Gedichte - Hrvatsko Društvo Pisaca

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Gedichte - Hrvatsko Društvo Pisaca
TIONS
Inhalt
1
Zeitschrift der Kroatischen
Schriftstellervereinigung
3-4/2007
Etwas über die subversive Macht der Fantasie
und fantasievolle junge Schriftsteller ..................................................................................................................................
3
Herausgeber
Kroatische Schriftstellervereinigung
DOSSIER: VESNA PARUN
RELA
RELATIONS
Literarisches Magazin
Redaktion
¹ Chefredakteurº
Roman Simi} Bodro`i}
¹ Redakteurinº
Jadranka Pintari}
Redaktionsadresse
Kroatische Schriftstellervereinigung
Basari~ekova 24
Tel.: (+385 1) 48 76 463
Fax: (+385 1) 48 70 186
www.hdpisaca.org
[email protected]
Preis 15 3
Umschlag
„Crtaona“, Ivona \ogi} \uri}
Prepress
Kre{o Tur~inovi}
Gedruckt in Kroatien bei
„Profil“, Zagreb
ISSN 1334-6768
Die Zeitschrift wird vom Ministerium
für Kultur der Republik Kroatien und
vom städtischen Fond der Stadt Zagreb
finanziell unterstützt.
Tea Ben~i} Rimay
Chronologie: Vesna Parun ..............................................................................................................................................................
5
Karmen Mila~i}
Der Vogel und die Zeit in der Gedichtkunst von Vesna Parun .......................................................
15
Jadranka Pintari}
Welche Farbe hat die Unruhe .....................................................................................................................................................
25
Vesna Parun
Eine Nacht für Bosheit ¹Auszüge aus dem Romanº ..........................................................................................
29
Vesna Parun
Gedichte ..................................................................................................................................................................................................................
59
Unsere Kindheit ist an allem Schuld ¹59º; Das Haus auf der Straße ¹60º; Die
Zeugen ¹60º; Epitaph ¹61º; Der Bruder ¹62º; Gong ¹64º; Lied an die Republik ¹64º;
Die Schwester ¹65º; Dreizehn Kummer ¹66º; ¹Fragmente º ¹67º; Baum ¹70º;
Altertümliches Lied ¹70º; Schule für Landstreicher ¹71º; Drei Inseln ¹72º; Gedicht für
einen alten Piratensegler ¹73º; Das Gesicht im Schatten ¹74º; Flügel der Leere ¹74º;
Gedicht in Form eines Gebets ¹75º; Komm, Geliebter ¹75º; Das Kind und die Wiese
¹76º; Ein echtes Gedicht ¹78º; Schlaflied ¹78º; Wenn du in der Nähe wärest ¹77º;
Eifersucht ¹80º; Langeweile oder wer weiß, was für ein Tag ¹81º; Musik der Nacht
¹81º; Fenster ¹82º; Die Mutter des Menschen ¹82º; Der Körper und der Frühling ¹83º;
Angst ¹83º; Ich war ein Junge ¹84º; Die Mädchen im Mausoleum ¹84º; Das Fenster
durch das ich den Mond heimlich beobachte ¹85º; Die Ballade von den betrogenen
Blumen ¹86º; Regen ¹89º; Lauter als die Jahrhunderte ¹89º; Wenn das Meer sich
fortbewegt ¹90º; Vor dem Meer, wie vor dem Tod, habe ich keine Geheimnisse ¹90º;
Pilgerfahrt in den Schlaf ¹91º; Du deren Hände unschuldiger sind ¹92º; Aufgehaltene Schritte ¹94º; Nur eins verstehe ich nicht mehr ¹94º; Der Olivenhain ¹95º; Der
Baum ¹96º; Der schlafende Jüngling ¹96º; Unbegreifliche Passanten ¹97º; Die dem
Meer zurückgegebene Koralle ¹98º; Wenn ein Vogel aufhört zu lieben ¹99º
Nikola Mili}evi}
Vesna Parun ......................................................................................................................................................................................................
101
Tea Ben~i} Rimay
Wenn der Mensch aufhört, einen anderen Menschen zu lieben ......................................................
110
2
Inhalt
RELA
TIONS
ZEITGENÖSSISCHE POESIE UND PROSA
Veljko Barbieri
Ergreifende Erinnerungen an die dalmatinischen Tafeln .......................................................................................................................................................................
115
Alida Bremer
Der Sommernachtstraum ..................................................................................................................................................................................................................................................................
121
Da{a Drndi}
Leicaformat ¹Auszugº ...........................................................................................................................................................................................................................................................................
124
Drago Glamuzina
Die Metzger .......................................................................................................................................................................................................................................................................................................
127
Als hätte sie sie nie geliebt ¹127º; Kraust sich Bra~ ¹128º; Es ist früher Morgen und wir sind uns einig ¹128º; Der
Schnee, der eben zu rieseln beginnt ¹129º; Ich hoffe, dass ich dich nie mehr ¹129º; Wovon wir reden, wenn wir von
Liebe reden ¹130º; Jeden tag schlägt mir jemand den kopf ab ¹131º; Der alte herr, der sie gevögelt hat ¹131º; Ein
nachmittag mit meinem sohn ¹132º; Wie der reiber in der straßenbahn ¹134º; Ausgestreckt ¹134º; Er sagte, sei nicht
böse, sie sagte, ich bin nicht böse ¹135º; Zitternde Hirsche ¹135º; Die Höhle der Schwimmer ¹136º; Sie kost mich auf
serbisch ¹137º; Ich küsse sie, sie küsst ihn, er küsst mich ¹138º; Josips mama ¹138º; Alles ist genau so wie es sein muss ¹139º;
Ich sollte in die küche gehen, ein messer nehmen und diese buchstaben zerschneiden ¹140º; Die Metzger ¹140º
\ur|a Kne`evi}
Über meine Mama, die Russen,
Feuerwehrmänner und andere ¹Auszug aus dem Romanº .......................................................................................................................................................................
142
Marinko Ko{~ec
Diese Handvoll Sand .............................................................................................................................................................................................................................................................................
147
Boris Peri}
Der Vampir ¹Romanauszugº ........................................................................................................................................................................................................................................................
159
Ante Tomi}
Nichts darf uns überraschen ¹Auszugº .............................................................................................................................................................................................................................
169
Milana Vukovi} Runji}
Die Geschichte der M. ¹Auszugº .............................................................................................................................................................................................................................................
173
DIE WAHL EINES KRITIKERS
Jadranka Pintari}
Die Wahl eines Kritikers ....................................................................................................................................................................................................................................................................
177
Jadranka Pintari}
Ein generationenübergreifendes Trauma der liebe • ¹ ROMAN SIMI]: In was wir uns verliebenº .................................................................
179
Unsterbliche Augenblicke der Wahrheit und Schönheit • ¹ZVONKO TODOROVSKI: Mandra~ oder die wunderliche
Erzählung über Petar Hektorovi}, einen altkroatischen Feudalherren, zusammengestellt aus sieben ungleichen Büchernº .................
181
Fallen der Vergangenheit, die Charon nicht in sein Boot lässt • ¹ IGOR [TIKS: Der Elias-Stuhl º ................................................................
184
Das Geheimrezept für Glück • ¹ IVICA PRTENJA^A: Gut ist es, schön ist esº ..............................................................................................................................
187
Ein geistvoller Liebesroman von weicher männlicher Hand • ¹ KRE[IMIR PINTARI]: Liebe ist allesº .......................................................
191
Die Zwei gegen alle ¹Stereotypenº • ¹ MIMA SIMI] / IVANA ARMANINI: Die Abenteuer der Gloria Scottº ................................................
193
Ein Stück Heiterkeit in der Melancholie des Südens • ¹ OLJA SAVI^EVI] IVAN^EVI]: Den Hund zum Lachen bringenº ......
194
Etwas über die subversive Macht
der Fantasie und fantasievolle
junge Schriftsteller
Ich kann mich nicht mehr genau
erinnern, aber vor ein paar Jahren,
zur Zeit eines der besonders blutigen
Kriege im Nahen Osten oder im Golf
(die historische Genauigkeit ist unwichtig) kreiste eine Geschichte als
urbane Legende umher. Ich habe sie
wenigstens so im Gedächtnis behalten. Eine Mutter blieb mit ihrem
kleinen Kind während eines Bombenangriffs lange in einem dunklen
Keller eingeschlossen. Als es nach einiger Zeit nichts zu essen gab, und
das Kind bitterlich weinte, zeichnete
die Mutter einen Apfel auf ein Blatt
Papier und das Kind beruhigte sich.
Das ist ein wunderbar furchteinflößendes Beispiel für die subversive
und tröstende Macht der Fantasie.
Und der Beweis für das Verwandeln
von Leere in Leben. Vielleicht auch
in ein Absurdum des Lebens, wie
auch immer, aber trotzdem ist es dem
Nichts entgegengesetzt (das seiner
Definition nach immer ohne Fantasie ist). Und das ist der Stoff aus dem
Poesie entsteht.
In der Hierarchie der Kunst ist die
Poesie die Erste, Ursprüngliche und
Authentische – ebenso wie gerade die
Fantasie auf der Leiter der Eigenschaften, die die menschliche Spezies von allen Lebewesen unseres Planeten unterscheiden, das distiktive
Merkmal ist, weswegen wir uns ei-
nen übergeordneten Status zugesprochen haben. Nur Menschen können
sich etwas einbilden, was nicht da ist,
was sein kann, was nicht war. Sowohl Fantasie als auch Poesie lehren
uns, dass das spezifische Gewicht eines Wortes von seinem Kontext abhängt, dass man zusammenfassend
denken soll, dass man auslassen soll,
was sich von selbst versteht, dass es
aufregend ist, sich auf den gefährlichen Stromschnellen der erhabenen Ideen zu bewegen, dass sich das
Risiko doch nicht immer auszahlt,
dass man manchmal alleine auf einem blattlosen Ast singen muss.
Ich will daran glauben, dass die Literatur – diese schwerkalibrige semantische Kunst – mit ihren Ausdrucksmitteln – den Worten – (noch) das
Bewusstsein und seine Bewegungsrichtung ändern, die Fantasie wecken
kann. Ja, ja – ich weiß, wie alt das
schon ist, aber es ist immer aufs Neue
wundersam zu sehen, wie die Seele
sich ans Wort schmiegt, wie die Fantasie ein Wesen modelliert und sich
in den Verstand prägt. Es ist immer
gleich wundersam, ebenso wie die
Geburt jedes neuen Lebens. Deshalb
hat die heutige Welt des tyrannischen
wortwörtlichen digitalen, vulgär realistischen und totalitären Bildes all
das zu Kitsch erklärt – um nicht nur
den Zauber des einzelnen Erlebnisses
jedes universellen Phänomens sondern auch die wahre umwälzerische
Macht der Fantasie unmöglich zu
machen. Wegen des utilitären Zwecks
und der allgemeinen erzwungenen
Gewinnmacherei aus geistigen Gütern
kann es nämlich grundsätzlich jene
nicht mehr geben, die frei und ungebärdig träumen, die so sind, wie es
Brodski so wundervoll über Dichter
sagte, gleich „einem Vogel, der zwitschert, gleichgültig auf welchem Ast
er sitzt, in der Hoffnung, dass es Zuhörer gibt, seien es auch nur Blätter.“
Im Mittelpunkt dieser Ausgabe unserer Zeitschrift steht deshalb so eine
Dichterin – Vesna Parun, eine der
größten dichterischen Stimmen der
modernen kroatischen Literatur.
In der Fortsetzung bringen wir Ihnen Auszüge aus der rezenten Produktion dreier schon affirmierter
Autoren und am Ende finden Sie
eine Reihe von Buchkritiken über
jüngere Schriftsteller, die, außer einem verkörperten Zeitgeist, auch viel
eigenständige Fantasie beweisen.
In dieser Ausgabe stellen wir Ihnen
den Fotografen Jakob Goldstein vor,
der beim Festival der Kurzgeschichte
europäische Schriftsteller ablichtet.
Redaktion
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
4
Chronologie
Vesna Parun
RELA
TIONS
RELA
TIONS
Dossier: Vesna Parun
5
Chronologie:
Vesna Parun
Tea Ben~i} Rimay
1922
Vesna Parun wird am 10. April auf
der Insel Zlarin nahe bei [ibenik geboren, wo ihr Vater als Gemeindebeamter beschäftigt ist, oft aber versetzt wird oder auch arbeitslos ist,
weshalb es die Familie mit ihren vier
Kindern nicht leicht hat. Aus diesem
Grund verbringt Vesna Parun einen
Großteil ihrer Kindheit und Jugend
bei ihrer Tante und ihrem Onkel in
Split, in Biograd na Moru und in
[ibenik. Ihr Vater Ante stammt von
der Insel Prvi}, ihre Mutter von der
Insel [olta.
Vesna Parun in [ibenik
im Alter von zwei Jahren
1932
Sehr früh schon beginnt sie zu schreiben. Ihr erstes Gedicht Pramalje (Der
Lenz), geschrieben auf der Insel Vis,
wo sie die Grundschule besucht, veröffentlicht sie im Alter von zehn Jahren (1932) in dem Blättchen Der
Schutzengel.
1938
Das Gedicht Zov (Der Ruf) veröffentlicht sie 1938 in der Zeitschrift
Sjeme (Der Samen), die von einem
Jungengymnasium herausgegeben
wird, und deren Redakteure Jure
Vesna Parun als Elfjährige
Ka{telan und @ivko Jeli} sind. In
diesem Gedicht erkennt man schon
den Leitgedanken von Vesna Paruns
Poesie: einen Lobgesang auf das Leben, auf Arbeit und Mut.
1940
Das Gymnasium besucht sie in [ibenik und Split, wo sie ihr Abitur
besteht. Sie ist eine ausgezeichnete
Schülerin und schon mit 13 Jahren
gibt sie Nachhilfestunden und verdient sich so ihren Lebensunterhalt.
Im Herbst 1940 wird sie in die Philosophische Fakultät in Zagreb aufgenommen und studiert Romanistik. Dann bricht der Krieg aus, sie
flieht nach Split und kehrt 1942 nach
Zagreb zu ihrer Familie zurück, wo
ihr Vater damals in Sesvete, einem
Vorort Zagrebs, in der Gemeinde beschäftigt ist. Ihr Bruder geht zu den
Partisanen und fällt bald darauf. Zu
jener Zeit ist Vesna Parun oft krank.
1947
Sie veröffentlicht den Gedichtband
Zore i vihori (Morgenrot und Wirbelsturm), der einen bedeutenden
Wendepunkt in der kroatischen Poesie darstellt. Es handelt sich hier um
träumerische Gedichte voller Bilder,
Symbole, Ahnungen. Einerseits begeistert sie das Leben, andererseits
lässt die Ruhelosigkeit des Krieges
und der Nachkriegszeit sie eine neue
6
RELA
Chronologie
TIONS
Vater Ante im Jahr 1913
Antica Mateljan, die Mutter von V. Parun
vor ihrer Heirat
V. Paruns Bruder Miro als Sechsjähriger
Zeit der Begrenzungen und der Unfreiheit erafhnen. So stellt ihre erste
Gedichtsammlung Zore i vihori den
Beginn der modernen Poesie dar.
Noch wichtiger zu erwähnen aber
ist, dass sich nach einer sozialistischrealistischen Literatur endlich eine
andere, persönlichere Art des Dichtens zu entwickeln beginnt. Vesna
Parun zeigt schon mit diesem ersten
Gedichtband eine Welt besonderer
Empfindsamkeit, voller Güte und
Verzeihen, Liebe und Opfer. Das
Wort „Morgenrot“ wird später in
Vesna Paruns Poesie sogar die düstersten Augenblicke und die schlimmsten Stürme, die in ihr Leben hereinbrechen, erhellen. In ihren ersten
Gedichten finden wir natürliche und
unschuldige Ehrlichkeit, Gedichte
vom Körper und Frühling, von der
Jungfräulichkeit und dem üppigen
September (Titel der Gedichte), die
in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts völlig verrückt geklungen haben müssen in der noch
konservativen kroatischen Poesie und
Kritik. Eins der bedeutendsten Gedichte der Sammlung ist das anthologische Gedicht Mati ~ovjekova (Die
Mutter des Menschen). Man erlebt
es zuerst als eigene Erfahrung des
Daseins, das in einem bestimmten
Augenblick so unerträglich wird, dass
man dem entsagt, der uns erschuf.
Die Gestalt der Frau als Mutter wird
bildhaft in animalische (Bär, Schlange) oder sogar unbewegliche, zum
Gegenstand gewordene Surrogate
(Stein) verwandelt. Das Schockante
des letzten Verses der ersten Strophe:
Es wäre besser, dass mich ein wildes
Tier mit dem Euter gesäugt, als eine
Frau wird in der zweiten Strophe
vollkommen gemildert, da die ganze
Strophe auf Vogelflügeln in die Höhe
fliegen und uns mit dem archetypischen Bild des Baums, der duftenden und blühenden Linde (der Baum
der Kindheit!) beruhigen wird. Der
freimütige Ausruf des ersten Verses
am Anfang des Gedichts scheint aus
dem Mund eines zürnenden Mädchens am Bach zu stammen – wie
ein geflügeltes Wort oder sogar ein
Fluch: Besser, du hättest den schwarzen Winter geboren, o Mutter. Dies
ist ein Zivilisationsgedicht, das in
seiner hilflosen Schönheit Boden und
Höhe, Weltlichkeit und Heiligkeit
des menschlichen Wesens entzweibricht. Dieses Gedicht lernten viele
Menschen auswendig, denn es befindet sich im Lesebuch der Schulen. Es besitzt – entwickelt innerhalb
einer pyramidalen Konstruktion –
die Kanons eines befestigten und stabilen Bodens, einer Höhle; durch die
Steigerung der Auswahl von Lexe-
Petar Kati}, der Onkel von V. Parun, der sie
aufgezogen hat und zu dem sie zeitlebens
ein besonderes Verhältnis hatte
RELA
TIONS
Faksimile des Gedichts
Die Mutter des Menschen
men, die eigentlich antithetische Pole
des Gedichts sind, steigt es in die
Höhe bis zum Vogel – von der Schlange im Nest bis zum Lamm, dem sanften Jungen, von Wind und Kälte
zum wärmenden Flügel, zu Zärtlichkeit und Tränen. So erschafft die
Dichterin ein wunderbares, wirkliches Gedicht, aus dem schon seit
langer Zeit die Botschaft des letzten
Verses widerhallt: Es ist bitter ein
Mensch zu sein, wenn Messer und
Mensch sich verbrüdern.
Nach Kriegsende setzt Vesna Parun
ihr Studium an der Philosophischen
Fakultät fort, studiert aber jetzt reine
Philosophie. 1947 hilft sie beim Bau
der Eisenbahnstrecke [amac – Sarajevo, erkrankt an Typhus, und erlebt
gleichzeitig die Krise einer unglücklichen Liebe, die 1938 begonnen
hatte. Aus all diesen Gründen hatte
sie ihr Studium unterbrochen.
1948
Nachdem die Kritik ihre erste Gedichtsammlung verrissen hat, veröffentlicht die Dichterin ein Buch, das
120 Gedichte mit je vier Strophen
enthält, und zeigte damit, dass sie
auch ganz anders schreiben kann, ruhig, monoton, mit gleichmäßigen
Reimen. Sie nennt es einfach Pjesme
(Gedichte), aber schon sehr bald kehrt
sie zu ihrer authentischen Schreibweise zurück.
Dossier: Vesna Parun
1955
Es erscheint der Sammelband Crna
maslina (Der schwarze Olivenbaum),
von dem viele behaupten, es sei der
vollständigste und beste Gedichtband der damaligen kroatischen Poesie. Crna maslina ist ein Buch der
Liebeslieder, ein wenig von der Bibel
inspiriert, in dem sich die mystische
Liebe nach vielen Richtungen hin
erstreckt (die Liebe der Frau, der
Mutter, zwischenmenschliche Kommunikation usw.). Hier treffen wir
auf Gegensätze, wie Wachen und
Träumen, Stille und Leidenschaftlichkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, Imagination und Kreation.
In Vesna Paruns Poesie finden wir
Unschuld und kindliche Begeisterung, ganz besonders aber flammende Sinnlichkeit, unbändige Wildheit
in Sprache und Thematik, was eigentlich die besten Eigenschaften
ihrer Gedichte sind. Später wird die
Dichterin ehrlich verwundert sein
über das Böse und den Chaos in der
Welt, den die Menschen verursachen, denn sie glaubte, allein die Liebe setze die Welt in Bewegung. In
der Gedichtsammlung Crna maslina
befindet sich das anthologische Gedicht Ti koja ima{ nevinije ruke (Du
deren Hände unschuldiger sind). Völlig ergeben, sich der Gewalt der Emo-
7
tionen überlassend, bietet sie der Welt
den Ursprung der Unverfälschtheit
und erwartet mit kindlicher Naivität, dass ihr eine solche Liebe auf die
gleiche Weise zurückgegeben wird.
So erwacht ihre spätere Poesie aus
einem kindlichen Traum. Bald schon
wird sie von dem erahnten Wirbelsturm erfasst, nicht nur vom Krieg
und der Nachkriegszeit, sondern auch
vom Krieg in der menschlichen Seele (Das Übel der Liebe; Der Schmerz,
ein Mensch zu sein), die unfähig ist,
die Ursprünglichkeit fremder und
eigener Empfindsamkeit anzunehmen und die Schönheit und Kraft einer reinen Seele, die sich im Schmutz
der Welt befindet, zu erkennen.
1957 – 1959
Wie Vesna Parun in Zore i Vihori
schon eine lebhafte Herde von Worten zur Quelle im hellen Tal treibt,
so zeigt sie in Crna maslina und
zwei Jahre später in den Gedichtbänden Vidrama vjerna (Den Fischottern treu) und Ropstvo (Sklaverei)
(1957) und besonders in den Gedichtsammlungen Pusti da otpo~inem
(Lass mich ausruhen) (1958), Ti i
nikad (Du und nie) und Koralj vra}en
8
RELA
Chronologie
TIONS
1968 – 1976
Fabel, Märchen und Mythos sind
unerschöpflicher Ausgangspunkt fast
jeder Form der Literatur Vesna Paruns. Ihre Wut wird immer in Gesang umgeformt, ihre Satire ist verbal unterschiedlich. Sie veröffentlicht
rund zehn Kinderbücher: Gedichte,
gereimte Geschichten und Romane:
Ma~ak D`ingiskan i Miki Trasi (Kater Dschingis-Khan und Miki Trasi),
1968; Ma~ak na mjesecu (Der Kater
auf dem Mond), 1969; Miki trasi i
baka Pim Bako (Miki Trasi und Oma
Pim Bako), 1968; Miki slavni kapetan (Miki der brühmte Kapitän), 1970.
1972 veröffentlicht sie ein Buch mit
100 Sonetten. Ihre spezifische Art des
Sonett-Schreibens betrachten zuerst
viele nicht als Qualität, aber später –
wie es schon so oft bei der Kritik von
Vesna Paruns Büchern geschah – wird
in ihren Sonetten die ganze Virtuosität ihres Könnens und die unglaubliche Fähigkeit, die gedrängte Metaphorik in 14 Verse in RenaissanceForm zu bringen, entdeckt. Es folgen die Gedichtsammlungen Karneval u Kukljici (Karneval in Kukljica),
1974 und Apokalipti~ne basne (ApoVesna Parun im Jahr 1965
moru (Die dem Meer zurückgegebene
Koralle) (1959) ein wundersames
Wachsen von Sinnlichem, Imaginativem, Traumhaftem, Mythologischem. Ihre dichterischen Ausgangspunkte befinden sich nahe biblischer
Quellen, ihre Themen sind eigentlich Ideen der Liebe aber auch des
Leidens am Schicksal. Die Tiefe der
Empfindsamkeit, die schon für Dora
Pfanova charakteristisch war, wird
bei Vesna Parun noch verstärkt durch
Sensualität, Wollust, Erotik. Unmerklich und leise erscheinen die
Liebe und der Mond in der kroatischen Poesie, und wie eine mythologische und märchenhafte Metapher sagt: archaische Lilien werden
Wirklichkeit werden.
1960 – 1967
Von 1962 bis 1967 hält Vesna Parun
sich in Bulgarien auf, wo sie heiratet,
sich scheiden lässt und eine neue
Reihe von Missgeschicken erlebt.
Seitdem wohnt sie meist in Zagreb
und arbeitet als freischaffende Schriftstellerin. Ununterbrochen veröffentlicht sie neue Gedichtbände: Konjanik
(Der Reiter), 1961; Jao jutro (O weh,
du Morgen), 1963; Bila sam dje~ak
(Ich war ein Junge), 1963; Vjetar
Trakije (Der Wind von Thrakien),
1964; Pjesme (Gedichte), 1964; Gong
(Der Gong), 1966; Otvorena vrata
(Eine offene Tür), 1968; Ukleti da`d
(Der verwunschene Regen), 1969;
Tragom Magde Isanos (Auf den Spuren der Magda Isanos), 1971.
RELA
TIONS
Dossier: Vesna Parun
tausend Fuß tief unter der Erde! Verständlich und klar zu sein auch bei
der schwierigsten Aussage, ist ebenfalls ein Zeichen der Kraft dieser
Poesie, wie auch ihrer sehr anspruchsvollen Prosagedichte.
1987
Sie veröffentlicht den Prosaband
Pod mu{kim ki{obranom (Unter dem
Männerschirm). Hier versucht sie zu
erklären, dass die Prosa, zum Unterschied von Poesie, ein Ort ist, an
dem sie das Meditative ihres Wesens ausdrücken kann. Außerdem
befinden sich in diesem Band polemische Feuilletons, in denen sie auf
kalyptische Fabeln); danach Poznanstvo s danima malog Maksima (Die
Tage des kleinen Maxim), 1974; Igre
pred oluju (Spiele vor dem Sturm),
1979 usw. Vesna Parun sagt: „Ich
möchte mein eigenes Forschungsvorgehen darlegen, damit ein anderer,
der all das nicht auf diese Weise erlebte, an meiner Erfahrung – die potentiell auch die seine ist – seine eigenen Assoziationen und sein eigenes
Wissen, das wiederum potentiell auch
das meine ist, anknüpfen kann. Sich
als Nachkommen der gleichen uralten
Fantasien dieser Welt zu fühlen, bedeutet, sich an den Traum unserer
gemeinsamen, weit zurückliegenden
Vergangenheit zu erinnern und geistig unbekümmert eins zu werden mit
ihr – wenigstens für jenen verzauberten zeitlosen Augenblick, solange
im Märchen die notwendige Verwandlung der Schlangenzunge in
eine menschliche, der archetypischen
in eine kommunikative dauert.“
Gerade die eben angedeutete Kommunikation, die eine wichtige Charakteristik der Poesie Vesna Paruns
darstellt, ist etwas Paradoxes, wenn
wir an die fast ununterbrochene Metaphorik ihrer Gedichte denken, an
ihr Personifizieren, die Synedochen,
den Abstieg in mythische und archetypische Schichten des Bildhaften,
9
1989
Der Reichtum und die Gliederung
der Sprache, ihre metaphorischen
Syntagmen, die übernatürlichen und
kindlichen Landschaften, führen die
Dichterin spontan und unmittelbar
zum Prosagedicht, das man von der
märchenhaften Kurzgeschichte unterscheiden muss (z. B. Molitva za
Ard`uninu strijelu – Ein Gebet für
den Pfeil des Ardschunin oder Le{ina
marabu ptice – Der Kadaver des Vogels Marabu), das aber bei Vesna
Parun besonders hervorzuheben ist
wie spezifische Kristalle eines langjährigen Spiels mit der Poesie, das
aufhört ein Spiel zu sein und zum
heiligen Ort der Beichte wird. Wir
finden bei ihr nur sehr wenig Prosagedichte, die sie alle sehr spät herausgibt (wenn man bedenkt, dass schon
seit 1947 ihre Gedichte veröffentlicht werden). Den Zyklus Krv svjedoka i cvijet (Das Blut des Zeugen
und die Blume) schreibt sie 1989 als
Fortsetzung des vorigen Buches.
1990
Es erscheint der hervorragende Prosagedichtband Indigo-grad (Die Indigo-Stadt), über den nur sehr wenig
geschrieben wurde. In diesen Prosagedichten wird der Ausdruck knapp,
satyrische und sehr zynische Weise
ihre Beziehung zur Gesellschaft, in
der sie lebt, darstellt.
1988
Es erscheint das Buch Krv svjedoka
(Das Blut des Zeugen), ein echtes
buntes Herbarium autobiografischer
Notizen, Reisebeschreibungen, Essays, Künstlerportraits. Stilistisch treten hier hauptsächlich das Poetische,
ihre mediterrane abenteuerliche Fantasie und das starke Bedürfnis, ihre
Persönlichkeit möglichst genau darzustellen, in Erscheinung.
RELA
Chronologie
während die Dichte des Deskriptiven es erlaubt, Wörter, nicht aber
Gedanken zu wiederholen. Der Gedanke in ihren Gedichten erweitert
und breitet sich geradezu aus, begleitet von einer immer größeren Farbenvielfalt – angefangen von hellgelb,
orange und feuerrot, über indigoblau, mondscheinblau, bis schwarz
(das schwarze Meer). Interessant auch
für eine weitere Analyse ist es zu erfahren, wie die Dichterin selbst über
ihr lyrisches Vorgehen in ausführlichen und polemischen Essays spricht.
Da der Weg vom Gedicht zum Prosagedicht lang ist, muss auch theoretisch dieser Weg stufenweise erklärt
werden. Vesna Parun wird sich während des Schreibens von Poesie über
ihre eigene Vorgehensweise bewusst,
begibt sich zur Quelle ihrer irgendwo
entstandenen Landschaften und Bilder. Ihre Luzidität und oft schneidende Scharfsinnigkeit, die sie in der
Poesie wie auch im Leben ausbreitet,
bewahren die innere angehäufte Kraft,
aus der ihr Gedicht wie aus einer
unversiegbaren Quelle erwächst. Dieser Erforscher des Gedichts wacht
jetzt ununterbrochen über ihrer Poesie. Wie oft sagte ich mitten in der
Nacht: Adieu, ihr Feuer! Ich gehe für
immer einer wunderbaren Einsamkeit entgegen..., sagt die Dichterin in
einem Sonett. Wenn es scheint, dass
sie sich in ihren ersten Gedichten
manchmal am Rand des Sentimentalen, Romantischen, allzu Empfindsamen oder allzu Hingebungsvollen
bewegt (obwohl sie nie ins Pathetische abgleitet), in den neueren Gedichten, besonders in der Sammlung
Indigo-grad (ihre reifste, wichtigste
und poetisch stärkste Sammlung)
zeigt sie die Ursprünge ihrer Empfindsamkeit, den Kontext von Ursache und Wirkung, lässt das Gedicht
als Ganzes, sowie seine Struktur harmonischer werden. Wenn für Vesna
Krmpoti} die Poesie der vom Vogel
gelöste Flug ist, so ist für Vesna Parun
die Poesie der Vogel selbst, der nicht
TIONS
Photo: Zlata Vuceli}
10
Im Zirkus „Orfei“ in Zagreb 1973
oberflächlich wie der Mensch ist, der
weiß, dass das Schlagen des Herzens
unter der Erde noch stärker ertönt,
und statt der beruhigenden Klänge
eines Schlaflieds müsste der ganze
Wald das Dröhnen des unterirdischen Raums, das der Schmerz hervorrief, hören.
1991
Sie veröffentlicht ein Buch mit Sonettenkränzen, einer Reihe unaufhaltbarer, beweglicher, klarer Verse,
gebettet in den Rhythmus und die
Harmonie reimender Vierzeiler und
Terzetts – Sonet o ~isto}i (Sonett über
die Reinheit); Sonet o naran~i (Sonett über eine Apfelsine); Sonet o
proljetnoj ptici (Sonett über einen
Frühlingsvogel). In den neunziger
Jahren engt die Dichterin selbstbewusst die breiten Spektren ihres dichterischen Vokabulars ein und „entblättert“ – wie Tin Ujevi} – das Gedicht bis auf die nackte Haut, kürzt
die Länge der Verse. Durch ihr ganzes dichterisches Opus, ohne Rücksicht auf den Wandel der Form ihrer
Gedichte, zieht sich beharrlich eine
Diagonale, eine jetzt schon reife ontologische Kategorie ihrer Poesie, in
deren Aufbau Liebe, Träume, Frei-
RELA
TIONS
heit die Basis bilden. Vesna Parun
hört nie auf zu lieben und in der
Liebe zu unterweisen, zu träumen
und im Träumen zu unterweisen,
dem weißen Faden der Freiheit zu
folgen. Sie bleibt ihrer Begeisterung
für die Liebe treu, der feurigen Leidenschaft und deren Echo, dem Widerschein – wie Dora Pfanova sagt.
Auch Vesna Parun nimmt in ihren
dichterischen Schoß dieses Wort auf,
denn auch sie hat wie Dora Pfanova
ihre bitteren Wünsche in einem altertümlichen Kästchen der Wind aufbewahrt, das sie einsam an eine Wegkreuzung stellte – damit jedes Menschen Geheimnis daraus widerscheinen soll.
1993 – 2000
Sie veröffentlicht die Gedichtsammlungen Trono`ac koji hoda (Der wandelnde Schemel), 1993; Za~arana
~arobnica (Die verzauberte Zauberin), 1993; Izbor iz djela (Aus ihren
Werken), 1995; Ptica vremena (Der
Zeitvogel), 1996; Smijeh od smrti ja~i
(Das den Tod besiegende Lachen),
1997; Pelin basne (Wermut der Fabel),
1998; Spu`vica i spu`va (Schwämmchen und Schwamm), 1999; Poli-
Dossier: Vesna Parun
ti~ko Valentinovo (Ein politischer Valentinstag), 2000; Grijeh smrti (Die
Sünde des Todes), 2000.
1995 übersetzt Vesna Parun Gedichte von Heine, Rilke und Goethe.
Das Meer ist eine unerschöpfliches
Thema in der Dichterin Poesie. Eher
könnte man sagen, das Meer ist ihr
dichterischer Spiegel – es spiegelt ihre
Seele bei jedem Wetter wider, in guten und in schlechten Zeiten, weshalb sie sagt, wenn du den Weg in
meine Seele suchst, führe mich zum
stürmischen Meer, oder sie gibt sogar
die Wiege dem Meer zurück oder sie
selbst ist das Meer von Wut umhüllt.
Vor dem Meer, wie auch vor dem
Tod, hat sie keine Geheimnisse. Das
gleiche Meer entwickelt sich zum
Symbol, wenn die Metapher sich
selbst überragt, das Zeichen umfasst,
das in seiner Größe die kontrapunktischen Motive von Liebe und Tod,
Erde und Mond, Heiterkeit und Wut
annehmen kann. So entdecken wir
noch eine erstaunliche Verfahrensweise in der Poesie Vesna Paruns –
sie verschiebt, schmelzt Symbole,
denn das gleiche Meer kann auch in
seiner Identifikation mit der Seele
verschwinden, hinter die andere Seite des Spiegels gelangen (einzig und
allein die Poesie ist stärker als das
Meer!). Verschwinden heißt nicht
sterben, im Gegenteil: In eine milde
11
Schatzkammer treten und seine Blüte hineintragen.
