edzard Visser in: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 2,
Fasc. 2, S. 145 – 246. 263 – 288) – den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Ich beschränke mich daher auf einen, wie mir scheint: aufschlußreichen, Aspekt.
24
Homer berichtet vom Tod dieser Kämpfer oft schon drei Verse, nachdem
er ihre Namen zum ersten Mal genannt hat. Aber das gerade ist der
Punkt: Er nennt ihre Namen. Zusätzlich erwähnt er noch zwei oder drei
Details aus ihrem Leben, durch die er mit wenigen Strichen ein absolut
treffendes Bild von ihnen entwirft. So verhindert er, daß der Leser die Opfer des Krieges als bloße Masse betrachtet. Im Krieg wird kein abstraktes
Menschenmaterial vernichtet, im Krieg werden konkrete Menschen getötet, Menschen mit Namen, Gesichtern, Biographien. Innerhalb von nur drei
Versen gelingt es Homer, eine Beziehung des Lesers zu einem der ‚Kleinen
Kämpfer‘ aufzubauen, die den Leser z.B. anschließend befähigt, die Trauer
nachzuempfinden, die der Tod dieses mühsam großgezogenen, innig geliebten, einzigen Sohnes bei den alten Eltern auslösen muß.87
Es fragt sich, ob die Geschöpfe der Computerspezialisten, die keine individuellen Namen und keine individuellen Biographien haben und deren individuelle Gesichter das menschliche Auge wegen der rasanten Kameraführung letztendlich doch nur summarisch wahrnehmen kann, denselben Effekt auf ihr Publikum haben: Erregen auch sie bei den Zuschauern Mitleid?
Die ‚Kleinen Kämpfer‘ jedenfalls tun dies. Denn daß ihr ruhmvolles Sterben
im Grunde ein qualvolles Verrecken ist, führt Homer in seinen Worten immer anschaulich und oft sogar mit schonungsloser Drastik vor Augen – er
wird konkret, er geht ins Detail, er benennt die konkreten Details ihrer
tödlichen Wunden.88 Das mag und das soll zwar den Leser erschrecken.
Und doch wird es ihm nicht den Eindruck vermitteln, daß sich der Dichter
genußvoll im Schrecklichen suhlt: Homer zeigt den Krieg einfach ungeschönt, wie er ist.
Petersen hat zwar dasselbe Ziel: „Unsere Schlachten“, so betont er, „sind
nicht glorreich.“89 In gewissem Sinn aber sind sie es doch, denn die Zuschauer reagieren darauf fast einhellig begeistert:
Nur ein Rezensent schreibt: „Die Kampfszenen [...] hätten nicht einmal in
den 50er Jahren jemanden vom Hocker gehauen.“ Nahezu alle anderen
finden sie „grandios“, „spektakulär und atemberaubend“: Die Massenschlachten wurden „perfekt in Szene gesetzt“ und „können vollauf überzeugen“; die Duelle „wurden perfekt einchoreographiert und überzeugen
auf ganzer Linie“; „die Schlachtaufnahmen sind beeindruckend, [und] der
Choreograph der Kampfszenen ist ein Genie.“90
86
Vgl. Strasburger (1954).
Vgl. z.B. Hom. Il. 5, 152 – 158; 20, 407 – 418.
88
Vgl. z.B. Hom. Il. 5, 144 – 147. 290 – 293; 11, 145 – 147; 13, 506 – 508. 567 – 575. 614 – 618.
650 – 655; 20, 395 – 400; 21, 180 f. (Die Zahl der Belege ließe sich unschwer vermehren.)
89
Zitat von der Ergänzungs-DVD zu Troia. – Zur pazifistischen Tendenz des Films vgl.
unten Abschnitt 2.9.
90
In dieser Reihenfolge: Rezensionen 5. 10. 04 aus Wuppertal; vom 10. 8. 04 aus Flawil; vom 17. 9. 04 aus Neumünster; vom 25. 5. 04 aus Fieberbrunn; vom 15. 5. 04 aus
Ehingen; vom 17. 5. 04 aus Hameln; vom 23. 6. 04 aus Berlin.
87
25
Daß der Eindruck der Genialität durch harte Arbeit erzeugt ist, erfährt man
wiederum erst auf der Ergänzungs-DVD. Ihr zufolge hat man sich die Genese der Massenschlachten wie folgt vorzustellen:
Als ‚Military Technical Advisor‘ bereitet Richard Smedley drei Wochen lang
300 bulgarische und 500 mexikanische Statisten auf ihren Part als bronzezeitliche Krieger vor. Nicht nur das (nebenbei gesagt: anachronistische)
Marschieren in Schlachtreihen, sondern auch die Bewegungsabläufe im
Kampf werden ganz genau einstudiert, so spontan sie dann auch auf die
Zuschauer wirken mögen. Eine Massenschlacht, so meint Smedley, sei wie
ein gewaltiger Car-Crash, den man komplett unter Kontrolle halten müsse.
Das sei bei so vielen Beteiligten unglaublich schwer.
Kein geringeres Problem stellen die Zweikämpfe dar. Sie zu choreographieren, dauert Monate, zumal das Drehbuch dazu nur ungenaue Vorgaben macht. Simon Crane, seines Zeichens ‚Stunt Coordinator‘, beschäftigt sich mit verschiedenen Kampfsportarten, läßt sich von thailändischen
Stuntmen und einem Speed-Skater inspirieren und muß am Ende doch etwas ganz Eigenes schaffen, angepaßt an die Gebrauchseigenschaften der
Waffen und die Fähigkeiten und Sicherheitsbedürfnisse der Schauspieler
(z.B. darf nie das Gesicht eines Schauspielers angegriffen werden, da es
mit dessen Karriere sonst sehr schnell vorbei sein kann), gleichzeitig aber
doch spektakulär in der Wirkung. Nachdem die Choreographie erstellt ist,
müssen die Schauspieler ähnlich wie Tänzer jede Bewegung im Einzelnen
und im Zusammenhang lernen und üben.
Dieses Training ist für die Schauspieler extrem anstrengend. Denn gedreht
wird im Sommer auf Malta und in Mexiko. Dort herrscht überall glühende Hitze, es gibt nirgendwo kühlenden Schatten, und die Schauspieler
kämpfen in voller Montur unmittelbar in der sengenden, blendenden, zusätzlich noch von dem Sand und den Steinen zurückgeworfenen Sonne. So
arbeiten sie über Monate hin sechs Tage pro Woche – und manchmal auch
nachts, wobei sich als ungebetene Gäste Skorpione und Spinnen am Drehort versammeln. Joss Williams, der ‚Special Effects Supervisor‘, faßt sicher
mit Recht zusammen: „Ein sehr harter Dreh.“
Der Regisseur reagiert auf den Einsatz der Schauspieler deshalb mit Stolz.
Das Publikum schwankt, wie immer, zwischen Verehrung und Verachtung.
2.5. Die Leistungen einzelner Hauptdarsteller
Bei den Fans beurteilt man die schauspielerischen Leistungen pauschal als
„meisterhaft“, „fantastisch“ und „grandios“, man schwärmt von der „glänzenden“, der „exzellenten“, der „großartigen schauspielerischen Leistung
26
aller Darsteller“ und faßt als Ergebnis zusammen: „Jede Rolle wurde perfekt umgesetzt und scheint jedem auf den Leib geschneidert zu sein.“91
Nach Meinung der Kritiker „fehlen dem Film [dagegen] auch die schauspielerischen Glanzmomente“: „Was mich entsetzt hat, waren die z.T. unglaublich schlechten schauspielerischen, äh, Leistungen.“ „Die schauspielerische Darbietung gleicht einer Schulaufführung, in der Brad Pitt und Orlando Bloom eifrig um den ersten Platz als schlechtester Darsteller wettstreiten.“ Nur wenn jemand „auf hübsche Männer in kurzen Röcken und
Sandalen steht und eine tiefe Abneigung gegen Schauspielerei hat“, nur
wenn jemand „einen schönen, monumentalen Troia-Film sehen mag, mit
schönen Männern und schönen Frauen in schönen Kostümen, die nur wenig Talent zum Schauspielen haben, in dem viel gekämpft und gelitten
wird für die Ehre und den ganzen Kram – dann ist dieser Film [für ihn] der
richtige.“92
Bevorzugte Zielscheibe der Kritik ist dabei das ehemalige Model Diane
Kruger in der Rolle der Helena. Ich kann mich nicht entsinnen, eine Rezension gelesen zu haben, die ihre schauspielerische Leistung positiv hervorhob. Stattdessen häufen sich Aussagen wie: „Diane Kruger als Helena
merkt man einfach an, daß sie eigentlich keine Schauspielerin ist.“ „Sie ist
von etwas fader Schönheit, hat kaum Ausstrahlung“ und „synchronisiert
sich selbst so langweilig und ausdruckslos, als ob sie einem die Tageszeitung vorlesen würde.“ Schon wegen ihrer Stimme ist sie vielen ein
„Graus“. Darüber hinaus mißfällt manchen ihr „Durchschnittsgesicht“:
„Schlimm die völlig talentfreie Helena mit ausdruckslosem Gesicht und
dünnen Haaren.“ Mit der Haarfarbe steht das vernichtende Urteil für einen
dann endgültig fest: „Von unserer deutschen Helena kann ich nur noch
sagen: unglaublich bl...ond.“93
Eine genau entgegengesetzte, nämlich ausnahmslos positive Bewertung
erfährt Eric Bana als Hektor: „Hektor, gespielt von Eric Bana, ist einsame
Spitze!“ Eine Reihe von Rezensenten ist sich einig, daß Banas Darstellung
des troianischen Thronfolgers „einen Oscar wert“ sei. Selbst ein Kritiker,
der an den Schauspielern sonst überhaupt kein gutes Haar läßt, zollt Bana noch relativ viel Respekt: „Die einzigen, die wirklich gut waren, aber
gegen eine Übermacht solch mieser Schauspieler auch nichts mehr tun
konnten, waren Eric Bana und das Pferd! Pferd for Oscar!!!“94
91
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 16. 5. 04 aus Bayern; vom 9. 7. 04 aus Bad
Wörishofen; vom 2. 10. 04 aus „Troya“; vom 27. 5. 04 aus Frankfurt; vom 14. 5. 04 aus
Legden; vom 28. 9. 04 aus Cham; vom 18. 10. 04 aus Anklam.
92
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 18. 5. 04 aus Zürich; vom 25. 5. 04 aus Köln;
vom 5. 10. 04 aus Wuppertal; vom 20. 5. 04 aus [?]; vom 3. 6. 04 aus Berlin.
93
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 23. 9. 04 aus Deutschland; vom 4. 7. 04 aus
[?]; vom 17. 5. 04 aus Nauheim; vom 25. 5. 04 aus Köln; vom 23. 9. 04 aus [?]; vom 8.
10. 04 aus München; vom 2. 7. 04 aus Mönchenholzhausen.
94
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 3. 6. 04 aus Berlin; vom 15. 5. 04 aus Mudersbach; vom 13. 8. 04 aus Landshut.