Das Meer verschwindet vielleicht,
aber es stirbt nicht, sagt die Dichterin.
So verschwindet wahrscheinlich auch
die Seele, ohne etwas von dem zauberhaften Tod zu wissen, den sie nur
mit dem Saum des Flügels flüchtig
berührte! Die Seele verschwindet und
nimmt das, was in ihr aus Gottes
Hand erblühte, in eine unendlich
milde Schatzkammer mit.
Was ereignet sich eigentlich in jener
unendlich milden Schatzkammer, in
die das Meer und die Seele ihre Geheimnisse bringen? Es ereignet sich
das Gedicht, denn gerade Vesna Parun zeigt und beweist, dass die Poesie ein Akt der Seele, weniger der
Emotionen und des Intellekts ist.
Vor langer Zeit gab die Dichterin
einem ihrer Gedichte aus der Sammlung Prolazim `ivotom (Ich gehe
durchs Leben) den Titel Prava pjesma (Ein wirkliches Gedicht). Hier
sagt sie, dass alles dort beginnt, wo es
erkannt wird, und die Poesie Vesna
Paruns muss von neuem entdeckt,
auf die rechte Weise wiedererkannt
werden. So werden wir auch ihre
schwer zu interpretierende Metaphy-
12
RELA
Chronologie
Im kalten Zimmer, V. Parun in der Marijan-Badel-Straße in Dubrava
(heute die Straße Vile Velebita) im Winter 1986
sik deuten, das Wunder des Daseins
und des Wiedergeborenwerdens. Wo?
Dort wo die großen Flüsse die
Nacht erleuchten
Und die Wasserfälle den Namen
Der noch ungeborenen
Welt aussprechen
2000 – 2007
Vesna Parun verlässt für immer ihr
mehr als bescheidenes Heim an der
Peripherie Zagrebs, in der MarijanBadel-Straße 15 (heute Straße Vila
Velebita), in dem sie über ein halbes
Jahrhundert lebte. Aus gesundheitlichen Gründen hält sie sich schon seit
Jahren in verschiedenen Kurorten
Kroatiens auf, enttäuscht darüber,
dass ihr keine seit langem versprochene Wohnung zugeteilt wird. Heute lebt sie im Kurort Stubi~ke Toplice.
Dorte lernt sie Ende der 70-ger Jahre
ihre wichtigste Lehrerin kennen, die
Bettlerin Magdica, der sie eine ganze
Reihe von Texten widmet. In jenem
Kurort feiert sie seit einigen Jahren
ihren Geburtstag und schreibt weiter
Bücher. Das wichtigste und beste davon ist Bubnjevi umjesto srca (Trommeln statt Herzen), 2003, in dem sie
zum Thema ihrer früheren Bücher
Zore i vihori und Crna maslina zurückkehrt. Hier verfasst sie auch die
bedeutenden Gedichte ^ovjek (Der
Mensch) und Prozor s kojeg sam uhodila Mjesec (Das Fenster durch das
ich den Mond heimlich beobachte).
Ihre Einsamkeit und „Abtrünnigkeit“
von der heutigen Kultur hat sie selbst
gewählt; sie will sich vor niemandem
erniedrigen. Die ungewisse und unsichere Zukunft der großen 85-jährigen Dichterin sollte uns beschämen.
TIONS
„Als ich nach Zagreb kam, wurde
ich verhaftet; jetzt wurde ich aus der
Stadt geworfen. Nach 60 Jahren verlasse ich Zagreb wie ein Fremder“,
sagt Vesna Parun auf einer Pressekonferenz am 17. Oktober 2001 im
Kroatischen Kulturklub. Nicht nur ihr
gesellschaftlicher und schriftstellerischer Status veranlasst unsere größte
lebende Dichterin zur Einberufung
eines „Abschiedstreffens“, wie sie die
Pressekonferenz nennt, sondern besonders die Polemik mit Vlatko Pavleti} in der Zeitung Jutarnji list. „Es
handelt sich nicht um Panik, um
Übertreibung oder Leidenschaft. Mit
80 Jahren kann ich immer noch klar
denken. Demokrat zu sein bedeutet
hier Skandalmacher“, sagt Vesna Parun, als sie den Konflikt um ihren
Austritt aus dem Verband kroatischer
Schriftsteller beschreibt. „Schriftstellerisches Talent wird hier ausgerottet
und nicht geduldet, während Macht
und Gewalt über allen Werten stehen. Aber in keinem einzigen Regime kam die Initiative zur Verfolgung von der Staatsgewalt sondern
von den Herren Präsidenten der Verbände und den Parteisekretären.“ Sie
kündigt ihren baldigen Aufbruch mit
20 Säcken ihres Hab und Guts nach
Rijeka an und ein neues satyrisches
Buch, wie auch weitere öffentliche
Auftritte. Vielleicht können wir die
Antwort auf das Unrecht, das ihr
zugefügt wurde, in Vesna Paruns Behauptung finden, dass man „in der
Schule viel lernen kann, in der Grundschule und auch später in der Mittelschule, Grammatik und Naturkunde; weniger Geschichte und über die
Sterne am Himmel; aber über den
Menschen und das Leben – fast nichts.“
Ihren eigenen Worten nach verbrachte sie von Kindheit an ein sehr schweres Leben, erlitt mehr Leid als Freude. Vesna Parun widmete sich ganz
ihrer schriftstellerischen Arbeit und
ist die erste Frau in der kroatischen
Literatur, die ausschließlich vom
Schreiben und fürs Schreiben lebt.
RELA
TIONS
Dossier: Vesna Parun
13
Bibliografie
Poesie
Zore i vihori, 1947
Pjesme, 1948
Crna maslina, 1955
Vidrama vjerna, 1957
Ropstvo, 1957
Pusti da otpo~inem, 1958
Ti i nikad, 1959
Koralj vra}en moru, 1959
Konjanik, 1961
Jao jutro, 1963
Bila sam dje~ak, 1963
Vjetar Trakije, 1964
Pjesme, 1964
Kindergedichte
Patka Zlatka, 1957
Tuga i radost {ume, 1958
Zec mudrijan, 1958
Kornja~in oklop, 1958
Ma~ak D`ingiskan
i Miki Trasi, 1968
Miki Trasi i baka
Pim Bako, 1968
Gong, 1966
Otvorena vrata, 1968
Ukleti da`d, 1969
Tragom Magde Isanos, 1971
Sto soneta, 1972
I prolazim `ivotom, 1972
Stid me je umrijeti, 1974
Olovni golub, 1975
Apokalipti~ne basne, 1976
Ljubav bijela kost, 1978
@ita snova, 1978
Izabrane pjesme, 1979
Mapa Magdica, 1979
[um krila, {um vode, 1981
Salto mortale, 1981
Izabrana djela, 1982
Grad na Durmitoru, 1988
Kasfolpirova zemlja, 1989
Indigo-grad, 1990
Sonetni vijenci, 1991
Trono`ac koji hoda, 1993
Za~arana ~arobnica, 1993
Izbor iz djela, 1995
Ptica vremena, 1996
Smijeh od smrti ja~i, 1997
Pelin basne, 1998
Spu`vica i spu`va, 1999
Politi~ko Valentinovo, 2000
Grijeh smrti, 2000
Bubnjevi umjesto srca, 2003
Ma~ak na mjesecu, 1969
Miki slavni kapetan, 1970
Karneval u Kukljici, 1974
Poznanstvo s danima
malog Maksima, 1974
Igre pred oluju, 1979
Dvanaest slikovnica
o psima, 1983
Ho}u ljuti}, ne}u mak,
1983
Roda u {koli, 1988
Pokraj Kupe kad se
vrapci skupe, 1989
Moj prijatelj {i{mi{, 1990
Uspavanka za poljubac, 1995
Kroz prozor i zime, 1995
P~ela, duga i mlin, 1997
Tri morske
pustolovke, 2000
Morska ko~ijica, 2001
Prosa
Bühnenstücke (aufgeführt)
Pod mu{kim ki{obranom, 1987
Krv svjedoka, 1988
Hrvatska kraljica, 1999
No} za pakost – moj `ivot
u 40 vre}a, 2001
Marija i mornar
Apsirt
Magare}i otok, oliti homo
homini asinus
[kola za skitnice
Preise und Anerkennungen
Poetum oliveatus bei den Tagen Croatia rediviva, ^a, Kaj, [to – ba{tinski dani, 1995
Tin-Ujevi}-Preis, 2003, für die Sonettensammlung Suze putuju
Vladimir-Nazor-Preis, 1959 Jahrespreis; 1982 Preis für ihr Lebenswerk
¹Unter Benutzung von Texten
von Nikola Mili}evi} und Karmen Mila~i} º
Aus dem Kroatischen übersetzt
von Hedi Blech-Viduli}
14
Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ...
Vesna Parun
RELA
TIONS
RELA
TIONS
Dossier: Vesna Parun
15
Der Vogel und die Zeit
in der Gedichtkunst
von Vesna Parun
Karmen Mila~i}
D
ie namhafte Sammlung Morgenrot und Wirbelsturm (Zore i vihori),
mit der Vesna Parun vor fast einem
halben Jahrhundert (1947) in die
kroatische Literatur eintrat, war viel
mehr als die Erscheinung einer neuen,
ursprünglichen Poesie, sie war ein
historisches Ereignis von bahnbrechender Bedeutung. Diese Lyrik trug
das Merkmal ihrer eigenen inneren
dichterischen Stimme, sie war der
Wegweiser einer neuen Sensibilität
und das Symbol einer Zeit der kroatischen Lyrik, die die Poesie für eine
geheiligte Tätigkeit hält, sich der
Übermacht der Pragmatik gegenüber
der Dichtkunst widersetzt, ebenso
wie dem gewaltsamen Ideologisieren
der Nachkriegsdichtkunst. In dieser
persönlichen Poetik, gleich zu Beginn, spiegelten einige grundlegende Leitgedanken, die sich durch die
eigene poetische Diktion einer ausgeprägten dichterischen Individualität hervortaten.
Vesna Parun ist von jener Art von
Dichtern, die immer lautlos und
unbemerkt bleiben, aber unwiderruflich die unumgänglichen Brücken
des Verständnisses und des Vertrauens errichten. Sie weist darauf hin,
dass überall Fallen für die menschliche Existenz und für die menschli-
chen Schöpfungen auftauchen. Aber
sie wird gleichzeitig zeigen, dass die
Bemühungen des Menschen nicht
umsonst waren und dass es einen
tiefen Sinn darin gibt, dieses sonderbare und reiche, bunte und einmalige Leben zu lieben.
Geboren wurde sie 1922 auf der Insel Zlarin. Die Kindheit verbrachte
sie in einer Beamtenfamilie, die oft
von einem ins andere kleine mitteldalmatische Ort zog und ein ziemlich schweres Leben hatte. Das Gymnasium besuchte sie in [ibenik und
Split, wo sie im Jahr 1938 das Gedicht mit dem charakteristischen Titel Der Ruf (Zov) veröffentlichte, in
der Zeitschrift „Sjeme“, der Zeitung
des klassichen Knabengymnasiums,
dessen Schüler Jure Ka{telan und
@ivko Jeli~i} waren. Dieses erste veröffentlichte Gedicht trägt schon den
Atem eines der grundlegenden Leitgedanken: Eine Hymne an das Leben, die Arbeit, die Courage und ein
NEIN allem, was menschliches Drama ist. Das Studium der Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb unterbrach sie wegen
Krankheit. Später widmete sie sich
dem literarischen Schaffen und wurde die erste Frau in der kroatischen
Literatur, die ausschließlich von der
Literatur und für die Literatur lebt.
Die Poesie von Vesna Parun ist ein
glückliches Zusammentreffen von
Tradition und modernem Ausdruck.
Darin gibt es Echos von altertümlichen Geschichten und Legenden,
Volksliedern und Sprichwörtern, griechischer und slawischer Mythologie
sowie biblischer Lyrik des Alten Testaments. Aber ebenso auch einen Widerhall von modernen Dichtern, die
die Augenblicke des Aufschwungs in
der starken und fruchtbaren kroatischen Lyrik kennzeichneten: Vidri},
Poli} Kamov, Sudeta, Kozar~anin,
Ujevi}, Tadijanovi}. Sie setzt diese
Tradition fort und entwickelt sie
weiter und über diese Merkmale ihrer Lyrik sagte Antun [oljan, dass „in
ihrer Poesie das bewahrt und forgesetzt
wird, was in der Poesie „ewig“ und
„wichtig“ ist, was alle Dichtkunst
gemeinsam hat, von Sappho selbst
bis heute.“
In dieser Poesie gebührt ein besonderer Platz der Kindheit, diesem „unerforschten Ozean des Menschen“, wie
sie selbst sagte, denn hier sind die
tiefsten Grundmauern der Sinne und
die Grundmauern jener Erscheinung,
die wir individuelles Bewusstsein nennen. Sie fragte sich in einem Moment, wie man in einer Welt leben
16
Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ...
soll, „die das große Geheimnis der
Kindheit nicht verstanden hat“. Morgenrot und Wirbelsturm schrieb eine
Frau unserer Zeit, entzückt vom Leben und dem Morgengrauen ihrer
Poesie, aber in Wirklichkeit schrieb
sie ein ehemaliger Junge, dessen harmlose und liebliche Welt der Pastorale
gegen die komplexe Wirklichkeit
unserer Zeit und die Wirren des
Krieges prallte. Das erste Gedicht
dieser Sammlung, Ich war ein Junge
(vollständig in der Vergangenheitsform geschrieben), ist ein Traum von
einer Welt, die es nicht mehr gibt
und die Ahnung einer Zeit, wenn so
manches unerreichbar, unerlaubt,
begrenzt sein wird. Dieses kleine
unpretenziöse Gedicht, nicht von
Reflexionen über das Leben und zwischenmenschliche Beziehungen angeschlagen, deutet auf zwei wichtige
Konstanten dieser Poetik hin: Die
Poesie als Traum und die Kindheit
als nie verstummte Zeit. Ein paar
Jahrzehnte später sagte sie in einem
Sonett: „Wohin soll ich so gehen,
mit den Armen eines Kindes, / durch
dieses Böse und diese Dunkelheit?“
Gedichte, in denen sie poetisch in
ihre Kindheit zurückkehrt, sind voll
von spontanen Bildern, die unmittelbar verschmelzen, und die auch
den Erlebnissen aus jenen Tagen einen schwungvollen Rhytmus, eine
Leichtigkeit und Begeisterung verleihen (Der Traum, Das Kind und
die Wiese, Die Eisenbahn aus den
Hügeln der Kindheit). Ihre Gedichte
sind oft Träumen ähnlich. Im Traum
geschieht alles in Bildern, Ahnungen, Symbolen, spricht unbewusst.
Auch das Wort „Traum“ taucht sehr
oft in ihrer Verzückung über die Natur und das Wunder der Liebe. In
einem Sonett lauten zwei Verse: „Der
Hain und die Vögel und die gierigen
Träume versteckten sich in dem Stern,
der mich führt“; und im Kindergedicht Wenn ich ein Schiff wäre:
„denn ich verwandle alles, was ich
sehe in einen Traum“. An einer Stel-
le schrieb sie: „Eines Dichters Feder
ist ein weißes Pferd und das Papier
ein unendliches Wunderland“. Pavao
Pavli~i} äußerte im Buch Der Handkuss (Rukoljub) die Meinung, dass
jede Literatur ein Traum ist und dass
die Wahl des Taums als Zeil der Literatur edel, richtig und schön ist.
Weiter sagt er, dass die Literatur im
Leben der Gesellschaft die gleiche
Rolle spielt wie der Traum im Leben
eines Einzelnen. Und eine große Anzahl von Vesna Paruns Gedichten
führen einen Menschen wirklich in
eine andere Welt, wo er gerührt, erfreut, erregt und von diesem Traum
bereichtert zum Nachdenken gebracht wird.
Der Abschied von der Kindheit überschneidet sich mit dem Krieg, dem
ersten Atem des menschlichen Dramas, die in diese Lyrik hineinplatzte
und er wurde eher als der Zerstörer
von Schönheit empfunden als der
Ursprung von Grausamkeit und Leid.
Der Krieg rief Angst und Bangen
hervor sowie die Erkenntnis, dass es
schmerzlich ist zu leben „wenn Jungen sterben und die Alten beim Blicken auf das Meer ihre Traurigkeit
wärmen“. Der böse Geist des Krieges
zerschmettert den Traum des Menschen und die Disharmonie der Welt
ist überall gegenwärtig. Das ganze
Gedicht Die Ballade von den betrogenen Blumen ist ein Traum. Der Panzer, der durch die Stadt fährt ist eine
schwere riesige Schildkröte, die die
Weiden leerfraß und die Fischteiche
austrank. Und in dem Gedicht Das
Gesicht im Schatten erzittert die Ahnung, dass auch die Liebe Schmerz
sein wird. In diesem Gedicht sind alle
Elemente, die im Buch Der schwarze
Olivenbaum (Crna maslina) von Gedicht zu Gedicht immer mehr auflodern werden. Das unerreichte und
tief humane Gedicht Die Mutter des
Menschen wurde nicht aus dem Blickwinkel eines Kindes geschrieben; es
ist Schmerzensschrei und Trotz, weil
sich der Mensch gegen Träume und
RELA
TIONS
Schönheit verbündet und die Inspiration ist visionär. Das Gedicht Der
Reiter ist eins der herausragenden
Früchte des Traums von menschlicher Sehnsucht nach Ferne und der
unedlichen Reise ohne Ziel. Durch
Imagination und poetische Invention verwandelt, evoziert es eine Welt
der persönlichen Träumerei, wundersamer Wortverbindungen und
plastischer Bilder mit archetypischen
Reflexen.
In der Erkenntnis des verlorenen
Paradieses der Kindheit gibt es zwei
Elemente, die diesem Paradies ähneln und die die Mühsale der Existenz rechtfertigen: Das sind die Natur und die Liebe. „Die Natur war
meine erste Liebe nach dem Verlassen des Tunnels der Kindheit. Erst
später überschattete sie ein menschliches Wesen und verdunkelte ihren
Glanz“, sagte sie im Buch Die verzauberte Zauberin (Za~arana ~arobnica, 1993). Der scharfsinnige Geist
dieser Dichterin entdeckt in der Natur die Fülle des Lebens, horcht ihrem Puls und möchte sich, durch die
Intensität des Erlebnisses, der Natur
mehr nähern.
Den Pinien und dem Mond
öffne ich die Tür.
Ans Fenster gelehnt ahne ich
ein fernes Echo.
(Regen)
Und im Gedicht September:
Das Land bäumt sich neben uns,
rauscht mit grünem Wasser
strahlt mit durchscheinender Luft,
duftet mit Fluten der Fichten.
Die Gedichte, in denen sie ihr inneres Gefühl von Verbundenheit mit
der Natur ausdrückt, haben den Beiklang eines Märchens. Sie hinterlassen den Eindruck, dass die Dichterin
einfach das Ohr an die Erde gelegt
hat und ihren geheimnisvollen Tönen lauscht, berauscht von der Sonne, den Gräsern, dem Wald, dem
Meer, dem heiteren Himmel und
RELA
TIONS
den Vögeln; berauscht vom Spiel, das
nur ein Kind so ungetrübt genießen
kann (Regen, Norden, Der Strand,
Wunderbares Panorama, September).
Die Natur ist eine „große Tierfabel“,
sagt die Dichterin und ist mehr als
die Landschaft, in der man die Anwesenheit des Anderen am unmittelbarsten spüren kann. Vesna Parun
fühlt und versteht die Natur als ein
übergeordnetes System, hinter dem
das liegt, was nicht zu dieser Welt
gehört. Die Natur und die Liebe stehen in einem korrelativen Verhältnis. Die Natur kann uns mitreißen
und in uns eine der Liebe ähnliche
Begeisterung hervorrufen und die
Liebe hilft uns, die Schönheiten der
Natur zu entdecken. Die Gedichte
von Vesna Parun entspringen oftmals
diesem korrelativen Kreis, aber in
ihnen gibt es keine Konventionalität,
sondern es ist immer die Authentizität der dichterischen Inspiration anwesend. Nikola Mili}evi}, verlässlicher Kritiker der Parun, sagt: „Die
Natur trug mit ihrem Leben auch sie
und die Dichterin schien sich als ein
Teil der fruchtbaren Erde zu fühlen“.
Das Erlebnis der Natur ist eine der
Konstanten dieser Poesie, die im langen Schaffensverlauf ihre glänzende
Bildhaftigkeit nicht verloren hat. Die
Sammlungen Den Fischottern treu
(Vidrama vjerna), Die dem Meer zurückgegebene Koralle (Koralj vra}en
moru) und Der Wind von Thrakien
(Vjetar Trakije) sind eine reine Hymne an das Meer. Aus zahlreichen
Gedichten bricht dieses allmächtige,
allumfassende Meer hervor und oft
mit ihm die typische dalmatinische
Landschaft. Aber das ist nicht nur
ein Dekor des Gedichts sondern das
Ambiente und der Schauplatz der
Ereignisse und das Meer ein kräftiger Antrieb für die Sinne, Gefühle
und Gedanken. „Wenn du den Weg
zu meiner Seele suchst, / führe mich
ans stürmische Meer.“, sagte sie im
Gedicht Vor dem Meer, wie vor dem
Tod, habe ich keine Geheimnisse. Und
Dossier: Vesna Parun
17
Vesna Parun: Selbstporträt, Genesung, Tempera 1970
im Gedicht eines langen Tages Die
Seele des Meeres drückt sie die Ansicht aus, dass es dem Mensch ähnlich ist. Es gibt zwei Meere, das im
Duft des Oleanders und das vom
Sturm schwer gewordene, ebenso
wie es zwei Erkenntnisse des Menschen gibt, die rosige und die schwarze. Ihre von der Natur inspirierten
Gedichte sind eine gewisse Art der
Liebeslyrik.
Sich nicht mit dem Bösen abfinden
ist ebenfalls ein Leitgedanke, der dieses Werk vollständig durchzieht und
er ist besonders in dem frühen Gedicht Der Schwur aus dem weniger
erfolgreichen Buch Gedichte (Pjesme,
1948) ausgedrückt. Dieses Gedicht
hält die Autorin für eines der wichtigsten in ihrem gesamten Poesieund Lebensopus. In diesen Versen
gibt es auch ein Gespräch mit der
18
Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ...
Kritik, die nicht ihr intimes dichterisches Wort verstanden hat aber
auch ein Gesprächt mit sich selbst.
Es ist zu erwähnen, dass ihr Erstlingswerk Morgenrot und Wirbelsturm
widersprüchliche Kritiken hervorrief, zu einem großen Teil äußerst
negative. Die offizielle Kritik hat dieses schwungvolle Buch fast zerfleischt;
man stürzte sich vorrangig auf die
Bearbeitung, beschuldigte die Autorin
des formalistischen Artismus der dekadenten Lyrik, der Buchinspiration, der Anlehnung an Tin Ujevi}.
Aber auch später hatte sie wenig
meine ganze spätere Lyrik trägt diesen Stempel des Samaritaners, der
Mutter: Beschützen, mit einem Atemhauch zum Leben erwecken, in der
Wiege des Verses ein unschuldiges
junges Leben wiegen, das der Sinnlosigkeit der Geschichte überlassen ist –
wo auch immer, wessen auch immer.“
In der Dichtkunst von Vesna Parun
ist die Liebe das Maß des Lebens und
das allgegenwärtige Leid. Auch dann,
wenn erotische Impulse betont werden, bewahrt sie eine eigene Heiligkeit in sich (Der Körper und der Frühling). Die Liebe ist das zentrale The-
Vesna Parun in Stubi~ke Toplice 1976
Glück mit der Politik und mit den
Politikern, insbesondere seit sie anfing, satyrische Verse zu schreiben.
Im Nachwort des Buches Sonettkränze (Sonetni vijenci, 1991) sagte
die Dichterin, dass sich schon, als sie
sechzehn Jahre alt war, der junge, tödlich verwundete Soldat aus Rimbauds
Sonett Der Schläfer im Tal in ihre
Seele gebrannt hat und dass die gesamte Materie des Buches Morgenrot
und Wirbelsturm auf diesem Leitmotiv aufgebaut wurde: Der Knabe, der
junge Mann, der im Sterben liegende Soldat, von Panzern zertrampelte
Gänseblümchen, Gewalt, Krieg. „Und
ma dieser Dichtkunst, ein Thema,
das sich im Buch Der schwarze Olivenbaum (1955) zu seiner vollen Blüte
entfaltete.
Diese Sammlung hat sicherlich eine
mehrfache Bedeutung; sie ist der
unumgängliche Eckstein in Vesna
Paruns Poesie, der Pfeiler des gesamten dichterischen Baus, eine Festlichkeit in der Kunst der Worte und die
Richtlinie ihrer Zukunft, die bis heute andauert. Ganz aus Traum und
Wirklichkeit gewebt, erbaut aus dem
gleichen Motiv ist es ein fokusiertes
und abgerundetes Buch. Die Sensibilität aus der ersten Sammlung wur-
RELA
TIONS
de durch die Gefühlsamkeit und die
Sehnsucht nach Liebe, die ständig
entgleitet, ersetzt. „Die Lyrik des
Schwarzen Olivenbaums wuchs und
trieb Äste, genau wie ein Baum.“, sagte Stanislav [imi} im Nachwort des
Buches. Und einige Jahrzehnte später schrieb Ivo Frange{: „Eines der
wertvollsten Bücher der kroatischen
Poesie überhaupt.“ Dieses Buch ist
ein Canzoniere der Liebe, der einzige in der neueren kroatischen Poesie, ausgedrückt durch eine unmittelbare Sprache der Sinne, formal
eher klassisch bearbeitet, in dem der
Rhytmus des Volksliedes und der
Atem des Alten und Neuen Testaments spürbar sind. Der schwarze
Olivenbaum ist ein Prolog in eine reiche und vielseitige dichterische Beichte einer Frau, die von der Mystik der
Liebe besessen ist, was die Grundlage ihrer gesamten Dichtkunst ist.
Die Liebe wird, nicht nur im Buch,
vor allem als Maß, Mensch zu bleiben, verstanden. Der Bann der Liebe
und der Schönheit ist eine der wichtigen Konstanten, eine der Leitideen
nicht nur dieses Buches, sondern
auch der gesamten Dichtkunst von
Vesna Parun.
Die Vielseitigkeit innerhalb des gleichen Motivs entspringt aus der Tatsache, dass die Dichterin eine Reihe
von Themen berührte: Die Liebe als
Quelle der Humanität und fröhlichen Entspannens, das Problem der
Beziehung zwischen Mann und Frau,
die Verbundenheit des Menschen mit
der Natur, die Zerrissenheit zwischen Leidenschaft und Schmerz,
Mutterschaft, die Unerbittlichkeit
des Leidens und die Begrenztheit des
menschlichen Wortes, dieses Leiden
auszudrücken, die Suche nach den
Ursprüngen seiner Unruhe sowie die
Vergänglichkeit von allem und ewiges Herumwandern.
Ein Teil der Gedichte aus dieser
Sammlung ist ein Ausdruck der neoromantischen Sehnsucht und des
Erwartens der Liebe (Jungfräulich-
RELA
TIONS
keit, Erste Liebe, Der schlafende Jüngling, Oliven, Granatapfel und Wolken), aber darin ist auch schon die
Vorahnung des künftigen Leidens
(„Weine nicht: Das ist Liebe. Geh
durch das Unwegsame“). Andere, zahlreichere sind das Spiegelbild der tragischen Beruhigung nach der Liebe,
der leise gewordenen Leidenschaften und des Leids, das sich ausruht
(Die offene Tür, Höhle mit Quelle und
Blume, Der Balkon, Ein Klagelied für
das Herz, Der Olivenhain, Wenn du
in der Nähe wärest, Du deren Hände
unschuldiger sind). Der Großteil der
Gedichte entspringt bestimmten Erlebnissen und realen Lebensbildern
und andere den Träumereien und
dunklen Abschnitten des Geistes.
Ihr inneres Auge trägt immer sein
authentisches Empfinden und das
eigene Verfahren im Entdecken gemeinsamer archetypischer Elemente
der Vergangenheit vor. Die Dichtkunst erblühte in diesem Buch in
zahlreiche Bilder, die umhüllt sind
von unwirklichem Licht und Musik, Bilder, die man nur im Traum
sieht. Im Gedicht Der schlafende Jüngling lehnt sie sich an die Ehrfahrung
des Symbolismus und besingt mit
antiker Einfachheit die Schönheit der
männlichen Gestalt im wundersamen
Ambiente einer Küstenlandschaft.
Der junge Mann ist nicht nur ein
Symbol der Schönheit und der Liebe
sondern auch der Erde und des Lebens. Der schlafende Jüngling wird
plastisch dargestellt in einer inhaltlichen Verbundenheit einzelner Bilder, in einer außergewöhnlich feinen
akustischen Ausdruckskraft. Der geballte Sinn der vielseitigen Bilder,
durch Imagination vereinte, filmisch
abrupte Übergänge von einem Bild
zum anderen, die nach ihrem Sinn
und Inhalt vollkommen unterschiedlich sind, bilden den grundlegenden
Sinn und Rhytmus. In diesem Gedicht sind der Sinn des Lebens und
der Traum des schöpferischen Aktes
beinhaltet.
Dossier: Vesna Parun
Das scheinbar ruhige Gedicht Wenn
du in der Nähe wärest ist ganz eine
erregte Liebessehnsucht, ein feiner
und gemessener Liebesruf. Trotz des
Verlustes der Liebe („Meine Vögel /
flogen von deinen Ästen“) gibt es keine Anschuldigungen oder Verwünschungen, sondern nur leises Leid
und Abgefundenheit mit der Vergänglichkeit. Die Liebe und die Natur sind unwiderruflich in Bildern
verknüpft, die sich eins aus dem anderen in Versen schlängeln. Die unbegreifliche Trennung ist der wahre Kern ihrer Liebeslyrik, was sich
wieder an den Reichtum an Eindrücken aus der Kindheit lehnt. Zlarin
war vornehmlich eine Insel der Frauen. Die Männer gingen auf der Suche nach Brot meistens in die weite
Welt, kehrten nicht wieder oder kamen als alte Männer oder Leichen
zurück. Bei der Erforschung ihres
Ursprungs entdeckte die Dichterin
die archtypischen Botschaften, die
in die Tiefen des insularischen Gedächtnisses gespeichert sind.
Es ist schwierig, in unserer Lyrik
Verse zu finden, wie jene in den Gedichten Die offene Tür, Höhle mit
Quelle und Blume, Betäuben wir den
Kutscher, der unsere Tage fährt. Als
ob ein Bildhauer anwesend ist, als ob
die Feder mit einem Meißel ausgewechselt wurde, es gibt kein Wort,
das mit gekünstelter Gefühlsamkeit
durchzogen ist, keine Spur von sorgfältigem Beschönigen. Alles ist aus
einem Fels und jedes Wort aus Stein,
jedes steht selbständig fest oder ist
mit dem benachbarten Wort verbunden. Das gefeierte und weit bekannte Gedicht aus dieser Sammlung Du
deren Hände unschuldiger sind enthüllt das Edle und Gute im Wesen
von Vesna Parun. Dieses Gedicht ist
der Aufschrei einer verlorenen Liebe, ein warmes kindliches Gebet und
ein Abschiedsbrief, das nur eine Frau
schreiben konnte, in der die Ethik
die Emotionen überwiegt. Es ist eine
Seltenheit, dass in einem Gedicht so
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viele unbestreitbare Werte vorkommen: Klarheit der Gedanken, Erkenntnistiefe, ästhetische Reinheit,
Schönheit und Einfachheit des Ausdrucks, Allegorie, poetische Symbolik und kühne Bilder. In dieser Apologie der Liebe verfasste Vesna Parun
die besten Verse unserer Poesie. Stimmungen, Ambiente, Sehnsucht, Einsamkeit, Klagelieder für eine verlorene Jugend, die im Schwarzen Olivenbaum anwesend sind, durchziehen
alle späteren Bücher, die sich untereinander ziemlich ähneln und einige
von ihnen sind konzentrische Kreise, die um den Schwarzen Oliven-
baum in traurigerer und dunklerer
Stimmung gezogen wurden (Sklaverei, Du und niemals, Lass mich ruhen).
Den psalmodisch und balladesque
verlaufenden Rhytmus ihres Verses
und erotische Impulse lösten in späteren Büchern gemäßigte Resignation und Müdigkeit ab und in den
letzten Sammlungen ist eine Ironie
gemischt mit der Leidenschaft der
ewigen Opposition zu erkennen.
Außer dass Vesna Parun tief emotional ist, ist sie auch eine intelektuelle
Natur, was ihre zahlreichen Essays
und das meditative Buch Das Blut
des Zeugen (Krv svjedoka) bestätigen. Sie besitzt tiefe Kenntnisse der
Bibel, der griechischen und römi-
20
Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ...
schen Mythologie, eine reiche und
bittere Lebenserfahrung – das alles
trug bei zu ihren Überlegungen über
den Menschen und sein Schicksal,
über das Leben und den Tod, über die
Liebe, über das Vergehen der Jahreszeiten und ihre Rückkehr. Beim Aufbau ihrer dichterischen Welt brachte
Vesna Parun gleichzeitig neue Werte ein und drang in die Welt der
allgemeinmenschlichen und ethischen
Besessenheiten ein. Natur, Schönheit, Liebe, das sind Motive, durch
die sie auch ihre Ansichten über das
Leben beichtet, ihre Verwunderungen,
Vorwürfe, Begeisterungen und Enttäuschungen. Das menschliche und
dichterische Ideal dieser Dichterin
ist die Harmonie von Mensch und
Leben. Aber die Erkenntnis von der
Zerstreutheit der Harmonie zwischen
der Welt und dem Leben taucht
schon sehr früh auf und die Anwesenheit der Disharmonie durchzieht
ihre Dichtkunst schon nach ihrem
Erstlingswerk. Es existiert der Gedanke, dass allem, was der Mensch
geschaffen hat, Zerstreuung und Zersetzung droht. Mit etwa dreißig Jahren sagte sie im Schwarzen Olivenbaum: „Die süße Last ist kurzlebig.