27
Leicht ambivalent fällt das Urteil über Orlando Bloom in der Rolle des Paris
aus. Während die einen finden: „Orlando Bloom macht als Würstchen Paris
ebenfalls eine sehr gute Figur“, urteilen die anderen: „Orlando Bloom stellt
wieder einmal seine Fähigkeiten als schlechtester Schauspieler der Gegenwart unter Beweis.“ Denn er „schafft es mal wieder, einen ganzen langen
Film über mit ein und demselben Gesichtsausdruck auszukommen.“ Daran
sieht man, daß dieser Schauspieler „außer nett aussehen nix kann.“95
Als extrem ambivalent erweist sich das Urteil über Brad Pitt als Achill. Dieses Urteil hängt nicht wenig von der Antwort auf die Frage ab, wie „the
sexiest man alive“ denn nun im Adamskostüm zu bewerten sei. Ist „Herr
Pitt nur mit Minirock bekleidet [...] alleine schon 5 Sterne wert“? „Muß
man [den Film] gesehen haben – [denn] ein halbnackter Brad ist das allemal wert“? Oder verliert „der nackte Brad Pitt (jedenfalls die Rückenansicht) [!] dann auch schnell seinen Reiz“? 96 Wir wollen das hier nicht entscheiden und die entsprechende Debatte nicht weiter dokumentieren. De
gustibus, sagt der Lateiner, non est disputandum.
Allerdings erscheint es uns sinnvoll, zum Vergleich einige Anmerkungen
über das Äußere des homerischen Achill zu machen.
Ein Zuschauer versucht nämlich, Homer gegen Petersen auszuspielen, indem er behauptet, Brad Pitt passe „auch schon allein vom Aussehen her
gar nicht zu Achilles, mit diesen langen blonden Haaren, als ob ein Krieger
wie Achilles so ein Schönling wäre.“97
Damit erliegt er jedoch einem Irrtum. Denn Homer beschreibt Achill als
wahren Inbegriff kraftvoller Schönheit: Zum Zeitpunkt der Ilias-Handlung
ist er kaum älter als fünfundzwanzig.98 Sein Gesicht ist derart anziehend,
daß selbst Priamos, dessen Urteil ja ganz sicher nicht durch Sympathie
verfälscht ist, ihn voll Staunen mit einem Gott vergleicht.99 Das Haupthaar
trägt er lang und offenbar gut frisiert100 – es ist auf alle Fälle blond, was
bei den Griechen nur selten vorkommt und deshalb als Schönheitsmerkmal [!] gilt.101 Die dichte Brustbehaarung kann man dagegen als Ausweis
mannhafter Stärke verstehen.102 Als starker Kämpfer ist Achill von statt95
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 9. 7. 04 aus Bad Wörishofen; vom 26. 5. 04
aus Bochum; vom 23. 9. 04 aus Deutschland; vom 24. 5. 04 aus Deutschland.
96
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 14. 5. 04 aus Bielefeld; vom 17. 6. 04 aus
[?]; vom 24. 5. 04 aus Deutschland; vom 14. 5. 04 aus Recklinghausen.
97
Rezension vom 30. 5. 04 aus Flensburg.
98
1. Er war am Anfang des Troianischen Kriegs noch so jung, daß Peleus ihm Phoinix
zum Schutz an die Seite stellte (Hom. Il. 9, 438 – 442). – 2. Er ist der Jüngere im Verhältnis zu seinem Erzieher Phoinix und seinem Freund Patroklos (Hom. Il. 11, 786). – 3. Er
hat sich entschieden, lieber jung und ruhmreich als alt und ruhmlos zu sterben. Daher ist
er auch zum Zeitpunkt der Handlung noch jung (Hom. Il. 1, 352. 505; 9, 410 – 416). – 4. Er
ist „der junge Sohn der Thetis“ (Hom. Il. 4, 512; 16, 860).
99
Hom. Il. 18, 24; 24, 629 f.
100
Auch die archaischen Bildhauer stellen kraftvolle junge Männer stets mit langen und
überaus kunstvoll geordneten Haaren dar; vgl. oben Anm. 63.
101
Hom. Il. 1, 197; 23, 46. 140 – 152; Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 1, Fasc. 2, 197 n.
102
Hom. Il. 1, 188 f.; Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 1, Fasc. 2, 189 n.
28
licher Körpergröße und athletischem Körperbau, muskulös wohl vor allem
an Armen und Beinen, Händen und Füßen.103 Insgesamt ist er somit der
Schönste und Stärkste: der „Beste aller Achaier.“104
Wer Herrn Pitt also schön findet, darf ihn durchaus als Achill akzeptieren.
Nun möchten ihm freilich viele seiner Verehrer nicht nur körperliche, sondern auch darstellerische Qualitäten zuerkennen: „Die Rolle des Achilles
spielt Pitt mit seinem perfekt ausdefinierten Körper exzellent. Eine Mischung aus Arroganz und Gelassenheit sowie Rachsucht und Haß bringt er
mit seinem mitreißenden Mienenspiel perfekt rüber.“ „Getragen wird der
Film von einem grandiosen Brad Pitt, den man wohl selten schöner und
ausdrucksstärker gesehen hat. Er ist brillant in seiner Rolle als zweifelnder
Kämpfer, seine Mimik und Körpersprache sind einzigartig, von seinem
Sexappeal ganz zu schweigen.“ „Ich habe Brad Pitt noch nie besser schauspielern gesehen als in diesem Film“ – er „schafft [es], seiner Rolle [...]
eine unglaubliche Tiefe zu verleihen.“105
Dem hält einer seiner Verächter entgegen: In Troia „sieht man [...] ständig einen halbnackten Schönling [...], der den wohl flachsten Charakter
der Filmgeschichte spielt.“106
Damit stehen wir jedoch vor der Frage, wie komplex die Charaktere in
Troia – und verglichen damit: in der Ilias – prinzipiell gestaltet sind.
2.6.
2.6.1.
Die Charakterzeichnung
Typen oder Individuen bei Petersen?
Auch zu dieser Frage nehmen die Zuschauer dezidiert Stellung. Dabei
können sich nur die wenigsten zu dem Lob verstehen, daß es in Troia
„kaum reine Schwarz-Weiß-Charaktere“ gebe. Die meisten stimmen stattdessen der Kritik zu: „Klarer in die Minus-Ecke müssen sich [...] die Charaktere stellen.“ „Denn die Personen sind in dem Film keine Charaktere,
sondern flache Typen.“ „[Sie sind] schablonenhaft skizziert und werden
[...] sehr klischeehaft dargestellt.“ „Schade, daß der Regisseur [...] keine
Möglichkeit fand, die Charaktere ein bißchen detaillierter einzufangen!“
Diese Kritik kulminiert in dem Urteil: „Die Charaktere des Films sind mit
das Schlimmste seit John Travolta in Battlefield Earth!“107
103
Hom. Il. 18, 26; 24, 629 f. (Größe des Körpers); Hom. Il. 16, 140 – 144; 21, 169 – 204,
bes. 169 – 179. 200 (Stärke der Arme und Hände); Hom. Il. 13, 321 – 325; 22, 21 – 24. 138 –
143 (Stärke der Beine und Füße).
104
Hom. Il. 17, 279 f.; 2, 673 f. (674 wird allerdings von West als interpoliert angesehen).
105
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 17. 5. 04 aus Hameln; vom 27. 5. 04 aus
Frankfurt; vom 17. 5. 04 aus Gifhorn; vom 8. 7. 04 aus Meiningen.
106
Rezension vom 4. 8. 04 aus Deutschland.
107
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 17. 9. 04 aus Stuttgart; vom 14. 5. 04 aus
Neusorg; vom 13. 6. 04 aus Berlin; vom 28. 9. 04 aus Kuchen; vom 21. 5. 04 aus der
Schweiz; vom 26. 5. 04 aus Bochum.
29
Kritisiert wird der Film aber nicht nur, weil er die Hauptfiguren Agamemnon, Menelaos und Achill, Priamos, Hektor und Paris von vielschichtigen
Individuen auf eindimensionale Typen reduziere. Kritisiert wird er auch,
weil er die so gewonnenen Typen in einem weiteren Akt der Vereinfachung, und zwar diesmal der radikalen moralischen Vereinfachung, in ein
quasi-manichäisches Weltbild einordne: „Die Griechen werden als böse
und hinterlistig dargestellt, die Troianer als gut und ehrlich. Das ist zu einfach!“108
Beginnen wir mit der Prüfung dieser zweiten Kritik:
2.6.2.
Troianer und Griechen
Die These, daß der Film die Troianer als Gestalten des Lichts gegen die
Griechen als Gestalten der Finsternis ausspiele, muß man dann nicht für
abwegig halten, wenn man in Rechnung stellt, daß das Drehbuch zum Film
nicht von Petersen stammt, sondern von David Benioff, einem gebürtigen
Amerikaner. Dann nämlich kann man sich folgendes klarmachen:
•
•
•
Amerika sieht sich bis heute in der Nachfolge Roms.109
Rom aber sah sich seit jeher in der Nachfolge Troias. Damit verband
es ein positives Bild der troianischen und ein negatives Bild der griechischen Teilnehmer am Troianischen Krieg. Zu durchschlagender Wirkung verhalf dieser Wertung der römische Dichterfürst Vergil. Denn, so
schreibt Joachim Latacz: „In seinem Hohelied auf Rom, das – als Aeneis – den Troianerfürsten Aineias zum Titelhelden und Reichsgründer
machte, erschienen die Troianer [...] durchweg als bedauernswerte Opfer und die Griechen als grausame Aggressoren [...]. Das war die Rache des kulturell besiegten Rom am kulturellen Sieger.“110
Kombiniert man nun beide Ideen, dann erhält man das Konzept, daß
die Herrschaft von Troia auf Rom und von dort auf Amerika übergegangen sei (als Symbol für diese translatio imperii erscheint im Film
das ‚Schwert Troias‘, welches Paris an Aineias übergibt). Die Troianer
aber macht man dadurch letzten Endes zu Proto-Amerikanern.
Mit der Idealisierung der Troianer durch einen amerikanischen Drehbuchautor kann man also grundsätzlich rechnen. Läßt sie sich aber in Troia
auch wirklich belegen?
Erste Hinweise finden sich in Einzelszenen wie der, in der Paris und Hektor
Menelaos und Agamemnon zum Kampf entgegentreten: hier zwei gutaussehende, sympathische junge Männer, dort zwei häßliche, odiöse alte
Böcke – für wen das Herz der Zuschauer(innen) in diesem Moment schlägt,
braucht wohl nicht näher erläutert zu werden!
108
109
110
Rezension vom 24. 5. 04 aus Calden.
Belege bei Reis (2004) S. 4.
Latacz (1997) S. 25.
30
Diese Hinweise verdichten sich, wenn man den Film umfassend analysiert,
zu dem Nachweis, daß der Gegensatz von sympathischen Troianern und
unsympathischen Griechen keine situationsbedingte Ausnahme, sondern
eins der wichtigsten Strukturprinzipien ist. Sämtliche großen Heerführer
der Troianer und der Griechen sind im Sinne von Modell und Gegenmodell
aufeinander bezogen, wobei die ersteren den letzteren zwar leider nicht an
Stärke, aber doch an Edelmut überlegen sind. Insbesondere sind als Antipoden angelegt:
•
•
•
Hektor und Achill –
der schlackenlose und der gebrochene Held
Priamos und Agamemnon –
der gewissenhafte und der skrupellose Herrscher
Paris und Menelaos –
der hingebungsvolle und der selbstsüchtige (Ehe-)Mann.
Wichtig ist dieses Strukturprinzip, weil es Benioffs Antwort auf die Kriegsschuldfrage glaubhaft macht – weil es, mit anderen Worten, als ein Mittel
dient, die Hauptschuld am Troianischen Krieg den Griechen anzulasten.