Reife ist der Bote der Leere“ (Der
Obstgarten). Mit dem Bewusstsein,
dass „es keine Tage gibt, die nicht
eilen würden, Schönheit, die nicht
fließt“ meldet sich auch der Gedanke
vom unausweichlichen Tod, unter
dessen Schatten unser ganzes Leben
verläuft. Aber für Vesna Parun ist
auch der Tod einer der integralen
Teile des Lebens. Leben und Tod sind
„Zwei goldene Tränen der Sonnen,
zwei Brunnen“, sagte sie im Gedicht
Gleichgewicht. Wir treffen auch auf
Kontemplationen über das Nichts
und der Rückkehr des Menschen
daraus, über die Erkenntnis, dass das
Leben kein Traum ist, es aber einer
sein könnte, wenn der Mensch nicht
die darin enthaltenen Werte zerstören
würde. Den Sinn der Veränglichkeit
des Einzelnen begreifend wendet sich
die Dichterin der Natur zu, in der
sich die Antwort auf die Fragen eines
Menschen, der in die Jahre sinkt,
finden ließe. Aber auch in der Natur
sind der Geburt und dem Verschwinden des Menschen komplementäre
Veränderungen offensichtlich, was
eine weitere Bestätigung des Friedens
mit den Gesetzlichkeiten der Natur
und des Lebens ist. Deshalb ist die
Existenz eines solchen Friedens in
den Gedichten möglich, in denen
sich der Abschied von allem, was einem lieb war, von allem, was man so
prächtig und so intensiv lebte, möglich. Ein Mensch, der stürmisch lebte, kann Verse der Ruhe schreiben
und noch mehr die Frische der eigenen Versifikation bewahren:
Alles ist so, wie die Bäume denken
und so, wie das Wasser sprudeln soll
und wie ein Stein neben ihr weint.
(Als es keinen Mond gab)
All diese Überlegungen, Verwunderungen und Fragen klangen am meisten im Buch Verwunschener Regen
(Ukleti da`d, 1969) wider, einem der
Höhepunkte ihrer Poesie, einem Gedichtband von kohärenter Einheit.
Das Buch ist voll von Erkenntnissen
über die Tragik des menschlichen Lebens, aber auch von einer rührenden
Ruhe und Natürlichkeit der Geschehnisse. Auch in dieser Atmosphäre ist
die Liebe wieder ein Lichtstrahl: „Ich
wache auf und flüstere: Sei der Liebe
Lied“ (Ein Körnchen der Rührung)
Im Gedicht (Der Tod und das Echo
der Farben) erschien ihr das Heiligtum der Schönheit auf einer unerreichbaren Höhe und in dem zauberhaften Gedicht Ein Baum aus der
Ewigkeit flimmert die Erkenntnis,
dass es kein Zurrückkommen gibt,
doch die Ewigkeit auch auf Erden
existiert. Der Ausdruck wurde durch
das Übergehen von Vers in Vers, von
Bild in Bild verwirklicht. In diesen
Bilderschwärmen sind die sprachlichen Elemente mit semantischer Vi-
RELA
TIONS
bration getränkt, viel reicheren und
bedeutenderen als die Vibration der
Qualifikation. Das Wort ist sowohl
Musik als auch Farbe und Duft und
die Bilder sind eine synesthesische
Konzentration.
In ihren Prosagedichten beobachtet
sie die Welt um sich herum und ihre
inneren Abgründe ruhiger. Mithilfe
einfacher sprachlicher Mittel evoziert sie ihre in der Inspiration betrachteten Träumereien und entdeckt
unerforschte Bereiche der Emotionalität. In dieser Art der lyrischen
Prosa gibt es Einheiten, die thematisch und lexisch fast gleichwertig
sind mit den Gedichten in Versform
(Wenn ein Vogel aufhört zu lieben –
Die offene Tür).
Das Wort Vogel nimmt in dieser
Poesie den ersten Platz ein, gemessen an der Häufigkeit, thematisch ist
es ein Wort, dass Leichtigkeit und
Beständigkeit darstellt, eine Rückkehr im Kreis, jedoch nie auf dem
gleichen Weg. Der Vogel ist eine
Metapher und ein Symbol und es
gibt fast kein Gedicht, in dem nicht
das Wort Vogel oder der Name eines
Vogels vorkommt. Der Vogel ist ein
Symbol für alles, was sich Leben,
Freiheit, Freude, Weite, Schönheit,
Harmonie nennt. Der Vogel ist Freudentaumel aber auch Trauer, das
Symbol der Vertikale, des Eindringens in die Höhe, der Reisen, von
etwas Reinem und Kühnem, aber
auch des Abschieds, der Vergänglichkeit und der Zeit. „Es gibt keine
ewigen Berührungen“, sagte sie in einem der Zehn Sonette über das Schicksal der Vögel. „Vögel sind die Ewigkeit / die umzieht, ohne Laut, aus
einem Wesen in ein anderes.“ Sie
sind die einzige Brücke, die mit süßem Spott die Teile der Schicksale
verbindet. Vögel sind Wegbegleiter
und Freunde eines Matrosen auf dem
Meer. Sie sind die Boten des Morgens und des Frühlings. „Das Leben
ist ein unsichtbarer Vogel“, sagt sie
in einem Gedicht und das Herz ist
Dossier: Vesna Parun
Photo: Zlata Vuceli}
RELA
TIONS
Vesna Parun auf dem Blumenmarkt Cvjetni trg in Zagreb 1973
der „angstvolle Vogel der Liebe“. Die
erste Liebe ist „der Vogelgesang im
Morgengrauen“ und an einer anderen Stelle sagt sie, dass sie ein „versonnener Vogel“ ist und dass „alles,
was wir über uns wissen in ihren Körper passt / das gehorsame Silber“.
Wenn sie Freude ausdrückt, sagt Vesna: „In meinem Herzen ist ein Vogel“,
wenn sie einen Eid leistet „Wenn
mein Herz nicht die Vögel überholt“
und wenn sie die Einsamkeit genießt
„Es ist schön, allein zu sein, wenn
um dich herum Vögel sind“.
Der Mensch und der Vogel können
sich im Leben leicht verlaufen „wenn
der Mensch dem Vogel nicht traut /
und der Vogel dem Menschen nicht“.
Der Vogel ist das Symbol der Umarmung, die „in sich das Ungreifbare
und das Beendete vereint.“ In ihrem
ersten veröffentlichten Gedicht Der
Ruf taucht ein weißer Vogel auf, das
Symbol für die Schönheit des Lebens
und den Ruf des Mutes, sich dem
Bösen zu widersetzen. Viel später ist
im Gedicht Seid mutig Seefahrer wieder „der weiße Vogel, den sie verbannten! / die nördlichen Winde“ ein
Symbol für die verlorene Schönheit
des Lebens. Über das Gedicht Ich war
ein Junge, eins ihrer frühesten, sagt sie:
21
„Dieses Gedicht ist ein Dokument
über mich, ein Mädchen, das kein
Junge sein wollte, der mit der Schleuder Vögel tötet, sondern ein Junge,
der mit der Schleuder Schreie wirft.“
Und ein Gedicht aus den neunziger
Jahren trägt den Titel: Ich war ein
Junge mit der Schleuder, ich war ein
Vogel.
Wenn wir diese zwei Zitate miteinander vergleichen, sehen wir, dass auch
das Letztere ein Dokument über die
Erfahrung des gegangenen Weges ist,
in dem sich für die Dichterin die
Zweifaltigkeit des Wesens mit all seiner Tragik herauskristalliersiert hat.
Neue Inhalte wurden von einer neuen
Form begleitet, so dass wir in den
letzten Jahren Zeuge ihrer Besessenheit von Sonetten sind. Wie die alten
europäischen Meister besingt auch
sie in dieser heiligen Form die Liebe
und die Natur oder ihre Gedankengänge (die Sammlungen: Hundert
Sonette – Sto soneta, Die bleierne Taube – Olovni golub, Die verzauberte
Zauberin – Za~arana ~arobnica). Aber
in ihren Sonetten ertönt auch der
häretische Klang des Spottes und des
dauernden Unfriedens mit der Welt
(die Sammlungen: Salto mortale, Kasfalpirovs Land – Kasfalpirova zemlja).
Vesna Parun verfasste über fünfhundert Sonette und sechs Sonettkränze,
was kaum zu glauben ist. Sicher ist,
und das wurde schon in der Kritik
ausgedrückt, dass man in einer großen
Anzahl dieser unsterblichen Dichtungsformen auch viel Unpoetisches
finden kann, aber es ist ebenso wahr,
dass diese Dichterin auch in dieser
noblen Form Momente feiner Inspiration auszudrücken vermochte und
eine Reihe von Sonetten schuf, die
wahre „Perltränen der Poesie“ sind.
Im ersten Abschnitt ihres Lebens und
ihrer Gesänge waren alle Sehnsüchte
dieser Dichterin an die Welt der
Schönheit gerichtet, aber das Verhältnis zwischen ihr und der Welt
um sie herum sang immer mehr in
Disharmonie und verwandelte ihre
22
Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ...
Loblieder an die Schönheit des Lebens in Klagelieder und scharfzüngig-satyrische Strophen. Schon Mitte
der sechziger Jahre begann sie, Tierfabeln in Versform zu schreiben, die
voll stichelnder Allusionen mit humoristischem, historischen und politischen Inhalt sind. Im Buch Apokalyptische Fabeln (Apokalipti~ne basne, 1976) hält sie daran an, moderne
Tierfabeln zu schreiben und somit
ihre Wut über das Antliz des Alltags
auszudrücken. Beispielsweise in der
Fabel Die Agave auf dem Müllplatz
ist ein Dichter ein Naturliebhaber,
der das Antlitz des Menschen in der
Natur besingt. Ähnlich ist es mit
dem Buch Der wandelnde Schemel
(Trono`ac koji hoda, 1993), wo zwischen dem einleitenden Gedicht, das
das Abbild eines vernünftigen Menschen ist und dem abschließenden,
das das Gegenteil davon ist, sich
Tierfabeln, satyrische Strophen, weise und erfahrene Epigramme, die mit
feiner Ironie, Sarkasmus und unendlicher Trauer geschrieben wurden,
aneinanderreihen.
Obwohl für die Autorin von Morgenrot und Wirbelsturm, des Schwarzen Olivenbaums und einer Vielzahl
anderer Bücher mit „großer“ Poesie
Gedichte für die jüngsten Leser eine
Art von Flucht darstellen, „ein Genesen von Müdigkeit, Abwegen und
fruchtlosen Suchen“, wie sie selbst
sagte, ist dieser Exodus bedeutend
und diese Rückkehr in die Kindheit
dauert schon vier Jahrzehnte.
Dieser Durst nach Gleichgewicht und
Kindheit entstand selbstverständlich in ihrem Geburtsort Zlarin, im
Spätsommer 1955, als sie nach fünfundzwanzig Jahren ihre Insel besuchte und, wie sie selbst sagt, „an
einem Strand voller Algen liegend
schmiedete ich – ich weiß selbst nicht,
warum gerade dann – mein erstes
Gedicht für Kinder Der großzügige
Maulwurf“.
Und wieder im Spätsommer, in Kukljica auf der Insel Ugljan, zwölf Jahre
später (1967) begann der Roman in
Versform über die abenteuerlustigen
Kater Dschingis-Khan und Miki
Trasi, der bis heute unvollendet ist.
Sommer, Meer, Geburtsort riefen
die schönsten Momente der Kinderwelt von Vesna Parun ins Leben, die
übervoll sind mit „Körnchen von
Meersand und Kiefernzapfen“. Die
Motive der Kindergedichte sind zahlreich und mannigfaltig, so dass es
leichter ist zu bestimmen, was es
nicht gibt in dieser „Burg aus Spinnweben“, als das, was da ist. In Bezug
auf Stil und Form überwiegt in den
ersten Büchern eine narrative Struktur traditionalistischen Typs und in
der Komposition bedient sie sich gereimten Strophenformen aus vier
oder mehr Versen oder schreibt ganze kleine Gedichte von fast zweihundert Versen (Der Schildkrötenpanzer).
Während die Kritik in den ersten
Sammlungen eine narrative Struktur älteren Typs unserer Lyrik, sowie
einen harten metrischen Panzer verübelte, beurteilte man die Bücher über
Dschingis-Khan und Miki Trasi als
eine Bereicherung und Erfrischung
der kroatischen Kinderliteratur.
Obwohl die Thematik der Kindergedichte äußerst reich ist, bleiben
Tiere Vesnas besonderes Lieblingsthema und Hund und Katze sind
geradezu archetypische Figuren der
kindlichen Welt und des kindlichen
Verständnisses. In den neueren Büchern platzten in diese Flora und Fauna die Errungenschaften und Probleme der modernen Welt, die urbane Mitte, Liebe, Einsamkeit und
insbesondere das Meer hinein. Ein
häufiges Motiv ist das Lernen, der
Wunsch nach Erkenntnis, nach dem
Kennenlernen des Lebens, nach dem
Eindringen in seine Geheimnisse, die
Geheimnisse der Natur, ihrer Gesetze und des Verhältnisses der Pflanzen- und Tierwelt. Eine ganze Sammlung, ein Manuskript, (Die kleine
Meereskutsche – Morska ko~ijica) ist
Vesnas Lieblingsthema gewidmet –
RELA
TIONS
dem Meer, diesem wahren Symbol
des Lebens. Der einzige Ausblick,
den sie sich in der Kindheit merkte,
war das Meer und das einzige Geheimnis ER und SIE, lauten die Verse einer Miniatur. Diese Erinnerungen, Bilder, Gerüche, die in der Kindheit eingesogen wurden, sind der
Hauch einer schöneren Welt. Die Fantasie ruht nicht, ebensowenig wie das
Meer und verändert sich in hunderte
von Formen.
Vesna Parun veröffentlichte siebzehn
Kinderbücher und sie besitzt noch
vier Manuskripte für Sammlungen
und Fortsetzungen der Romane über
Dschingis-Khan und Miki Trasi. Sie
schrieb traditionelle Lyrik und moderne lexische Spiele, ganze kleine
Gedichte, gereimte Tierfabeln, poetische Miniaturen, Romane und Radio-Hörspiele in Versform. Ebenso
wie sie in ihrer übrigen Poesie ein
wenig verschwenderisch ihre Ausdrucksmöglichkeiten, ihre reichen
Inventionen zeigt, entsteht auch in
der Poesie der Kindheit solch ein
Verhältnis zum Wort, so dass man
nicht von einer wertlichen, stilistischen und anderen Einheitlichkeit
reden kann. Aber was die Konstante
dieser Poesie in einer großen Anzahl
von Gedichten ist, ist die Spritzigkeit
und üppige Fantasie, konnotativer
Reichtum, Schönheit und Wärme
des Ausdrucks, ein scherzhafter und
leicht satyrischer Ton sowie eine Fülle von Klängen und Farben im lexischen Ausdruck.
„Der Prosasatz zog mich immer geheimnisvoller als der Vers an, der ein
Spiel innerhalb der Sprache ist, in
sich selbst vollständig, sich selbst der
Sinn“ schrieb Vesna Parun im Buch
Das Blut des Zeugen (1988). Sie begann schon sehr früh, Prosaaufsätze
zu verfassen, schon in der vierten
Klasse der Volksschule. Ihr erstes
veröffentlichtes Prosawerk war ein
Landschaftsbild vom Meer mit dem
Titel Der Leuchtturm (Svjetionik) in
der Zagreber Tageszeitung Vjesnik
RELA
TIONS
im Jahr 1946. Auch Prosa schreibt
sie ohne Unterbrechung. Sie veröffentlichte zwei Prosawerke: Unter dem
Männerschirm (Pod mu{kim ki{obranom, 1987), ein polemisches Buch
mit Feuilletons, Tierfabeln, Satyrik,
Interviews und das schon erwähnte
meditative Buch Das Blut des Zeugen, das von Leid, Liebe und Poesie
handelt, sagt, dass das Opfern seit
jeher existiert, aber auch, dass es auch
jene gibt, die Zeugen des Geopferten sind. Zeitgenosse zu sein, heißt
auch, Zeitzeuge zu sein, ein Zeuge des
Schicksals. Die esseyistischen Arbeiten von Vesna Parun sind in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften
verstreut, Sammelschriften von Symposien und Kongressen, Rundfunk
und Fernsehen. Auch in den Prosawerken sind Motive des Leidens und
der Hölle auf dieser Erde, der Liebe
als Heiligtum und der Poesie als unversiegbare Frische der Welt anwesend und kehren wieder. Diese Prosa reflektiert das Bild eines Lebens
voller Unruhe, Suchen, Kämpfe mit
der Welt in ihr und außerhalb von
ihr. Aus solchen Prosaschriften stellte sie auch ihre Autobiographie zusammen. Oberflächlich betrachtet
sind diese Schriften zerrissen, sie sind
in verschiedene Gattungen geteilt und
haben unterschiedliche Ursprünge
der Inspiration. Auch wenn sie an
ein bestimmtes Thema, Erlebnis, eine
bestimmte Persönlichkeit, ein Buch
oder Kunstwerk gebunden sind, erschöpfen sie sich nicht in der Analyse, Darstellung, sondern beinhalten
auch kleine Traktate über eine Frage
und bieten gemeinsam mit ihrer Poesie das Bild der Einheit der schöpferischen Anstrengungen und menschlicher Bemühungen. Ihre Essays sind
mit Poesie durchtränkt und nicht nur
Ideenschauen, sondern auch ein Fest
des sprachlichen Reichtums und stilistischer Bravouren, übervoll mit ihrer
mediterran abenteuerlustigen Fantasie.
Der Form nach ist ihre Prosa ein
„buntes Herbarium“, wie sie selbst
Dossier: Vesna Parun
sagte, das auch wie Unordnung scheinen kann, das aber tief mit der Faktographie des Lebens verbunden ist.
Das sind Überlegungen und sorgsam
aufgebaute Texte jenes kontemplativen Geistes, der über nichts schweigt,
in seinem unnachgiebigen Verlangen nach Harmonie. In den Prosatexten von Vesna Parun werden Themen zu Prätexten für ihre eigenen
gedanklichen und stilistischen Höhenflüge. Sie sucht nach ihrem interpretatorischen Effekt und deshalb ist
ihr Text in einer erhobeneren Stimme geschrieben, mit vielen Wortinversionen, Stilumschwüngen, immer
mit poetischer Konnotation, Üppigkeit und Schönheit der Sprache.
Die Dramawerke haben, im Verhältnis zur Fülle ihrer Gedichtbücher,
einen ziemlich bescheidenen Um-
23
fang (sechs Theaterstücke) und sind
keine Dramen in der klassischen Bedeutung dieser literarischen Gattung.
Sie sind auch keine rein poetischen
Dramen, denn die Autorin bleibt
nicht nur bei Symbolen oder säubert
sie in höchstem Maße. Die Charaktere sind von sekundärer Bedeutung
und sie unterwirft die Figuren und
die Fabel selbst der Grundidee. Auch
in ihren Dramawerken kehrt Vesna
Parun zu ihren frühesten Erlebnissen und den Problemen ihrer Zeit
zurück, berreichert mit Reife und
neuen Erfahrungen. Darin finden
wir die Sinnlichkeit der mediterranen Landschaft, die eine zauberhafte
Inszenierung erlaubt und das Spezifische der Inselmentalität, doch vor
allem das allmächtige Meer als Symbol der ununterbrochenen Erneue-
Vesna Parun
24
Karmen Mila~i}: Der Vogel und die Zeit ...
rung des Lebens. „Parun ist einer, der
mit dem Meer geboren wurde“ sagt
eine Figur in der romantischen Komödie Die Insel der Esel (Magare}i otok).
In diesen Texten finden wir auch
einen bestimmten Themenkomplex,
die auch in ihrer Lyrik erscheinen,
was eine dauerhaftere Beschäftigung
mit dem inspirativen Thema zeigt,
ungeachtet dessen, dass es sich um
Variationen desselben Motivs handelt.
Die Dramawerke von Vesna Parun
beinhalten eine Welt großer poetischer
Imagination, eine Frische der Gedanken und einen Reichtum des Ausdrucks. Diesen Werken fehlt sicherlich das Gewicht des Dramas, psychologisch-realistisch ausgefeilte Zustände, Systematik, Knappheit und Abgerundetheit, aber diese ständige Frische des Dichters ist vorhanden, die
erlaubt, sich in Bilderschwärmen und
dem souveränen Beherrschen der Sprache zu erneuern. Nicht nur in Situationen, sondern auch im Dialog, auch
wenn er in der Faktur der Prosa ist,
gibt es ein Suchen des lyrischen
Rhytmus, das Wort ist eine Illustration der lyrischen Atmosphäre. Ihren Dramawerken, wie auch in der
Lyrik, drückt Vesna Parun den Stempel ihrer eigenen Lebenserfahrung
und Überlegungen, ihrer Kritik und
ihrer Bitterheiten, ihrer Erkenntnisse
über die Zerstreutheit der Lebensharmonie und diese Werke sind nur
im Kontext ihres gesamten literarischen Opus und ihres ausgesprochen
schweren Lebensweges erklärbar. Aber
gerade das poetische Gewand dieser
Texte macht sie luftig und erleuchtet, egal wie düster, schmerzlich und
für den Menschen fatal die Geschehnisse auch sein mögen. Ihr Wert offenbart sich in der Rebbelion und
dem Widerstand gegen den Druck,
die Gewalt sowie im Kampf für Wahrheit, Gerechigkeit und Humanität.
Vesna Parun begann 1955 dramatische Texte zu schreiben und tut das
noch heute. Vier Dramawerke wurden inszeniert und die meisten Auf-
führungen und Erfolge in mehreren
kroatischen Städte verbuchte dies
szenische Ballade Marija und der
Matrose (Marija i mornar). Sie wurde auch auf Radio-Zagreb (1962)
aufgeführt, ins Deutsche übersetzt
(Übersetzer Milo Dor) und auf Radio-Wien (1962) und Radio-Bremen (1963) gesendet. Das Motiv ist
das unvollendete Schicksal eines Mannes und einer Frau, Liebe, Abschied,
Träume und das Meer. Eine Figur
sagt: „Wenn die Liebe in uns stirbt,
dann sind wir weder alt noch jung,
dann sind wir nackt und nicht vor
der Zeit zu verteidigen.“ Und eine
andere: „Alles, was auf der Welt geschehen kann, geschieht zwischen
zwei Menschen. Und das Übrige ist –
die Wildnis des Ozeans.“
Es scheint eine tiefgreifende, elementare Verbundenheit zu bestehen zwischen allem, was Vesna Parun durch
Verse, Prosa und Dramadialoge ausgedrückt hat. Beim Lesen dieser Fülle von literarischen Texten gewinnen wir die Ansicht, dass sie mit dem
gesamten Werk die Seiten eines einzigen Gedichtbandes ausfüllt, ohne
Rücksicht auf die Errungenschaften
des Ausdrucks und die Unterschiedlichkeit der formalen Ausdrucksmittel.
Die Liebe einer Frau als menschliches
Schicksal ist das zentrale Thema dieses prächtigen Buches. Vom ersten
veröffentlichten Gedicht an besingt
sie und befruchtet das Verhältnis und
den Kampf zwischen Mensch und
der ihm gegebenen Zeit. Und dieses
Verhältnis verlangt ein ständiges Gespräch mit dem Leben.
Vesna Parun ist eins der größten dichterischen Namen dieses Jahrhunderts und ein Klassiker der kroatischen Literatur. Sie ist eine außergewöhnliche Erscheinung nicht nur
mit der Fülle der literarischen Gattungen, in denen sie sich versuchte,
sondern auch mit sehr weit verzweigten Formen in Lyrik und Prosa. Nach
Tin Ujevi} ist der Wortschatz von
Vesna Parun der umfangreichste in
RELA
TIONS
unserer neueren Lyrik. Sie ist einer
der meistübersetzten Dichter der kroatischen Lyrik, so dass diese ihr Ansehen in vielen Ländern Europas und
außerhalb verbreitet hat. Elf ihrer
Gedichtbände wurden übersetzt. Sie
ist selbst Übersetzerin aus dem Slowenischen, Bulgarischen, Französischen und Deutschen. Im Jahr 1955
erklomm sie wahre Höhen des übersetzerischen Schaffens als sie in gebundenem Vers Goethe (Der Erlkönig), Heine (Die Loreley) und Rilke
(Herbsttag) ins Kroatische übertrug.
Zwei Elemente, die das dichterische
Werk von Vesna Parun luzide und
schwungvoll machen: Der Geist der
Jugend und der beharrliche Glaube
an den einzigen Zweck der Kunst –
dem Leben und dem Menschen zu
dienen. Im Leben dieser Schriftstellerin ist jetzt Herbst, fast Spätherbst,
aber es ist weder ein Absterben des
zerbrechlichen lyrischen Gewebes zu
spüren, noch ein Verlust des Atems,
stattdessen ist die Schönheit, die der
Mensch für den Menschen geschaffen hat, und die beharrliche Wachheit vor den Augen des Alltags noch
immer anwesend. Wahre Dichter
haben eine sonderbare Macht der
Erneuerung der Poesie auf eine eigentümliche Weise... Vesna Parun
sagt: „Es ist gut, wenn es dir gegeben
wurde, ein Alter zu erleben, in dem
du mit dem unsichtbaren Auge klarer reifst, als du gestern mit dem
sichtbaren überschauen konntest.“
Durch ihr Leben und ihr Werk, bereichert von der Unnachgiebigkeit
der Ungemache, von Erfahrungen
und Schlägen bewies sie überlegen,
dass es trotzdem möglich ist, in der
Wirklichkeit, die kein Gedicht und
kein Märchen ist, zu solchen geistigen Höhen aufzusteigen, von denen
aus man ideale Errungenschaften nur
erahnen kann.
¹Juni-September 1995º
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
RELA
TIONS
Dossier: Vesna Parun
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Foto: Jana Jelinek
Welche Farbe hat
die Unruhe
VESNA PARUN: Eine Nacht für Bosheit, Mein Leben in 40 Säcken
¹„No} za pakost, Moj `ivot u 40 vre}a“º, Matica hrvatska, Zagreb, 2001
Jadranka Pintari}
An jenem Abend, als ich mich
davor drückte, mich an den Computer zu setzten und ein paar Worte
über das Proasbuch von Vesna Parun
zu sagen, „zappte“ ich durch die Kanäle und auf BBC World stieß ich
auf die Sendung „The Nobel centuri“.
Vier literarische Nobelpreisträger (S.
Heany, G. Grass, Sir V. S. Naipaul,
N. Gordimer) saßen in einer riesigen
prachtvollen Bibliothek, auf einem
leicht gehobenen Podium und diskutierten über den Sinn der Literatur. Der Ire, der Dichter Seamus
Heaney berief sich auf seine Kollegen C. Milos und J. Brodski, die
dichterischen Stimmen, denen es
gelang, in einem schicksalstächtigen
Augenblick zu sprechen, und dabei
zu behaupten, dass die Poesie zwar
ein Volk nicht im Sinne eines Messias rettet, es aber in einem menschlichen, historisch-existierenden, sinngemäßen, onthologischen tut. Darauf erwiderte der Prosaist Günter
Grass, dass die Literatur auch die
Sprache einer Nation rettet – und
das ist das Substrat der Existenz. Als
er, zum Beispiel, anfing zu schreiben, war die deutsche Sprache beschädigt (damaged), sie war verseucht
und vernichtet durch die Zeit des
Nazismus und man musste auf den
Gebrauch vieler Wörter achten, so
dass „ich meine Muttersprache aufs
Neue entdecken musste, den Wörtern das Recht auf Gebrauch zurückgeben“. Er entdeckte sie für sich wie
auch für seine Leser. Nadine Gordimer behauptete, dass man schreiben muss, auch wegen der Verantwortung gegenüber denen, die vor
uns schrieben und denen wir einen
Teil von uns verdanken; das, was wir
von anderen Schriftstellern bekommen haben, müssen wir weitergeben,
wenn wir dieses Talent besitzen.
Ich dachte, dass Vesna Parun ganz
fabelhaft in dieses Bild passte: Sie ist
die dichterische Stimme, der es gelang, immer im rechten Augenblick
zu sprechen, mit dem richtigen Wort,
der Sprache, die ein Supstrat (auch)
ihrer persönlichen Existenz ist und
mit Respekt gegenüber jenen, die ihr
vorangingen.
Als ich 1980 in den Stadtteil Dubrava in Zagreb zog, sah ich sie manchmal
in der Straßenbahn oder an der Endhaltestelle oder im Vorbeigehen an
der Bushaltestelle ins Viertel Studentski grad. Ich war Studentin, mit vielen auswendig gelernten Versen im
Kopf und mit Bewunderung gegenüber der dichterischen Kunst und
Vesna war ein fast unwirkliches Wesen, eine Dichterin aus der Schullektüre und Lesebücher, eine Person,
die in den Medien auftauchte, so
dass ich sie heimlich, mit Ehrfurcht,
mit bewundernden und abschätzenden Blicken beobachtete – um eine
Aura, ein geheimes Zeichen zu entdecken, mit dem sich diese Andersartigkeit, Außerordentlichkeit, Kennzeichnung des Wesens, das Zeichen
von Pythia offenbart. Auch ihre Erscheinung war ja beeindruckend und
einzigartig: Sie trug immer exotische
und bunte Tücher und Schals, auf
26
Jadranka Pintari}: Welche Farbe hat die Unruhe
dem Kopf Mützen oder sie hatte zersauste rötliche Locken, ungewöhnliche Kleidung, eine große Tasche. Ich
erinnere mich, wie ich mich zu Anfang wunderte, dass eine so wichtige
Person mit der Straßenbahn fährt
und dann noch in einen immer überfüllten Bus muss, der sie in eine unförmige Siedlung mit grauen Betonbauten und einem obskuren Namen
bringt. In all diesen Jahren fuhr sie
mit der Straßenbahn (und nach eigenem Geständnis, stritt mit den Schaffnern und Kontrolleuren). Und ich
erinnere mich, dass sie immer alleine
war: Die Frau, die einige der schönsten Liebesverse in der gesamten kroatischen Dichtkunst geschrieben hat
– schritt alleine durch die Welt. Oft
schien sie abwesend, sie war in ihrer
eigenen Welt und nicht in der Straßenbahn Nummer 11 oder 12, die in
ein Stadtviertel fuhr, das damals keinen guten Ruf hatte und weiß Gott
auch heute noch kein Eliteviertel ist.
Sie hasste ihre Badel-Straße (heute
die Straße Vile Velebita) in der mir
Stoßarbeiterschweiß erbauten Siedlung – implizit denkend, dass ihr (mit
vollem Recht) etwas Besseres zusteht
– und blieb all diese Jahrzehnte in
der baufälligen, ungepflegten Wohnung „hängen“. Und ich erinnere
mich, wie sie von den Kritikern verlangte, dass sie sie weder als „Die
Parun“ ansprachen noch so über sie
schrieben – sie hielt das für beleidigend – was mir gefallen hat, denn
ich dachte mir selbst, dass es unverschämt sei, so irgendjemanden anzusprechen, gescheweige denn eine
geschätzte Dichterin. Obwohl ich sie
so aus der Ferne bewunderte, habe
ich sie nie angesprochen – später
überlegte ich: Das ist eigenlich völlig
in Ordnung und im Einklang mit
der Kultur und den Gepflogenheiten, in denen ich großgezogen wurde
– eine bekannte Person an einem öffentlichen Ort anzusprechen ist die
amerikanische Art, d. h. das Nichtrespektieren des Rechts auf Privat-
sphäre und die Heiligkeit der Persönlichkeit ist eine gewisse Aggressivität, außerdem bin ich auch heute
noch scheu.
Trotzdem, die Poétesse Vesna war die
Verkörperung meiner romantischen
Vorstellung von Dichtern: Abgehoben, „ausgeklinkt“ aus der Welt, eigen, „verflucht“. Sie nannten sie auch
„Aschenputtel aus der Studentenstadt“ und da sie in jenen Jahren das
sechzigste Lebesjahr erreichte, gab
es eine Menge festlicher Texte und
Gespräche – trotz ihrer Meinung,
dass man „Geburtstage zum Tag des
Schweigens erklären sollte“. Sie sprach
so, wie in meiner Vorstellung Dichter sprachen: „Mein Haus ist voll
vom Jauchzen der Zwerge, die von
Wand zu Wand tanzen und sich über
die lebendig gewordenen Worte wundern.“ oder „Aus dem Mausloch meiner Nirwanas strecke ich meine Nase
hinaus in die Öffentlichkeit, um an
der Luft zu schnuppern und die Ilica
entlang zu schlendern...“ oder „Solange du lebst, ist die Literatur Unordnung. Wenn du stirbst, bringen
dich die Magister gewaltsam in Reih
und Glied“ oder „Die Poesie ist nichts
anderes als schwarze Magie, die – im
Gegensatz zu allen anderen schwarzen Magien, die seit ewigen Zeiten
die Welt überschwemmten – das Wort
in einem chemisch reinen Zustand
vollbringt und zwar ausschließlich an
sich selbst. Durch das Verzaubern
der Seele mit Poesie entzaubert sie
der Dichter von der Kaballah der
Realität.“ Ich weiß nicht, ob sie auch
an diesen frühen Abenden aus dem
Kino (Kosmaj, in dem sie ihre Beine
ausstreckt) zurückkam, wohin sie ging,
weil „im Dunkeln neben dir unbekannte Menschen sitzen und du fühlst
dich schön, sicher, gesund“ – wie sie
in einem Interview sagte. Ich ahnte
nur, dass es mühsam und anstrengend sein musste, so ausdauernd (ursprünglich) du selbst zu sein oder
mit ihren Worten „es wird immer
schwieriger, sich selbst treu zu blei-
RELA
TIONS
ben und in dir diesen Organismus
des menschlichen Lebens zu tragen,
denn das menschliche Leben ist immer
ein kleines Wesen, jung, neugeboren
an jedem Tag unseres Lebens. Unser
Leben ist unser Kind, das wir tragen.
Es altert nicht, es fossiliert sich nicht,
es ist klein, weich und hilflos.“
Und wie schwer es wirklich ist, sich
selbst treu zu bleiben und jeden Tag
dieses Kind zu tragen, dass jeden
Morgen geboren wird, wurde erst
zwanzig Jahre danach klarer, als ich
Eine Nacht für Bosheit las. Einst hatte sie gesagt: „Die Gedichte sind
vielleicht ein Spiegelbild meiner Seele, aber nicht auch ein Abbild meines Lebens.“ und dieses Buch ist
vielleicht teilweise ein Spiegelbild
ihres Lebens (und was das Abbild
ist, so bin ich nicht sicher, ob das
irgendjemand sagen kann), denn heute sagt sie: Gedichtsbände sind ein
Panoptikum falscher Spiegel, eine
Schatzkammer an Informationen,
verschlossen unter einer Chiffre, die
nur eine kleine Handvoll von Auserwählten kennt und den übrigen
sicherlich zur Verwunderung und
Häme dient.“ Sie war wahrlich eine
schöne Frau, markant, und keine süßliche Schönheit – davon zeugt eine
Vielzahl an Fotografien im Buch (so
wie von ihrem malerischen Talent
ihre Arbeiten und „Werke“ an den
Wänden und Türen der Wohnung
zeugen, zahlreiche Bilder, die entstanden sind, als sie „sich von der
Tyrannei der Worte ausruhte“). Auch
in diesem Sinne war sie in gewisser
Weise unglücklich – so sehr sie auch
glücklich und mit allen seltenen Inspirationen beschert war. Eine Nacht
für Bosheit ist eigentlich eine belletrisierte Autobiographie, sagen wir
mal die künstlerische Beichte einer
Künstlerin. Andererseits ist sie in der
Faktographie ihres Lebens dokumentaristisch treu und irgendwie unausweichlich notwendig Fiction in den
Auslegungen und zahlreichen Beschreibungen der Beziehungen zu
RELA
TIONS
anderen und vor allem beim Erklären ihrer inneren Zustände – die sich
stellenweise unbemerkt von Poesie in
Prosa transformieren, insbesondere
wenn die Rede von Träumen ist oder
Versuchen, die eigene Lage in einer
konkreten, gegebenen Umgebung
und Existenz, dem Schicksal und
Vollblütigkeit des Lebens zu ergründen. Es ist sogar, sagen wir mal, möglich, Ereignisse und Menschen, über
die sie schreibt, zu verfolgen, obwohl
sie (nach Bedarf) ihre Namen änderte und niemanden mit Absicht und
Hintergedanken beleidigte oder verleumdete, aber es gibt genug erkennbare Eigenschaften und Situationen
für eine zweifelsfreie Feststellung der
Identität. In diesem Sinne kann dieses Buch einem (es wäre besser – zukünftigen) Suchenden nach Klatsch,
Anegdoten und affärenträchtigen Situationen im kroatischen Kulturraum der 1970-er und 1980-er Jahre
eine reiche Quelle sowohl der Spuren als auch der Informationen sein.