Weitere Mittel lassen sich unschwer entdecken:
Zum einen wird das Unrecht, das Paris dem Menelaos durch die Entführung der Helena angetan hat, nur sehr halbherzig auch als solches qualifiziert. Denn dadurch, daß Menelaos den cholerischen Wüstling gibt, der
an Helena mehr als Lustobjekt und Besitzstück denn als Mensch interessiert ist, erscheint der aufrichtig liebende Paris als rettender Ritter, der die
bedauernswerte Helena von ihrem schrecklichen Ehejoch nicht nur befreien darf, sondern im Sinne einer höheren Moral sogar muß.
Zum anderen wird wiederholt betont, daß im Unrecht des Paris nur der
äußere Anlaß und nicht etwa auch der innere Grund für den Zug Agamemnons nach Troia zu sehen sei. Denn im Grunde gehe es dem Führer
der Griechen um den schon lange geplanten Griff nach der Weltmacht.
Schon seit Jahren habe er seine Interessensphäre in der Ägäis mit kriegerischen Mitteln ausgedehnt – z.B. durch den Krieg mit Thessalien –, während Priamos – z.B. durch den Frieden mit Sparta – einen friedlichen Interessenausgleich gesucht habe. So falle nun auch in diesem Krieg den Troianern die Rolle der legitimen, patriotischen Verteidiger, den Griechen hingegen die der illegitimen, imperialistischen Angreifer zu.
Dazu paßt es, wenn so getan wird, als ob Agamemnon, Menelaos und Achill allein aus egoistischer Gier nach Macht, Rache und Ruhm, Priamos,
Hektor und Paris aber aus reiner und selbstloser Liebe zu ihren Frauen
bzw. ihrer Familie, ihrem Vaterland und ihrer Freiheit am Kampfgeschehen
teilnähmen.
Durch all diese Mittel gelingt es dem Film, die Griechen gegenüber den
Troianern nicht nur politisch, sondern auch moralisch zu diskreditieren.
Die zweite Kritik an ihm ist also berechtigt.
31
Wie aber steht es mit der ersten?
Macht der Film aus Individuen flache Typen?
Auch diese Annahme liegt nahe, da schon die Einteilung in böse Griechen
und gute Troianer eine genauere Differenzierung der Charaktere auszuschließen scheint. Sehen wir uns die Filmfiguren aber im einzelnen an.111
2.6.3.
Paris, Hektor, Priamos
Wenn Paris, Hektor und Priamos sich, wie soeben erwähnt, für ihre Frauen
bzw. ihre Familie, ihr Vaterland und ihre Freiheit einsetzen, so partizipieren sie damit an einem allen gemeinsamen ‚Nationalcharakter‘ der Troianer. Zusätzlich hat aber jeder der drei auch noch ein besonderes Merkmal,
das ihm wenn nicht ausschließlich, so doch jedenfalls mehr als den anderen beiden zukommt: Paris, der junge Mann, handelt gemäß der Liebe,
Hektor, der reife Mann, gemäß der Vernunft und Priamos, der alte Mann,
gemäß dem Glauben.
Die einzige Person, die dabei eine gewisse Entwicklung durchmacht, ist
Paris. In ihm muß der troianische Nationalcharakter gleichsam erst zu sich
selber kommen, ein Reifungsprozeß, der sich folgendermaßen vollzieht:
Daß Paris zunächst nur die Liebe als Handlungsnorm anerkennt, zeigt allein schon die Tatsache, daß er mit Helena die Königin von Sparta entführt, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die Folgen für Troia zu werfen. Hektor nimmt diese Folgen dagegen sofort ins Visier: Als er bemerkt,
was Paris getan hat, wirft er ihm in heller Empörung vor, die jahrelangen
Bemühungen des Priamos um einen Frieden mit Sparta schlagartig zunichte gemacht zu haben. Paris läßt sich auf diese politische Argumentationsebene aber gar nicht ein und verteidigt sich auf der Gefühlsebene mit dem
einfachen Satz: „Ich liebe sie.“ Daraufhin begibt sich auch Hektor auf die
Gefühlsebene und wirft seinem Bruder vor, er wisse doch überhaupt nicht,
was Liebe sei: „Was ist mit der Liebe zu deinem Vater? Als du sie [sc. Helena] auf dieses Schiff brachtest, hast du darauf gespuckt! Was ist mit
der Liebe zu deinem Land? Soll Troia verbrennen für diese Frau?!“ Paris
schweigt nun zwar betreten, hält aber trotzdem unbeirrt an seiner Liebe
zu Helena fest.112
111
Im folgenden werden nur die bereits erwähnten männlichen Hauptfiguren analysiert.
Zu den weiblichen Hauptfiguren vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.).
112
Bei Homer herrscht Hektor Paris nicht auf der Heimfahrt von Sparta, sondern in einer
Schlacht des zehnten Kriegsjahres an: „Unglücks-Paris! an Aussehen Bester! du weibertoller Verführer! Wärst du doch nie geboren oder unvermählt zugrunde gegangen! Das
wollte ich wohl, und es wäre viel besser gewesen, als eine solche Schande zu sein und
verachtet von anderen. Ja, da lachen wohl laut die am Haupte langgehaarten Achaier, die
meinten, daß du der beste Vorkämpfer seist, weil du ein schönes Aussehen hast! Doch
nicht ist Kraft im Innern und nichts von Stärke! Bist du wirklich, ein solcher Mann, auf
meerdurchfahrenden Schiffen über das Meer gefahren, nachdem du geschätzte Gefährten
gesammelt, und bist zu fremden Völkern gegangen und hast ein schönes Weib entführt
aus einem fernen Land, die Schwagersfrau von Männern, Lanzenkämpfern? Deinem Vater
zu großem Leid wie auch der Stadt und dem ganzen Volk, den Feinden aber zur Freude
32
Im weiteren Verlauf des Films erweist er sich allerdings als zunehmend
bereit und fähig, auch die von Hektor geforderte Verantwortung für sein
Land zu übernehmen. Als er sieht, daß die Troianer tatsächlich für seine
Liebe zu Helena bluten, sinnt er auf Abhilfe. Zuerst macht er Helena den
noch eher romantischen Vorschlag, mit ihm aus der Stadt in die Berge zu
fliehen und dort ein einfaches Hirtenleben zu führen. Als Helena mit der
Begründung ablehnt, daß Menelaos sie auch dort finden werde, verkündet
er im Thronrat den Entschluß, allein gegen Menelaos um Helena kämpfen
zu wollen, um einen weiteren Aderlaß der Troianer zu verhindern.113 So
zeigt er nicht nur Gemeinsinn, sondern auch Mut, da jeder weiß, daß er
als ehrlicher und unerfahrener Jüngling dem hinterlistigen Haudegen Menelaos im Schwertkampf hoffnungslos unterlegen ist.114 Erwartungsgemäß
wird er denn auch schwer verletzt und kann nur durch Hektor, zu dessen
Knien er sich flüchtet, vor einer regelrechten Exekution durch Menelaos
bewahrt werden.115
Diese peinliche Niederlage, für die er sich auch vor Helena schämt, löst
nun den sicher folgenschwersten Wandel in ihm aus: Er wählt statt des
groben Schwertes eine feinere, ihm gemäßere Waffe, nämlich Pfeil und
Bogen, und übt deren Gebrauch so lange, bis er sogar Achill genau in die
Ferse treffen kann.
Paris wächst also immer mehr in die Rolle des troianischen Prinzen hinein,
und zuletzt scheint es beinahe schon möglich, daß Hektor in ihm einen
würdigen Nachfolger findet.
Bei Hektor ist eine vergleichbare Entwicklung nicht zu erkennen; er verkörpert von Anfang an den idealen Troianer.
Ein Schlüssel zu seiner Persönlichkeit liegt in der Feldherrenrede, die er
kurz vor dem Angriff der Griechen an seine Soldaten hält. Sie lautet:
„Troianer! Mein ganzes Leben lebte ich nach einem Gesetz [...]: Ehre die
Götter,116 liebe deine Frau,117 und verteidige dein Land!118 Troia ist unser
aller Mutter. Kämpft für sie!“
und zur Beschämung für dich selber! Willst du jetzt nicht standhalten dem aresgeliebten
Menelaos? Erkennen würdest du, was für eines Mannes blühende Gattin du hast! Nicht
würde dir helfen die Leier und die Gaben der Aphrodite: die Mähne und das Aussehen,
wenn du mit Staub vermengt bist! Aber sehr furchtsam sind die Troer! sonst bekleidete
dich schon ein steinerner Rock für all das Schlimme, das du getan hast!“ (Hom. Il. 3, 39 –
57; vgl. 13, 769.)
113
Bei Homer reagiert Paris mit diesem Entschluß auf die in Anm. 116 zitierten Vorwürfe
Hektors (Hom. Il. 3, 58 – 75).
114
Bei Homer hat Hektor die in Anm. 116 zitierten Vorwürfe gerade darum erhoben, weil
Paris kreidebleich vor Menelaos davongelaufen ist (Hom. Il. 3, 15 – 37; vgl. 13, 776).
115
Bei Homer wird Paris durch Aphrodite entrückt, und Menelaos bleibt am Leben (vgl.
oben S. 6 s.v. Menelaos; S. 7 s.v. Paris).
116
Auch in der Ilias ehrt Hektor Zeus; vgl. Hom. Il. 24, 66 – 70.
117
Auch in der Ilias liebt Hektor Andromache; vgl. Hom. Il. 6, 369 – 503, bes. 450 – 465.
118
Auch in der Ilias verteidigt Hektor Troia, aber ohne ein spezifisch patriotisches Pathos.
33
Hier beschreibt sich Hektor selbst als einen Menschen, der in seiner
Lebenspraxis stets mit sich identisch bleibt, weil er sich nicht nach dem
Lustprinzip richtet, das ihn mal dieses, mal jenes Ziel anstreben ließe,
sondern dem immer gleichen moralischen Imperativ folgt – weil er, anders
gesagt, nicht der Neigung, sondern der Pflicht gehorcht (die Stoiker, Kant
und Schiller lassen grüßen!). Diese Pflicht sieht er darin, ungeachtet der
Tatsache, daß er das Handeln des Paris mißbilligt, in dem Krieg, den es
auslöst, für Frau und Familie, Freiheit und Vaterland einzustehen.
Wie wichtig ihm Frau und Familie sind, verraten freilich nicht nur diese
Worte, sondern auch die entsprechenden Taten. So zeigt Hektor, als er
schon weiß, daß Achill ihn töten wird, seiner Frau noch einen verborgenen
Gang, durch den sie sich selbst und Astyanax später retten können soll.119
Für Astyanax sorgt er auch sonst, wo er kann – er schnitzt auf der Heimfahrt von Sparta ein hölzernes Pferdchen für ihn, schaut nachts in die Wiege des Kleinen und sagt zu Andromache: „Du weißt, daß ich nicht kämpfen will, ich will meinen Sohn heranwachsen sehen!“120
Wie viel ihm an der Freiheit liegt,121 zeigt eine fast noch größere Zahl seiner Worte und Taten, bspw. seine Antwort an Agamemnon: „Kein Sohn
Troias wird sich jemals einem fremden Herrscher unterwerfen!“
Wie sehr es ihm um das Vaterland zu tun ist,122 beweist nachgerade alles,
was er sagt und tut:
•
•
•
Als Paris sich mit seiner Liebe zu Helena für deren Entführung entschuldigt, macht er ihm auch die Liebe zu seinem Vaterland zur Pflicht
(siehe oben).
Wenig später rät er seinem Vater, Helena wieder nach Sparta zurückzuschicken, um die Gefahr eines Krieges zu bannen. Als Motiv für diesen Ratschlag gibt er an: „Das ist mein Land, und das sind meine
Landsleute, ich will sie nicht leiden sehen, nur damit mein Bruder seine
Beute behalten kann!“
Als der Krieg dann doch ausbricht, weil Priamos meint, sich auf die Seite des Paris stellen zu sollen, hält er die zitierte Feldherrenrede, in der
er sich zur Verteidigung seines Landes als persönlicher Handlungsnorm
bekennt.
Trotz der Liebe zu seinem Vaterland tritt Hektor den Feinden dieses Vaterlands aber sehr menschlich gegenüber. So erteilt er z.B. einem Unterfeldherrn nach einer gewonnenen Schlacht den Auftrag: „Unsere Männer sollen sich der Gefallenen annehmen!“ Zugleich erlaubt er, daß auch
die Griechen ihre Toten bergen. Mit leiser Kritik erwidert der Unterfeldherr: „Würden sie das Gleiche für uns tun?“ Sicher nicht, ergänzt sich der
119
Im traditionellen Mythos gibt es für Hektors Familie dagegen kein Happy-End; vgl.
oben S. 7 s.v. Hektor, Andromache, Astyanax.
120
Zum Thema Pazifismus vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.).
121
Zum Thema Liberalismus vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.).
122
Zum Thema Patriotismus vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.).
34
Zuschauer, weil die Film-Griechen ja, wie er weiß, grundsätzlich Böses im
Schilde führen. Hektor vergilt dieses Böse aber trotzdem mit Gutem. Er ist
fast schon ein richtiger Christ!
Angesichts des Gesagten nimmt es jedenfalls nicht wunder, daß er permanent in Superlativen gelobt wird – Achill sagt zu Priamos: „Dein Sohn
war der beste, gegen den ich je kämpfte“; Priamos sagt zu Hektor: „Kein
Vater hatte je einen besseren Sohn“; und Paris sagt zu Hektor: „Es gibt
keinen besseren Menschen als dich.“
Man fragt sich, wie lange es noch dauern kann, bis Hektor zur Ehre der
Altäre erhoben wird.
Auch Priamos hat, wie Hektor, viel Familiensinn. Oft steht er, umgeben
von seinen Schwiegertöchtern, seiner Nichte und seinem Enkel, auf der
Plattform seines Palastes, um dem Kampf zuzusehen, wobei seine ängstlichste Sorge seinen Söhnen gilt. Als Achill zu seinem Entsetzen Hektor
abgeschlachtet hat, wagt er sich aus Vaterliebe sogar ins Lager der Griechen, um den Leichnam des Gefallenen auszulösen.123
Außerdem denkt er, wie Hektor, patriotisch. Nicht zu Unrecht sagt Paris
einmal zu ihm: „Du bist ein großer König, weil du dein Land so sehr
liebst.“
Wie dieses Land zu verteidigen sei, ist zwischen dem König und dem
Thronfolger allerdings umstritten, weil das Prinzip der Vernunft, das Hektor verkörpert, mit dem Prinzip des Glaubens, für das Priamos steht, nicht
selten in Konflikt gerät. Dazu einige Beispiele:
•
•
•
•
123
In dem bereits erwähnten Gespräch über die Frage, was mit Helena
geschehen solle, äußert Hektor: „Vater, ich weiß, das ist das letzte, das
wir brauchen.“ Priamos aber beruhigt ihn: „Es ist der Wille der Götter –
alles liegt in ihren Händen.“
Etwas später folgert Hektor aus der Annahme, daß Menelaos Agamemnon aktivieren und ganz Griechenland gegen Troia führen werde: „Vater, diesen Krieg können wir nicht gewinnen!“ Priamos aber beruhigt
ihn: „Apollon wacht über uns.“ Darauf fragt Hektor sarkastisch: „Und
wie viele Bataillone befehligt unser Sonnengott?“ Priamos aber weist
ihn zurecht: „Spotte nicht über die Götter!“
Als der Priester den Umstand, daß zwei Bauern einen Adler mit einer
Schlange in den Krallen gesehen hätten, als ein günstiges Omen Apolls,
des trojanischen Schutzgottes, interpretiert, entgegnet Hektor: „Vogelschau! Wollen wir wirklich unsere Strategie dem Flug der Vögel überlassen?“ Priamos aber weist ihn zurecht: „Hektor, zeige Respekt! Der
Hohepriester ist ein Diener der Götter!“ Darauf antwortet Hektor: „Und
ich bin ein Diener Troias!“ Priamos aber folgt dennoch dem Priester.
Bei einer weiteren Zusammenkunft warnt Hektor davor, die Griechen
zu unterschätzen: Man müsse damit rechnen, daß sie, wenn die MyrAngelehnt an Hom. Il. 24.
35
•
midonen ihren ‚Streik‘ beendet hätten, nicht mehr so leicht zu besiegen
sein würden. Priamos aber folgt dennoch dem Priester, der versichert,
daß Apoll die Entweihung seines Tempels durch die Griechen nicht ungerächt lassen werde.
Als stattdessen dann Hektor getötet und Troia zerstört worden ist, fügt
Priamos sich in sein Schicksal mit den Worten: „Was geschehen ist,
kann ich nicht ändern, es ist der Wille der Götter.“
Während Hektor also den Mut hat, „sich seines Verstandes ohne Leitung
eines anderen zu bedienen“ (Kant), und in diesem Sinn auch seinen Vater
und dessen Beraterstab aufklären will, verharrt Priamos in ängstlicher Abhängigkeit von dem Priester, der die Sphären des Religiösen und des Politisch-Militärischen, die Hektor endlich trennen möchte, permanent verquickt, indem er auf Fragen der Kriegsführung Antworten des Glaubens
formuliert. Hätte Priamos nicht auf den Priester, sondern auf Hektor gehört, hätte Troia – den Eindruck gewinnt man – vielleicht noch gerettet
werden können.124
In der Ilias würde ein Priamos, der derart folgenschwere Irrtümer beginge, vermutlich als ein Kindskopf bezeichnet, der nicht voraus- und zurückblicken könne.125 In Troia fällt hingegen nicht der Schatten eines Makels
auf den König, da er ja immer nur Gutes gewollt habe. Ungeachtet seiner
verhängnisvollen Fehler wird der Troianer durchgehend als edler Mensch
charakterisiert – ganz im Gegensatz zu dem Griechen Agamemnon.
2.6.4.
Agamemnon, Menelaos, Achill
Agamemnon ist das Urbild eines megalomanen Tyrannen.
Wie oben schon angedeutet, nimmt er den offiziellen Grund für den Troianischen Krieg, Menelaos’ Anspruch auf Helena, nur zum willkommenen
Vorwand für eine Aktion, die in Wirklichkeit seinen Machtinteressen dient.
Hektor bringt eben dieses zum Ausdruck, wenn er Helena tröstet: „Denkst
du, Agamemnon ist hier, um seines Bruders Ehe zu retten? Hier geht es
124
Demgegenüber läßt sich in der Ilias gerade Hektor zu dem strategischen Fehler verblenden, der seinen eigenen Tod und damit den Untergang Troias zur Folge hat: Denn
eigentlich weiß er zwar, daß er Achill an Kampfkraft unterlegen ist (Hom. Il. 22, 434), und
wendet deshalb nun schon seit zehn Jahren erfolgreich die Taktik an, sich vor dem Ansturm Achills mit dem Heer in die Stadt zurückzuziehen. In der jetzigen Situation aber
macht er sich dieses Wissen nicht zunutze. Denn jetzt, da Achill nicht mehr mitkämpft,
hat er sowohl Patroklos getötet als auch die Griechen vernichtend geschlagen (Hom. Il.
17, 593 – 596). Und jetzt will er, obwohl ihn Pulydamas eindringlich warnt, daß Achill, um
für Patroklos Rache zu nehmen, in den Kampf zurückkehren werde, und ihm nachdrücklich rät, wie immer den Schutz der Mauern zu suchen (Hom. Il. 18, 249 – 283), nicht auf
den weisen Mann hören, sondern draußen bei den Schiffen kämpfen und Achill sogar zum
Zweikampf provozieren (Hom. Il. 18, 284 – 309). Homer beurteilt ihn daher in einem seiner seltenen auktorialen Kommentare als töricht (Hom. Il. 18, 310 – 313). – Zur Interpretation dieser Szene (mit der Homer, wie man sieht, den Zweikampf zwischen Achill und
Hektor ganz anders einführt als Benioff) vgl. Schmitt (1990) S. 91 – 99 passim.
125
Anders als z.B. Pulydamas (Hom. Il. 18, 249 f.) oder Odysseus.
36
um Macht, nicht um Liebe!“ Eine sinngleiche Formulierung wählt Agamemnon sogar selbst – als Menelaos wieder einmal wegen Helena jeimelt,
zischt er ihn an: „Ich bin nicht wegen deiner hübschen Frau gekommen,
ich bin hier wegen Troia!“ Daß ihn der Sieg über Troia letztendlich zur
Weltherrschaft führen soll, zeigt die Warnung des thessalischen Königs:
„Du kannst nicht die ganze Welt erobern, Agamemnon. Sie ist zu groß,
selbst für dich.“126
Das Ziel der Weltherrschaft verfolgt Agamemnon ohne Einschränkung und
ohne jeden Skrupel. Dies erkennt man u.a. an seinem Wutschrei: „Ich
mache ihre Mauern dem Erdboden gleich, und wenn es mich 50000 Griechen [das ganze Heer also] kostet!“ In der Tat erleidet das Heer denn auch
entsetzliche Verluste, weil Agamemnon es zu dicht an die Mauern und
damit unmittelbar in den Pfeilregen der Troianer hinein geschickt hat,127
während er selbst, nach seiner Gepflogenheit, hinter den Linien blieb.128
Agamemnon benutzt die Soldaten, wie man heute sagen würde, als Kanonenfutter. Er geht ungerührt über Leichen. Menschenleben sind ihm
gleichgültig, sie sind ein Preis, den er ohne mit der Wimper zu zucken
zahlt, wenn er dadurch nur Macht gewinnen kann.
Er giert jedoch nicht nur nach Macht, sondern auch nach Frauen.
Besonders Achills Briseis hat es ihm angetan. „Heute“, so stellt er diesem,
sich jedes Wort auf der Zunge zergehen lassend, in Aussicht, „heute abend
wird sie mich baden“ (eine Vorstellung, die für einige meiner Schülerinnen
fast das Schlimmste am ganzen Film war). Im brennenden Troia will er ihr
später sogar Gewalt antun. Während er sie von hinten wie ein Krake umschließt, malt er ihr ihre Zukunft mit den Worten aus: „Du wirst meine
Sklavin sein in Mykene, die auf den Knien meine Böden schrubbt, und in
der Nacht –.“129
126
Dieses Motiv ist gegenüber der Ilias frei erfunden.
Dieses Motiv ist gegenüber der Ilias stark verfremdet; vgl. oben S. 6 s.v. Agamemnon.