Doch mir scheint das kein guter
Schlüssel für das heutige wohlwollende Lesen dieses Buches, sondern
man sollte es als eine literarische
Beichte über die inneren Kreuzgänge
eines hypersensiblen und talentieren
Wesens lesen.
Weil sie am 31. Oktober 1972, am
Tag, als ihre Mutter gestorben ist,
zum ersten Mal das uralte chinesische weise Buch Yi Jing um Rat fragte, blieb sie dort, wo sie war und
wartete. Sie hat damals wohl noch
nicht gewusst, dass das Leben auf
niemanden wartet (und das jene, die
warten, in der Regel traurig und enttäuscht werden – trotzdem, aus diesem Leid können sie auch etwas schaffen, während die, die nicht warten
können, in ihrer Hast keine Zeit haben, sich umzusehen). Obwohl sie
wusste, dass man sich fürchten muss
vor den „Echos, die sich den unschuldigen Lagern der Liebe nähern.“ Und
die Geschichte, die äußere und innere, formte die Biographie – uner-
Dossier: Vesna Parun
27
Vesna Parun
forscht. Sie sagt, sie hätte nie ein Tagebuch geführt, aber es schrieb sich,
unsichtbar auf dem Papier, irgendwo
in ihr drin. „Es schrieb sich selbst, in
gespenstigem Schweigen, ohne mich
auch nach meiner Zustimmung zu
fragen. Es schrieb sich ohne Worte,
ohne Sätze, ohne grammatikalische
Formen, rechtschreiberische Haken.
Ich wusste, dass es passierte.“ In dieser Zeit hörte sie auf die nie und
durch nichts unterdrückte Stimme,
die sagte „schreib, was du lebst“ und
noch lauter „schreib, als ob du nicht
leben würdest. Schreib Poesie!“ Und
sie schrieb: Dutzende von Büchern.
„Dieser Kopf, mit dem ich dies jetzt
schreibe und die Hand, die es schreibt,
erlauben mir keine Minute der Zukunft. Der Lebenslauf ist ein ge-
schriebenes Wunder: Das, was gestorben ist, zum Leben zu erwecken,
das, was verschwunden ist, zurückzubringen, sich selbst zu täuschen,
dass du zweimal gelebt hast.“ Hier
ist dieses eingebundene zweite Leben. Obwohl darin mehr die Rede
von Trotz, Stolz und Leid ist, hob sich
das Wort Bosheit durch eine Besonderheit hervor: Durch das Umstellen von Buchstaben ließ sich daraus
hundert und ein Wort schaffen. Eines Nachts in diesem verhassten Viertel und der noch verhassteren Wohnung, mit dem, über den sie sagt, er
sei ihr karmischer Bruder: „Ich wälzte die Bosheit im Mund herum, knabberte an ihr, halbierte sie, machte aus
ihr kleine einsilbige Bilder, ein ganzes Mosaik. Ich zählte sie laut auf...“
28
Jadranka Pintari}: Welche Farbe hat die Unruhe
Doch als wichtigstes Wort ergab sich
trotzdem das Wort Chaos. „Das Chaos meines Zimmers und das Chaos
des Kosmos: Mein Leben in vierzig
Säcken! Ist das nicht ein und dasselbe Gesetz der Enthropie?“ Dieses Leben in vierzig Säcken, den wortwörtlichen – großen schwarzen Müllsäcken, in die sie alles für ihren Umzug (wohin? zu ihrem karmischen
Bruder? ein Auszug aus ihr selbst?) –
und den metaphorischen – in die
niemals der „Text des Lebens“ und der
„Text der Kunst“ passen wird, für die,
von der sie sagten, dass sie als Überflüssige geboren wurde, vor achtzig
Lenzen, auf der Insel der verlassenen
Frauen, Zlarin. Und vor diesem Chaos „Ich erkannte, dass alles KAMPF
war, auch die Liebe – nun, letzten
Endes auch die Poesie selbst. Ein
Kampf gegen das Leben, das kein
Leben ist. Gegen das, was ihm kaum
ähnelte.“ Wahrlich ein Kampf des
Lebens und der Kunst um das Recht
auf ein Leben der Andersartigkeit und
die Kunst der Selbständigkeit. Sie,
den Fischottern treu unter der schwarzen Olive, die heute das Buch schreibt
„Ich deren Hände unschuldiger sind“
hatte keine glückliche Hand in der
Welt im Zeichen des Männerschirms.
Und sie stellte sich unter diesen
„Männerschirm“ und andererseits
hat er sie nie empfangen. So sprach
Sie auch (aus Bosheit?) von dem
grausamen Mann, dem sie sich ganz
hingab und er sie im Stich ließ als
Liebhaber und als Mensch. Eine Jugendliebe, die zum Schicksal wurde.
Der zweite Antipode ist die reife Liebe, die unvollendet blieb (hm, in unserem alltäglichen Sinn). Es reihen
sich Gestalten, die sie auf diese oder
jene Art benutzten und missbrauchten. Jedoch ist immer nur ihr inneres
Erlebnis der Geschehnisse ausschlaggebend und inhaltlich wichtig. Das
ist die wirkliche Erforschung des
Reliefs von Seele und Geist: Der
Gipfel und Täler, der Sonnen- und
Schattenseite, dunkler, verborgener
Winkel und furchteinflößender Labyrinthe, unerklärlicher Wendungen
Die hundertjährige Magdica Isanos, ständige Inspiration von Vesna Parun
RELA
TIONS
und Kiesel unter der Zunge. Jede
Autobiographie ist teilweise auch
eine Mythologisierung des eigenen
Lebens (was keinesfalls unbedingt
ein negativer Aspekt ist), das „Bestäuben“ mit dem goldenen Staub des
Vergessens von längst vergangenen
Ereignissen, die „Vernebelung“ der
Erlebnisse durch Erinnerung und
das „philosophische“ Zuschreiben
von Bedeutung den Erfahrungen –
Vesna ist auch darin ehrlich, sie versucht ihren Leser nicht davon zu
überzeugen, dass diese Seiten ein „objektives“ Bild der Vergangenheit sind,
sondern wirklich nur eine Darstellung (der Darstellung) von ihr selbst,
die sich selber aus einer zeitlichen
Entfernung beobachtet, von der Kindheit bis zum reiferen Alter. Die Poetik der Träume verwandelt sich in
die Poetik des Alltags und dieser gar
in das Poetisieren von allem, was es
berührt – in Gedanken, Worten, Taten. Sie schafft die Grenzen des Genres und der Sprache ab, die Behälter
der Bedeutung von Worten füllt sie
mit neuem Sinn, rettet unmessianisch
die Poesie („die andere Stimme“ des
Octavio Pazo) von der Banalität und
führt sie zu den ursprünglichen, den
Göttern zum Greifen nahe, Höhen.
Vermittelt manch längst verlorenes
Wissen. Sie kann nicht aus ihrer eigenen Haut: Sie bleibt Dichterin bis
zum letzten Buchstaben.
Und obwohl sie sie als unsere beste
Poetin bezeichneten, sagten sie, dass
sie ein Enfant terrible sei, dass sie
Skandale heraufbeschwört, dass sie
huch! unzurechnungsfähig sei! Und
obwohl sich die Leserschaft vor ihr
verneigte und obwohl ihr Verliebte
und Liebeskranke Ehren erwiesen
und obwohl sie für die Medien interessant war und den Establishments
unlieb... bittet sie noch heute: „Die
Liebe ist eine Landkarte der Seele.
Meine Landkarte. Gott, entreiße sie
mir nicht!“
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
RELA
TIONS
Dossier: Vesna Parun
29
Eine Nacht für Bosheit
¹ Auszüge aus dem Romanº
Vesna Parun
Kuss des Lebens
Juli 1947
Augen. Mund. Hände. Alles ist da.
Und das weiße grobe Laken auf dem
Bett. Rundherum noch mehr Betten
mit Laken. Fenster ohne Gardinen.
Todesstille.
Wo bin ich? Ich strenge diesen übrig
gebliebenen Teil von mir an, damit
er sich erinnert. Die Neugier, mein
Leben zu enträtseln, brachte mich
schon immer dazu, aufzuwachen,
genau wie jetzt: Noch weiß ich nicht,
wo ich bin oder wohin ich gehen
würde. Aber ich weiß, wer ich bin.
Und wo ich war und wohin ich ging.
Warum ich mich so stumpf körperlos fühle, obwohl mein Herz noch
klopft. Und mein Herz klopft noch.
Hämmert eigentlich, schlägt gegen
meinen Brustkorb. Mein eigenes, aus
den Schienen der Zeit gesprungenes
Herz wird mich umbringen... Es
wird dunkel. Lange betrachte ich
meine gelblichen abgetöteten Handflächen. Die Schwielen darauf möchten ihre Geschichte beginnen, aber
der müde Kopf lässt sie nicht. Ich
tauche von Neuem in einen trüben
Schlaf ohne Träume, ohne Visionen
vom morgigen Tag, ohne Gegenwart...
Hat mich die schrille Trompete des
Zapfenstreichs geweckt oder meldete sich hinter dem Kap von Zlarin
mit seiner heiseren mürrischen Stimme ein verschlafenes Dampfschiff?
Ich stütze mich erwartungsvoll auf
dem Kissen ab, begreife aber, dass
ich ein vom Sturm zerissenes Fischernetz bin, das die Korkteile nach oben
treiben, während Bleiringe es auf den
magischen Grund ziehen.
Jemand legt mir sanft die Hand auf
die Stirn. Man schiebt mir ein Thermometer unter die Achsel. Im Thermometer ist Quecksilber. Das Leben ist ein Messen von Achselwärme.
Die Abmessung von Wärmeimpulsen,
die uns kurzzeitig geschenkt wurden.
Ich bin also am Leben. Man schenkt
uns das, was uns gewaltsam entrissen
wurde. Wenn du kein Dieb von ziellos verstreuten Lebensgeschenken bist,
dann bist du vielleicht ein Dichter.
Oder ein Toter... Lasst sie nur schlafen! – höre ich, wie sie sagen. Irgendwo
tief auf dem Grund meines Gehirns,
im grünenden Wald der Algen, singt
so berauschend eine abendliche Nachtigall...
Und mich gibt es nicht. Meine innere Werkstatt der Worte ist so öde.
Wollte ich nicht die letzte Srophe
eines hundert Seemeilen von mir
entferneten Gedichts beenden? Aber
wann war das? Die Zeit der Uhren
steht still. Alles entwich aus mir und
aus der Uhr auf dem Turm, zerstreute
sich in Schaum. Der alte Lebensrhytmus ist zerstört, einen neuen gilt
es mühevoll zu erschaffen. Der Rhytmus von Weltraumgeschehnissen
hilft uns dabei nicht. Ich sterbe vor
Durst, denn ich schöpfe kein Wasser
aus dem Boden wie eine Pflanze. Vor
Hunger, denn ich fange keine Käfer
in das spinnwebige Netz meines
Atems. Was ist eigentlich mit mir
passiert? Ich war ganz. Ich war der
Obelisk vor dem Palast der Vereinten Winde der Poesie. Sie trugen mich
auf den Schultern von Staatsmännern in eine andere Ameisenwelt hinüber. Dies hier ist die Geometrie
der trägen brüchigen Flächen der
Wirklichkeit, das Bewegen von Schatten über den Spuren von menschlichen Schicksalen. Sie soll nur schlafen! – höre ich sie flüstern. Und ich,
verwundert, schlafe wirklich...
Wie viele Nachmittage und Abende
sind so vergangen, Tage und Nächte? Etliche, nach den schon ziemlich
erweichten Schwielen und nach einer tödlichen Langeweile, die lautlos
von überallher hervorquillt, zu urtei-
30
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
len. Wie in der zeitlosen Einöde der
Kindheit, wenn du mutterseelenallein mit deinem kranken Engel geblieben bist. Einem traurigen, weil
er wegen der Masern nicht mit dir
spielen durfte. Diese über meinem
Kopf schweigend Geneigten sind
zweifellost keine kranken Engel, aber
es werden wohl irgendwelche guten
aufmerksamen Menschen sein. Ein
Mann, mittleren Alters und ein weinig
angegraut, im weißen Mantel. Hinter ihm noch einer. Sie gehen weiter.
Eine groß gewachsene blonde Frau
in Weiß hält eine angeschlagene Tasse mit Tee an meinen Mund. Ein
paar Schlucke und... ich schwebe.
Im fiebrigen Halbschlaf sehe ich: Der
Himmel, glühend und blendend wie
der Hochofen einer Eisenhütte, aus
ihm sprühen Sterne und Meteoren,
prasseln auf mich nieder. Ich stöhne
vor Schmerzen. Schwarze Wanzen
krabbeln über die vor langer Zeit gestrichene Zimmerdecke... Nein, das
ist nicht dieses hier. Hier ist alles
irgendwie auseinandergeschoben und
sauber, riecht nach Carbol und bitteren Lindenblütentee. Und es schmerzt
nicht mehr so. Und das andere war
woanders, in einer Kammer des türkischen Hans, auf Ba{~ar{ija1...
Die goldlockige Krankenschwester
setzte sich an meine Bettkante. – Ich
bin Vida. Wie fühlst du dich jetzt?
– Hajro, mein Sohn...
Er schaute auf den Boden, wankend
wie ein Betrunkener und die Schuhe
hüpften lebhaft an den Senkeln. Vida
ging zum Fenster und schloss es.
Dann, während sie versuchte mit einem Kamm mein Haar zu entwirren,
sah ich auf ihrem Gesicht Tränen.
– Auf der benachbarten Station sterben sie einer nach dem anderen und
man bringt ständig neue. Auf Bahren, wie auch dich...
Das Klagen verlor sich wie verklungenes Möwengeschrei in der Ferne.
– Dieser Hajro starb an Meningitis –
fuhr Vida fort. – Er war lange in Koma. Er kam auch aus einer Arbeitsbrigade, einer döflichen. Bei Vranduk. Und du?
– Ich?... – Ich fing an nachzudenken.
– Hat man mich nicht von Ba{~ar{ija
hergebracht?
– Du hattest ein Entlassungsschreiben
aus der Brigade „Ivan Goran Kova~i}“. Wo ist das?
– Im Zenica-Kessel. Wir nannten es:
Teufelskessel mit Engels’ Deckel.
Oder habe ich mir das ausgedacht...
– Und ihr Studenten, ihr habt von
morgens bis abends gegraben?
Sie erinnerte mich an die Wasserträger meiner Insel, an die Frauen an
den schweren Rudern, die Olivenpflückerinnen...
– Na ja, wir haben einen Damm für
Schienen gebaut, stampften Erde...
Im Spind ist mein Rucksack. Darin
ist alles, was ich habe. Auf Zetteln
sind Verse. Wenn es passieren sollte,
Vida...
Auf einmal ertönte von draußen eine
Männerstimme, durchdringend und
wellig näherte sie sich. Es war ein
Klagegeschrei. Bald erspähten wir
durch das offene erdgeschossige Fenster die gebeugte Gestalt eines älteren
Mannes mit einem Paar großer Männerschuhe über dem rechten Arm
und einem Bündel im linken.
– Ach, sei doch still, du hast es geschafft! Weißt du, dass du schon im
Leichenschauhaus warst, sie haben
dich direkt aus dem Ambulanzwagen abgeladen. Du hast es Doktor
[arac zu verdanken, dass du noch
lebst. Er ist für alle hier Vater und
Mutter, vollbringt Wunder, so viel
er kann, rettet. Er gibt euch, sagt
1
Historisches Viertel in Sarajevo
RELA
TIONS
man bei uns, den Kuss des Lebens...
Da, sie bringen wieder welche an!...
Vom Gang her hörte man Aufruhr
und Lärm. Sie flatterte aus dem
Zimmer.
Magie des Morgens, SpaziergängerWolken... klebte an meinem trockenen Gaumen der Vers, einer von den
Zetteln. Ich schließe die Augen. Unter meinen Lidern schießen Blitze. Die
bergige Nacht senkt sich, die Ungeliebte
dämmerte... Auch wenn ich den Ansturm der verwelkten Verse abschütteln sollte, wie soll man das Kaleidoskop von Bildern zerschlagen, das
kaputte Karussell anhalten? Was ist
da mit meiner Generation auf diesem Karussell geschehen? Ich bin
eine von denen, die der Krieg verschont hat. Ich musste diese verdammte Eisenbahnstrecke kosten und
wenn auch sie mich verschont – hüte
dich vor dem dritten Glück!
Ich erinnere mich an die Untersuchung in der Studenten-Poliklinik
in Zagreb; Oberkörper freimachen,
Impfung. Geh nicht! – flüsterte mir
ein uneffizienter Bazillus in der Nadel
zu. Aber dieses Stimmchen überwog
nicht die Gründe, die mich zwangen, es nicht zu beachten.
In Bosanski Brod, auf der Wiese, auf
die sie uns aus Viehwaggons abluden, um zu übernachten, trank ich –
aus Händen – von einem Brunnen.
Eine samtige dunkle Stimme in der
Nähe, scheint mir, warnte mich:
Trink nicht!... Ob das meine rothaarige Kollegin Lela Kunti} war – die
Talentierte aus ^ehovs Onkel Vanja
in der Aufführung der Schauspielgruppe, die zukünftige Historikerin?
Vielleicht. (Gott hab sie selig, jetzt
am ersten Todestag!) Etwas weiter
weg führte Vanja Sutli} wie üblich
seine philosophisch-rhetorische witzige Show auf. Mit seinem Kneifer
und dünnem Schnurrbart, mit dem
RELA
TIONS
er nach einer Beute zu suchen schien,
um sich wie ein scharfsinniger Delfin auf sie zu stürzen – auf die Sinnlosigkeit und das Absurde, auf das NichtSein. (Auch er ist schon, pseudo-ironischerweise, in die Gärten himmlischer Peripathetik übergesiedelt und
hat die Schlacht verloren)... Es war,
denke ich, am ersten Juli. Am morgigen Tag waren wir im Herzen Bosniens, am Ziel.
In der Tasse ist kein Tropfen Tee
mehr. Alle Patientinnen im Zimmer
schlafen. Niemand kommt. Aber ich
kann wenigstens nach Herzenslust
so liegen, bewegungslos, ich muss
mich nicht abmühen, um den zu
schweren Spaten zu packen, um jemanden zu überzeugen, dass ich mich
nicht vor der Arbeit drücke. Da ich
die ganze Zeit liege und faulenze,
werde ich sicher eine Mahnung bekommen, eine Kakerlake oder einen
Ohrwurm... Vor meinen Augen taucht
eine ganze Bühne auf, Baracken, umliegende Berge, Pflaumengärten. In
nie dargewesener Hitze und Schwüle
habe ich meinen langen höllischen
Tag mit Leichtigkeit und verwunderlichem Elan absolviert. Sie nannten mich Silvana, nach dem Film
Bitterer Reis, der damals – aus Mangel an Reis und Schönheit – auch bei
uns sehr beliebt war. Ich war sogar
Stoßarbeiterin – bis mich dumpfe tückische Bauchkrämpfe, danach auch
heimtückische Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, wachsende Schwäche, wilder Durst überraschten. Nirgendwo
eine Ambulanz oder Medikamente.
Und wir aßen ständig Bohnen, Kartoffeln und Nudeln, manchmal mit
Wurst, und kletterten über stinkende Planken zu Feldklossetts. Aus der
ungarischen Baracke brachten sie
mir eines Abends zwei Aspirin.
Ich bin am morgigen Tag vom Damm
zum seichten Flussarm der Bosna
Dossier: Vesna Parun
gekrochen, in den Schatten einer
Weide und fing an, mit der Stirn
gegen den frischen Kieselgrund zu
schlagen, um das Fieber und den
schrecklichen Schmerz im Kopf zu
vertreiben. Der Aufseher der Arbeiten am Damm – ein ehemaliges BKJJMitglied2 – trug mich in seinen Notizblock ein. Das war, durch irgendeinen Zufall, derselbe, der mich hundert Mal aus der Mensa der Notaufnahme CUM verscheucht und mir
galant mit der Polizei gedroht hatte.
Ich hatte dort kein Recht auf Essen
ohne Bons und mir wurden die Bons
verweigert von studentischen Aktivisten – den Parteifunktionären von
morgen. Heimlich schnappte ich mir
Brot vom langen Tisch und entwischte ihnen durch die andere Tür, über
den Hof bis zum Ausgang gegenüber
dem Gebäude des Nationaltheaters
und dem Kaffeehaus KAVKAZ...
Weide, grüne Weide... sang ihr prämortales trauriges Lied die unschuldige Geliebte des Othello. Wenn ich
doch nur so unter der Weide bleiben
könnte, mit dem Kopf im Wasser, auf
die Nacht und den Fischotter warten, damit er mich in sein verwunschenes Schloss aus Traum und Poesie führen würde. In ein Schloss, von
dem ich damals noch glaubte, dass
es, wenn schon nicht wirklich, dann
weinigstens durch Illusion möglich,
sei. Bin ich wahrlich allen Fischottern
unserer betrogenen und entheimateten
Jugend heimatlos treu geblieben?
Die Herberge auf Ba{~ar{ija, aus der
sie mich im Notwagen ins Krankenhaus für ansteckende Krankheiten auf
Ko{evsko brdo3 brachten, war weder
das Schloss des Fischotters noch Poesie. Wie gelangte ich hinein? – fragte ich mich. Szenen, wie aus einer
vor langer Zeit gesehenen Serie, wechselten sich in Unordnung ab und
verschwanden. Dennoch erinnere ich
2
BKJJ – Bund der kommunistischen Jugend Jugoslawiens
3
Stadtteil von Sarajevo
31
mich klar an den Augenblick, als
mein Kollege Ivan Focht und ich,
endlich den Entlassungsbrief wegen
„Arbeitsunfähigkeit“ in der Tasche,
eines Morgens bei schwülem Wetter
zu Fuß auf Eselspfaden nach Zenica
losgingen.
Wir schleppten uns dahin, so mager
und schmutzig wie wir waren, stolperten über Gebüsch. In der Vorstadt einer verqualmten Gemeinde
traten wir auf eine ganze Brigade riesiger Wassermelonen, die untätig auf
dem Boden verstreut herumlagen.
Wir stürzten dort mitten unter sie,
zahlten je einen halben Dinar und
machten uns gierig jeder über die
seine her. Murillo – wenn er dort
gewesen wäre – hätte ohne Zweifel
dieses auffällig colorierte Exterieur
mit Stillleben und tödlich vergilbtem Paar im Vordergrund genossen.
Vida kam mit einem Teller und einem Löffel aus Blech zurück. Ich verdrehte meinen Hals nach ihr. Das
war nicht für mich bestimmt, sondern für die Patientin auf meiner linken Seite, eine Gymnasiastin aus
Knin. Sie wurde aus La{va hergebracht, hieß Radmila. Mit ihrem gebräunten bronzenen Gesicht und
ihren lockigen Haaren sah sie wie eine
Creolin aus. Sie setzte sich schnell
auf und schnüffelte wie ein Mäuschen am Teller, den ihr die Krankenschwester hinhielt.
– Milchreis! – lachte Rada mit strahlend weißen Zahnreihen den ebenso
strahlenden Reis im Teller an und
schleckte den Löffel ab.
– Wie ist er? – fragte ich fast andächtig.
– Göttlich! – jauchzte sie, während
ich meinen bitteren Lindenblütentee trank. – Warum bringen Sie ihr
keinen?
– Sie darf noch nicht essen, wegen
der Rezidiven! – antwortete Vida.
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
32
Senko Karuza beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
Das ist, wenn der Typhus abgeheilt
ist und ihm dann der grillenhafte
Organismus noch eine Chance gibt!
August
Ich spule in meinen Gedanken geduldig mein Band dort weiter ab, wo
ich aufgehört hatbe, bei der pittoresken Sequenz mit den Wassermelonen. Mittag, Bahnhof in Zenica.
Nach Osten – engspurige Schienen
nach Sarajevo. Nach Westen – breitspurige majestetische, nach Zagreb.
Ivan Focht, geboren in Sarajevo,
wusste wohin; er hatte dort zwar nur
eine Großmutter – die übrige Verwandschaft hatte er im verrauchten
Krieg verloren. Ich hatte in Zagreb
nirgendwohin und zu nirgendwem
zurückzukehren. Wir kletterten gemeinsam, am frühen Nachmittag, in
seinen komischen Mini-Zug, der kohlrabenschwarz aus Kakanj und überfüllt wie ein Bienenstock knarrte,
pfiff und bellte, dann wütend auf die
Schienen Wasser ließ und gen Orient humpelte. Mit Mühe fanden wir
einen Zoll breit Platz in diesem Bienenstock, auf dem Gang. Dreimal,
sagten sie mir, fiel ich in Ohnmacht
auf den Boden – das heißt, auf die
Menschen um mich herum, die Arbeiterklasse. Die verschwitzten unausgeschlafenen Bergleute begossen
mich mit Wasser aus ihren Feldflaschen und rieben meine Stirn mit
Sliwowitz ein, verhinderten, dass
mich Neuankömmlinge auf jeder der
unzählig dicht aneinandergereihten
Stationen entlang der Strecke zertrampelten...
Der alte Bahnhof in Sarajevo war
wieder einmal für meine Seele ein
dunkler Kreuzweg voller Ungewissheit. Es schien, als ob ich eine Münze
werfen würde, dann schau’n wir, was
dabei herauskommt: Kopf – Zahl?
4
Zore i vihori
5
Zoologischer Garten in Zagreb
6
Vorort von Zagreb
Dossier: Vesna Parun
Ich weiß nicht, in welche Richtung
von dort aus mein Reisebegleiter
ging, nachdem er mir die Adresse
vom Häuschen seiner Großmutter,
irgendwo am Stadtrand, gegeben hatte. Ich erklärte ihm, dass ich zuerst
die „Kaserne Jajce“ suchen müsste –
er dachte wohl, ich würde im Fieberwahn konfuses Zeug daherreden, –
und dass ich danach, fest versprochen – kommen würde, damit wir
uns vor meiner Rückkehr nach Zagreb verabschieden. Nach Hause?
Welches Zuhause denn! Ins möblierte Zimmer im EISHAUS, das wahrscheinlich schon belegt war. Hegels
Ästhetik, die wir in unserer Freizeit
mit Professor Filipovi} (möge auch
ihn Gott selig haben!) in jenen Wochen an der Eisenbahnstrecke behandelt hatten, muss er mir noch nicht
zurückgeben. Er war ein fleißigerer
Schüler als ich, auch gewandter im
apstrakten Denken und man wusste
schon damals, dass er eines Tages –
mit Pilzzucht als Nebendisziplin – auch
dem Lehrstuhl vorstehen würde. Und
ob ich ein Dichter oder nicht sein
würde, dass könnte man noch nicht
erahnen. Die erste Sammlung Das
Morgenrot und Wirbelsturm4 – kam
zwar unlängst heraus, doch wer hätte
etwas über ihre Resonnanz in der Öffentlichkeit erfahren können in jener
blinden Juli-Mausefalle, in die weder
Zeitungen noch Zeitschriften gelangten. Und wer bei Verstand würde –
trotz des Hegel’schen nüchternen
Verständnisses – sterbend an den Charme der marxistischen Kritik in der
Morgendämmerung der jungen sozialistischen Gesellschaft denken. Und
dennoch, der Gott des glücklichen
Augenblicks zwinkerte lustig, während
er in dieser Richtung eine „didaktische“ Live-Begegnung einrichtete...
Wieder einmal unterbrachen mich
Schritte um mein Bett herum, aber
33
das war – so scheint es – am morgigen Tag. Späht da nicht durchs Fenster ein verängstigter Soldat ins Zimmer? Pardon, wenn er nach mir fragt...
Und wieder das Thermometer, Abhören des Pulses, Unschlüssigkeit.
Der graumelierte Herr hatte einen
warmen besorgten Blick und der
schwarzäugige langhaarige Assistenzarzt hinter ihm – er hieß Fahrudin –
schaute eher Vida an als mich. Sie
brachten mich irgendwohin zur Untersuchung. Herzmuskelentzündung
– schrieben sie auf die Tafel und
hängten sie auf. Hätte ich sie heranziehen können, hätte ich eine Strophe auf sie gekritzelt, die mich viel
Mühe kostete, sie mir zu merken und
ohne die ich keineswegs kann.
Das spukte, wie ein ungebetener Eindringling, durch meinen Kopf noch
in der Baracke, auf der Matratze und
einige andere klaubte ich vom seichten Ufer der Bosna auf, damals als
ich mit der Stirn und dem Nacken
gegen sein kaltes Kieselmosaik schlug.
Später benahm sich mein Kopf noch
einmal genau so unzusammenhängend in jener schon erwähnten Herberge auf Ba{~ar{ija, während er sich
hartnäckig und rhytmisch – mit kurzen Zuckungen wie ein verrosteter
Uhrpendel – auf dem Kissen hin und
her wälzte. Der Eisbär in Maksimir5
schüttelte seinen Kopf im Stehen und
Tänzer tun es, um die fatale Grenze
zwischen Extase und Erleuchtung zu
unterstreichen. Und die Krankheit
scheint wie eine künstlerische Kreation der Natur ihre bizzare Koreographie zu haben am Grenzgebiet
des Lebens und des Nicht-Atmens.
Aber wie gelangte ich in jenes ärmliche Kämmerlein statt in den bequemen Schnellzug nach Podsused6 oder
in – welche war es noch mal – Straße
mit dem Eishaus. Ich komme später
34
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
darauf, tröste ich mich. Man sagt,
dass man im Typhus alles vergesse.
Aber wie soll man aus dem Gedächnis
jenes Klettern auf einen Berg streichen, auf dem sich, sagten sie mir,
die sehr beliebte Kaserne Jajce befand: Der Hauptschuldige an meinem Sommernachtstraum von [amac-Sarajevo...
Ich überstand, Gott sei dank, auch diesen wiederholten Typhus-Ansturm.
Der Bauchtanz der Bazillen hat sich
beruhigt, der Kopf sich zur Genüge
ausgeruht. Als man mir einen Teller
Milchreis – Sutlija – brachte, aß Rada
schon Kartoffelbrei. Die Patientin
auf ihrer linken Seite, die ich bis
dahin weder gehört noch gesehen
hatte, fragte sie, wie die Kartoffeln
seien.
– Göttlich – antwortete sie auch ihr
fröhlich wie damals mir. Und dann
tauchte auf dem geöffneten Fenster
eine bekopftuchte Bäuerin auf. Die
Frau stellte einen irdenen Krug, bedeckt mit einem bunten Tuch, aufs
Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte mit der Hand zu
einem Bett hinüber. Sie rief eine von
uns herbei, sehr leise, aber auf diese
Stimme hin fuhr die Patientin vom
vierten Bett hoch und spazierte zum
Fenster. Sie wird als erste rauskommen, sagte Vida. Ihre Großmutter
bringt ihr jede Woche einen Krug
saurer Schafsmilch, von Romanija7.
Danach tauchten noch einige Köpfe
an den anderen Fenstern auf. Bald
bekamen alle Patientinnen von dort
kleine Töpfe, Körbe... Vida verteilte
sie.
Ich verdeckte meinen Kopf mit dem
Laken und versuchte durch Nachdenken – wie ich es schon gewohnt
war – die unschöne Wirklichkeit zu
vertreiben. Wenn es nicht diese ge7
Gebirge in Bosnien
8
Gebirge oberhalb von Zagreb
9
Hauptstraße in Zagreb
RELA
TIONS
spenstische Kaserne Jajce gegeben
hätte, wäre ich, wenn ich auf dem
Gleis in Zenica den Zug in entgegengesetzer Richtung gewählt hätte,
überhaupt lebend in der Stadt unter
der Medvednica8 angekommen?
der Stadt – gemeinsam mit einem
Schwarm Jugendlicher, mit denen
ich den Balkan umpflügen würde –
auch dieses Schlüsselmotiv hinzuzufügen: Jajce! Kommen. Sehen. Und
weiter nichts.
Vida setzte sich eines Nachts, während ihres Bereitschaftsdienstes, mit
einem Wollknäul im Schoß und
Stricknadeln auf mein Bett. Es schien
mir ein passender Moment, um nach
allen Kasernen in Sarajevo zu fragen,
wie viele es sind und wo sie sich befinden. Vida legte bald ihr Strickzeug beiseite und fühlte meine Stirn.
Aber ich habe nicht im Fieberwahn
geredet und um sie zu überzeugen,
beschloss ich, ihr etwas von meinem
intimen Geheimnis anzudeuten. Meine Lovestory faszinierte sie. Diese
Vida aus Zavidovi}i, energisch und
weise, konnte meine Taten nicht verstehen und sie noch weniger gutheißen. Die Tage verstrichen. Sie hatte
den gelben Pullover schon zur Hälfte fertig gestrickt und ich vermochte
sie nicht von der Normalität meiner
klassichen Ansichten über die Liebe,
die die Sonne und die übrigen Sterne
bewegt, die aber niemandes Herz
zum Lieben zwingen kann, zu überzeugen. Ich wunderte mich, warum
sie den Kopf über meine Behaupung
schüttelte, dass man auch ans Ende
der Welt gehen kann, geschweige
denn nach Bosnien, wenn von dort
ein Brief ankommt – ein lauwarmer
und eigentlich überheblicher – von
jemandem, der dich eigentlich schon
vor langer Zeit galant abgeschoben
hatte. In meinem Fall wurde der
Brief aus der Kaserne Jajce in Sarajevo abgeschickt. Da, das ist das. Hic
Rhodus, hic salta!... Also, wie ich nun
mal bin, zögerte ich keinen Augenblick, meinem heißen Wunsch nach
Ausbruch aus dem schäbigen Käfig
– Trotz allem? – wunderte sich Vida
bestürzt. Und ich lehnte ihre gesunde
Logik ab, starrköpfig und schamlos
wie der Agitator einer untergegangenen Partei im Parlament. Vielleicht
hatte er das Recht mich zu hassen,
meine mütterliche Leibwächterschaft
und Sorge zu verschmähen. Seine
Altersgenossen kehrten aus dem Krieg
zurück mit Rangabzeichen und Orden oder sie kamen gar nicht zurück.
Man fiel. Und ich half also einem
Wankelmütigen ein Feigling zu sein,
sich in sich und seinen Winkel in der
unteren Ilica9 zu verkriechen, ohne
irgendwo hinzugehen – weder rechts
noch links. Ja, ich habe ihm geholfen, ein Feigling zu werden, denn
das verlangte seine Feigheit von mir
– lautete Vidas einfacher und ohne
Fakultät aufgezogener Sophismus.
Wenn er mich geliebt hätte, hätte er
nicht in der Ecke gehockt und erlaubt, dass ich wegen seiner erhabenen neutralen Position den Krieg auf
der brodelnden Straße verbringe, damit ich sein maulwurfartiges Verstecken bezahle, indem ich Milch vom
Dorf in die Stadt trage, wie das dümmste dalmatische Maultier. Und, jetzt
klappere ich wegen diesem Tunichtgut auch noch Kasernen ab!
Ihre Worte störten trotzdem die Nadel meines Kompasses nicht, aber es
schien, als ob es sich in einem kleinen Teil meines Kopfes gnoseologisch aufklären würde.
– Er ist nicht mehr in der Kaserne
Jajce – erklärte ich. Es gelang mir,
mit letzter Kraft hinaufzukriechen,
RELA
TIONS
an jenem Tag, nachdem ich aus dem
Zug ausgestiegen war, darüber weißt
du schon Bescheid... Sie hätten mich
fast zum Verhör geschleppt. Sie glaubten mir anfangs nicht. Der Wächter
sah ihm ähnlich, ich wollte ihn ansprechen... Der Vorgesetzte hatte
Mitleid und sagte mir, dass der Betreffende „in die Kaserne Marschall
Tito versetzt wurde“...
– Aber das ist doch ganz am anderen
Ende von Sarajevo! – sagte Vida schroff
und strickte den Ärmel. – Schreib ihm
einen Brief, los, wenn du denkst, dass
du davon schneller wieder gesund
wirst!...
Sonderbar: Ich erinnere mich nicht,
dass ich während der ganzen Zeit im
Krankenhaus etwas geträumt hätte.
Wenn doch, hätte ich wahrscheinlich erfahren, dass der gewisse jemand
von dieser neuen Militärpost gerade
auf einen zehntägigen Urlaub verduftet ist. Und dass ich, sollte ich
den Brief schreiben...
– Lass mich dir noch einen Milchreis bringen – sagte Vida, strickte den
gelben Pullover fertig und steckte die
Nadeln in den Rest des Knäuls. –
Vor Hunger bildet man sich schon
mal was ein...
Ja, man bildet sich was ein, so einiges. Wie, als ich unter dem mit Wanzen geschmückten Baldachin lag...
Durch das kleine Fenster sah man
den Berghang mit dicht aneinandergereihten kleinen Häusern, einem
Weg, Minaretten und der Krone einer wilden Walnuss. Ein Mann mit
Fes schaute manchmal vorbei, um
zu fragen, ob ich krank wäre. Auf
dem Nachtkästlein ein Glas abgestandenes Wasser, eine Schüssel mit
violettblauen bosnischen Pflaumen.
Noch einmal – Nature morte. Fliegen. Auf den Wänden und der Decke, auf mir. Schwüle und eisiger
10
Dossier: Vesna Parun
Schweiß. Vincent ohne Ohr. Geschmolzenes Blei des Halbschlafes.
Habe ich mir das eingebildet, dass
die Spitzen der Minarette mir die
Schläfen durchbohren, die ganze kristallene Sternennacht lang erleuchtet,
lauthals singend. Schlanke Mäste
von Segelschiffen über die goldenen
Meere der Hoffnung losgefahren.
Ein Schwarm von Schwänen, mich
schwungvoll in ein fernes Land im
Osten tragend... In eine Stadt, die
älteste auf der Welt, aus der nach
vielen Jahren jemand auftauchen wird,
der mir ein treuer Freund sein wird.
Wenn ich die Vision ins Unendliche
weiterführe, werde ich die Zeit hören, wie sie uns umspült... damit auf
ein Zeichen des Schicksals hin auch
diese letzte Begegnung wie ein Trugbild verschwinde, auf der Schwelle
noch eines tragischen Aufpralls auf
diesem mit Leid besudelten Boden...
Ja, es war Ramadan. Die Muezzins
sangen dem Allmächtigen ein Loblied. Der Mann mit dem Fes raffte
sich auf – ob wohl deswegen – und
brachte einen Arzt mit. Die Treppe
hinab fiel ich wiederholt in Ohnmacht und man rief mich zu sich,
trug mich auf Händen zum Wagen.
Rotes Kreuz. Die Sirene des Notfallwagens. Wie schrecklich bekannt das
heute klingt, während ich dies schreibe... in der unheilvollen Wiederholung der Topographie, mit vergrößerten Dimensionen des Verbrechens.
Wie das um sich greifende Fieber
nachließ, quellten immer klarer –
obschon unzusammenhängend – Szenen von unlängst erlebten Begegnungen, menschliche, verzerrte und unschöne, Gesichter, zusammenhangslose Gespräche hervor. Wer waren
jene, die sich eines Tages vom Rand
des Dammes in den Graben hinunterbeugten und in die Spaten starrten. An drei von ihnen werde ich
Monatszeitschrift für Literatur, Kunst und Gesellschaft
35
mich mein Leben lang erinnern. Wir
hoben unsere Augen, den Schweiß abwischend und die Beobachter stellten sich uns herzlich vor. Es war die
offizielle Begehung der Arbeitsbrigaden, selbstverständlich auf internationalem Niveau. Bekannte Intelektuelle und Künstler. Aragon, französischer Dichter der Wiederstandsbewegung, Radoj Raljin, ein junger
bulgarischer Poet – später durch ein
Spiel des Lebens mein Freund und
Beschützer. Ein Satyriker, Freigeist
aus der finsteren Epoche von Todor
Zhivkov. Und der dritte – aufrecht
und erhaben, schier einer Statue der
Justitia gleich, Dogmabert – schepperte über mir mit der vergoldeten
Waage der Macht und meinte trocken,
von oben herab, ohne zu blinzeln:
– Weißt du, ich habe über deine
Verse eine Kritik geschrieben, sie erschien (oder „wird erscheinen“, ich
erinnere mich nicht mehr) in der
„Republik“10. Ich zweifle nicht, dass
ich die Vorzüge und Mäkel deiner
Sammlung richtig und man könnte
nicht sagen zu streng beurteilt habe.
Diese Zeit erlaubt keine Fehler. Die
Revolution dauert an, der Wiederaufbau des Landes verlangt ein hohes Klassenbewusstsein auch von uns
Künstlern...
Ich hätte eigentlich höflich von unten
herauf salutieren sollen:
– Zu Befehl, Genosse Künstler Marin Frani~evi}! Melde gehorsamst,
ich werde daran denken!...
Aber das Schwindelgefühl erlaubte
mir nicht länger in die majestätische
Aureole über dem Kopf des trefflichen Regimegehorsamen zu blicken,
der diese Nacht ruhig im Hotel schlafen und die Bilanz seiner widerlich
trivialen Inspirationen in sein mit
rotem Faden versäumten AgitpropHeft verbuchen wird...
36
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
RELA
TIONS
ren verließen wir Ko{evo. Zu diesem
bitteren Symposion kamen wir in Herden, von ihm kehren wir als Individuen zurück. Nach Radmilas Fortgehen war es einsam und leer. Sogar
das eiserne Krankenhausbett – identifiziert mit dem, der darin lag –
sträubt sich jedesmal mit melancholischer Gleichgültigkeit gegen seine
neue unvorhersehbare Identität...
Wenn das Schlaflager die MACHT
und das Kissen ihr Oberhaupt wäre,
würde man auf allen Kopfenden im
Land von den schönsten Lieben und
den seligsten Landschaften träumen...
September
Es war Sonntag Nachmittag, die Zeit,
wenn Besucher kommen. Die genesenen Mädchen saßen schon an den
Kopfenden ihrer Betten. Bescheiden
drehte ich mich zur Wand hin, wie
üblich, und tat so, als ob ich schliefe.
Verwandte kamen, warteten an den
Fenstern, damit die Krankenschwester die mitgebrachten Sachen übernehme. Ins Zimmer voll mit Gewirr
von Frauenstimmen flogen Schreie
der Geisteskranken aus dem Gebäude gegenüber, auf einer kleinen Anhöhe. Mich überkam eine unbeschreibliche kopfleere Verzweiflung und
Apathie. Ist es nicht sowieso egal wo
ich bin und was mit mir geschieht.
Vida hat richtig geurteilt, alles ging
seit langem schief und jetzt kannst
du dich nur noch in die eigenen fallen gelassenen Fäden verwickeln. Ihr
vernünftiges Stricken voller Selbstachtung, ebenso wie jener Knäulrest,
in das man entschlossen die Nadeln
hineinzustecken hat, hätten mir –
wenn mir so eine prosaische Analogie viel früher aufgefallen wäre – wahrlich eine wertvolle Lehre sein können.
Vida schüttelte mich vorsichtig.
Aus diesem unliebsamen Träumen
rissen mich Schritte, die sich meinem Bett näherten. Ein pfeilschneller, einem animalischen Reflex ähnlicher Gedanke, dass vielleicht eine
Nachricht von ihm kommt – vertrieb in sekundenschnelle den gesamten gerade zusammengestrickten Korb
an Erkenntnissen von vorhin, die so,
sich selbst widersprechend, nur meiner Kleinmütigkeit Nahrung boten.
Die Vorraussetzungen, auf denen ich
meine Initimität aufbaute, waren
also völlig reaktionär und es blieb
mir nichts anderes übrig, als dass ich
für immer die These von dem Glück
anzweifelte, das sich auf irgendeinem
Gehorsam gegenüber irgendjemandem – sogar gegenüber dem in das
Pokerspiel nicht eingeweihte eigene
Herz – gründete. Nein, es gab keine
Nachricht von irgendwoher. Oder
vielleicht doch?
Ich gestehe, es war mir schon immer
lieber, wenn mir im Unglück Unbekannte zur Hand gehen, als die Nahestehenden, die von mir den Stab aus
dem Märchen erwarteten. So lange
ich noch leben mag, dieses bogomilische durchfurchte Gesicht vom
Fenster des friedhofähnlichen deprimirenden Krankenhauses in Ko{evo
und die gereichte Hand werden für
mich eines der Leuchtfeuer bleiben,
mit der Flamme, die auch nicht in
den folgenden Nebeln des Fin de
siècle erlöschen soll... oder in den Fluten des Hasses, sollten sie kommen...
Das Handtuch und die Decke habe
ich verloren und mein Rucksack war
leicht wie eine Feder. Fröhlich ging
ich den Berg hinab, drehte mich mit
leiser Trauer zurück. Meine Beine
waren wie neu, mein Kopf noch
neuer, meine Seele heidnisch jung.
Die Energie der Freiheit, mit der ich
mich aus der Luft auflud, hatte nichts
gemein mit ihrer irdischen Matrize,
der ich mit bürgerlicher Unausweichlichkeit entgegenstrebte. Alles in allem, dort oben leerte sich in jenem
Sommer der alte Balg, der Spieler
überlebte und nun sollte man nur
noch die Flüche vertreiben... In meinem Fall war das Komma an der
rechten Stelle. Und wohin die Politik ihre Kommas setzen würde, dafür
können antike Orakel ganz und gar
nichts...
Es gibt keine Ideologie, die rettungsbringender ist als die gewöhnlichste
gereichte Hand. Und es gibt keine
zur Rettung gereichte Hand, in die
das hundertarmige Gespenst des Staates nicht einen gezuckten Dolch hineinstoßen wird. Eine nach der ande-
Wie zauberhaft war im Monat September jener elegant graue Himmel
von Sarajevo, noch völlig grüne Baumreihen, Straßenbahnen, Menschen!
Es war meine zweite, mystische Heimat, die Umarmung einer schmerzlosen Wirklichkeit mit der reinsten
– Hey, du, Schlafmütze! Eine alte
Frau vom Fenster möchte, dass du
gesund wirst und schickt dir etwas.
Verwirrt, wie immer, wenn sich
Traum und Wirklichkeit vermischen,
öffnete ich die Augen. Vida stellte
mir auf den Spind ein Holzfässchen
hin.
– Gib das, Kindchen, der in der Ecke,
die niemand besuchen kommt und
ihr auch nichts bringt! – Genau das
sagte die am Fenster zu mir – schüttelte mich Vida. – Wink ihr zu, das
ist für dich. Nimm!
Für mich? Die alte Frau nickte mir
zu. Ich schickte ihr einen Handkuss.
Vida nahm den Deckel vom Holzfässchen. Sauermilch – meine größte
Schwäche – darüber hinaus noch vom
Schaf, vom Berg! Diese Alte dachte
also an mich, dort in einem Pferch
als sie die Schafe molk, ohne zu wissen, wer ich bin oder woher ich komme, sie hat nicht nach meinem Namen gefragt oder meiner Religion –
sie tat ihr nur Leid, die in der Ecke...
Die goldlockige Vida – die beste
Krankenschwester, die ich je hatte –
schenkte mir zum Abschied jenes
kleine Knäul. Symbolisch. Damit
ich, es im Auge behaltend, vielleicht
im Herzen das Gewebe fertig bringe,
in das es die Schicksalsgöttinnen verwirrten.
RELA
TIONS
Illusion... Im Schaufenster der Buchhandlung auf Marijindvor entdeckte ich mein Gedichtband Morgenrot
und Wirbelsturm. Auf dem Boden
meines Rucksackes hatte ich nur noch
genug für eine Straßenbahnkarte bis
zur „Marschallin“ und zurück. Ich
wartete draußen hinter dem Zaun des
großen Kasernenhofes. Der Wachmann schickte jemanden hinein, um
nachzufragen. Der Wehrdienstleistende, so und so, kommt vom Urlaub,
hieß es, nächste Woche zurück.
Ich weiß nicht, in welcher Straße im
Stadtzentrum der Schriftstellerverband
von Bosnien und Herzegowina seinen Sitz hatte. Gastfreundlich öffneten sie mir die Tür – durch mein
Äußeres und meine Kleidung unscheinbar wie ich war – erboten mir alle
Ehren als Dichterin, aber sie waren –
mit Recht – tief getroffen von der
Tatsache, dass ich den ganzen Sommer in ihrer Stadt verbracht hatte,
ohne auch nur einen Laut von mir
zu geben. Bleib bei uns Vesna, wir
lieben dich. Wer von ihnen hat das zu
mir gesagt? Isak Samokovlija. Skender Kulenovi}. Der alte Romantiker
und Charmeur Hamza Humo? Fast
bin ich auch geblieben. Aber das
Knäul der Parze ruhte nicht, die gestrickten Fäden zogen nach hinten...
Auf Ba{~ar{ija kaufte ich mir Riemenschuhe und einen „Dreiviertel“-Langhaarmantel von UNRA11, den ich
später noch jahrelang trug. Dank der
Zuvorkommenheit meiner Gastgeber verbesserten sich meine Finanzen dermaßen, dass ich mir einen
siebentägigen Aufenthalt im Hotel
„Evropa“ leisten konnte. Ich schlenderte durch die Vororte von Sarajevo, besuchte Ilid`a12 und die Bosna-Quelle. Der Hunger, der elementare niedere, war nicht zu stillen. Nie
zuvor hatte ich geahnt, dass es so
viele verschiedene Geschmacksrich-
Dossier: Vesna Parun
tungen von Nahrung gibt, Drüsenausscheidungen mit Alarmglocken.
Einmal geriet ich auch unter die Bauleute von [vrakino selo, zu einem
sozialistischen Volksfest. Den Kollegen Ivan Focht fand ich in einem
kleinen Haus mit stillem Garten, im
Vorort. Seine Großmutter hat einen
Spinatstrudel gebacken. Wir tranken
Kaffee und sprachen über Ko{evo,
wo wir beide all diese Zeit lagen, ohne
auch nur voneinander zu wissen.
Wehrdienstleistender so und so kehrte vom Urlaub zurück in die Kaserne. Ich wartete noch einmal hinter
dem Zaun. Wir trafen uns. Es wäre
besser gewesen, wir hätten es gar
nicht getan. Ich setzte mich in den
Zug nach Zagreb, mit einer Wunde
im Herzen und einer Teilamnesie
im Schädel und schrie mir begleitet
vom Geklapper der Räder ins Ohr,
fast in Panik: Und was jetzt?...
Aber kaum, dass wir es ins Flachland
geschafft und mit dem Steuer in die
orangegelben und grünen Wellen des
Slawonischen Meeres geschnitten
hatten, spürte ich wie niemals zuvor
einen herrschaftlichen Zauber des
Reisens, den ursprünglichen Genuss
der Beschleunigung des Weltraumrhytmus, den Schwindel der Schönheit. Mais, Sonnenblumen, Eichenwälder... Nie schien mir dieses breite
Blickfeld so märchenhaft, unwirklich. Der Galopp der Räder verwandelte sich in Musik, die Lokomotive
übersprang Brücken, schlug Bäche
mit der Peitsche greller Funken. Ich
wünschte mir, dass die Abend-dämmerung diese Fahrt verlangsame, dass
wir in dieser durch nichts getrübten
durchsichtigen Oase der Gegenwart
stehen blieben. Dass sich die Last
des Gestrigen und Morgigen hinter
den Wellen rosafarbener Wolken
verstecke. Dass sie dem Auge und
dem Geiste unsichtbar sei.
37
Meine Zukunft. Was ist das überhaupt? Studium? Heimat? Heirat?
Alles ist ausgerenkt. Sowohl Kant als
auch Marx nach meinem TyphusStress – zum alten Eisen! Es entsteht
eine lang andauernde und schicksalsträchtige Allergie aufs Lesen, eine
Logophobie. Was hat denn nur jener Gendarm des ästhetischen Reservats über mich gekrizelt? Durch
nichts ließ mich die Sanftheit dieses
extatischen Septembernachmittags
erahnen, dass mir wegen des „staatlichen Anathemas“ auch ehemalige
gute Bekannte aus dem Weg gehen,
Journalisten mir den Gruß verweigern würden – sogar auch jene, die
im Schmeicheln gewetteifert hatten,
und Schriftsteller und Pharisäer zittern würden, damit auch ihnen etwas Ähnliches nicht passiert, falls ihnen ein Adjektiv oder Verb aus der
proskribierten kapitalistischen Lexik
entschlüpft ist. Aber das Opfer wurde gebracht: Der Drache Tauglichkeit hat die ihm in den Rachen geworfene Jungfrau verschluckt. Und
er käut glücklich wieder...
Doch um in den rasenden pannonischen Zug zurückzukommen, in dem
das Fest der Rückkehr unter die bekannte Himmelskuppel mit Abendstern, der sich schon vor Sonnenuntergang aus dem Mantel geröteter
Schwaden gestohlen hatte und mich
lockte ihm ein ungeschriebenes Gedicht zuzuflüstern, dröhnte. Tief am
Himmel der Abendstern strahlt, die
Glut der Vergänglichkeit erleuchtet
unseren Weg... Ja, hier ist trotz allem
auch die Poesie... Diese erste und
letzte Liebe meines Lebens – wird
auch sie nicht nach dem Muster der
allseits gegenwärtigen Chymären der
Schlupfwinkel des Verrats sein?
Während sich der Zauber der Fahrt
auflöste und die magischen Räder
sich in ein streng funktionales Ge-
11
Hilfs- und Wiedereinsetzungsorganisation der Vereinten Nationen (UNRA – United Nations Relief and Rehabilitation Administration)
12
Stadt in der Nähe von Sarajevo
38
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
flecht aus eisernen Muskeln, Feuer
und Dampf verwandelten, fand sich
mein Gedanke – auf der Suche nach
einem Ort, um sich niederzulassen –
abermals im Schutz jenes verlassenen bescheidenen Interieurs auf Ko{evsko brdo wieder. Die Gestalt der
alten Frau aus dem Fensterrahmen
dominierte die ganze Bühne, die –
obwohl eine Mauer – auch ein Kreuz-
weg war. Falls es den Tod gibt –
überlegte ich – ist dann die Liebe
nicht Mitleid gegenüber dem Leben?
Wozu die Anstrengung, mithilfe der
Fantasie den Teufel zu erschaffen,
wenn er einfach – die Tyrannei des
leeren Ichs ist! Ich tue mir nicht Leid.
Mir tun alle in einer Falle gefangenen Kindheiten Leid, auf die der
immer dichtere und dunklere Schat-
Unter dem Männerschirm
J. J. Rousseaus Meinung nach hat
derjenige, der als erster ein Stück
Land mit Stracheldraht umzäunt und
gesagt hat „das ist meins“ – auf diesem Planeten das Privateigentum begründet.
Meiner Meinung nach ist derjenige,
der als erster daran dachte – während
der Regen wie aus Kübeln gießt und
Donner sich gedämpft über den Himmel wälzen – über seinem Kopf einen
großen, durch Speichen gespannten
und mit einem Elfenbeingriff verzierten Männerschirm zu öffnen, der
Begründer dieser unseren gesegneten und verfluchten, träumerischen,
technokratischen, häuslichen, morbiden und noch immer sklavenhalterischen Zivilisation. Einer männlichen, protektionistischen, kriegerischen, geschäftsmännischen. Mit ihrem Verstand immer arroganteren.
Mit ihrem Unverstand immer gesättigteren. Und glücklicherweise schon
so ziemlich dem Tod nahe.
Dieser schwarze, breite und tiefe, unter der Himmelskuppel aufgespannte wahrlich majestätische Männerschirm quälte mich schon seit frühester Kindheit mit einer stummen
unerklärlichen Herausforderung und
stellte vor meine Seele eine Frage und
ein schwarzes alarmantes Rätsel. Im
Flur, im Dunklen, stolperten wir unweigerlich über ihn und kreischten
dabei vor Angst und er klettete mit den
Spitzen seiner Speichen wie Dornen
an uns herauf, rollte nass und wahnwitzig hinter uns her, unsichtbar,
und machte dabei frühzeitig aus uns
Neuropathen, Schlafwandler, Gottlose und zukünftige Anarchisten.
Welch ein Unterschied – bemerkte
ich schon damals ängstlich und ohne
davon einer Menschenseele etwas zu
sagen – zwischen dieser selbstbewussten, zynischen und agressiven männlichen Niederschlagsabwehrvorrichtung und der Anderen, unvergleichlich zahmeren, durch Umfang und
Volumen unterlegeneren, aber dafür
schickeren und raschelnderen, die
zum selben Zwecke und mit der gleichen zivilisatorisch determienierten
Glut des Selbstschutzes das weibliche Geschlecht über seinem Kopf an
Regentagen hält! Schon im schieren
Verlust des einen oder anderen Gegenstandes, was für eine existenziell
unversöhnliche Kluft! Die Mutter
kommt nach Hause ohne Regen-
RELA
TIONS
ten des autoritären Nichtexistierenden fällt.
Aus einem Treffen mit dem Bösen
kommst du, würde ich sagen, stärkeren Verstandes heraus. Aus einem
Treffen mit dem Guten – wächst du
an Verstand und an Herz. Namenlos
lechze ich nach eurer Wärme, meine
liebsten namenlosen Freunde!...
¹1993º
schirm gleich einem geschlagenen
Soldaten aus dem Schützengraben,
beschämt und jämmerlich, beschreibt
bis ins kleinste Detail den Verlauf
der Schlacht, ersucht umsonst das
Verständnis von „Höheren“, faltet
die Hände, rechtfertigt sich, weint.
Der Vater dagegen kehrt mit leeren
Händen und finster, mürrisch und
bei weitem selbstbewusster als mit
dem Regenschirm in der Hand zurück – und trau dich nur, ihn zu
fragen, wo er ihn gelassen oder verloren hatte, da wirst du ein Donnerweter erleben, gefährlicher noch als
das himmlische! Darüber sprechen
darf man selbstverständlich nicht,
aber die Todesstille erzählt beredt, dass
es sich um einen moralisch nicht zu
erstattenden Verlust handelt, das Verschwinden eines langjährigen treuen
Begleiters und Beschützers, die Dämmerung deines zweiten „Ichs“ sozusagen. Und wirklich, wenn der Mann
einen Regenschirm verliert, ist es, als
ob er von der Beerdigung einer wichtigen Person zurückkehrt, als ob er
den besten Freund begraben hat.
Und der Regenschirm hockt vielleicht
in einem Wartezimmer oder hängt
dumpf an einer Garderobe; oder kehrt
aber am Geländer eines kleinen lokalen Dampfschiffes in den Hafen
von [ibenik zurück, hüstelt wie ein
älterer Herr kaiserlich-königlich und
Dossier: Vesna Parun
39
Foto: Jakob Goldstein
RELA
TIONS
Damir Milo{ beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
40
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
murrt: Bös’ wird es. Da kommt noch
was auf uns zu, meine Herren!
Der Krieg kommt auf uns zu...
Der Regenschirm eines Inselbewohners: Sein insularer Minderwertigkeitskomplex, ein spezielles Kapitel
in der Geschichte der Mentalität und
der Ethik unserer mediterran-dinarischen post-illyrischen Gegenden.
Ein Requisit ohne das Autorität, Recht
und Ordnung undenkbar sind. Ein
Pater familias ohne Regenschirm –
das ist wie ein Haus ohne Dach. Die
Inseln Bra~, Hvar, Prvi}, [olta, Vis...
Privatbesitz, Familie, Schule, Staat,
Kirche, Büro. Männerschirm. Ein
Demijohn13 als „Bestechung“ für jemanden bei der Behörde oder in der
Banschaft. „[jor Felicijo“ mit seiner
täglichen faden Satirik – in Jadranska
po{ta14 oder Novo doba15, ich erinnere
mich nicht mehr – er und sein mit ihm
verwachsener komischer Männerschirm, der Vorgänger von Chamberlains, aber auch von allen anderen danach, die, wie um Mitternacht
gezündete Signalraketen, ihre unheilvollen Schwingen über die Wolken
spannen würden. Diese finsteren Krinolinen der Geschichte, aufgehängt
auf Sonnenprotuberanzen, diese Regenschirm-Fledermäuse, die uns den
Frühling bald verhängen würden.
„Die Ballade der betrogenen Blumen“, hmm, vielleicht. Harmlose
Niederschlagsabwehrvorrichtungen,
die sich in welche zur Flugzeugabwehr verwandeln würden, dieser Anstrum von Eisenhelmen, Panzerwesten
und Bayonetten, dieses Gewitter des
männlichen marschierenden Drangnach-Osten-Trittes, der aus einem
warmen Aprilregen einen bleiernen
Guss machen würde, aus unserer Jugend ein blutiges Ringelspiel und
aus einem durchlöcherten Alltag die
Hölle...
13
Korbflasche
14
Tageszeitung
15
Tageszeitung
Ich wurde am 10. April 1922 geboren, in einem einsamen Haus auf
dem Kap der Insel Zlarin, beim bewegten Flackern einer Petroleumlampe. Vater, ungeneigt über scharfe
Steine, im Dunklen, sogar bis ins
Dorf zu kraxeln, um die Hebamme
Voka zu holen, befahl Mutter sich
zu gedulden – um Gottes Willen –
wenigstens bis zum Morgengrauen.
Mutter, geduldig und ergeben wie
sie war, hätte ihm sicherlich auch
diese unmögliche eheliche Forderung erfüllt. Aber ich war rücksichtslos. Und dies war mein erstes stummes Gefecht mit jenem, der mir
schon im Mutterleib den Namen
ÜBERFLÜSSIGE zugedacht hatte.
So lautet das erste kürzeste Kapitel
meiner „Express-Autobiographie“,
die ich – für mich selber völlig unerwartet – vor ein paar Wochen geschrieben habe, in einigen Nächten
und Tagen, quasi ohne Pause. Sie
wird, hoffe ich, bald nach diesem
Männerschirm veröffentlicht – als
Pendant und, man könnte denken,
gemäß der Intonation der einführenden Abschnittes, als ein charmanterer und delikaterer „Damen“-Regenschirm. Das sind jedoch nur zwei
Seiten der Medaille, zwei Sichtweisen
der Wahl der Momente und der
Wahrheiten ein und derselben vergangenen Wirklichkeit.
Der „Damen“-Regenschirm aus der
Hand des Schöpfers blieb nämlich in
meinem Leben und in meinem Schicksal – wie übrigens auch im Geschick
des Lebens unzähliger Frauen auf
dieser Welt – aus. Sobald ich den
harten irdischen Boden betrat, war
auch schon vor irgendwoher auch
dieses Emblem der männlichen diesseitigen biologischen und anthropologischen Übermacht neben mir. Weder der Säbel noch das Gewehr und
RELA
TIONS
man konnte gleich wissen, dass ich
kein Krieger bin und dass – obwohl
unter dem Mars geboren – ich nicht
als erste Streit suchen würde. Ich werde statt eines Knüppels einen Männerschirm bei mir tragen und ihn
spannen, sooft schwarze Wolken am
Horizont heraufziehen. Und weil ich
eine Frau bin, wird man mich wegen
dieses Requisites – dessen bin ich mir
bewusst – nicht nur für exzentrisch
und überspannt halten, sondern mein
dornenhafter weiblicher, ja geradezu
hoffnungslos weiblicher historischer
Weg wird wie ein Haufen Unordnung und Widersprüchlichkeit scheinen. Als lebende Bestätigung der berühmten These, dass der Mensch als
Person, würde ich hinzufügen – nicht
das ist, was er über sich, um weiter zu
paraphrasieren, durch Poesie aussagt.
Für mich ist jedoch gerade mein
schwindelerregender und kopfüberstrürzender Weg bedeutender als irgend etwas auf der Welt und, um
ihn zu beleuchten und so wie er war
und wie er ist darzustellen, würde ich
alles opfern, was ich jemals mit der
Sprache des Verses, der flatternden
Symbolik der Metapher ausgedrückt
habe. Diese Behauptung beinhaltet
offensichtlich ein Absurdum – denn
wer würde sich überhaupt um das
intime Geschick einers Dichters kümmern, wie es auch sein mag, bis zu
den nackten Tatsachen, wenn es sich
nicht schon durch die Poesie wie ein
Clown auf dem Jahrmarkt zum Schleuderpreis vergeben hätte. Du hast auf
der Straße die bunten Zelte der Worte
aufgeschlagen, mit glitzernden Glasstückchen die Wände beklebt, den
Drachen der Poesie überschwänglich
steigen lassen – und jetzt bist du selber Schuld, dass man auf diesem
Jahrmarkt von deinem ganzen Lebensweg nicht einmal so viel sieht,
wie du ihn mit Schritten gegangen
RELA
TIONS
wärest, oh Dichter, wenn du zufälligerweise kein Mensch gewesen wärest sondern eine Ameise!
Aber darin besteht auch der Kern
des Missverständnisses. In der NichtÜbereinstimmung des Modells und
des Bildes. In der Kälte der ästhetischen Wahrheit, die, da im umgekehrten Verhältnis zum Emotionalen, als einziger glaubhafter Zeuge,
das einzige authentische Dokument
bleibt. Alles andere scheint, im Vergleich mit deiner Poetik, eine Lappalie zu sein. Sie verhindern sogar,
dass du über deinen Lebensweg irgendeinen anderen Ausdruck außer dem
lyrischen gibst, überzeugen dich ständig, dass du deine Kunst verneinen
möchtest, die Leser der Seligkeit der
Illusionen berauben, ihnen die Sorglosigkeit des Zaubers vorenthalten.
Und hier also beginnt der Teufelskreis der menschlichen Tragik, jener, der schon zweifellos schon Viele, mit dem glühenden Eisen der Poesie gebrandmarkten, gegenüberstanden. Literaturhistoriker verlangen
statt eines düsteren Dramas ein sprühendes Voudeville, damit ihre Antologien nicht einmal in Fußnoten eine
grobe Tatsache aufweisen und du
bietest ihnen Selbsverneinung und
Zweifel an deinem eigenen künstlerischen Raison d’être. Je weniger dich
der Zauber des Scheinbaren blendet,
desto gleißender überkommt dich die
Leidenschaft, deine erledigte menschliche Aufgabe zu beichten, dein Roboter-Engagement – und weiter nichts.
Du hast verstanden, dass die Poesie
nur eine der Substanzen – die sublimste zwar – deines irdischen Seins
war, aber keineswegs auch das gesamte Leben und dass es ein wilder
ungezähmter Vogel ist, der nur heimlich durch den unfrohen Käfig der
Poesie flatterte und wieder daraus
herausflog, in die Freiheit, in die
16
Ti koja ima{ nevinije ruke
17
Vjetar Trakije
Dossier: Vesna Parun
wunderschöne Wildnis der Wirklichkeit, ins Vakuum, in dem es kein
Lauschen den Assonanzen und keine Wollust von Metrik und Rhytmus
gibt. In die Wildnis außerhalb des
Reiches der Worte. Ins Unausgesprochene der trockenen Dramen
des Lebens, in denen du unzählige
Male emotional, moralisch und physisch halbtot und manchmal tot warst.
Das ließ sich nicht aus der Poesie
erfahren. Der Vers ist grausam, ihn
geht es nichts an, ob du tot oder
lebendig bist, er braucht jemandes
Hand, um ihn niederzuschreiben,
jemandes schöpferisches Wesen, um
ihn – mit dem Hammer der Sprache
– aus dem Nichts zu erschaffen. Verse sind ein Monster, das die Energie
deines lebendigen Leids benutzt, um
seinen perfekt präzisen komplexen
Mechanismus am künstlichen Leben
zu erhalten, mit dessen Hilfe es triumphal und schamlos den Todesschrei des Menschen nachmacht.
Ja. Gedichtssammlungen sind ein
Panoptikum falscher Spiegel, eine
Schatzkammer an Informationen,
verschlossen unter einer Chiffre, die
nur eine kleine Handvoll von Auserwählten kennt und den übrigen sicherlich zur Verwunderung und Häme
dient. Wie denn auch anders! Sie
sperrt sich in ihr Zimmer ein und
schreibt Blödsinn – flüsterten zunächst
um mich herum meine „Nächsten“,
danach sagten sie es immer lauter
und lauter, schrien es lauthals heraus.
Die größte Ungerechtigkeit, die der
Kunst zugefügt worden ist, ist, dass
sie gar keine Macht über die Natur
besitzt und somit es nicht einrichten
kann, dass ihre Priester einfach als
Weisenkinder geboren werden, als
lebendige Bündel der Radiation, der
Traum schöpferischen Feuers ohne
Namen, ohne Heim, ohne Heimat –
dieses unerreichte unverstandene Ge-
41
webe der Vorfahren – ohne Narben
der Vergangenheit, Staub der Zukunft. Steril und zart wie Käfer im
Seidenkokon des Existierens.