128
Hier verarbeitet Benioff Hom. Il. 9, 332, eine Stelle, an der Achill Agamemnon beschuldigt, „hinten bleibend bei den schnellen Schiffen“ die Kohlen stets von anderen aus
dem Feuer holen zu lassen, und Hom. Il. 1, 225 – 228, eine Stelle, an der er ihn anfährt:
„Weinbeschwerter! Mit den Augen eines Hundes und dem Herzen eines Hirsches! Weder
zum Kampf dich zu rüsten zugleich mit dem Volk noch auf eine Lauer zu gehen mit den
Besten der Achaier hast du jemals gewagt im Mut: das scheint dir der Tod zu sein!“ An
diesen Stellen spricht Achill jedoch im Zorn (vgl. Hom. Il. 1, 224), und an anderen Stellen
erscheint Agamemnon durchaus als tapferer Kämpfer; vgl. Hom. Il. 11, 14 – 180, bes.
91 f.: „Und Agamemnon sprang als erster hinein und faßte einen Mann.“
129
Den Anlaß dafür, Agamemnon als lüstern darzustellen, hat Benioff vermutlich in Hom.
Il. 1, 29 – 31 und Hom. Il. 1, 109 – 117 gefunden. Dabei hat er aber weder den Wortlaut
noch den Kontext dieser Passagen genau beachtet: Beide Passagen beziehen sich nicht
auf Briseis, sondern auf Chryseis. Mit der Ankündigung, diese mit nach Argos zu nehmen,
wo sie „am Webstuhl einhergehend und mein Lager teilend“ Sklavendienste für ihn verrichten solle, beschreibt Agamemnon nicht mehr und nicht weniger als die seinerzeit übliche (aus heutiger Sicht allerdings inakzeptable) Praxis im Umgang mit weiblichen Kriegsgefangenen, und er tut dies, um dem Priester Chryses, der seine Tochter freikaufen will,
zu versichern, daß er sein Besitzrecht an dem Mädchen bis in deren hohes Alter nicht
aufgebe werde. Mit dem Hinweis, daß er Chryseis sogar seiner Frau Klytaimnestra vorziehe, da sie nicht geringer sei als diese, „nicht an Gestalt noch Wuchs, an Verstand oder
127
37
In diesem Punkt besteht offenbar eine Familienähnlichkeit zwischen ihm
und seinem Bruder.
Denn auch Menelaos ist einerseits ein schmieriger Lustmolch. Mit der ehelichen Treue, die er von Helena fordert, nimmt er selbst es keineswegs
genau. Dies zeigt sich besonders darin, daß er während der Orgie, die er
für Hektor und Paris veranstaltet, fremde Frauen anfaßt, nachdem sich
seine eigene in ihr Obergemach begeben hat (was zwar bei antiken Symposien genau so der Brauch war, auf heutige Kinobesucher aber doch
widerlich wirken dürfte).
Und er ist andererseits ein polternder Choleriker. Dies wird u.a. deutlich,
als er entdeckt, daß Helena ihn verlassen hat: Wütend bedroht er mit dem
Messer eine ahnungslose und völlig eingeschüchterte Sklavin, ihm Auskunft über den Verbleib seiner Frau zu geben („Wo ist sie? Ich schwör’ bei
dem Vater aller Götter, ich schneid’ dir die Gedärme ’raus, wenn du’s mir
nicht sagst!“). Die Sklavin wird nur dadurch in letzter Minute gerettet, daß
ein ebenfalls angstschlotternder Fischer erscheint, der berichtet, Helena
auf dem Schiff des Paris gesehen zu haben. Von nun an konzentriert der
gehörnte Menelaos seine Wut ganz auf Paris. Ihn verfolgt er mit hemmungsloser Rachsucht so lange, bis er ihn im entscheidenden Zweikampf
kampfunfähig geschlagen hat. Jetzt glaubt er seinen Rachedurst endlich
stillen zu können. Höhnisch fragt er den wehrlosen Gegner: „Siehst du die
Krähen? Sie haben noch nie Prinz gekostet!“
Wie Menelaos und Agamemnon fast nur zwei Eigenschaften haben, nämlich Geilheit und Rachgier bzw. Geilheit und Machtgier, so hat Achill fast
nur einen Charakterzug: Ruhmgier.
Daß Achill auf seinen Ehrgeiz reduziert wird, fällt nicht wenigen Zuschauern negativ auf. Achill, so schreibt einer von ihnen, ist „einfach nur ein super Rowdy [...], seine einzige Motivation unsterblicher Ruhm, und den Autoren fällt nichts anderes ein, als ihn tausendmal ‚Ich zieh nur für Ruhm in
den Krieg‘ sagen zu lassen – auf diese Weise erspart man sich eine nähere
Charakterisierung des Helden.“ Einem zweiten erscheint Achill als „selbstverliebte und arrogante männliche Diva, die um jeden Preis in die Geschichte eingehen will. Aus diesem Grund zieht er ein ums andere Mal für
den verhaßten Agamemnon in den Krieg, da er sich durch dessen historische Taten den Weg in die Geschichtsbücher ebnen will.“ Und ein dritter
ergänzt: „Arrogant und menschenverachtend versucht [Achill] im Kampf
seinem Namen zur Unsterblichkeit zu verhelfen. Erst am Ende begreift er,
irgend an Werken“, will er dagegen den Griechen verdeutlichen, wie schwer ihm der dann
auch von ihnen verlangte Verzicht auf Chryseis falle, um diesen als umso großherziger
und staatsmännischer erscheinen zu lassen. In beiden Argumentationen spielt die sexuelle Begierde Agamemnons eine weitaus geringere Rolle als sein Geltungsdrang. Auch
Briseis, die er, um sich für den Verzicht auf Chryseis schadlos zu halten, dem Achill wegnimmt, interessiert ihn viel weniger als Sexualobjekt denn als Ehrengeschenk, wie sich daran zeigt, daß er sie später unangetastet zurückgibt (Hom. Il. 9, 128 – 134; 19, 261 – 263).
38
was er dafür aufgegeben hat.“130 Auch hier wird die Ruhmsucht Achills als
absolut maßlos eingeschätzt.
Dafür, daß sie im Film auch wirklich kein Maß kennt, könnte man zahlreiche Beispiele nennen. Um nur das schon erwähnte zu erläutern: Tatsächlich will Achill alles andere lieber, als unter der Ägide Agamemnons,
den er nicht leiden kann, gegen Troia zu kämpfen, das ihm nichts angetan
hat.131 Doch Odysseus verspricht ihm: „Weder wird dieser Krieg je in Vergessenheit geraten noch die Helden, die in ihm kämpften.“ Und Thetis
stellt ihn vor die Alternative: Entweder er bleibe in Larissa, um als glücklicher Ehemann und Familienvater alt, aber ruhmlos zu sterben, oder er
ziehe nach Troia, um dort jung, aber ruhmreich zu fallen und zum Gegenstand eines unsterblichen Mythos zu werden.132 Auf dem nächsten Bild
sieht man Achill in der Anfahrt auf Troia. Er hat sich also ganz offenbar für
den Ruhm entschieden. Kurz vor Troia hält er denn auch eine Feldherrenrede, der genau wie der entsprechenden Rede Hektors für das Verständnis seines Charakters Schlüsselbedeutung zukommt: „Myrmidonen! [...]
Könnt ihr euch vorstellen, was dort wartet? Die Unsterblichkeit! Holt sie
euch!“
Das Ziel, seinen Namen unsterblich zu machen, ist bei Achill allen andern
Zielen übergeordnet. Nur wenn er dadurch diesem Hauptziel näher kommt,
unterstützt er die Interessen einer fremden Instanz. Das gilt nicht nur für
Agamemnon, sondern auch und vor allem für Griechenland. Deshalb würde Agamemnon ihn auf seinem panhellenischen Feldzug am liebsten auch
gar nicht mitnehmen. Er selbst habe Griechenland erstmals geeint, Achill
dagegen gehöre in die Ära vor dieser nationalen Einigung: „Achilles ist die
Vergangenheit – ein Mann, der für keine Flagge kämpft, ein Mann, der keinem Land zugetan ist.“ Als jemand, dem patriotische Motive völlig fremd
seien, stelle er das Gegenbild von Hektor dar: „Hektor kämpft für sein
Land, Achilles kämpft nur für sich!“ Als es später zum offenen Konflikt zwischen Achill und Agamemnon kommt und Achill sich aus dem Kampf
zurückzieht, muß er sich auch von Patroklos den Vorwurf gefallen lassen:
130
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 24. 5. 04 aus Wien; vom 9. 7. 04 aus Bad
Wörishofen; vom 23. 6. 04 aus Berlin.
131
Damit bezieht sich Benioff auf die Rede Achills an Agamemnon in Hom. Il. 1, 149 – 171,
bes. 152 – 157: „Kam ich doch nicht der Troer wegen hierher, der Lanzenstreiter, um mit
ihnen zu kämpfen, denn sie haben mir nichts angetan. Nicht haben sie jemals meine Rinder hinweggetrieben oder Pferde, noch haben sie je in Phthia, der starkscholligen, männernährenden, die Frucht verwüstet, da doch sehr viel dazwischen liegt: schattige Berge
und das Meer, das brausende [...].“ Doch auch diese Quelle deutet Benioff um: Denn bei
Homer steht Achill vor dem Höhepunkt eines Konflikts, der sich daran entzündet hat, daß
Agamemnon Achill seines rechtmäßigen Ehrengeschenkes berauben will. In heller Wut
beschuldigt Achill Agamemnon der Undankbarkeit – sein unermüdlicher Einsatz für die
Gemeinschaft der Griechen, den er aufopferungsvoll erbracht habe, obwohl die Troianer
ihm doch gar nichts angetan hätten, werde von Agamemnon nicht gewürdigt. Aus diesem
spontanen Affekt, der erst im zehnten Kriegsjahr entsteht und aufgrund seiner konkreten
Veranlassung durchaus eine gewisse Berechtigung hat, wird bei Benioff eine feindselige
Grundhaltung, die Achill schon vor dem Ausbruch des ganzen Krieges gehabt haben soll.
– Diese Umdeutung ergibt sich beinahe zwingend aus der die Streichung der ChryseisEpisode; vgl. dazu unten den Abschnitt „Handlungsführung“ (2.8.).
132
Angelehnt an Hom. Il. 9, 410 – 416.
39
„Du verrätst Griechenland, nur weil du willst, daß Agamemnon verliert!“
Und tatsächlich nimmt Achill keine Rücksicht: nicht auf Könige, nicht auf
Länder und noch nicht einmal auf Götter. So läßt er z.B. zu, daß seine Männer die unbewaffneten Priester des Gottes Apollon töten, dessen Standbild
er vorher eigenhändig geköpft hat.133 Auch darin ist er der Antipode Hektors, der sich in seiner Feldherrenrede zur Ehrung der Götter bekannt hat.
Um berühmt (oder vielmehr: berüchtigt) zu werden, muß Achill vor aller
Augen töten, töten, töten. Agamemnon zufolge ist er „ein begnadeter
Schlächter.“ Dieses Schicksal soll er sich nun allerdings nicht selbst ausgesucht haben, als ob es ihm nicht von Thetis zur freien Wahl gestellt worden sei. Vielmehr sagt Nestor über ihn: „Dieser Mann wurde geboren, um
zu töten.“ Und auch er selbst sieht sich einem schicksalhaften Zwang ausgesetzt. Auf die Frage der Briseis, wieso er sich denn entschieden habe,
ein großer Krieger zu werden, antwortet er: „Das war gar keine Entscheidung [!]. Ich wurde geboren und bin der, der ich bin.“
Achill muß also töten, und doch will er im Grunde nicht töten. Beispielsweise weint er über der Leiche Hektors. Und zu Patroklos sagt er: „Nachts
sehe ich ihre Gesichter. All die Männer, die ich tötete. Da stehen sie am
fernen Ufer des Styx. Sie warten auf mich. Sie sagen: Willkommen, Bruder! Wir Menschen sind elende Kreaturen.“
Deshalb monieren einige Rezensenten, daß der „Charakter des Achilles
[...] unglaubwürdig und unschlüssig“ gestaltet sei: „Brad Pitt spielt die
Rolle des Achilles zwar mit Bravour, aber irgendwie kriegt er die Kampfesmüdigkeit auf der einen und den unüberwindbaren Drang nach Ruhm
und Unsterblichkeit auf der anderen Seite nicht ganz unter einen Hut.“ Er
spiele „zwei verschiedene Personen in einer,“ ohne daß der Gegensatz
zwischen beiden in irgendeiner Hinsicht aufgelöst werde.134
Den Versuch des Drehbuchautors, Achill mit einem differenzierten Charakter auszustatten, halten diese Rezensenten also offenbar für mißglückt.