Doch, Recht hatten meine Nahestehenden. Schreiben im Zimmer
unter einem Regenschirm ist offensichtlich kein Zeichen von Genialität. Sie haben in „Republika“, die
mir der Postbote gebracht hat, Du
deren Hände unschuldiger sind 16 gelesen und spotteten: Wie sie verschönert, schau, wie sie eine Pose einnimmt! Und wo sind in diesem Gedicht die Krankenhausbahre, das Heulen der Sirene mitten in der Nacht,
das zersauste Haar, der Kopf, getreten mit den Schuhen jener, für dessen
ruhigen Schlaf sie in diesem Lügengedicht so innbrünstig betet! Wo ist
der Gummischlauch für den Magen,
Bescheinigungen von der Sozialversicherung, Haufen von Büchern in
fremden Holzschuppen, Herumstreunen von hier bis nirgendwo, die Nachtmähr, der Spleen...
Oder die gesamte Sammlung Der
Wind von Thrakien17, gibt es darin
auch nur eine Spur von dem, was
mit mir passierte auf diesen unkenden und trotzem mir lieben windgepeitschten Einöden der Mythologie, Legende und Musik? Nein, ohne
Zweifel. Wo sind Betrug, Verrat,
Unterstellungen von politisch verdächtigen Intelektuellen, fantastische Denunziazionen, Fallen, wo der
Justizpalast mit Verhandlungen gegen die Dantes Unterwelten Kinderkram sind! Wo sind die falschen Eide
und die falschen gerichtlichen Aussagen von „Freunden“, wo die Armeen von Söldnern und Erpressten,
die um deinen dichterischen Umhang würfeln! Dichter, die falsch auf
die Poesie schwören, Patrioten auf
die Heimat, Ideologen auf die Idee,
42
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
Mütter auf die Mutterschaft, Religionen auf Gott!
Oder aber die Gedichte, die zu den
sonnigen Wiesen der Kindheit gerichtet sind, welch eine Mystifikation! Dieses finstere, tyrannische, inquisitorisch wütende Ausleben, dieses hilflose und jämmerliche und
hungrige kindliche Faseln ähnlich
jenem flehenden Schlagen mit einer
schwachen Faust gegen die Toilletenwand bei Dostojewski – durch welches Nagelöhr der Metaphern hat es
sich gezwängt, in welch raschelndes
Zellophan der Assotiationen gewickelt! Was für Blumen? Was für Korallen? Was für ein Zlarin? Diese
Ansichtskarte hat nichts zu tun mit
dem Wermut im beschlagenen Glas
des kindlichen Unschlafes...
Ich weiß, dass all dies keine Argumente sind für jene gut meinenden,
die störrisch bei ihrem Standpunkt
bleiben: Man soll nicht leben, man
soll Gedichte schreiben! Man soll
nicht über das Durchlebte nachdenken, man soll Literatur lesen, sich
distanzieren, den Vers kultivieren!
Für jene, die ihre Haustür mit immer
demselben patriarchal gesegneten
massiven Schlüssel öffnen und schließen, und die das das Glück hatten,
dass ihnen ein Männerschirm zufällt,
geräumig und robust genug, damit
sie darunter – so wie es nur recht und
billig ist – all ihre lieben Schützlinge
um sich scharren können, sowohl
jene, die freiwillig unterworfen sind,
als auch jene gewaltsam unterworfenen. Ich weiß nicht, wem sie zuzuschreiben ist, welchen geheimen und
abergläubischen Abneigungen, unsere traditionelle Flucht vor der Selbstbeichte, die Scheu vom Erzählen in
der ersten Person. Von der öffentlichen Handlung, mit dem sich der
Autor mutig von seinem Werk verabschiedet und mit der magnetischen Spiralfeder identifiziert, mit
der offenen Kurve des Schicksals, mit
dem Hexagramm seiner letzten, er-
schöpfenden Verwandlung des Lebens. Im Sinne des Yi-jing, genau
so wie vor fünftausend Jahren: Mit
der Summe all seiner gelebten Aufstiege und Abstürze, Abfahrten und
Rückmärsche, Dillemas, Suchen und
(Nicht) Auflesen. Im Sinne von Heraklit: Da alles ohne Unterlass fließt,
so fließt von dir auch deine Poesie,
was bleibt dir übrig, als dass du am
Flussufer sitzend mit Händen diesen
ehemaligen Fluss greifst und ihn beobachtest. Diesen Fluss, diese ehemalige Poesie, diesen Sand. Dein
morgiges neues ICH, wiedergeboren und dir noch unbekannt. Diese
Grenze zwischen hier und dort, jetzt
und Morgen, du und jemand anderes. Und dass du so verschwindest,
in Gedanken versunken, mit Füßen
im Wasser und Lippen an der Flöte,
frag nicht, wie alt und wie viele Male
verliebt, oder wie viele Male vergessen oder wie viele Male an der Weglosigkeit stehend. In Verbannung.
Aber warum, wozu – frage ich mich –
dieser zivilisatorische Widerstand gegenüber allem was urweise und somit
auf die urbanen Protokolle der modernen literarischen Diplomatie unvorbereitet ist. Ist auch die intellektuelle Verstocktheit ebenfalls ein gewisser Primitivismus und übertönt
die Welle der Alienierung, die die
Zeit überschwemmt hat, jede einzelne
Stimme der Unversöhnung, schmilzt
jedes Flöckchen der Hoffnung? Warum darf ich im dichterischen Fieberwahn rufen Ich war ein Junge, aber
ich darf mich nicht auf diesen expressionistischen Vers im Gerichtssaal berufen und wenn ihn dort einer
erwähnt, muss ich aufpassen, dass
sie mir – wie es schon einmal passiert
ist – im Namen des Gesetztes nicht
weniger als drei gerichtliche Sachverständige, Psychiater selbstverständlich bringen – um, wie man so sagt,
offiziell die bürgeliche Dialyse meines Geistes und seine soziale Brauchbarkeit festzustellen. Und auf wessen Seite sind letztendlich Literatur-
RELA
TIONS
kritiker und -theoretiker: Auf unserer semantisch ungeschützten oder
auf der der Exekutoren, Scharlatane,
Zöllner und Piraten des Geistes? Wegen des Gebrauchs eines Kommas
werden diese Praktikanten der modernen Exegese eine Hetzjagd auf
dich veranstalten, wegen eines kleinen Buchstabens am Anfang des Verses dich zum Feind der gesellschaftlichen Ordnung erklären. Nicht im
wörtlichen Sinne, versteht sich. Aber
die Gesellschaft nimmt Worte und
ihren geschichtlichen Sinn wörtlich.
Sie kann sie auch interpretieren, wie
sie will; dieses ungeschriebene diskretionäre Recht der Herrschenden
ist ebenso alt wie auch die Herrschaft
selbst.
Ich habe nie mein Diarium geschrieben. Ich ließ Stunden und Tage fortschreiten, als ob ich sie nicht aus
einem Winkel beobachten würde.
Und ich habe sie beobachtet. Ich ließ
Monate verfliegen und das Jahr sich
an den Türpfosten des Jahres hängen, als ob nichts geschehen würde.
Und es ist geschehen. Berge stürzten
ein und Flüsse wechselten ihre Becken. Jahrzehnte vergingen. Und mir
fiel es schwer, Papier zu nehmen, das
Datum hinzuschreiben und zwei drei
dokumentarische Prosasätze hinzukritzeln. Zum Beispiel: Heute habe
ich das Infektionskrankenhaus auf
Ko{evo verlassen nach einem fünfzigtägigen Aufenthalt, ohne Hab und
Gut, mit einem Eisenbahnerrucksack
auf den Schultern und ich weiß nicht,
wohin oder was ich tun soll. Und es
ist goldener September. Oder: Heute Nacht ist Mi}a aus Belgrad angereist, er hat ein Stipendium für Paris
bekommen. Soll ich mit ihm gehen
oder soll ich nicht? Ich fühle, dass
von dieser Entscheidung zu einem
guten Teil das, was im Verborgenen
liegt, abhängt, im Moment noch
Unwirkliches, in der Gegenwart hinter dem Brocken anwesend. Jenseits
von Traum und Vers...
RELA
TIONS
Statt Zustände und Personen zu notieren, habe ich tollwütig meine Seele erleichtert, indem ich Gespenster
ins Heft zeichnete. „Nächtliches Gespräch mit versteckten Farben der
Erde“, ein Gedicht, über das unser
– Mi}as und mein – gemeinsamer
Freund Branko Miljkovi} eine Studie
schreiben wollte. Oder: Et inclinentur umbrae. Oder: O weh, du Morgen!
Statt nach Paris zu fahren, blieb ich
im Zimmer und dachte nach. Statt
zur Hochzeit des Freundes zu gehen,
als er aus Paris nach Belgrad zurückkehrte, ging ich irgendwohin aufs
Geratewohl. Und kam nach Bulgarien. In die Wiege des Orpheus eigentlich; eigentlich, aber, als ich zu
mir kam – das ist nicht Thrakien
und Orpheus ist nicht hier und auch
nicht die Bogomilen...
Ich habe, sagte ich, nie ein Tagebuch geführt. Aber es schrieb sich,
unsichtbar auf dem Papier, jahrelang
irgendwo in mir drin. Es schrieb sich
selbst, in gespenstigem Schweigen,
ohne mich auch nach meiner Zustimmung zu fragen. Es schrieb sich
ohne Worte, ohne Sätze, ohne grammatikalische Formen, rechtschreiberische Haken. Ich wusste, dass es
passierte. Ich wusste, dass er sich
schreibt, dieses Tagebuch und dass
ich es eines Tages verblüfft lesen können werde. Oder hören vielleicht?
Und während ich es sehen und hören werde, beim Lesen, wird mein
Kopf wie ein Kürbis wachsen und
die darin gespannten Membranen
werden sich dehnen und manche
Kapillaren werden es aufgeben, sich
dem übermäßigen Kreisen des Blutes
zu wiedersetzen, das die übrigen Regionen meines durch die Vergangenheit eingeschläferten Körpers verlassen und sich völlig in den Dienst des
Kopfes und seinem Kampf mit der
Vision des vorangeschrittenen Lebens, im express-autobiographischen
Schärfen der aufregenden inneren
Optik gegeben hat.
Dossier: Vesna Parun
Ich erinnere mich an Orte und Jahreszeiten und die Farben der Tage
und des Himmels wenn ich, im Gehen, tief aus mir drin den Befehl
hörte: An das, was gerade passiert ist,
MUSST du dich erinnern, solange
du auf dieser Welt bist, du DARFST
NICHT eine einzige Kleinigkeit vergessen, du bist dazu verurteilt, mit
diesem (Nach)Tragen zu leben und
zu dauern. Und du wirst vergeben,
aber du wirst dich trotzdem erinnern. Und du wirst es wegwischen,
aber es wird nicht weggewischt sein.
Einer von diesen für mich für immer
durch Nichtvergessen gekennzeichneten Orte in Zagreb ist die Kreuzung der Straßen Vla{ka und Dra{kovi}eva. Das Jahr 1943. Die Jahreszeit: Herbst. Die Tageszeit: Kurz vor
Abenddämmerung. Einer von jenen
Marathonläufen zwischen Sesvete
und ^rnomerec mit einer Tasche
Milch auf dem Rücken. Mussolini
ist gefallen, die Deutschen haben Italien besetzt. Studenten aus Dalmatien, jene mit einem „italienischen“
Pass, sind durch dieses Ereignis nicht
mehr von der Pflicht ausgeschlossen, sich in die Heimwehr zu melden. Sie sind nicht mehr grüner Kader. Sie haben keine Immunität. Sie
haben nichts. Das Schneckenhäuschen
der Neutralität ist zerschmettert und
die Nacktschnecke hat, von dieser
Nachricht unvorbereitet erwischt,
mitten auf dem Weg völlig außer sich
seine Fühler ausgestreckt. Sie tappt.
Verteidigt sich. Ruft um Hilfe. Und
was wird geschehen? Wird sie ein
Panzer überfahren und mich mit ihr?
Wird sie „unter Waffen“ gehen? Oder
allem den Rücken zuwenden und
zum „Deserteur“ werden? Falsche
Dokumente sind nötig, Bescheinigungen mit Stempeln, Falsifikate.
Das muss heute entschieden werden.
Heute Abend. Und von dieser Entscheidung wird – sagte mir etwas –
das ganze weitere Schicksal eines
Mannes und einer Frau abhängen.
43
Eines Mädchens eigentlich. Aber warum wurde mir die stumme Mahnung der Erinnerung gerade auf dieser Kreuzung zugeflüstert? War es
deshalb, weil damit gleichzeitig auch
die Antwort gesagt war, dass ich
mich, wenn der Krieg zu Ende ist, an
dieser selben Kreuzung eines Tages
alleine und verstoßen wiederfinden
würde? Oder deshalb, weil mir gerade dort noch viele ausschlaggebende
Dinge in meinem späteren Leben
passieren würden. Sonderbare Bekanntschaften, Boten aus der Ferne.
Wirklichkeit mit dem Geschmack
eines Märchens. Der Umriss des Unmöglichen...
Diese (Nicht)Notiz von 1943 blieb
in meinem Kopf verschanzt. Aber
das Gedicht, geschrieben in jener
Nacht, überlebte auf dem Papier alles, was seit damals für mich zu Asche
geworden ist: Sowohl den Vogel der
Jugend als auch Gefühle, kristallklar
wie ein Gebirgssee. Es war „Erinnerung an die violette Farbe“. Ein dekadentes Gedicht, das nach der stürmischen Befreiung des Landes nicht
in Morgenrot und Wirbelsturm aufgenommen werden konnte. Auch heute ist es, für mich selbst, geheimnisvoll
und unverständlich. Ich erinnere mich,
während ich es aufschrieb, war ich
wie von durchsichtigvioletten Schleiern der Irise, dem Blau der Junidämmerungen, der Frische der Seele
umhüllt. Verzweiflung, die sich noch
nicht selbst bewusst geworden war.
Eine der drängendsten beiläufigen
Lebensmühen stellte gerade diese nie
und durch nichts unterdrückte Stimme in mir dar: „Schreib das, was du
lebst“, ebenso wie ihre gewaltsame
Übertönung mit einer anderen, übermächtigeren: Schreib so, als ob du
nicht leben würdest. Schreib Poesie!
Das war auch das einzige, was mir
übrig blieb, das einzige, was ich nach
eigener Wahl tun konnte. Meine einzige menschliche Freiheit. Mein ein-
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
44
David Albahari beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
ziger Ausweg zu einer Lichtung aus
dem Gestrüpp des Urwaldes. Aber es
gab, würde ich sagen, kein einziges
Jahresende oder den Beginn eines
neuen, ohne dass ich mir gestand, in
leiser Panik, dass mein ungeschriebenes und leeres Buch des Lebens
wächst, Seiten häufen sich und ich
bin ohnmächtig, den Pfeil der Zeit
nach hinten zu drehen und zu sagen:
Dieses Buch ist schon geschrieben,
hier ist es! An wie viele solche falschen Augenblicke der schriftstellerischen Triebkraft erinnere ich mich
und ich fühle mich wegen ihnen unwohl. Wie viel hektisches Sich-anden-Tisch-Setzen, auf dem Stuhl Herumlaichen, Öffnen und Schließen von
Heften, Starren in die Lampe. Wie
viel abruptes Abflauen von Lust, Aufgeben und Zurückkommen. Verlassen des Tisches, unbewegliches Liegen Stunde um Stunde mit einer tödlich unliebsamen Rückfahrt, in meiner Imagination, mit Zetteln unter
dem Kissen, Notizen, Stichpunkten,
die ich mir nie später angesehen habe
– denn das würde eine zweifache Reprise der Rückkehr in die Vergangenheit bedeuten – mit Skizzen, Überlegungen, Rätseln. Am meisten quälte mich der Titel, dann die Komposition, Dramaturgie, Kapitel. Vor
etwa dreißig Jahren war der Titel gedacht: Dem Leben ähnlich. Vor etwa
zwanzig: Politik und Liebe. Vor etwa
zehn: Das Spielkasino der Poesie oder:
Das Spielkasino des Körpers, das kein
Körper sondern ein Traum ist. Und
wie fängt man an, wenn die Schlacht
des Bestehens noch dauert? Werden
Friedenszeiten auftreten, Verankerungen in etwas, Fokusierungen in
den Ausgangspunkt?
All diese Titel, Skizzen und Linien,
all diese vereitelte Bauausrüstung steht
noch immer irgendwo in irgendwelchen absichtlich verlegten Mappen und das Leben schreitet auf sei18
Crna maslina
Dossier: Vesna Parun
nen wackeligen Holzbeinen weiter
voran, ohne sich darum zu kümmern: Es scheint mir, dass die ersten
Beichtversuche gleich nach dem Einzug in diese Wohnung in der BadelStraße 15 erfolgten – mein erster, und
einziger bis jetzt, staatlicher Wohnraum, mir von der Gemeinde zugesprochen auf meinen vollen Vorund Nachnamen und wo ich auch
jetzt noch auf dem alten Eisenbett
liege und diese so sehr verspäteten
Zeilen schreibe. Als ich damals vor
33 Jahren dachte, dass endlich der
rechte Moment gekommen sei, war
es ein unerträglich schwüler Sommertag und das Südfenster ohne Vorhänge, ohne Abschirmung, Jalousinen
und das Licht des Sommers hagelte
herunter, durchbohrte die Augenlider, drückte den Körper und die matte Seele wie ein Alptraum. Aus der
Ecke im Flur holte ich den uralten
verblichenen Regenschirm meines
Vaters. Ich setzte mich aufs Bett und
spannte ihn über dem tödlich weißen
Blatt Papier. Die Zimmertür musste
ich öffnen, damit wenigstens vom
Norden her, aus den langen Gängen, von denen aus man die Hänge
von Sljeme sehen kann, ein wenig
Luft eindringt. Die Mitbewohner –
denen ich in dieser Zweizimmerwohnung meine Gastfreundschaft
angeboten hatte, deren fünf an der
Zahl, und die ununterbrochen im
Flur herumlungerten – verstanden die
beschriebene Szene als eine Zirkusnummer und störten mit ihrem wahnsinnig machenden Gegrinse mein
Projekt. Des Nachts lugte ich wie
eine Eule aus meiner Höhle, aß, was
mir die Mutter in einer kleinen Schüssel vor der Tür gelassen hatte und
schrieb weiter. Nicht Dem Leben
ähnlich, keine Autobiographie. Das
war, o weh, unmachbar. Ich schrieb
damals Der schwarze Olivenbaum18,
unter dem großen schwarzen zahnlo-
45
sen Männerschirm. Nicht in einem
Olivenhain. Nicht am Meer. Auf dem
Ölberg meiner Visionen, hinter der
Medvednica der untergehenden Illusion. Im Schweiße der blendenden
Julimorgengrauen. Im Abgrund der
schäumenden Sonne.
Jetzt weiß ich, worin mein Irrtum in
all jenen Jahren, wo der Stolperstein
lag, der Schlüssel zur Unmöglichkeit
der Verwirklichung; das Hindernis,
das nicht erlaubte, dass das, was einer Chronik meines Lebens ähneln
sollte, weiter gelangt als zum schieren Titel und zur Idee.
Der Grund ist eigentlich sehr einfach.
Ich dachte: Wenn das Drama des
Lebens vorbei ist und ich von dem
sinnlosen Kampf ausgeruht bin, werde ich in dieser Windstille das Papier küssen und ihm die Seele der
durchlebten Tage einhauchen.
Aber die Windstillen waren eine Täuschung. Es war das erschöpfende Feuer immer neuer und neuer Verse und
das furchteinflößende Tote der äußerlichen Dekors, dann die unmöglichen Wohnungsumstände, aus denen man kopfüber nach draußen fliehen musste, irgendwohin, in das unbekannte Tohuwabohu des Morgigen, in den Prolog einer neuen karmischen Farse, in die Arme des Leids
und der Täuschung, die an jeder
Kreuzung begierig wartete gleich einem schönen Faun, der in sein Horn
bläst.
Dann wieder die Windstille. Und
wieder einmal ein kleiner witziger
Tod. Und so bis ins Unendliche.
Und die Lenze reihten sich aneinander
und die Jahrzehnte und Berge von
unbeschriebenen Papieren bekamen
in meinem panischen Geist eine düstere Form und die unbezwingbaren
Dimensionen des Himalaya.
46
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
Bis auch das Jahr 1985 herannahte,
die Mitte des Monats April. Der
Kongress der jugoslawischen Schriftsteller in Novi Sad. Und hier endet
meine langjährige Reiseapstinenz und
meine Verankerung in vier Wände.
Längst nicht mehr jung und von allem persönlichen müde begab ich
mich in eine unbekannte Aufgabe,
in ein Enigma. Ich nahm die Herausforderung der Zeit an. Ich betrat
den Ring.
Und ich verstand, dass es nach diesem Schritt keine Windstille mehr
gibt und keine Verankerung und keinen Traum.
Ich erkannte, dass alles KAMPF war,
auch die Liebe – nun, letzten Endes
auch die Poesie selbst. Ein Kampf
gegen das Leben, das kein Leben ist.
Gegen das, was ihm kaum ähnelte.
Ich sah den Eingang ins Labyrinth,
aber nicht auch den Ausgang. Ich
begriff, dass man den Kampf nur im
Eifer dieses Gefechtes beschreiben
kann, bei ohrenbetäubenden Klängen der Kampftrompete und unartikulierten Schreien der Sterbenden.
Sobald der Tod von der Bühne verschwindet, weißt du nicht mehr, was
der Tod ist. Sobald die Quellen der
Wut versiegen, erinnerst du dich
nicht mehr an ihren Sinn.
Und mir wurde klar, dass das Überleben der Wahrhaftigkeit des Lebens
im Widerstand und Drama liegt,
und dass Frieden ein verlogenes Wort
in einem leeren Herzen ist, dass sich
selbst schmeichelt, über der Wut zu
stehen. Und über der Wut, das heißt
auch über der Gerechtigkeit.
In mir regte sich auch wieder jene
Stimme des schonungslosen und bösen Befehlshabers und sagte zu mir:
Der Augenblick ist JETZT. Tritt in
die Flamme. Kultur ist Kampf. Alle
Geschichte ist Kampf. Auch der Frieden ist Kampf.
19
Und Barmherzigkeit, was ist die dann?
Ist denn nicht Barmherzigkeit das
elementarste Muster des Kampfes
und offenbart sie sich nicht bei seltenen Seelen in einer Schönheit, die
kräftiger als der Eros und suptiler als
die Poesie ist?
Es ist die Stunde gekommen, dem
Ungeheuer in die Augen zu sehen.
Kein Warten mehr darauf, dass das
Klappern des Mühlsteins vergeht,
dass die Echos des Schmerzes, der
sich wie ein Messer in den Körper
des Gedichts rammte, verklingen.
Dein Pfad ist über dem Abgrund.
Der Mond nimmt zu und wenn er
voll ist, und du diese Amphore vor
dir nicht mit deinem Leben ausfüllst,
dann wisse, dass es dieses Leben, dass
dir so sehr zu schaffen machte, auch
nicht gegeben hat. Eine Spur ist das
einzige Zeugnis, dass du existiert
hast. Vergiss lieber deinen Namen.
Lass die Verse liegen. Verschmäh die
Poesie. Genug des Gebetes für Schönheit. Die Schönheit ist befreit.
Konnte ich es, durfte ich es tun? Sie
war mir trotz allem eine Begleiterin in
diesem bitteren Traum, der manchmal einem Leben ähnelt. In Todesgefahren Rettung. Bei Schiffbrüchen
ein Floß.
Und so also bedeutete meine Rede
in Novi Sad den leisen und öffentlichen Tod jener ehemaligen ich und
die Geburt – ohne dass ich es wollte
oder ahnte – meines schicksalsträchtigen und bis dahin schamhaft im
Hintergrund stehenden Doppelgängers: Der Reiter ins LEERE, ein Liebhaber des unendlichen, ewigen, verjüngenden Abenteuers des Geistes.
Eines von der Poesie der FREIHEIT
trunkenen Geistes.
Um der Poesie ihren Doppelgänger
zu zeigen, musste ich auf ihre Sprache und auf ihre Oasen mit Schatten
und süßem Wasser verzichten, ihre
RELA
TIONS
Karavanen ins Gebüsch und in heißen Sand treiben, wo es nicht leicht
ist, ein ungeschickter Reisender zu
sein, der sich nur auf die Sterne am
Himmel und auf seinen aus Versen
geflickten Kompass verlässt. Und so
entstand das Buch Unter dem Männerschirm, was gleichzeitig Rückblick
und Suche nach den Wurzeln meiner selbst von heute ist, in dem, was
die Krone des Baumes von gestern
erblühen ließ. Gibt es eine Kontinuität, fragte ich mich, zwischen der
Poesie des Sprechens und der Poesie
des Schweigens, zwischen der Wahrheit der Liebe und der Wahrheit der
Verachtung, zwischen dem öffentlichen und intimen Ich, zwischen dem,
in dem wir Brüder sind und dem, in
dem unser Märtyrium gesprossen ist.
Was weiß ein Dichter schon von seiner Zeit, als das, was er sieht, hört
und ahnt und was er verkrampft in
seinem Herzen trägt?
Den Titel Unter dem Männerschirm
fand ich ebenfalls auf einer Mappe
von vor etwa fünfzehn Jahren, mit
Ausschnitten von Zeitungsartikeln,
Umfragen und Interviews.
Unter diesem unförmigen Männerschirm habe ich so manches, was
wirklich „Männersachen“ sind oder
es, hauptsächlich, weingstens im Laufe der Jahrhunderte waren, durch
mein Leben getragen. Für die Debatte, die Rede, den öffentlichen Ausfall, die Kritik läuft sich der weibliche schöpferische Dämon erst warm
und noch immer gilt jener Aufruf
aus den Zeiten von Ljudevit Gaj an
die „Illyrerinnen“, sich aufzuraffen
und ihren selbstsüchtigen Blick von
der Idylle des häuslichen Herdes abzuwenden, dorthin, wonach, voller
Hoffnung, ihre mit Wiedergeburt19
bekränzten Männer streben.
Für eine Illyrerin, die einen solchen
Herd nicht ihr eigen nennen kann –
So genannte illyrische Wiedergeburtstbewegung (kroatisch nationale Bewegung der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts)
RELA
TIONS
wie ich, zum Beispiel – ist das Aufwachen einfacher und die Verkleidung aus einer privaten Sklavin in
eine öffentliche „Hetäre“ fast, so würde man sagen, schmerzlos. Das zweite Buch andererseits, das diesem
folgt, wird vielleicht mutiger als dieses zeigen, wie dieser Ausverkauf eines selbst auf den Lizitationen der
Poesie und Pseudopolitik wahrlich
irrsinnig schmerzlos war und wie die
Luzidität des dichterischen Wortes
nicht anders denkbar ist, als ein glitzerndes, von sich zu den Menschen
gewandtes, Funken von Schmerz.
Wie fühlt sich in ihren schon vorangeschritten reifen Jahren eine Frau,
die als Frau wirklich auf dieser Welt,
Vaters Prophezeiung nach, ÜBERFLÜSSIG gewesen wäre – wenn es
nicht diesen männlichen, man könnte sagen, altmodischen Regenschirm
der Lyrik gegeben hätte, mit dem sie
ihre Identität verteidigt hat vom Ansturm der zweibeinigen Säugetiere,
die erst durch Usurpierung zu Menschen werden, ebenso wie von den
aufgeblasenen aggressiven Feiglingen, die, als sie von weit her das in
der Luft gespannte magische Zelt –
wie ein Baldachin bei einer Sonntagsprozession – erblicken, dorthin stürmen, um ihrem sozial und biologisch bedrohten Ich vorübergehende
Deckung und Schutz zu verschaffen? Ein Nest bis ihnen Flügel wachsen. Ein Asyl bis die Akustik der
Kriegsmenagerien verstummt. Den
bescheidensten neutralen Punkt der
Betrachtung der Welt, bis sie eine
eigene durch Ideologie untermauerte, doch durch Praxis noch nicht widerlegte Weltanschauung aufbauen.
Bis sie das Recht auf ihren eigenen
breiten und tiefen schwarzen ehrwürdigen wertvollen Männerschirm erhalten, unter den sie bequem sich
20
21
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23
Dossier: Vesna Parun
und ihre Weltanschauung und ihre
weitere und engere Familie und mit
der Zeit – sollte das Gück hold sein –
auch ihre Institutionchen unterbringen können.
Seit der Mann aufhörte – wenigstens
auf dieser unseren Hemisphäre – seine Muskeln zu gebrauchen, auf dem
Scheiterhaufen zu brennen und vom
Regen nass zu werden, verfing sich,
leider leider, die Zivilisation in ein
Spinnennetz aus Traktoren, Pyrotechnik und Regenschirmen, innerhalb dieser bestehenden Gleichung
des Raumes und der Zeit, unentwirrbar und unwiderruflich.
¹1986º
¹...º
Ich war damals – zur Zeit des Einzugs – zweiunddreißig Jahre alt, ich
war ledig, ohne Kinder, wog 65-70
Kilogramm und hatte nur zwei Gedichtsammlungen hinter mir: Morgenrot und Wirbelsturm und Gedichte
20
. Aber in der Tagespresse und in
Zeitschriften waren oft neue Verse,
die die Öffentlichkeit – im damaligen
Mangel an „Regenbogenpresse“, im
Grau der gesellschaftlichen Ereignisse – mit verwunderlicher Aufmerksamkeit verfolgte. Doch auf diese
Weise gewonnene Popularität war
gleich, von Beginn an sozusagen, ein
Dorn im Auge jener, die sie auf langen, der Ideensäuberung gewidmeten Sitzungen hockend, erlangten –
und das bedeutete für diese Ikonodulen sichere Punkte in der Karriere, den Aufstieg zum kulturellen und
akademischen Olymp, die Priorität
bei der Verteilung der besten Arbeistplätze, der besten Wohnräume,
der schmeichelndsten Kritikerlobeshymnen. Von solchen bekam mein
Pjesme
Spirituosenhersteller
Stadtteil von Zagreb, übersetzt: Studentenstadt
Kroatischer Schriftsteller des Barock; Verfasser u. a. vom Versdrama „Dubravka“
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erstes Buch als politisch untauglich
einen Arschtritt und das zweite – als
sich dieselben dem Befehl von Oben
folgend bald in „Westler“ maskierten – wurde von ihnen als reuig gebrandmarkt, was mit der Wahrheit
über seine Entstehung im Versuch
meiner intimen Flucht aus den Fesseln der eigenen Vergangenheit überhaupt nichts zu tun hat. So machten
sie aus mir, die ich völlig unschuldig
daran war, schon gleich am Anfang
ein Enfant terrible und diese Fama
verfolgt mich noch bis heute.
In jüngeren Jahren ist es normal, keine Autobiographie zu schreiben –
denn du hast sie ja eigentlich noch
gar nicht – sondern du schreibst hartnäckig und mit tauben Ohren gegenüber den immer inbrünstigeren
Mahnungen des Schicksals Verse
und Verse... Du schließt dich in eine
märchenhafte und einsame Festung
aus diesen Versen ein, geschützt vor
Schlangenbissen und Wolfsfängen,
kurz: Der Gewinner. Doch deine
Festung wird eines Tages stärkeren
Kräften nachgeben, wird zu Schutt
und Asche verfallen und du wirst,
verlassen und nackt, besiegt, vor
selbsternannten Richtern stehen –
und die Herrschaft wird ihre Hände
waschen und sagen: Da habt ihr eure
Freiheit, ihr habt sie und basta, uns
lasst – bitte schön – in Ruhe!
Und so also blieb seit meinem Einzug meine einzige „Festung“ diese
mit Fatamorganas verzauberte Wohnung in der Badel21-Straße – heute in
der Straße Vile Velebita Nummer 15,
in Studentski grad22 in Dubrava, der
mit den Studenten und noch weniger mit Gunduli}23 etwas gemein hat;
aber die Bewohner der Oberstadt,
die nicht eingeweiht sind, seufzen
manchmal: – Ach, dieses Studenten-
48
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
paradies, dieses Zagreber Quartier
latin, das inspiriert Sie doch sicher!
Und wenn noch statt Miro{evac24
der Friedhof Père-Lachaise oder der
Montmartre dort wären!...
Als jedoch – nach 17 Jahren des
Gestrandetseins auf dem harten Badel-Meinhofer25 Fels – alle, außer
mir, Besatzungsmitglieder des familiären Piratenschiffs mit dem auf
dem Bug (oder Heck?) gekritzelten
Namen FANTOM PARUN dieses
Loch verlassen haben und in die Stadt
gezogen sind, waren sonderbarerweise das einzige, dass sie nicht mitnahmen, die Landkarten. So dass ich
jetzt drei hatte: Zwei alte, ihre, und
eine neuere, meine, die ich in vergangenen Jahren von einer meiner häufigen Rückreisen aus Sophia mitbrachte; dorthin ging ich ebenfalls
in eine Art Halbexil, ohne irgendjemandes Segen, oder Unterstützung,
als freier Künstler und freie Bürgerin...
um zu schreiben, übersetzen und
wenn ich will – um sogar zu heiraten,
weil ich genug davon hatte, die ewige Studentin und alte Jungfer aus
der Badel-Straße fünfzehn zu sein.
Jetzt bin ich auf diesem aus symbolischen Fabrikflaschen geschaffenen
Felsen ganz allein geblieben, als ich
der Macht der Politik wegen nach
dem Einzug der sowjetischen Truppen in Prag im August 1967 auch
mit meiner „zweiten Heimat“ und
meinem Mann Ljuben @ekov brach.
Diese nicht sehr große Landkarte des
Staates Bulgarien klebte ich an die
Wand über den unbrauchbaren Gasherd, setzte mich dann hin und schaute sie lange, resigniert an...
Ich sagte so, ohne Worte, Lebwohl
auch zur mir ans Herz gewachsenen
Donau im Norden des Landes, von
Silistra bis nach Vidin entlang der
rumänischen Grenze... aber auch zum
mir noch lieberen Varna und Sozopol
im Osten, zu dem Haufen ungeordneter Erinnerungen und unvollendeter Strophen der goldsandigen
Schwarzmeerküste...
Es wäre falsch, aus dem heutigen,
ein wenig leichtfertigen und unabsichtlich lasziven Ton meiner Geschichte zu schließen, dass ich auf
den Flügeln der Poesie dorthinflog
oder diese – für jene Zeit politisch
gefährliche Heldentat – als sorglose
Abenteurerin unternahm. Dazu zwang
mich die Ausweglosigkeit der Umstände, in die ich mich selbst brachte, als ich – bis zum Hals in meinen
geschriebenen und ungeschriebenen
Papieren steckend – das Ruder meines Wohnschiffes jenen überließ, die
darauf nur gegen die Reling gelehnte
verantwortungslose Passagiere waren.
Nicht jede Familie ist auch wirklich
eine Gemeinschaft, noch sind Erinnerungen an die Vergangenheit ein
Pfand für die Gegenwart, oder kann
die Ordnung der Dinge, wie sie in
der Kindheit war, ein Muster für das
Leben sein, nachdem von jenen Fußstapfen und jenen Sonnenstrahlen
auf einer lange vergangenen Schwelle jede Spur verloren ging. Und es ist
auch natürlich so.
Ich musste vor diesen verwischten
Fußstapfen weglaufen, den tödlichen
Anstürmen der Erinnerungen, der
fatalen Disharmonie der Charaktere, den zerstörerischen Instinkten der
Umwelt, der Arroganz der Schamlosen, denen Der Staat dankbar die
Macht über dich gewährt hat. Weglaufen vor dem unerträglichen Gemeinschaftseigentum des insularischen Weltschmerzes – wovon jene
aus den Elitevierteln von Agram keine Ahnung haben, ebensowenig wie
jene, die ihre Nächsten elegant aus
dem Blickfeld geräumt haben, indem sie sie in irgendwelche armseligen Heime und Einzelzellen gesperrt
24
Friedhof in Zagreb
25
Anspielung auf die RAF-Mitglieder Andreas Baader und Ulrike Meinhof
RELA
TIONS
haben... Geriatrie. Bidru`ica. Loborgrad. Und so weiter.
Weglaufen vor denen, die man noch
lieben könnte, auch wenn sie es nicht
verdienen; aber sie brauchen dein
Lieben nicht und noch weniger deine sanfte Barmherzigkeit. Gib ihnen
das, was sie von dir verlangen, erlaube ihnen, es dir gewaltsam zu entreißen und hasse oder liebe sie dann
nach Herzenslust...
Die Tante war lange vor deren Auszug gestorben, sie konnte nicht länger ihren eigenen passiven Widerstand der immer offensichtlicheren
Sinnlosigkeit der Existenz aufrechterhalten. Die Mutter, Leidende und
Opfer der Übriggebliebenen, kämpfte mit aller Kraft, um in deren Nähe
zu überleben, damit sie ihnen helfen
konnte, in dem Glauben, dass das
Gute am Ende doch siegt.
Aber das Gute hat nicht gesiegt.
Wahrscheinlich hat sie nicht genug
gebetet; sie dachte, es wäre genug zu
glauben. Ernüchtert haben sie die
Schläge, blauen Flecke, Misshandlungen und Gerichtsverhandlungen,
in denen ich Zeugin auf ihrer minderheitlichen und von der Polizei
ungeschützten Seite war.
Ungefähr zehn Jahre lang lebte ich
in dieser, auf einmal leeren, verwüsteten und drohenden Wohnung, alleine, bemalte ihre düsteren Wände,
Zimmerdecken, Türen und Fensterrahmen mit lebhaften Maurerfarben
– kiloweise Farbe – und ihre unvergänglichen Flecke übersäen heute noch
Stühle und Hocker, Mappenständer
aus Stroh, auch alte Mäntel und Kleidungsstücke an den Garderobenhaken,
von den verfärbten Schuhen, Pantoffeln auf dem Boden und Regenschirmen in der Ecke gar nicht zu
sprechen. Von jenem ehemaligen
Pop-Rock-Bing-Bang-System in der
RELA
TIONS
Wohnung sind Narben, Löcher und
Risse geblieben; und von meinen
fresco Meisterwerken werden zukünftige Bewohner von der Küchendecke
Sterne herunterholen, von den Wänden Bäche mit Enten, von der Wasserleitung den Schwanz eines prachtvollen Pfaus, von der grünen Badezimmertür einen kupferbraunen Krug
und von der Wand über meinem
Kopf – über dem Kissen, auf dem ich
schreibe, schlafe und das dritte Programm im Radio höre – werden sie
die verzweigte Krone eines blauen
Baumes aus dem Weltall so lange sie
leben entwirren müssen. Umsonst.
Denn dieser imaginäre Baum ist ins
Leben selbst eingewachsen und seine
Wurzeln in seine knorrige und widerspenstige irdische Wahrheit. Er
atmete, bemühte sich, trotzte der Zeit
und dem Bösen, trotze dem Schmerz,
dem Unglück und dem Schicksal. Er
trug Früchte, unsichtbare, verstreute
sie auf den unsichtbaren Pfaden der
Nacht... den Pfaden, die die Füße
ihrer Pilger verletzen, aber nicht ihre
durch Schweiß und Wegstaub veredelten Worte. Das Wort wird vielleicht
der einzige Gewinner sein. Ich nicht.
Das alte chinesische weise Buch YiJing war mein einziger wahrer, tiefer
Freund und Schicksalsgefährte zu
jener bösen Zeit – der finstersten und
traurigsten, der ich mich entsinnen
kann und sie erschien in ihrem ganzen Grauen der Unehrenhaftigkeit
und des Betrugs nach dem Tod meiner Mutter am einundreißigsten Oktober 1972 in dieser Stadt Zagreb, in
Kroatien – ein Jahr nachdem Frau
Milka Planinc auf die Bildschirme
losgelassen wurde, mit einer unzähligen Suite ihrer Arschkriecher und
Speichellecker, mit Schwärmen von
Sekräterinnen-Schmetterlingen und
Zügen von Maulwürflein und einer
Meute dressierter Doggen...
Ich werde mich mein Leben lang an
das Gebell und die Bisse des Abschaums erinnern, an das fuchsähn-
Dossier: Vesna Parun
liche Herumschleichen der Schüffler,
die aufgescheuchten Gesichter der
Denunzianten. Begleitet von einer
Revue von Söldnern jeden Alters und
Geschlechts, von den Analphabeten
bist zu den gottgefälligen künstlerischen Seelchen... mit ihren Pariser
Ausstellungen, staatlichen Wohnungen, Landhäusern, Autos, Booten...
Ohne dieses rettende, mir freundschaftlich gesonnene Buch, das allmählich die Rolle meines Wächters,
Führers und Lehrers übernahm – denn
darin wird jedes Ding und jede einzigartige Lebenssituation mit ihrem
fehlerfreien und wahren Wort benannt – gäbe es auch mich nicht und
auch nicht das, was ich jetzt schreibe, während es mich, dieses Buch,
aus der anderen Zimmerecke beobachtet und ermutigt. Darin wird der
Verrat an einem Freund Verbrechen
genannt. Lügen und Meineid Gotteslästerung. Hass ist ein ehrenvolles
Ventil, wenn du ein Opfer von Liebesmissbrauch bist: Er gibt dir Kraft,
die Falle aufzudecken und selbst zur
Wahrheit vorzudringen. Erst dann
ist dir erlaubt, dir Frieden zu gönnen, dich zu entfernen, zu vergessen.
Vergebung kommt in alledem erst an
letzter Stelle, und sie ist dem Himmel überlassen – erst nach dem Gericht der Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeit, die die Stimme des Himmels
auf Erden ist...
So verstand ich die Botschaft dieser
erhabenen Weisheit und mich nach
ihr richtend verfolge ich von Beginn
jeder Handlung das Hollogramm
meiner Seele bis zu ihrem Ende. Den
Strom des Lebens von der Quelle an,
über die ich mich wundere, weil sie
ein Traum ist, bis zum Delta, an
dessen strenger Wirklichkeit ich teilnehme.
Erst ein paar Tage nach dem Tode
meiner Mutter, als mir das Buch YiJing zum ersten Mal in die Hände
kam, fragte ich diesen weisen Geist
in ihm – Jung zufolge, unser gemein-
49
sames Überbewusstsein – was ich alleine auf der Welt tun solle, wohin
mich wenden, warum noch leben.
Ich bekam die Antwort: „Bleib, wo
du bist und warte. Lass die Mauern
deines Hauses mit Efeu bewachsen,
Spatzengeplapper soll dein Gespräch
sein, das Schlüsselloch an der Tür
verstopfe mit Wachs, antworte nicht
vom Fenster aus, an die Schwelle geh
nur zur Mittagszeit, wenn die Sonne
im Zenith steht, lass die Zehen taub
werden, opfere manches von dem,
was du für deine Bedürfnisse hast,
überquere den großen Fluss noch
nicht, fälle die verlockende Entscheidung nicht, bevor dafür Zeit ist, denn
sie wird falsch sein und dich in den
Abgrund führen...“
Wer, von seinen Nächsten getreten
und vom Schicksal gebeutelt – sollte
nicht auf diesen, wie dem Palast des
Todes selbst entrissenen, mütterlichen Rat hören?
Ich hörte auf ihn. Und das veränderte mein Leben.
Das Warten war, seit ich denken
kann, mein zweites Ich, mein zeitweise
versteinerter Doppelgänger; es teilte
scharf mein Wesen in zwei gleichsam
unmessbare Hälften: In die, in der
das Nichts herrscht und in die, die
Etwas lenkt. Das Warten, von dem
hier die Rede ist, ist nicht schiere
Illusion: Es war der Schlüssel zur
Zukunft. Das geduldige Sammeln
all meiner in den Wind geworfenen
Schritte in einen einzigen wirklichen
Punkt: In die Treue gegenüber dem
noch ungeschehenen, aber sicher morgigen Weg.
In diesem Warten lag die Befreiung,
der Raum, die Unbeweglichkeit, die
sich von innen betrachtete, wie das
stille Fließen eines Flusses; warten
kannst du mit den Jahreszeiten oder
ohne sie, mit den Vögeln in der Luft
oder ihrem schwingenden Schatten,
wach oder im Traum, mit dem Stift
in der Hand oder der Gebetsschnur,
50
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
bei Kerzenschein oder in der Flut der
Finsternisse. Solange bis das Warten
sich nicht selbst anfängt zu löschen,
damit wir auf diesem geleerten Platz
den Umriss jener Wirklichkeit entdecken, deren Gegenstand des Wartens auch das Ziel war. Er nähert
sich, aber streck noch nicht deine
Arme aus, ruf ihn nicht herbei, beschleunige nichts...
Mit zwölf vor Kälte und Hitze ungeschützten Fenstern in der Wohnung
– sechs nach Süden und sechs nach
Norden hin – musste man nicht wartend in die Ferne starren; denn alles
war schon hier, unter den Wolken,
die mit dem Ändern ihrer Formen
aus zukünftigen Regentropfen ihre
Materialität schufen. Ihren Weg durch
die Gegenwart, in die wir restlos eingetaucht sind.
¹...º
Pläne, Pläne... ich will euch nicht!
Und hier ist noch ein neues zeitliches Durcheinander für mich.
„Mladost“26 treibt das Ordnen meiner Bücher für die Gesammelten Werke voran. Die Redakteure, Karmen
Mila~i} und Vlatko Pavleti}, arbeiten fleißig daran und ich muss mit
meinen Säcken auf Hockern, vor
Haufen von Mappen sitzen...
Ich verkehre, ohne rechte Lust, mit
meiner bisherigen Arbeit, mit den
Früchten der vergangenen Lenze, mit
den Unterlassungen und unfertigen
Ideen... Mit dem Schwarzen Olivenbaum, dem Verwunschenen Regen27,
der Sklaverei 28... Mit Essays, die ausgebessert werden müssen...
Oh, wenn man statt in die gesammelten Werke alles auf einen Scheiterhaufen packen könnte!... Ob ich
26
27
28
29
wohl das im Unterbewusstsein hatte, als ich die verbrannte Jungfrau
von Orleans schrieb?...
Helada sagte einmal zu mir:
– Alle wissen schon über deine Säcke
Bescheid, für was sind die denn so
berühmt? Was ist drin, sag’ schon?
– Alles, was man mitnehmen musste, als ich beschloss, nach Sarajevo zu
ziehen. Wegen Adnan. Und zwar
nach Ko{evsko brdo.
– Und du es aufgegeben hast. Und
sind es immer noch vierzig?
– Ich weiß es nicht, ich ziehe aus
ihnen das heraus, was ich brauche:
Frauen- und Männerschuhe, Mäntel, Jacken, Sportkleidung, Manuskripte, Bücher. Auf dem Boden von
einem ist ein alter Lexikon von „Minerva“29, ich bräuchte es... aber ich
weiß nicht, in welchem es ist!
– Und wird deine Autobiographie
wirklich Mein Leben in vierzig Säcken heißen?
– Das hoffe ich. Dein FranzosenFreund ist von diesem Titel begeistert; er sagt, er würde in Paris, schon
des Titels wegen, sofort einen Verleger dafür finden!
– Und in welchem dieser Säcke ist,
ha-ha, dein Ex, der aus Bra~? Zu
welcher Hunderasse gehörte der?
– Er war ein trivialer aufgedunsener
Swidrigailow, dazu noch ein Narziss!...
¹...º
Es war genau am 10. April, an meinem Geburtstag. Ich weiß nicht, was
in dem Glas war, das ich austrank,
nachdem ich mit ihnen angestoßen
hatte – sicherlich war es nicht nur
Kirschsaft; denn die Entspanntheit
und übermütige Sorglosigkeit, die
mich übermannte, löste scherzhaft
meine Zunge – in der vorherigen
Kroatisches Verlagshaus
Ukleti da`d
Ropstvo
Großes Verlagshaus in Jugoslawien bis zum Zweiten Weltkrieg
RELA
TIONS
Phase mit Stricken der Verse gebunden – und drei Frauen... nein, vier, es
war auch eine ihrer Bekannten anwesend, eine Ärztin... nachdem die
Torte angeschnitten worden war,
wandten sie ihre Augen an mich und
warteten auf den Beginn einer Geschichte. Was für eine? Na ja, die
Geschichte meines Lebens, wessen
sonst, sagten sie. In den wichtigsten
Zügen – vom Moment der Geburt
an auf der Insel der verlassenen Frauen... auf diesem kleinen, Gott sei
dank, durch Evas Sünde unbefleckten Lesbos... bis zu diesem Moment
hier in Trnje, im Garten, wo immer
eine vor Sehnsucht versengte gelbe
hohe Rose auf totem Wachposten
steht... auf dieser postmodernen urbanen kleinen Insel Zven~i}, wohin die
gynophile lauthals singende Sappho
eher passte als ich, die Wasserträgerin
von Prvi} und Zlarin, verweint und
verärgert, nicht aufgezogen und nicht
verzogen, schwarzölig. Mutterseelenallein auf diesem kroatischen, für eine
Frau, eine Inselbewohnerin, historischen ewigen Ölberg. Wer bin ich?
Eine Dichter-Frau, aber kein MannWeib. Eine ungebärende Frau, aber
keine unmütterliche Frau. Eine Geliebte, aber keine Ehebrecherin. Die,
für die ihr „Freund“ immer der einzige Mann auf der Welt war. Unersetzbar, solange er hier ist, auch wenn
er nur ein reines narzissoides männliches Symbol war, anziehend bis
zum Geht-Nicht-Mehr und nichts
mehr als das.
Ich, die Widerstand-Frau und die
Vorwurf-Frau; die Seebärin-Frau und
Quallen-Frau; die Korallen-Frau und
Schwamm-Frau; die NapfschneckenFrau, festgeklebt an den Felsen und
die Felsen-Frau, an die der Napfschnecken-Mann festgeklebt ist...
Dossier: Vesna Parun
51
Foto: Jakob Goldstein
RELA
TIONS
Jurica Pavi~i} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
52
RELA
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
Oh, diese geschlechtslosen und psycholabilen jungfräulichen Häteren und
Animierdamen, Beischläfer und Beischläferinnen, diese erbärmlichen
Gänseriche, diese hundertärschigen
Ärsche und diese zu fest zugenähten
Gummi-Hymen, dieses Lesbos ohne
Sappho und diese Nicht-Sappho,
geboren an einem falschen Ort und
zur falschen Zeit... und die auf diesem Galapagos, Gulag und Archipelag
von Kornati und Goli otok alles sein
kann, nur kein Stasikrat, kein Spitzel und keine Hure – im Gegensatz
zu vielen „unsterblichen“ Männlein
im tausendjährigen Schatten dieser
sklavisch leibeigenen Politkultur, wo
ein unter der Rose verborgener Dorn
Ruhm erlangt, während eine Serenade unter dem parteilichen Fenster
klingt und der Kuss der Hoffnung
dem Glaubenden geboten wird, statt
der Wahrheit und der nackten Gerechtigkeit...
Auf dem Meeresgrund lebt ein männliches furchteinflösendes Monster.
Adams Archetyp. Schleimig, pickelig, unbeweglich, leidenschaftslos, für
Liebe unempfindlich, auf sein geiziges Ego verschworener Lüstling, von
Urzeiten an solcherart, von der Evolution unberührt, auf ewig tönern
retardiert und unendlich mit dem
Grund vermählt... Ein hässlicher,
schwarzbrauner, zur Verunstaltung
der übrigen Flora und Fauna aus der
Fantasie des Schöpfers faul herausgerissener, von der Genialität des
Geschlechts trunkener – dieser lächerlichste und liederlichste groschenromanige Anhänger, der letzte Bioschmuck dieses aushauchenden Planeten, schaut ihn euch an: Das ist er!
Mögen mir Wegerich und Ehrenpreis
verzeihen, rechthaberische und rücksichtslose, alle geduldsamen Rechtschaffenden und unduldsamen Richter – aber dieses erhabene „rrr“ mahnte mich, dass sein Name nicht der
Name der Rose ist... und dass uns
letztendlich davon übel geworden ist,
dass dieser geniale Drückeberger der
Natur zu Wasser und zu Lande, im
Feuer und in der Luft diese finstere,
keinen Pfifferling werte strebliche
Welt glücklich gemacht hat. Ich entdeckte gemäß dem kosmischen Gesetz meiner Muttersprache seine falsche historische Rolle auf diesem
Boden, sein pseudoethisches postkantisches Postulat: Das Leiden!
Jammert nicht mehr – ihr Heulsusen
von der demographischen ersten Linie, ihr Leidtrabanten – wegen den
ungeborenen oder verstoßenen Kindlein, dem halbtoten Gott Europas!
Oh, dieser selige grüne Kader der
Nation, diese Lee der Vaterschaft,
dieses selbstbewusste Surrogat der
Moderne! Seegurke! Mann! Kerl! Dieser abgeschnittene Großpimmel einer
stummen vergewalterischen Welt.
Nein, ich sagte das an jenem zehnten
April nicht ins Mikrofon. Seine Ohren hörten zufälligerweise etwas ganz
anderes... dieser Monolog blieb in
mir verborgen, auf dem Grund meiner maritimen geduldigen Seele. Unaufgeschrieben. Unvermenschlicht.
Ungehört.
Und woher hätte ich ja selbst gewusst, was ich ihnen damals alles erzählt habe, in einer Stimmung, an
der wohl eine hineingeschmuggelte
Pille aus der Tasche der angeblichen
Ärztin war – wenn ich nicht diese
dämliche Kassette besitzen würde, auf
der aber auch alles, vom Gelächter
bist zum Windablassen, festgehalten
wurde... aber die ich nicht am selben
Tag bekam, weil es mir gar nicht in
den Sinn gekommen ist, dass ich ein
Anrecht auf wenigstens eine Kopie
habe. Wie ich mir sie dennoch beschafft habe, davon wird – sollte es
mir nicht entfallen – später die Rede
sein...
Also: Haus Zven~a, 10. April 1988.
Das war mein possenreißerischer
selbstironischer Monolog – wie aus
einem ehemaligen Agramer Varieté.
TIONS
Improvisation, aber diesmal aus antididaktischen Motiven, wie Schüler
während der großen Pause auf dem
Schulhof. Als ob mir jemand Mächtiges die Rolle des, professionell längst
ausgestorbenen, Hofnarren aufgedrängt hatte. Ich ließ in dieses höflich mir gereichte Mikrofon über alles und jeden Dampf ab. Ohne obszöne Worte. Ohne jemanden zu beleidigen. Es ist ja sogar beleidigend
zu niesen, ohne zu sagen: Verzeih,
Staat, dass ich nieste!
Aber mein Monolog war hier und da
unterbrochen von Heladas Fragen.
Betäubt vom Rauch ihrer Zigaretten
antwortete ich ohne Hintergedanken, ehrlich, mir selbst treu. Die Fragen schienen mir harmlos, also verdienten sie auch solche Antworten.
Der Sinn unserer Kultur des Alltags
liegt ja darin, dass man alles Unnatürliche für natürlich erklärt und das
Natürliche unter dieser Sonne und
ihren Finsternissen – für politisch
untauglich! Die Natur der zwischenmenschlichen Beziehungen schaffen
und verändern wir selbst.
¹...º
Von Remineszenzen gebeutelt, müde
von der Lautheit all dieser nächtlichen wachen Stationen und den
Echos ihrer historischen Klagelaute
beschloss ich meine innere Aufmerksamkeit woandershin zu richten, zu
anderen zahmeren Dunkelheiten;
die Landschaft der Geburt vielleicht,
zu dem auch der Rauch dieser [ibeniker Schnellbahn zurückschlängelt.
Einer nicht vorhandenen, aus dem
Korall zur Zartheit und Freude der
Güte hervorgeholten Insel entgegen,
wo der Refrain des uralten Schlafliedes das Gras zum schwingen und die
Hummel auf der Wiese zum summen bringt...
Lass uns – sagte ich mir und verschloss Kraft meiner Fantasie die
RELA
TIONS
Ohrtrommeln – in jene ehemals herrschaftliche Villa auf dem Kap Bu}ine
gehen, wo mir das streunerische Geschick der Heimatlosen das Nest
aushölte. Doch die Trauer und Einöde, die an ihren mir schon immer
fremden Toren wachten, scheuchte
mich auch von dort unfreundlich
mit dem Geschrei einer dörflichen
Heilfrau weg, die die Flüche meiner
ersten irdischen Krankheit vertrieb:
Ich war ein Säugling mit hohem Fieber, dem die russische „Heilerin“
und ihr Mann Boris den Paratyphus
diagnostizierten. Unter meinen geschlossenen Lidern begann sich ein
Film abzuspulen über jenes kleine
gläserne Gerät mit dem lebhaften
glitzernden Körnchen, das uns, meinen Bruder und mich, durch die
schmerzhaften Stationen der Kindheit mit seinem leisen drohenden
Hüpfen begleitete. Es war eine unbändige Freude für uns, wenn es unter der Achsel herabglitt und sich
jenes Quecksilberkörnchen in zahllose kleinere zerstreute, um äußerst
durchdacht jede Spalte des Brettbodens auszufüllen... Und was danach
folgte – weiß man!
Das war die erste, unnachgiebige
Schule des Lebens. Die Schule des
Quecksilbers. Und so lösten blitzartig neue lexische Zeichen die Namen der kleinen Städte und Dörfer
ab und stürmten erbarmungslos in
Schwärmen und Herden in meinen
Kopf. Von dem ersten Inventar aus
Bu}ine waren da Windeln, Lätzchen,
Schnuller, Töpfchen, Kinderwagen
– oh, welch Glück in diesem sogar zum
Ethnos der Minderheiten Nichtangehören der Neugeborenen!... Dann,
mit dem Umzug ins „Haus Adum“
erweiterte sich der Horizont um Vaters Ledergürtel, Mutters Fingerhut,
Omas Gebetsbuch, dann der Löffel,
Wecker, das Bilderbuch, der rote
Knopf am T-Shirt und die Mausefalle. Die dritte Stufe der Ausbildung, jene im „Haus Bacigin“, vor
Dossier: Vesna Parun
der Einschulung in die erste Klasse
Volkschule, bestand hauptsächlich aus
Gegenständen ohne rechten Zweck;
aber gerade deshalb wurde uns ihnen gegenüber – in diesem ersten
Schritt unserer gerade geschlüpften
bürgerlichen Gesellschaft, der häuslichen, in den Abyssus der Geschichte – umso größere Ehrfurcht eingetrichtert. Eine Schultasche aus Stoff.
Ein Buch mit Andersens Märchen.
Domino, Spielkarten und die „Gans“.
(Die ich noch aufbewahre!) Eine
Puppe aus Kautschuk. Nadel und
Stickfaden. Eine Schachtel mit Buntstiften. Kataloge. Anstecknadeln. So
wenige Sachen sind um dich herum,
wenn du auf die Welt kommst und
wenige menschliche Wesen und wenige Sorten von Speisen und Getränken und wenige Bedürfnisse. Wir
verfolgen nicht, wie hoch diese Zahl
steigt, auch wenn sie beginnt abzunehmen und das ist unser großer Fehler. Die Sünde der reifen Zeit.
Haben wir darüber nachgedacht, wie
uns die Sprache zunächst mit Substantiven überschüttet, dann mit Adjektiven, dann verstreut sie um uns
herum Pronomina und am Ende
Verben – damit wir durch dieses
großartige Spiel entdecken, was um
uns herum wohin gehört und wer
wem in diesem semanitschen Gedränge auf den Fuß getreten ist.
Bei den Substantiven aber ist es sonderbar, dass man mit den schlimmsten, mit dem Vorzeichen des Horrors, anfängt – mit vergrößerten und
verunstalteten Worten lieber als mit
Verkleinerungen. Der Übergang vom
Nicht-Sprechen zum Sprechen bleibt
niemandem im Gedächtnis. Angst,
Dunkelheit, Krankheit, Kälte, Rute;
Wasser im Ohr, Splitter im Auge,
Dorn im Fuß, Nadel im Hintern.
Jammergeschrei.
Das letzte mag sich übertrieben anhören – aber man hätte zu jener Zeit
nach Prvi} kommen sollen und die
53
Schreie der Frauen hören, von denen
jeden Tag wenigstens eine sich auf
ein Bett mit verstreuten Nadeln setzte. Mein Vater, Br. Roko, hatte neben
einem Dutzend klösterlicher männlicher Phobien auch diese spezifische
weibliche Nadelphobie und unsere
gesamte angeschlagene Kindheit war
zusätzlich noch damit belastet. Und
unschöne und drohende Substantive
flogen um uns umher, heulten, klapperten, krähten. Sie waren lebendig.
Das Wort und seine Bedeutung deckten sich hundertprozentig, der Gegenstand und seine Bezeichnung, der
Mensch und sein Name. Wir waren
ihre Beute. Das Wort Schönheit?
Glück? Frieden? Das Wort Liebe?
Eltern? Sorglosigkeit? Spaß? Gesundheit?... Ja, manche von ihnen kamen
immer als unheilvolles Paar: Neben
Gott musste auch der Teufel sein,
neben dem Engel der Krampus, deben
dem Frieden Krieg, neben der Gesundheit Krankheit, neben der Liebe Hass, neben der Schönheit Hässlichkeit, neben dem Spaß das Leid,
neben dem Glück sogar sieben Jahre
des Unglücks! Der zerbrochene Spiegel. Das auf dem Tisch verstreute
Salz. Das umgedrehte Brot. Das Zucken des linken Auges. Das Summen im linken Ohr. Der Ring um
den Mond. Der Wind im Schornstein. Die Eule.
Wörter wie Heimat, Vaterland, Familie wurden nur für große Feiertage
aufgehoben, wenn du festlich gekleidet und in Lackschuhen auf dem Kai
von Zlarin spazieren gehst.
Aber dafür die langen Kolonnen von
Wörtern, die durch unsere Kindheit
marschierten – wie sehr hören wir noch
heute das furchteinflößende Stampfen ihrer Schritte!
Kakerlake, Wurm, Made, Pferdefliege, Mücke, Maus, Wespe, Raupe,
Speckkäfer, Floh, Laus, Wanze, Spinnen, Taranteln, Ungeziefer, Ohrwurm, Krähe, Fledermaus, Motte,
54
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
Werwolf... Und dann noch ekliger:
Schorf, Geschwür, Windpocken, Striemen, eingewachsener Nagel, eitrige
Entzündung, Brechreiz, Durchfall,
Frostbeulen, Schwielen, Blinddarm,
Gangräne, Seitenstechen... Ischias,
Drüsen, Trachoma, Echinokokus,
Tuberkolose... Und mehr, mehr,
mehr! Wundrose, Scharlach, Keuchhusten, Bazillus, Bandwurm, Masern, Nasenbluten, angeschlagener
Kopf, Mumps, Verstopfung... Aufgedunsen, geschwollen, hohes Fieber, Wattebausch, Jod, Rizinusöl,
bitterer Tee, Schimmel, Umschläge,
Kamille... Schuppenflechte, Asthma,
Krätze, Caissonkrankheit, Darmverschlingung, Pest. Mondsüchtiger!
Und was soll man über jene sagen,
die uns wie Schellen im Frühling entsetzen: Fastenzeit, Sünde, Buße, Straße, Tod am Kreuz...
Und Küsse, und Streicheln, und Umarmung? Sobald du zu erwachsen für
die mütterlichen Zärtlichkeiten wirst
– gibt es nichts mehr! Nur einige
formal erledigte Berührungen, gesellschaftlich unumgänglich, simuliert,
symbolisch.
Bis etwa zum Stress der ersten Liebe.
Und dann musste man sie stehlen,
zittern um diese gestohlenen Küsse
und Umarmungen und Worte, sich
fürchten, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen erdulden, lügen, sich verstecken... Sie haben uns nicht mehr
mit der Rute geschlagen sondern mit
der Moralpredigt.
Nach Sonnenuntergang durften wir
Mädchen uns nicht mehr die Haare
kämmen. Nach Sonnenuntergang
band mir ein junger Mann die Haare
auf, aus Lust. Jetzt, in diesen Jahren,
weiß ich nicht, was ich mit all diesem
Haar machen soll – und es denkt
noch immer, dass es sich auf einem
jungen Kopf befindet un wächst...
wächst... Ohne sich darum zu kümmern, dass es grau ist. Dass es Dornen und Unkraut ist.
Dieser Kopf, mit dem ich dies jetzt
schreibe und die Hand, die es schreibt,
erlauben mir keine Minute der Zukunft. Der Lebenslauf ist ein geschriebenes Wunder: Das, was gestorben ist, zum Leben zu erwecken,
das, was verschwunden ist, zurückzubringen, sich selbst täuschen, dass
du zweimal gelebt hast.
Die Wirklichkeit ist gefräßig: Sie ernährt sich von unserer Gegenwart,
trinkt die Tränen unserer ungeträumten Träume... Das Ohr der Gegenwart hört die Zukunft als sein Echo.
Die Vergangenheit erklingt bissig
wie das Läuten der Schellen... Stark
zieht mich diese Begegnung von mir
mit meinen vergangenen Gegenwarten ant. Sie sind nicht meine
Vergangeheit. Sie sind mein Geist.
Und der Geist hat keine Gegenwart.
Er ist allzeitig. Durch ihn sind wir,
sagt man, ein Teil der Ewigkeit. Aber
was sollst du mit einem Geist, wenn
sie dir das Herz herausgerissen haben, um es zu durchsuchen, zu wiegen, zu graben und es dir wieder
einzupflanzen – doch an den falschen
Platz...
Biha}!... brüllte fast eine griesgrämige,
verschlafene männliche Stimme. Ich
fuhr hoch. Worüber habe ich nachgedacht?... fragte ich mich, ein wenig in Angst, dass ich – als ich mich
aus dem Schutz der Gegenwart verbannte – nicht ohne Verspätung in
sie zurückkehren kann. Und es wäre
eine Sünde jene Gegenwart, die mich
in ein paar Stunden an der Türschwelle erwarten wird, nicht aus
voller Seele zu begrüßen, sich über sie
zu freuen, sie zu genießen, weil sie
mein ist. Und mein ist sie, weil sie
wahr ist. So, wie einst für uns Märchen
wahr waren. Der Mensch braucht
die Wahrheit. Die Wahrheit braucht
unsere Augen und Ohren.
Die Lüge wurde zur sublimen Kunst
des Menschen, denn sie kann ihm
ohne Mühe Ruhm und Nutzen brin-
RELA
TIONS
gen, und weder die Familien, noch
der Staat oder die Religion hindern
sie daran. Die Mutter gewöhnte mir
und meinem Bruder die Lüge ab, indem sie uns sanft, ohne irgendwelche
körperliche Androhung, sagte:
– Kommt näher, ich werde sehen,
was euch auf der Stirn steht. Dort
hat ein Engel, der die Lüge hasst, die
Wahrheit über euch geschrieben!
Mein Bruder, der genau so wie ich
vor der Rute Angst hatte, dem aber –
einem emotionalen Skeptiker, geboren im Sternbild des Krebses – der
Engel weniger glaubhaft schien als
mir, flüsterte:
– Dem Engel werde ich auf die Stirn
schreiben, dass er lügt und er wird
von der Mama was mit der Rute
kriegen!
Jetzt, zwischen Biha} und Dvor na
Uni, begünstigte der verlangsamte
Rhytmus des Zuges gerade die Spekulationen im Gebiet der Ethik, die
um eine Stufe die Ästhetik überragt;
Kant zufolge, um den sich im Jahr
1945 der verstorbene Professor Bazala so sehr an seinem Lehrpult bemühte. Und das ist wie Gift auf unserer Wunde. Eine Heilsalbe der Tradition auf die Wunde, die uns zugefügt wurde von tausenden @danovs,
Chruschtschows, Todor Pavlovs, Zogovi}s, Don~evi}s, Frani~evi}s...
Ein weiser französischer Schriftsteller – ich denke, La Rochefoucauld –
ermahnte uns, dass es besser sei, von
einem Freund betrogen zu werden
als an einem Freund zu zweifeln...
Aber, würde ich diese Weisen fragen,
wie unterscheidet man einen Freund
von keinem oder einen, der dir einer
sein möchte, aber es nicht kann oder
einen, der sich im Laufe der Freundschaft heimlich – aus diesen oder jenen, höheren oder niederen Gründen – auf die Seite deiner Feinde
stellt? Die Politik bereitete, seit es sie
gibt, der Ethik solche Probleme, warf
ihr Knüppel zwischen die Beine, streu-
RELA
TIONS
te Sand in die Augen. Aber niemals
so rücksichtslos brutal, so diplomatisch leger, so von allen Mächten der
Erde und des Himmels geholfen wie
gestern, vorgestern und heute, also
demzufolge auch morgen – falls ich
Recht habe, wenn ich behaupte, dass
die Zukunft das Echo der Gegenwart ist und nur die arithmetisch aus
ihr gezogene „zweite Wurzel“.
Ich muss also morgen in Zagreb die
verschiedensten Kontakte mit Personen fortsetzen – oder beenden –
wobei ich mit meinem schwachen
menschlichen Verstand sogar nach
Monaten oder Jahren von Bekanntschaft oder Mitarbeit nicht enträtseln kann, ob sie heute meine Freunde oder Feinde sind; und der Allmächtige beobachtet nur vom Himmel aus diese unseren Dubiosen und
Zweifel – ohne dass er auch nur einen Finger krümmen würde, um unsere moralischen Krisen, die zu nichts
Gescheitem nutze sind, zu lösen.
Als Christin müsste ich zur Beichte
gehen – was ich nicht tun werde –
und zum Beichtvater sagen: – Ich
sündigte, Hochwürden, gegenüber
jenen, die sich mir als Freunde darstellen, denn mich zerfrisst der gerechtfertigte Zweifel, dass sie das
nicht sind. Wie soll ich diese Sünde
des Zweifelns gut machen, helfen Sie
mir!
Und er würde sagen:
– Bete, liebes Kind, zwölf „Ave Marias“ und zwei „Salve Reginas“ und
schlafe dann ruhig. Es ist dir vergeben!