2.6.5.
Typen statt Individuen bei Petersen
Ihrem Urteil wird man sich m.E. wohl anschließen müssen:
Man kann Benioff zwar zugute halten, daß er sich überhaupt um Differenzierung bemüht, und zwar außer bei Achill auch bei Paris, den er erst ganz
allmählich zum perfekten Troianer heranreifen läßt. Man kann aber nicht
auf den Vorwurf verzichten, daß er das rechte Maß dabei verfehlt. Denn
im Falle des Paris geht die Differenzierung nicht weit genug, im Falle Achills hingegen gleich so weit, daß über ihr die Einheit der Person in Gefahr gerät.
133
Zum Thema Religionskritik vgl. unten den Abschnitt „Weltanschauung“ (2.9.).
In dieser Reihenfolge: Rezensionen vom 25. 5. 04 aus München; vom 29. 6. 04 aus
Reinheim; vom 4. 8. 04 aus Neustadt-Glewe.
134
40
In allen anderen Fällen fehlt sogar dieses Bemühen; die Differenzierung
weicht vollständig der Simplifizierung. Das Urteil eines Zuschauers bringt
die Sache auf den Punkt: „[Im Film] werden vielen Schlüsselfiguren archetypische Verhaltensmuster zugeordnet, z.B.: der machthungrige Agamemnon. Zu kritisieren ist nicht, daß er als machthungrig dargestellt wird.
Fatal ist, daß er nichts, aber auch gar nichts anderes darstellt.“135 Es werden also statt fein gezeichneter Individuen holzschnittartige Typen auf die
Leinwand gebracht, die ein äußerst begrenztes Spektrum von schätzensoder verabscheuenswerten Eigenschaften in der Weise verkörpern, daß
das Kino zur moralischen Lehranstalt umfunktioniert wird.
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieses Verfahrens lassen sich mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. In dieser Zeit entwickelten
europäische Humanisten unter Berufung auf Horaz und einen durch die
Brille des Horaz gelesenen Aristoteles136 eine überaus wirkmächtige Dichtungstheorie, zu deren zentralen Belegen der Rat des Horaz gehört:
„Wenn du etwa den hochgestellten Achill neu auf die Bühne bringst,
muß er rastlos, jähzornig, unerbittlich, schroff
leugnen, daß es Normen für ihn gebe,
darf er nichts sich nicht mit Waffengewalt ertrotzen.
Medea sei wild und unbändig, tränenreich Ino,
treubrüchig Ixion, Io gehetzt, finster Orestes.”137
Auch wenn Horaz hier möglicherweise nur gemeint hatte, daß der Dichter,
der einen Mythos dramatisieren wolle, die daraus bekannten Charaktere
nicht unbegrenzt ändern, also z.B. die Ino nicht plötzlich als Ausbund an
Fröhlichkeit darstellen dürfe, wurde er nun eindeutig im Sinne der Forderung verstanden, homogene Typen zu erschaffen, die als Beispiele für jeweils eine positive oder negative Charaktereigenschaft anziehend oder abschreckend auf die Zuschauer wirken und so den Zweck des Dramas, moralisch zu belehren (prodesse), erfüllen könnten.
Daß Benioff diese Forderung, wenn auch unbewußt, erfüllt, dürfte nach
dem Gesagten außer Frage stehen.
2.6.6.
Individuen statt Typen bei Homer
In Frage steht hingegen, ob Homer auf entsprechende Weise verfährt.
Liest man nicht immer wieder, Homer entwerfe das Idealbild einer Ver135
136
137
Rezension vom 22. 5. 04 aus Mühlheim.
Vgl. dazu bes. Kappl (2001).
Horaz, Ars poetica 120 – 124 (ed. Klingner):
„[…] honoratum si forte reponis Achillem,
inpiger, iracundus, inexorabilis, acer
iura neget sibi nata, nihil non adroget armis.
sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino,
perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes.“
41
gangenheit, in der die Welt noch von lauter „göttlichen“, „strahlenden“
Helden bevölkert war?138
Homer präsentiert jedoch niemals schlackenlose Helden, auch wenn er ihren Namen noch so viele positive Epitheta beifügt. Im Gegenteil: Er zeigt
in meisterhafter Weise die Gebrochenheit des Menschen. Er führt genial
vor Augen, daß selbst Menschen mit hervorragenden Fähigkeiten an bestimmten charakterlichen Schwächen scheitern und sich selbst und ihre
Gemeinschaft in großes Unglück stürzen können. Er bietet anders, als man
es vielfach liest, gerade keine pauschale Verklärung einer heroischen Vergangenheit, sondern eine differenzierte Studie über die Fehlbarkeit des
Menschen anhand von Menschen der Vergangenheit.
Auf der anderen Seite setzt Homer aber auch keine Verbrecher in Szene.139 Sein Agamemnon ist ebenso wenig ein Hitler,140 wie sein Hektor ein
Heiliger ist.141 Die Handlungsträger der Ilias sind vielmehr, aristotelisch
gesprochen, ‚mittlere Charaktere‘, mit denen der Leser sich identifizieren
und für die er ‚Furcht und Mitleid‘ empfinden kann.142 Dies betrifft die
Troianer und die Griechen, es betrifft Menelaos, Agamemnon und Hektor,
vor allem aber betrifft es Achill, an dem ich es beispielhaft darstellen will:
2.7.7.
Achill
Wenn ein Verteidiger Benioffs schreibt: „Daß man Achilleus [...] nicht als
so ein Riesenarschloch hinstellen kann, wie er es in der Sage ist, [...] muß
einem doch einleuchten!“143, dann erliegt er einem Fehlurteil. Dieses Fehlurteil bleibt ungeachtet dessen, daß es durch namhafte Autoren literarisch
hoffähig gemacht worden ist, ein Fehlurteil. In Homers Ilias ist Achill nämlich nicht, wie in Vergils Aeneis, „ein wilder, saevus, grausamer, immitis,
Massenschlächter,“144 und er ist schon gleich gar nicht, wie in Christa
Wolfs Kassandra, „Achill das Vieh.“145
Nach der Lektüre von Ilias A habe ich Schülern einmal die Aufgabe gestellt, ein Charakterbild von Achill zu entwerfen. Dabei kamen sie zu dem
folgenden Ergebnis:
138
Bezeichnenderweise wird diese These weniger in Untersuchungen zu Homer selbst als
zu späteren Dichtern wie den Hellenisten vertreten, die sich durch die Betonung des Unheroischen von ihm emanzipiert haben sollen.
139
Das gilt zumindest für die eigentlichen Handlungsträger – Nebenfiguren wie Thersites
und Pandaros wird mancher durchaus als Verbrecher ansehen.
140
Vgl. oben Anm. 126 – 129.
141
Vgl. oben Anm. 124.
142
Vgl. Aristot. Poet. 13, 1452 b 28 – 1453 a 12.
143
Rezension vom 30. 8. 04 aus Köln [sit venia verbo!].
144
Latacz (1997) S. 25. – In der darauf bezogenen Anm. 63 stellt Latacz die wesentlichen Belege kommentierend zusammen: Verg. Aen. 1, 30; 2, 29; 3, 87; 5, 804 – 810.
145
Wolf (2001) S. 27. 29 u.ö. – Vgl. dazu Latacz (1997) S. 9 mit Anm. 1.
42
Die negative Seite Achills liege darin, daß er „leicht zu deprimieren“ und
„schnell beleidigt (zickig)“ sei. Man erlebe ihn als „cholerisch“, „jähzornig“
und „rachsüchtig“, dazu im Verfolg seiner Rache als „starrsinnig“, „stur“
und „skrupellos“. Doch könne man ihn auch neutraler als „gefühlsgeleitet“
und „impulsiv“ bezeichnen. Auch daß er „auf seine Ehre bedacht“ sei,
müsse man nicht von vornherein als Fehler bewerten. Positiv sei in jedem
Fall zu beurteilen, daß er nicht einfach nur grundlos zürne, sondern auf die
Zumutungen Agamemnons „begründet aggressiv“ reagiere. Durch seinen
Widerstand gegen den Oberbefehlshaber erweise er sich außerdem als
„selbstbewußt“ und „mutig“, ja sogar „heldenhaft“. Im Blick auf die anderen Griechen handle er „verantwortungsbewußt“, „aufopferungsvoll“ und
„hilfsbereit“, er verhalte sich „aktiv loyal zu seinen Freunden“ und sei daher „ein wahrer Freund“. Da er überdies auch noch „die Götter verehre“,
empfinde man ihn in vieler Hinsicht als „vorbildlich“.
Zu Recht arbeiteten die Schüler mit diesen Begriffen heraus, daß der Homerische Achill alles andere als ein „Vieh“ ohne menschliche Züge ist.
Er neigt zwar durchaus zum Jähzorn – eine Tendenz, die er selbst genau
kennt146 und angesichts ihrer Folgen als verhängnisvoll einschätzt.147
Selbst dieser zweifellos furchtbare Jähzorn hat jedoch positive Aspekte:
Denn erstens wird Achill durch ihn nicht vollkommen blind. Selbst auf dem
Höhepunkt seiner Wut über Agamemnon bleibt er vielmehr für eine gewisse Art von Vernunft, die ihm rät, den Beleidiger nicht zu erschlagen, offen148 und kann zwischen schuldig und unschuldig unterscheiden – so läßt
er seinen Groll auf Agamemnon nicht auch an dessen Abgesandten aus,
sondern empfängt sowohl die Herolde, die ihm Briseis entführen, als auch
die Gefährten, die ihn zum Wiedereintritt in den Kampf bewegen sollen,
mit ungespielter Höflichkeit und Freundlichkeit.149
Und zweitens läßt gerade seine Neigung zum Zorn auf ein überaus starkes
Rechtsempfinden schließen. Man gerät nämlich, wie Aristoteles in seiner
berühmten Definition des Zorns betont, dann und nur dann in Rage, wenn
man meint, es sei einem selbst oder etwas zu einem selbst Gehörigem
von seiten jemandes, dem dies nicht zustehe, eine Geringschätzung, also
ein Unrecht, widerfahren.150 Und Achill hält es ganz explizit für ein schreiendes Unrecht, daß Agamemnon seinen rast- und selbstlosen Einsatz für
die Gemeinschaft151 – den er auch wirklich objektiv erbracht hat – nicht
durch entsprechende Wertschätzung honoriere, sondern ihm stattdessen
auch noch Schimpf antue „so wie irgendeinem ehrlosen Zugewander146
Zu entnehmen aus Hom. Il. 24, 582 – 586.
Zu entnehmen aus Hom. Il. 18, 107 – 111.
148
Hom. Il. 1, 188 – 222.
149
Hom. Il. 1, 327 – 336; 9, 192 – 204.
150
Aristot. Rhet. B 2, 1378 a 30 – b 10.
151
Hom. Il. 9, 323 – 327: „Und wie eine Vogelmutter den unflüggen Jungen hinträgt den
Bissen, wenn sie ihn findet, und schlecht geht es ihr selber, so habe auch ich viele schlaflose Nächte hingebracht und Tage, blutige, durchgemacht im Kampfe, mit Männern kämpfend um der Frauen willen von denen!“
147
43
ten!“152 Es ist also sein Rechtsempfinden, dessen Verletzung ihn in Zorn
geraten läßt.
Dieses Rechtsempfinden führt freilich auch dazu, daß er jede Art von Verstellung haßt und ehrliche, aufrechte Menschen bevorzugt, die das, was
sie denken, auch ungeschminkt sagen,153 egal, ob es ihnen zum Vor- oder
Nachteil gereicht.
Und es veranlaßt ihn dazu, sich unter allen Umständen für das Recht einzusetzen, auch und gerade, wenn es das Recht des Schwächeren ist, und
ungeachtet der Möglichkeit, sich dadurch den Unmut des Stärkeren zuzuziehen. Das erhellt aus der Tatsache, daß der Seher Kalchas, als er im
Begriff ist, Agamemnon die Schuld an der Pest zuzusprechen, seine Bitte
um Schutz vor dem Zorn eines Mächtigen ausgerechnet an Achill richtet
und Achill ihm diesen Schutz auch auf der Stelle verspricht.154
Achills Bereitschaft, einen Schwächeren zu schützen, verweist auf einen
weiteren Charakterzug, den er besitzt, nämlich auf die Fähigkeit zum Mitleid: Immer wieder läßt er sich von fremdem Leid anrühren, tröstet mit
Worten und unterstützt durch Taten.155
So ist nicht zufällig er es, an den Hera sich wendet, um der Pest bei den
Griechen Einhalt zu tun.156 Offenbar sieht Hera voraus, daß Achill für den
Gedanken, den sie ihm eingeben möchte, nämlich eine Heeresversammlung einzuberufen und nach Auswegen aus der Lage zu suchen, aufgeschlossen sein werde. Offenbar liegt bei Achill eine psychische Disposition
vor, die ihr den Erfolg gerade dieser Anregung an ihn garantiert, nämlich
Mitgefühl mit den sterbenden Griechen.157
Auch später, als die Griechen von den Troianern beinahe aufgerieben werden, läßt ihn ihr Leiden nicht unberührt (obwohl er es durch seinen Rückzug aus dem Kampf selbst verursacht hat, um Agamemnon, von dem er
sich beleidigt fühlt, in die Knie zu zwingen). Eben deshalb, weil er dieses
Leiden nicht länger mit ansehen kann, aber noch nicht bereit ist, seinen
Stolz gegenüber Agamemnon ganz aufzugeben, läßt er Patroklos statt seiner in den Kampf ziehen.158
152
Hom. Il. 9, 646 – 648.
Hom. Il. 9, 312 f.
154
Hom. Il. 1, 68 – 100, bes. 88 – 91.
155
Vgl. z.B. Hom. Il. 23, 532 – 538.
156
Hom. Il. 1, 53 – 56.
157
Daß sich die Götter bei ihrer Beeinflussung der Menschen immer nach deren psychischen Dispositionen richten (gemäß der These des Hl. Thomas: „Operatur enim [Deus]
in unoquoque secundum eius proprietatem“, S. Th. 1, qu. 83, a. 1, resp. ad 3), hat Arbogast Schmitt überzeugend gezeigt; vgl. Schmitt (1990) S. 72 – 114: “Gott und Mensch
bei Homer”; bes. S. 76 – 81: Athene und Achill; S. 82 – 84: Athene und Pandaros; S. 84 –
89: Zeus und Agamemnon.
158
Hom. Il. 11, 599 – 615; 16, 1 – 101. – Vgl. dazu Schmitz (2001) S. 156: „Mit den bedrohlich zunehmenden Verlusten der Griechen wächst auch Achills Anteilnahme. Dies
äußert sich vor allem darin, daß der zu Beginn des Grolls abseits verharrende Achill, als
er im 11. Buch wieder in den Blick gerät, sich unterdessen schon rein äußerlich bewegt
153
44
Im Kampf hat er selbst seine Gegner schon häufig milde behandelt.
Andromaches Vater Eёtion hat er ehrenvoll in seiner Rüstung bestattet,159
Andromaches Mutter gegen ein Lösegeld freigegeben.160 Auch das Beispiel
des Priamos-Sohnes Lykaon, dessen Freikauf er akzeptiert hat,161 beweist
die Richtigkeit seiner Selbstaussage: „Ja, bevor Patroklos dem Schicksalstag gefolgt ist, solange war mir lieber im Sinn, auch einmal zu schonen die
Troer, und viele habe ich lebend gefangen und verkauft.“162
Allerdings enthält diese Selbstaussage bereits eine entscheidende Einschränkung: „bevor Patroklos dem Schicksalstag gefolgt ist.“ Nachdem
Patroklos von Hektor getötet worden ist, verhält Achill sich nämlich diametral entgegengesetzt: Er metzelt eine solche Unzahl von Troianern nieder, daß der Fluß Skamander all die Leichen nicht mehr fassen kann und
sich mit den anderen Flüssen gegen ihn empört.163 Hektors Halbbruder
Lykaon, der, erneut in seine Gewalt geraten, auch um erneute Gnade fleht,
schlachtet er regelrecht ab.164 Hektor selbst, der noch im Sterben darum
bittet, seinen Eltern zur Bestattung übergeben zu werden, will er stattdessen unbestattet den Hunden überlassen165 und schleift ihn zuvor mit dem
Streitwagen vor den Augen seiner Eltern um die Stadtmauern166 – eine
hat: er befindet sich nämlich im Gegensatz zu dem in der Lagerhütte weilenden Patroklos
bereits auf dem Heck eines Schiffes (V. 600), von wo aus er auf die in Not geratenen
Griechen blickt [...] (V. 601). Von Abfahrt ist nicht mehr die Rede; vielmehr nimmt Achill
am Leid der Griechen so großen Anteil, daß er Patroklos ausschickt, Nestor zu befragen,
wen dieser verwundet aus dem Kampf führe (V. 611 f.). Trotz des Vorwurfs der Härte und
Unbeweglichkeit, den Patroklos zu Beginn des 16. Buches gegenüber seinem Freund erhebt (vgl. insbes. V. 29 [...]), gibt Achill so weit nach, wie er es in dieser Situation kann.
Zwar fühlt er sich selbst noch an seine eigenen Worte gebunden, daß er erst dann wieder
in den Kampf eintrete, wenn die Troer zu seinen Schiffen gelangt seien (Π 61 – 63), immerhin gibt er aber Patroklos die Erlaubnis, in seinen Waffen mit den Myrmidonen auszuziehen. Diese Stellen zeigen, wie Achill aus Mitleid mit den Bedrängten [s]eine einmal
eingenommene Haltung [bereits teilweise] aufgibt.“
159
Das in der Ilias vielfach erwähnte ‚Normalverhalten‘ besteht hingegen darin, den getöteten Gegner seiner Rüstung zu berauben und ihn dann unter freiem Himmel einfach
liegen zu lassen, so daß er von streunenden Hunden und Aasgeiern zerfleischt werden
kann; vgl. Hom. Il. 1, 4 f. (viele weitere Stellen zählt ad locum auf: Homers Ilias. Gesamtkommentar. Bd. 1, Fasc. 2, S. 18). – Abgesehen davon, daß sich ein solches Schicksal auch heute niemand wünschen würde, ist zu bedenken, daß der antike Mensch ohne
Bestattung nicht glaubte ins Jenseits kommen zu können. Um zu ermessen, wie wichtig
ihm daher ein Grabmal war, braucht man nur an Antigone zu denken.
160
Hom. Il. 6, 414 – 427.
161
Hom. Il. 21, 34 – 41.
162
Hom. Il. 21, 100 – 102.
163
Hom. Il. 21, 1 – 327, bes. 211 – 221.
164
Hom. Il. 21, 34 – 138.
165
Hom. Il. 22, 248 – 273. 330 – 354, bes. 345 – 348: „Nicht bei den Knien, Hund! bitte mich
kniefällig, noch bei den Eltern! Könnte doch Ungestüm und Mut mich selber treiben, roh
heruntergeschnitten dein Fleisch zu essen, für das, was du mir getan hast! So ist keiner,
der dir die Hunde vom Haupte fernhält!“
166
Hom. Il. 22, 395 – 515, bes. 395 – 405: „Sprach es, und dem göttlichen Hektor sann er
schmachvolle Dinge: An beiden Füßen hinten durchbohrte er ihm die Sehnen von der
Ferse bis zum Knöchel und knüpfte rindslederne Riemen daran, band ihn an seinen Wagen und ließ das Haupt nachschleifen. Und er stieg auf den Wagen und hob auf die berühmten Waffen, schwang die Geißel und trieb, und die flogen nicht unwillig dahin. Da
war um den Geschleiften ein Schwall von Staub; seine blauschwarzen Haare fielen aus-
45
ebenso triumphale wie brutale Art der Leichenschändung, die er von nun
an täglich am Grabmal des Patroklos wiederholt, bis sich am zwölften [!]
Tag Apoll in der Götterversammlung darüber beklagt.167 Wo bleibt hier
sein vielgepriesenes Mitleid?
In der Tat kann von Mitleid hier nicht mehr die Rede sein. Die Frage ist
aber, ob Achill in der gegebenen Situation so agiert, wie es seinem eigentlichen Charakter entspricht, ob er also gleichsam die Maske des Menschen
fallen läßt und darunter die Fratze des Viehs als sein wahres Gesicht zum
Vorschein kommt, oder ob er sich umgekehrt selbst vergißt.
Meiner Meinung nach ist Letzteres der Fall: Achill ist nicht mehr bei sich,
er ist außer sich. Er ist ausgerastet. Er steht unter Schock. Er hat ein
Schocktrauma erlitten, als man ihm die Nachricht überbrachte, daß Patroklos getötet worden sei. Homer beschreibt diesen Vorgang wie folgt:
„Indessen kam zu ihm heran der Sohn des erlauchten Nestor [= Antilochos], heiße Tränen vergießend, und sagte die schmerzliche Botschaft: ‚O
mir, Sohn des Peleus, des kampfgesinnten! Ja, eine sehr traurige Botschaft mußt du vernehmen – wäre es doch nicht geschehen! Tot liegt Patroklos, und nun kämpfen sie um den Leichnam, den nackten, aber die
Waffen hat der helmfunkelnde Hektor!‘ So sprach er, und den umhüllte
des Schmerzes schwarze Wolke. Und er griff mit beiden Händen in den
rußigen Staub und schüttete ihn über das Haupt und entstellte sein liebliches Antlitz, und auf dem nektarischen Kleid saß rings die schwarze
Asche. Doch er selbst lag im Staub, der Große, groß hingestreckt, und
raufte sein Haar und entstellte es mit seinen Händen. Aber die Mägde, die
Achilleus erbeutet hatte und Patroklos, schrien groß auf, bekümmert im
Mute, und liefen aus der Tür herbei um Achilleus, den kampfgesinnten, und schlugen alle mit den Händen die Brüste, und einer jeden lösten
sich unten die Knie. Und drüben jammerte Antilochos, Tränen vergießend,
und hielt die Hände des Achilleus – der stöhnte in seinem ruhmvollen Herzen –, denn er fürchtete, er könnte sich die Kehle abschneiden mit dem
Eisen.“168
Im weiteren Verlauf wird noch mehrfach mit ergreifenden Worten geschildert, wie Achill um Patroklos trauert:
Er wehklagt schrecklich, er stöhnt schwer, und er weint169 – er weint nicht
nur, als er den Leichnam zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, „heiße Tränen vergießend, als er vor sich sah den treuen Gefährten, liegend auf der
Bahre, zerfleischt von dem scharfen Erz,“170 sondern man findet ihn auch
später immer wieder „über Patroklos hingeworfen, hellauf weinend.“171
einander, und das Haupt lag ganz im Staube, das einst so liebliche: damals aber hatte es
Zeus seinen Feinden gegeben zu schänden in der eigenen väterlichen Erde.“
167
Hom. Il. 24, 31 – 54.
168
Hom. Il. 18, 16 – 34.
169
Hom. Il. 18, 35. 78. 73.
170
Hom. Il. 18, 235 f.
171
Hom. Il. 19, 4 f.
46
Er kann nichts mehr essen – schon gleich gar nicht, wenn er daran denkt,
daß das Essen ihm früher von Patroklos hingestellt wurde: „Um ihn aber
versammelten sich die Ältesten der Achaier und baten ihn zu essen. Er
aber verweigerte es stöhnend [...].“172
Er kann nicht mehr schlafen (auch nicht mit Briseis),173 denkt ständig an
die Zeit mit dem Freund, den Hektor ihm genommen hat, steht schließlich
auf und reagiert sich ab, indem er Hektors Leichnam malträtiert: „Aufgelöst war die Versammlung, und die Männer zerstreuten sich ein jeder, um
zu den schnellen Schiffen zu gehen, und sie gedachten, sich am Mahl und
am süßen Schlaf zu ergötzen. Aber Achilleus weinte, seines Gefährten gedenkend, und nicht ergriff ihn der Schlaf, der Allbezwinger, sondern er
wandte sich hin und her, sich sehnend nach des Patroklos Manneskraft
und tapferem Ungestüm; und wie viele Kämpfe er mit ihm abgewickelt
und Leiden erduldet, durchmessend die Kriege der Männer und die
schmerzlichen Wogen. Dessen eingedenk vergoß er reichliche Tränen, bald
auf den Seiten liegend und bald wieder auf dem Rücken, bald auf dem Angesicht. Dann aber stand er aufrecht auf und streifte irrend umher am
Strand des Meeres, und keine Morgenröte entging ihm, wenn sie erschien
über der Salzflut und den Ufern, sondern hatte er angeschirrt an den Wagen die schnellen Pferde und den Hektor zum Schleifen hinten an den Wagen gebunden und ihn dreimal gezogen um das Mal des Menoitios-Sohns,
des toten, so ruhte er wieder in der Hütte, ließ diesen aber im Staub,
vornüber hingestreckt. [...] So mißhandelte dieser den göttlichen Hektor
im Zorn.“174
Zwar gab es mehrere Menschen, die Achill etwas bedeuteten, wie z.B. Briseis und Phoinix.175 Patroklos aber war derjenige, der ihm von allen am
nächsten stand, der „weit liebste Gefährte“, der „liebe Gefährte [...], den
ich vor allen Gefährten wert hielt gleich wie mein eigenes Haupt.“176
Dadurch, daß er ihm Patroklos nahm, hat Hektor Achill einen unerträglichen Schmerz zugefügt. Um sich von diesem Schmerz zu befreien, versucht Achill zuerst, sich selber umzubringen, d.h. sich als empfindendes
Subjekt des Schmerzes auszulöschen. Erst danach beschließt er, seinen
Schmerz auf den Verursacher zurückzuwenden. (Im Film wendet Achill
seine Aggression dagegen sofort nach außen, indem er seinen Fuß auf die
Kehle des Boten stellt und Briseis, die ihn daran hindern will, an der Gurgel packt.)
Weil er Schmerz erleidet, will er Schmerz zufügen.
Das ist zwar nicht zu entschuldigen, aber doch vielleicht zu verstehen.
172
173
174
175
176
Hom. Il. 19, 303 f.
Hom. Il. 24, 128 – 131.
Hom. Il. 24, 1 – 22; vgl. 24, 416 f. 754 – 756.
Zu Briseis vgl. Anm. 34; zu Phoinix vgl. Hom. Il. 9,
Hom. Il. 17, 411. 655 (vgl. 19, 315); 18, 80 – 82.
432 – 622,
bes.
478 – 495. 606 – 622.
47
Nach Hektors Tod kommt er allmählich wieder zu sich,177 kann allmählich
wieder essen, trinken178 und schlafen (auch mit Briseis)179 – kann sogar
wieder Mitleid empfinden, und zwar Mitleid mit dem Vater seines Feindes!
Er hätte natürlich auch Priamos töten können, als dieser nachts allein in
seine Hütte kam, um den Leichnam Hektors zu erbitten, aber er „hob den
Alten auf an der Hand, sich erbarmend des grauen Hauptes und des grauen Kinns, und er begann und sagte zu ihm die geflügelten Worte: Ah, Armer! ja, schon viel Schlimmes hast du ausgehalten in deinem Mute!“180
Anders, als er es noch im Racherausch gewollt hatte, ist er jetzt nicht nur
willens, Hektors Leichnam dessen Vater zu übergeben, wobei er aus Rücksicht auf die Gefühle des Priamos sogar dafür sorgt, daß der Leichnam gewaschen, gesalbt und in schöne Gewänder gehüllt wird, und eigenhändig
mithilft, ihn auf den Wagen zu heben.181 Er bietet vielmehr auch noch eine
Waffenruhe an, damit der Leichnam ehrenvoll bestattet werden kann.182
Christine Schmitz betont in diesem Zusammenhang, daß „Achills von Respekt und Mitleid geprägtes Verhalten gegenüber seinen Feinden über das
von ihm geforderte Maß weit hinausgeht.“183 Damit erkennt sie ihm außer
Mitleid auch noch Großmut zu – eine Großmut, die er zuvor schon mit der
„noblen Geste“184 bewiesen habe, Agamemnon nach den Leichenspielen
für Patroklos mit der spontanen Übergabe des Kampfpreises zu ehren.185
Hier habe Thetis Achill zwar den Auftrag des Zeus überbracht, Priamos’
Bitte um Hektor zu erfüllen.186 Zeus habe diesen Auftrag aber schon in
dem Wissen erteilt, daß Achill dafür auch offen sein werde: „Denn er ist
weder unverständig, noch unbedacht, noch frevelmütig, sondern sehr
sorgsam wird er den Mann, den Schutzsuchenden, schonen.“187 Seine Gottesfurcht habe Achill nämlich schon seit langer Zeit bewährt.188 Und auch
jetzt akzeptiere er den Auftrag des Zeus ohne Zögern und ohne Widerspruch,189 entsprechend seiner an anderer Stelle zum Ausdruck gebrachten Grundauffassung: „Not ist es, Göttin, euer beider Wort zu bewahren,
177
Ein sehr gutes Verständnis dieses Vorgangs ermöglicht Schmitz (2001).
Hom. Il. 24, 475 f.
179
Hom. Il. 24, 675 f.
180
Hom. Il. 24, 518.
181
Hom. Il. 24, 580 – 590.
182
Hom. Il. 24, 656 – 672.
183
Schmitz (2001) S. 154, Anm. 31 mit Verweis auf die Ergebnisse von Zanker (1994).
184
Schmitz (2001) S. 153; vgl. S. 145.
185
Hom. Il. 23, 884 – 897.
186
Hom. Il. 24, 133 – 137.
187
Hom. Il. 24, 157 f. 186 f. – Schmitt (2001) S. 30 übersetzt paraphrasierend: „er ist jemand, der Verstand hat, der auch den Ausgang seines Handelns beachtet und niemals
absichtlich Böses tut.“
188
Vgl. z.B. Hom. Il. 16, 220 – 256.
189
Hom. Il. 24, 138 – 140. – Hierin kann man durchaus eine eigene Leistung Achills erkennen, wenn man nicht annimmt, daß die Homerischen Menschen Marionetten der Götter
ohne jegliche Art von Entscheidungsfreiheit gewesen seien.
178
48
ob man auch noch so sehr im Mute zürnt, denn so ist es besser. Wer den
Göttern gehorcht, sehr hören sie auch auf diesen.“190
Deshalb hebt Schmitz zusammenfassend hervor, daß Mitleid, Großmut
und Gottesfurcht „ebenso feste Charaktereigenschaften Achills wie sein
leidenschaftliches Wesen [sind].“191
Darin teilt sie die Meinung von Arbogast Schmitt, der ebenfalls unterstreicht: „Achills Charakter ist bei Homer ja nicht etwa als Verkörperung
der Zorneswut gezeichnet. Achill ist keineswegs nur der unersättlich und
schrankenlos Zürnende; gleich stark sind in ihm auch seine bedingungslose Bereitschaft, für das Recht einzustehen [...], sein aufopferungsvolles
Eintreten für das Wohl der Gemeinschaft, selbst unter Hintansetzung des
eigenen Lebens, ein aufrichtiges und leicht anrührbares Mitgefühl mit den
anderen und seine Gottesfurcht.“192
Auch wenn damit nur sehr wenig von dem, was es über den homerischen
Achill zu sagen gäbe, gesagt ist, hoffe ich glaubhaft gemacht zu haben,
daß diese Gestalt mehr ist als ein bloßer Ehrgeizling und viel mehr als ein
„egozentrischer Terminator und Weiberheld des Altertums, der durch die
feindlichen Reihen geht wie ein warmes Messer durch Butter.“193
Natürlich ist auch der Homerische Achill ein Krieger, und natürlich geht es
auch ihm um Ruhm. Aber es geht ihm nicht ausschließlich um Ruhm, und
es geht auch nicht ausschließlich ihm um Ruhm.194 Mir scheint, daß Benioff, wenn er ein solches Bild von ihm vermittelt, eine bereits zitierte Stelle
der Ilias – Achill „sang die Rühme der Männer“195 – irrtümlich als Hinweis
auf den spezifischen Charakter Achills und nicht auf die Gattung des Epos
interpretiert hat.196
Bei Homer ist Achill ein Mensch mit vielen Stärken und manchen Schwächen. Er erscheint nicht als simpler Typos, sondern als komplexes Individuum, in dem sich negative, neutrale und positive Eigenschaften auf unverwechselbare Weise zur Einheit und Ganzheit eines bestimmten Charakters verbinden.197
Doch damit nun wieder zurück zum Film.
[Fortsetzung folgt.]
190
Hom. Il. 1, 216 – 218.
Schmitz (2001) S. 153.
192
Schmitt (1990) S. 78 f.
193
Rezension vom 28. 6. 04 aus Östringen.
194
Vgl. z.B. die Aussagen Hektors in Hom. Il. 6, 441 – 446; 22, 304 f.
195
Hom. Il. 9, 186 – 189.
196
Ein solcher aber ist diese Stelle, wie man schon daraus entnehmen kann, daß auch
der Aoide Demodokos „die Rühme der Männer“ zum Thema macht; vgl. Hom. Od. 8, 73.
197
Die Frage, ob man bei den Homerischen Menschen überhaupt schon von ‚Charakteren‘
sprechen könne, bejaht aus guten Gründen Schmitt (1990) S. 78 f. mit Anm. 245.
191
49