Oder ich werde mich so an ihn wenden:
– Hinter mir, in [ibenik, ließ ich ein
menschliches Wesen, dass sich freiwillig als Opfer in die Hände jener,
die ich eben erwähnte, begab... um
mir zu helfen und mich vor ihnen zu
retten. Und ich zweifle jetzt an diesem armen Wesen, denn – da ich es
erst kennen lernte – ich kenne seine
letzte Absicht nicht und Beweise im
Dossier: Vesna Parun
Sinne jenes Corpus delicti habe ich
weder, noch werde ich sie je haben.
Befreien Sie mich von diesen Qualen, ich bitte Sie!
Der Beichtvater wird hüsteln, sich
auf seiner Bank etwas meinem äußeren Ohr nähern und flüstern:
– Jesus hat nicht gezweifelt, Er hat
vergeben. Den ganzen Oktober lang
wirst du den Rosenkranz beten und
dann kommst du wieder und bekommst die Absolution. Amen!
Ach, wie viel schöner wäre es im
Oktober – mit wahren Freunden
unter dem Berg von Sljeme Kastanien zu sammeln, Gottes Diener, als
sich mit falschen – was auch den
Heiligen nicht genehm wäre – vor
dem Publikum zu verneigen und
Brot und Salz der Kultur mit ihnen
zu teilen...
Der erste ist allem Anschein nach ein
Jesuit, der zweite, würde ich sagen,
ein Franziskaner. Ich danke euch,
dem einen wie dem anderen!
Ein junger Priester nahm mir im Jahr
1973, nach dem Tod meiner Mutter, kurz vor Ostern, die Beichte ab –
mit einer „Stola“ um den Hals – in
meinem Zimmer im Erdgeschoss,
auf der Couch, auf der wir beide mit
gesenkten Köpfen saßen. Er nahm
alles auf – um uns herum war ein
einziges Gewirr an Kabeln und Apparaten – für meinen zukünftigen
Lebenslauf. Und nicht für den lieben
Gott. Für Auftraggeber.
Je leidenschaftlicher sich dieser dalmatisch-bosnische Zug dem Zagreber Hauptbahnhof nähert, desto mehr
kommt mein menschliches und „berufliches“ Gewissen in Fahrt und
verlangt von mir ein endglültiges
Urteil und eine Entscheidung. Wie
konnte ich – werfe ich mir hitzig vor
– wegen einer gerade kennen gelernten Abenteurerin mit einem so schrecklichen Verdacht meine loyalen und
fleißigen Mitarbeiter besudeln, auch
nur für einen Moment glauben, dass
55
sie Schurken, Verleumder und Vergewaltiger seien. Ich schäme mich
deswegen und bin wütend auf mich.
Soll ich sofort nach meiner Ankunft
vor sie niederknien und sie um Vergebung bitten? Denn der Sinn der
Beichte wäre, vor dem, den du beleidigt hast zu beichten und nicht vor
einem Mittelsmann. Einem Makler.
Einem Profi.
Wer kann so auf die Schnelle erkennen, was in der Geschichte der Journalistin die Wahrheit ist und was nicht?
Warum hat sie mir das Ganze, erst
nachdem die beiden abgefahren sind,
enthüllt? Vielleicht könnte ich sie von
ihnen hören. Vielleicht könnten sie
mir auch über sie so manches erzählen – dürfen aber nicht! Und was,
wenn alle gleichermaßen lügen? Wenn
ihnen im Leben die Lüge die rechte
Hand ist und das Manipulieren von
Menschen die linke?
Ich gestehe, wenn es dieses liebe,
kranke Mädchen nicht gegeben hätte, hätte vieles anders ausfallen können. Haben sie mich nicht bei allen
bisherigen „freundschaftlichen“ Irrgängen gerade mit Kindern oder alten Menschen erfolgreich in ihre Arena gelockt? Alles nach dem Spruch:
Lasset die Kinderlein kommen!...
Hat nicht vielleicht, unter dem Einfluss von Drogen, die sie ihr ins Getränk geschüttet haben, Rada alles
übertrieben, halluziniert? Doch warte, warum würden sie ihr den Drogen geben, wenn sie gut und unschuldig sind und sie eine Betrügerin
und perverse Lügnerin? Sie hätte sie
alleine nehmen können und mutig
zu ihnen auf ein kleines nächtliches
Vergnügen gehen! Wieso ist mir das
nicht früher eingefallen? Mir war
danach, aus dem Zug zu springen
und zurückzulaufen, um das alles dieser Journalistin ins Gesicht zu schleudern und den anderen ein Telegramm
zu schicken: Ich komme in eure warmen Arme, meine Freunde! Auf Wiedersehen!... Gott ist Liebe!...
56
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
¹...º
Jemand wird sagen, mit Recht: Warum sich so sehr mit menschlichen
Makeln beschäftigen? Sollen sie doch
so sein, wie sie sind. Jeder möge sich
um seine Sachen kümmern und die
anderen in Ruhe lassen!
Es wäre wirklich wunderbar nach allem festzustellen: Das sind Kleinigkeiten, sie sind alle gut und alle sollen akzeptiert werden!... Oder: Sie
sind alle schlecht und das ist normal.
Man soll allen vergeben, mit ihnen
in Frieden und Liebe leben und zusammenarbeiten!... Ja, von wegen.
Gutnachbarschaft auf zehn Milliarden einsamen Inseln!
Jene, die anderen Rezepte zum Leben ausstellen, sollte man auf schimmliges Brot und verseuchtes Wasser
setzen. Wie soll ich mit jemandem
Umgang haben, der mir anonyme
Briefe schickt? Zusammenarbeiten
mit jemandem, der einem Journalisten aus einer anderen Republik alarmante Informationen über mich gibt
und mich verleumdet, nachdem er
auf der Gitarre mein Lied gespielt,
sogar mein Honorar erhöht hat, und
für mich wer weiß was für eine Überraschung in „Zven~a“ vorbereitet hat
– wo er mich auf den Dachboden
setzen wollte wie eine Versuchsmaus
in die Mausefalle?
Die Institutionen – die uns Rezepte
bringen – lösen das auf die für sie
bequemste Weise: Bist du ein Ungehorsamer, schickt dich die Kirche in
die Hölle, der Staat ins Gefängnis,
die Schule schmeißt dich raus, die
Familie sagt sich von dir los. Auch
die Menschen sind – deren Beispiel
folgend – verdorben und haben die
Regel übernommen: Nicht das Problem lösen, sondern die Quelle des
Problems loswerden!
Ich würde das heute nicht schreiben,
wenn ich so vorgegangen wäre. Das
Leben besteht für mich aus einem
ununterbrochenen Lösen von Pro-
blemen. Dieses werde ich vielleich
nicht erfolgreich lösen können, aber
ich erreichte wenigstens, dass sich
damit auch die Leser beschäftigen.
Eines Tages werde ich einen anonymen Brief bekommen: Wir lieben
dich unsäglich... aber hör auf, über
uns zu schreiben!...
Hier, Zagreb ist schon ganz nahe
und ich habe mir drei Dinge auf
einen Zettel aufgeschrieben, die ich
beim Treffen mit Helada klären
muss. Erstens: Dass sie mir sagt, was
mit der Beschaffung eines Playbacks
aus Ljubljana los war, für das noch
nicht existierende Theater Pimbako.
Zweitens: Dass sie mir die Kopie des
Dokuments über das Einreichen unserer Forderung an das Kulturkomitee
gibt. Und drittens: Dass sie mir das
Band – die Kassette? – meines gewissen Monologs vom Geburtstag, ihr
provokatives Gespräch mit mir, in
Anwesenheit einer Person, die ich
nicht kenne, entweder zurückgibt
oder es überspielen lässt. (In jenem
Staat konntest du nicht einen Bekannten besuchen, ohne dass du auf
einen Unbekannten triffst, der diskret auf einem Stuhl hockt, in der
Ecke neben dem Fikus, und der nur
beobachtet, schweigt und im Gedächtnis speichert.)
Erst dann werde ich ruhigen Gewissens entscheiden, was am besten ist.
Wenn das Maß voll ist und man nicht
weiter kann – muss man von vorne
anfangen zu messen, aber mit einem
anderen Maß.
Arme Himena! Jetzt werde ich auch
sie auf dem Gewissen haben, zusammen mit Helada und Rada, denn ich
steckte auch sie – die bisher Unberührbare – in die Besserungsanstalt.
Zum Glück weiß man nicht, wer sie
ist, wenn sie eine Lehrerin ist, könnte ihr das schaden.
Ein winziger Hauch von Naivität –
neben allen unternommenen Sicherheitsmaßnahmen – blieb trotzdem in
RELA
TIONS
einem Winkel meines Herzens und
wünschte sich das Unmögliche: Dass
morgen, wenn ich aufwache, alles,
sogar dieser Gang im Juni zum [ubi}evac – hinter mir sei, gerade mal wie
ein Sommernachtstraum und Puck
lacht hinter dem Baum unter dem
Fenster, dreht mir eine lange Nase
und streckt die Zunge raus.
Hier kommt Borongaj... oder ist das
schon die Ölfabrik, Überführung, Unterführung... Über diese Stadt sollte
man sich von den Wolken herabsenken, auf Leitern aus Seifenblasen und
den Tigern von Maksimir in die
Arme fallen...
Schön ist es überall, aber zu Hause
am schönsten – sagen viele, die es
auch zu Hause nicht schön haben.
Hätte ich es zu Hause schön gehabt,
als ich ein eigenes Heim haben wollte, würde mir heute das Weggehen
und Zurückkommen vielleicht ganz
anders erscheinen. Wenn ich, der in
den schönsten Jahren niemand auch
nur eine Blume geschenkt hat, jetzt
bei der Rückkehr eine aufgeräumte
Wohnung wiederfinde und auf dem
Tisch in der Kristallvase einen Strauß
Irise, Lilien und schneeweißer Rosen, wenn mich jemand umarmt und
ich in seinen Augen das Glück sehe,
das aus tausend und einem Märchen
vom Ufer des Tigris entspringt...
Meine orientalische Extase unterbrach
das Zwitschern eines Vögleins, das
in die Speisekammer eingeschlossen
war. Adnan sprang hin und brachte
einen Käfig mit einem Wellensittich
ins Zimmer. Er lachte von Herzen:
– Ich weiß, dass du keine Vögel im
Haus magst, ebensowenig wie Blumen auf dem Tisch, wo ein Haufen
von Papier liegen muss, aber um dich
aufzumuntern: Diesmal ist es ein
Käfig und nicht Krle`a und dem
Wellensittich habe ich schon beigebracht zu sagen... Hör mal!
Und er lehnte sein Gesicht an den
Käfig und ich hörte einen tiefen, so-
RELA
TIONS
noren Bas: Ves-na... Ich weiß nicht,
wann und wie er das eingeübt hat,
doch der Sittich pickte ihn in die
Nase und sagte statt mir zu ihm:
– Trottel, bei wem willst du mich
lassen, wenn du weggehst? Sie liebt
ihren schwarzen Kater und wird mich
ihm geben, damit er mich frisst!
– Ich habe keinen schwarzen Kater –
entgegnete ich dem Vogel – er ist
ausgedacht und du bist ausgedacht.
Alle die man liebt sind ausgedacht,
um sich auch weiter die, die sich
lieben, ausdenken zu können. Gleich
wird dich Adnan zurück in den Laden bringen!
– Und dir einen Raben im Käfig
bringen, wenn du dich so anstellst! –
entgegnete Adnan. – Hast du mir ein
T-Shirt mit der Aufschrift [ibenik
mitgebracht?
Der Drang zu schreiben – du kennst
weder seinen Ursprung noch seine
Mündung – ist manchmal stärker als
der Drang nach Selbsterhaltung. Adnan hat, während ich weg war, drei
Gedichte auf kroatisch geschrieben
und sich in sein Zimmer verzogen,
um sie ins Arabische zu übersetzen.
Als ihn sein Bruder Issa aus Damaskus besuchte – Issa ist Jesus und auf
Griechisch hieß so die Insel Vis –
zeigte ihm Adnan mein Gedicht „Du
deren Hände unschuldiger sind“, das
in der arabischen Übersetzung im
„Bridge“ veröffentlicht wurde. Noch
nie hat mich ein Kritiker so bitterlich
enttäuscht. Adnan, der alle Anathemen meines Lebens kennt, war es
vollkommen klar, er fand keinen
Makel. Issa jedoch konnte schon
nach den ersten paar Versen seine
Bestürzung nicht verhehlen und beim
Weiterlesen rötete sich sein bleiches
Gesicht. Er starrte mich mit Unverständnis an.
– Wenn dass ein Mann über eine
Frau schreiben würde, die er von
Halunken und Räubern beschützt
30
Unabhängiger Staat Kroatien
Dossier: Vesna Parun
hat – sagte er wütend auf Englisch –
wäre es in Ordnung. Aber wie und
womit kann ein junges Mädchen,
während der Krieg tobt, einen Mann
beschützen... einen Soldaten wahrscheinlich... und all das sagen, über
ungeborene Kinder, über andere Frauen, die ihn mehr lieben werden...
Issa hatte Recht, ich weiß, aber das
ist eine andere Welt und meine Jugend tauchte zu einem schlechten
Zeitpunkt und an einem schlechten
Ort dieser Welt auf... Als wir ihm
alles erklärten, standen in seinen hellen Augen Tränen. Obwohl bei ihnen ein Mann einer Frau, mit der er
nicht verwandt ist, nicht die Hand
reicht, drückte er meine fest. Er und
seine Frau Hana verliebten sich schon
beim Medizinstudium und haben
sieben Kinder. Was würde wohl Hana
über die traurigen Bärchen aus meinem Gedicht sagen?...
¹...º
Die Tür von Adnans Zimmer war
halb geöffnet. Ich spähte hinein. Er
schlief. Gesund und fest und das erfüllte mich mit auf dieser Welt für
mich einzig verständlichem Glück.
Ich näherte mich dem Tisch mit der
Landkarte. Im Flur machte ich die
Glühbirne an, um sie ein wenig zu
beleuchten, von der Seite, und das
Meer darauf schien sich zu regen, zu
raunen. Ich blickte auch auf Adnan.
Er knirschte anfangs in der Nacht
mit den Zähnen, als ob eine Welle
mit Muschelschalen auf einem Felsen kratzen würde. Jetzt nicht mehr.
Er mumelt manchmal etwas auf Arabisch, manchmal auf Kroatisch. Dann
kann man ihn auch etwas über die
Menschen fragen, über Ereignisse
und er wird antworten...
Jetzt hatte ich keine Fragen an ihn.
Wir waren hier, zusammen, Vergan-
57
genheit und Zukunft waren eins. Ich
strich mit der Hand über die Landkarte, vom Meer nach Zagreb – bei
der Rückkehr von der Reise tue ich
das mit jener Frömmigkeit, mit der
man einem lieben Verstorbenen die
Augenlider schließt.
Wird er je wieder an dieses Meer gehen, dachte ich, werde ich je von einer Reise zu jemandem zurückkehren;
dieser zerbrechlicher Reichtum, wird
er zerfallen, die Sinne taub werden, die
Augenbrauen, die der Mondsichel
gleichen, nur noch ein abgeschnittener Fingernagel der Sonne sein?
Mein Blick fiel auf den neuen Ofen,
den er schon in die Ecke neben dem
Fernseher gestellt hatte. Und eine
Tonvase vom Tisch darauf setzte und
den Tisch mit Papieren bedeckte.
Ich weiß nicht, was in ihnen steht,
Vorlesungen aus dem vergangenen
Halbjahr? Und hat er vor, wieder
Segelschiffe zu zeichnen? Was es auch
sein mag, seine Freiheit, zu sein, was
er ist, stärkt mich, dass er wählen
kann, erkennen, warten. Dass er lieben kann.
In früher Jugend – als ich noch den
ersten Liebesschauder erwartete –
war das Ende des Monats Juni die
erblühte Heimlichkeit der Extase.
Das verwandelte sich schnell in eine
Zeit der schwarzen Lebensfrüchte. In
der fatalen – sowohl für die Welt als
auch für mich – Nacht zwischen dem
21-sten und 22-sten Juni 1941, im
dritten Stock des Hauses in der Straße Ilica Nummer 100, in Zagreb, in
der Praxis von Doktor R. H., eines
Juden, beim Rauch der Scheiterhaufen der NDH30-Inquisition verabschiedete ich mich für immer mit
der Mutterschaft. P. B. aus Bol, dessen Sklavin ich von meinem sechzehnten bis zu meinem dreiunddreißigsten Lebensjahr war, war der Vater. Das Gedicht „Du deren Hände
58
Vesna Parun: Eine Nacht für Bosheit
unschuldiger sind“? Die tragischste
Wahrheit meines Lebens, mit einem
Titel, der eine unverzeihliche Selbstanschuldigung ist. Ein altchristliches
somnambules Opfer.
strich, vereinigten sich in einen Akkord des Friedens.
Die Liebe ist eine Landkarte der Seele. Meine Landkarte. Gott, entreiße
sie mir nicht!
Zagreb – Stubi~ke Toplice
Juli 1999 – Januar 2001
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
Foto: Jakob Goldstein
Ich war eine Ähre unter der Sonne,
die reift, damit sie in der Mittagshitze die Vögel leer picken und die Feldmaus abnagen kann. Der Herbst
schmückte mich mit ausgetrockneten Blättern und der Winter richtete
meine zertrampelte Seele mit der
Peitsche auf. Der frühmärzliche Besuch bei der Landkarte auf dem Tisch
des Zimmers, in dem mein Erlöser
schlief – als mir der erste Schauer des
Frühjahrs die Füße streichelte – und
dieses Ritual von vorhin, als ich mit
der Hand dem Meer über die Augen
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Dossier: Vesna Parun
Gedichte
Vesna Parun
Unsere Kindheit ist an allem Schuld
Einsam sind wir aufgewachsen, einsam wie Pflanzen.
Nun sind wir Forscher, auf Entdeckungsreise
In der verwilderten Landschaft Phantasie,
nicht geübt im Gehorsam gegen das Böse.
Aufgeschossen sind wir entlang der Chausseen,
mit uns gemeinsam wuchs die Angst
vor wilden Hufen, die uns niedertrampeln,
vor Grenzsteinen, die unsere Jugend spalten.
Keiner von uns hat zwei heile Hände,
zwei Augen, unversehrt. Und ein Herz,
darin nicht die Klage hauste.
Die Welt kam herein mit grellen Tönen,
schlug Wunden in unsere Stirn
mit dem Geklirr ihrer tödlichen Wahrheit,
mit dem Lärm verspäteter Sterne.
Wir werden alt. Und Märchen gehen uns
wie Herden, die zum fernen Feuer drängen.
Auch unsere Lieder sind wie wir:
Voll dunklen Sinns und traurig.
¹R. S. Baur º
59
60
Vesna Parun: Gedichte
Das Haus auf der Straße
Ich lag im Staub an der Straße.
Ich sah nicht sein Gesicht.
Er sah nicht das meine.
Die Sterne stiegen herab, die Luft war blau.
Ich sah nicht seine Hände.
Er sah nicht die meinen.
Der Osten wurde grün, eine Zitrone.
Ein Vogel schrie, ich öffnete die Augen.
Da sah ich, wen ich geliebt
mein ganzes Leben lang.
Da sah er, wem die armen
Händen er gestreichelt.
Und der Mann nahm sein Bündel und weinend
Machte er sich auf den Weg in sein Haus.
Sein Haus ist der Staub auf den Straßen,
das ist auch mein Haus.
¹H. Pataki º
Die Zeugen
Diese Welt begriff noch nicht.
das große Geheimnis Kindheit.
Warum ruft ihr Kinder vor dieses Gericht,
wo der Mensch den Menschen richtet,
der Heimatlose den Heimatlosen;
wozu ruft ich Zeugen auf?
Es soll keine Blume mehr
Blumen gebären
es soll kein Märchen mehr
Märchen gebären.
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Dossier: Vesna Parun
Nicht Blume noch Märchen verstanden wir
und achten nicht die schuldlosen Bäume.
Wozu zeugen wir
Zeugen?
¹H. Pataki º
Epitaph
I
Weder die schweren Mühlsteine der Hoffnung noch das Rauschen des Meeres
Die geballte Unruhe des Lebens, die sanften Augen der Liebe
Schmerzbereit
Sie ließen uns nicht
Sondern uns verzehrt
Die Vergänglichkeit, der leere Fluss
Der aus unserem Herz
Namenlos hervorströmt
II
Könnte uns doch das hohe Gras sagen
Ob der Schuss, recht hatte
Der uns aus dem Sattel warf; könnte uns
Das hohe Gras doch sagen
Wer uns niederwarf
Und warum wir nun lachend daliegen
III
Wir haben dich geliebt, du hohes Gras,
Sag ihnen das
Hohes rauschendes Gras wir haben dich geliebt
¹R. S. Baur º
61
62
Vesna Parun: Gedichte
Der Bruder
Nacht ist in meinem Leib, Nacht ist in den Wolken
Trauer in meiner Kehle, leiser denn Mondschein.
Wind tröstet mich traumbefangen, reicht zerstreut mir die Hand,
Meiner Trauer jedoch gibt es kein Vergessen.
Durch Stein blicken meine Augen, sie folgen den Stimmen von Knaben,
von Knaben, die irgendwo ihre Herzen verströmen.
Ein verlorener Quell, wer wird ein Lied ihm reichen,
Wer haucht dem Falter, dem toten, neues Leben ein?
Klar bist du vorhergewandelt, liebtest die Milch und das Leben.
Jetzt bist du nicht mehr. Keiner weiß wo. Blut ist namenlos.
Keiner weiß wo. Rot nur leuchtet das Blut, blind, ach, und ohne Namen,
Blut der Hirschkuh im Wald – eins mit dem Blut meines Bruders.
Eins ist jetzt alles und nah, denn die Erde ist Mutter.
Freude gibt sie und Leid – ein Leid nur und nur eine Freund.
Sie kennt keinen Hass: gab uns Leben gleich einem schönen Wunder.
Warmes Blut, das liebt, sanftes Blut, das klagt.
Wie sollte ich den Bruder vergessen, die Hirschkuh, o schwarze Erde,
Du meine schwarze Erde, du meine zerrissenes Land?
¹ I. Jun-Broda º
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Dossier: Vesna Parun
63
Foto: Jakob Goldstein
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64
Vesna Parun: Gedichte
Gong
Augenblicke meines Lebens – Kugeln des Rosenkranzes
In der löcherigen Dämmerung sich kreuzender Schatten –
Kann ich jemals den Durst stillen
Nach dem Licht, das ihr verlasst
Eine Vogelscheuche, eine Zeitenscheuche
Hebt und senkt nur die Brauen
Wenn wir alle Uhren verschlucken
Werden wir dann unsterblich werden
Juweliere, könnt ihr
Ein lebendiges menschliches Herz anfertigen
Das um Hilfe schreit
¹R. S. Baur º
Lied an die Republik
Rost zerfrisst die Jahrhunderte. Doch die Völker wachsen und gehen.
es fließen die Jahre dahin – Galeeren voll Sklavenherden
und Richtstätten, aufgerichtet
mitten im Korn.
mehr Blut als Regen und Wassernot,
mehr Tote als Mondfinsternisse.
Baumstämme wachsen, vermehren sich...
Es zittert der Mensch vor dem Blitz,
Balken behauend
Für die Hallen der Herrscher.
Bis zum Gürtel im Teer, bis zum Hals in Nesseln,
breitschultrig das Volk in rauchgeschwärzten Opanken,
Schäfer, dem Wolf verbrüdert,
seinen Namen hat er vom Schneesturm,
vom blutgefärbten,
und von Schellengeläute
und von der Erde, der zu fronen
so schwer.
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Dossier: Vesna Parun
Doch wie viele sind da, ihr zu fronen! Aj, du Lika!
Hungere nur, Volk ohne Zahl. Des Königs Papiere wachsen
Stell auf der Börse. Für dich jedoch Hacke und Spaten,
und wurmt’s dich, weit ist, Bruder, die Welt!
So geh doch in Gottes Namen,
die Pampas warten:
Amerika!
Wo ist die Börse hin, Spiel und Turnier der Ritter?
Träumt euch, ihr Herren? Alles ist heute
die Republik:
Korn und Viehzucht,
Alphabet und Stahlproduktion.
Und morgen schon siehst du: Traktorenstation,
Dampfmühle, Grundriss des Kraftwerks
anstelle des Traumbuchs.
Entrolle die schwere Landkarte, den Traum von der Tiefe,
der Erde gelbes Netz!
Miss ab: acht Finger breit dehnt sich Europas Südosten!
Reiß ab die Dynastie, lösch die ganze Rubrik,
ein neues Gerüst, ragt auf, nenn’s, wie du willst –
wir haben die Republik!
Die Schwester
Nacht ist in meine Leib, Nacht ist in den Wolken,
Trauer in meiner Kehle, leiser denn Mondenschein.
Wind tröstet mich traumbefangen, reicht zerstreut mit der Hand,
meiner Trauer jedoch liegt nicht daran zu vergessen.
Durch Stein blicken meine Augen, sie folgen den Stimmen von Knaben,
von Knaben, die irgendwo ihre Herzen verströmen.
Ein verlorener Quell, wer wird sein Lied betrauern,
wer haucht dem Falter, dem toten, neues Leben ein?
65
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Vesna Parun: Gedichte
Klar bist du vorübergewandelt, liebtest die Milch und die Erde,
jetzt bist du nicht mehr, keiner weiß, wo: Blut ist namenlos.
Keiner weiß, wo. Rot nur leuchtet das Blut, blind ach – und ohne Namen.
Blut der Hirschkuh im Wald ist eins mit dem Blut meines Bruders.
Eins ist jetzt alles und nah, denn die Erde ist Mutter.
Freude gibt sie und Leid: ein Leid nur eine Freude.
Die Erde kennt keinen Hass, gab Leben uns gleich einem Wunder:
warmes Blut, welches liebt, sanftes Blut, welches weint.
Wie sollt ich den Bruder vergessen, die Hirschkuh, o schwarze Erde,
du meine schwarze Erde, du mein zerrissenes Land!
Dreizehn Kummer
Dreizehn Kummer trieben der Korana Wasser hinab,
dreizehn Sklavenzüge, dreizehn Schiffe, mit Ketten beladen voll.
Dreizehn Städte der Trauer, so vieler Sklavenheere Grab,
so viel bleiernes Dunkel, großer Heerführer Zoll.
Und dreimal hohe Gebirge, wunder Riesen Gestalten,
dreimal blutig Gewässer und Meer,
hundertfach Rabenscharen, hundertfach finstere Spalten,
dreizehn grüne Kummer und eine Sternenmär.
Eine Sternenmär-rostfarbenen Himmels ein Stück.
Zertreten die schwarze Nacht, die Kummer von gestern, von einst.
Für dich tanzt mein Herz, o Land, singt von dir voller Glück,
ob du schon Regenbogen oder ob du noch weinst.
Eisig war der Frost, bitter des Wermuts Blut,
um so süßer der Tau, schimmernder die Perlen gereiht...
Schlaf, gutes Land, in deiner Söhne Hut,
dein Morgenrot-taufeucht und sternbesät-wird still von ihnen bereut.
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Dossier: Vesna Parun
¹Fragmenteº
Purpurne Vision von Feuern und Festen,
im Heu die Grille.
Stille.
Sommer, fruchtschwangerer Regen.
Warme Kühe, Mondscheingarben.
Mädchen sticken in mattgoldnen Farben
Rosen für traurige Hochzeit.
Am Eliastag sucht Blitz die Ernte heim,
und Weihnachten
sind verödet die Höfe,
und weiße Schneestürme wehen.
Unhörbar brennt die dicke Kerze,
die Augen suchen:
Karpaten
dahinter
Russland.
Sie können nicht lesen, die Alten, Könnten sie’s,
läsen sie
nachdenklich:
es fiel einer,
rauben wollt er die Neretva,
das unruhige Wasser,
leise wie eines Tannenzapfens Rascheln.
Sagt den Mädchen aus den gelben Ebenen:
dies Land
ist ein grimmiges Land,
grimmig wird hier gestorben.
Eins ist das Blut vom Peipus bis Toledo.
Rote gestickte Rosen, Johannisfeuer.
Woher, o Land,
die Namen deines Gesteins
und deiner Gewässer, so klar,
dass sie den Himmel doppelt spiegeln?
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Vesna Parun: Gedichte
RELA
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Eins ist das Blut vom Peipus bis Toledo.
Die Korana fließt es hinab.
Stickt rote Rosen verbrannter Jugend
Auf Aschen, auf Herbstblätter,
Wolken.
Foto: Jakob Goldstein
Die Krähen scheuen vor dem Schatten der
Bomber,
der Mensch vergisst,
dass er Kind war.
DBC Pierre beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
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Dossier: Vesna Parun
Nur ein Herz, ein einziges, hat er,
und gibt es der Sonne.
Der Maiensonne, dass sie glühender strahle
und die Erde
Liebe werde.
O mein Volk, wie viele Klippen noch
bis zur Freiheit!
–––
Verkleidet
Als Echsen,
Schildkröten,
Krokodile,
Werwölfe,
in Rudeln
auf Schienen reitend,
motorisierten Besen,
auf Ziegenböcken
aus Gummis,
vermummter Mörder
Walpurgisnacht.
Den schimmernden Kopf im Mondschein
bewegend
des Krieschtiers Heer,
gespenstisch Band.
Räderkreischend kichert zahnlose
Klapperschlange,
Beelzebub:
Hordenrauch,
Kanonendonner,
dröhnende Gongs
des Dritten Reichs.
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70
Vesna Parun: Gedichte
Baum
„Sei Baum!“ sagtest du.
Und ich war ein Baum.
„Sei scheu!“ sagtest du.
Und ich wagte kein Blatt zu bewegen.
„Sei treu!“ sagtest du.
Und ich wartete.
Dann hülltest du dich in Schweigen.
Der Baum steht aber immer noch da
Und wagt nicht ein Blatt zu bewegen.
Altertümliches Lied
Fest schnallte ich den Gürtel, Mädchen mein,
schnallte fester den Gurt, kein Sonntag ist’s.
Sen schwarzen Rappen sattelte ich, Wiese mein,
den Rappen sattelte ich, Wiese du –
Blickt in den tiefen Brunnen, Trauer mein,
tief in den Brunnen blickt’ ich, weißt du’s noch?
Erhob sich ein kalt Windstoß, Äpfelchen mein,
kalter Windstoß, frühreifes Äpfelchen du.
Kräuselte das Wasser im Brunnen still.
Trübte mein Antlitz im Dämmergrau.
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Dossier: Vesna Parun
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Schule für Landstreicher
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Wer bin ich? Und wo? Zur Musik des Stubs
wird der Tag noch länger – und die Nacht noch tiefer.
Steppe schläft. Für ein Zweigelein regennassen Laubs
singt die Nachtigall ihr Liebeslied.
Wo bist du? Und wer? Dein Gesicht zeigt nackt,
Schatten eines Menschenschattens, halt! Bleib stehn!
Will dir regungslos ins Auge sehn,
ich, im Augenlid der Erde ein schneller Katarakt.
Mach mich, o Schritt, zu finsterem Kristall,
drin sich gleißend eine Welle bricht,
bin kein Wesen mehr, bin nur ein Strahl von Licht.
Meine Freiheit steht unmenschlich und allein
mitten im entweihten Tempelsaal
wie eine eben erst verlassene Gruft – leer und rein.
Foto: Jakob Goldstein
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Petri Tamminen beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
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Vesna Parun: Gedichte
Drei Inseln
Drei Inseln mitten im Meer,
eine schroffer als die andere,
eine leidenschaftlicher als die andere von Zikaden besungen,
von Pinien umrauscht.
Die erste eine Schlange, zum Knäuel eingeringelt,
die zweite ein glänzendes Schwert, aus der Scheide gezogen,
die dritte ein offener Sarg, auf den Wellen schaukelnd.
Alle drei verwunschen. Alle drei gesegnet.
Alle voll tiefer Höhlen und Kiesel,
steiniger Landzungen.
Uralte Schatzkammern voller Erfahrung im müden Stein,
dessen Schicksal von niemandem noch enträtselt.
Alle drei bissen mit steinernen Zähnen in mein Herz!
Alle drei peitschten mich mit Salz,
mit grünem Rosmarin verletzten sie mich.
Die erste ist bekannt für grimmige Kämpfe
und rote Weinkufen.
Die zweite für sonnige Weglosigkeiten des Winters, auf denen
Delphine spielen.
Auf der dritten, mit weißem Marmor eingefassten,
weiden Wildschafe und fürchten den Tod.
Drei Inseln mitten im Meer.
Eine verwunschener als die andere,
eine leidenschaftlicher als die andere von Zikaden besungen,
von Pinien umrauscht.
¹Hvar, 1971º
Telegram, 26. 11. 1971
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Dossier: Vesna Parun
Gedicht für einen alten Piratensegler
Alles was du besaßest, o Erde, gabst du mir,
die durchsichtige Luft und den standhaften Stein.
Die Winde und ihre grünen Mündungen.
Nicht umschlingen kann ich all deine Meere,
deine gläsernen Meridiane nicht zerschlagen,
auch die Korallengemächer, die Terrassen der Inselwelt nicht,
die Pelikan-Siedlungen, Ruder und Kiemen,
die stürmischen, tosenden Hochzeiten fröhlicher Wale.
Festland und Meer wurden in meinem Blut vollendet.
Bin ich ein Segler – wer nähte mir Segel?
Bin ich ein Drache – wer entwarf mir die Flügel?
Vor meiner Ankunft besaß ich nichts,
abfahrend bin ich schwer beladen.
Sieh, zehn Kamele tragen meine Morgen,
sieben alte Elefanten ziehen langsam
die Truhen meiner Monate, einen Berg
bleierner Geheimnisse, eine Liebe,
verankert im lebendigen Meeresboden
zwischen rostigen versunkenen Blitzen,
weißen Schwämmen und gierigen Seeigeln.
Am Seil des Mondscheins hängend
verabschiede ich mich von meinen Trugbildern.
Bin ich ein Segler – wer nähte mir Segel?
Ich entferne mich so reich, so erwacht.
Vielleicht kehre ich wieder, die Ufer zu betrachten,
die mit Meerschaum bedeckt,
mit Perlenmusik, mit der riesigen fahlen
Sonne, eingespannt in Salzgärten, in Laternen,
sich in den Herzen der Piraten,
im Weglosen der Erinnerungen befinden.
¹1963º
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Vesna Parun: Gedichte
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Das Gesicht im Schatten
Ich vergaß seinen Namen, aber ich weiß, dass die Vögel ihn gern hatten;
und dass sein Lächeln reizend war, daran erinnern sich meine Augen.
Auch jetzt gehen die Menschen den Kai entlang; ich blicke mich nicht um,
vertieft in das Flüstern verhallender Stürme.
Vergaß nicht auch die Möwe ihren toten Kameraden, warum trauerst du?
Ihren Felsen vergaß die Möwe, Süden und Norden kennt sie nicht.
Den Vorhang zog ich noch nicht vors Fenster, noch hat das Meer sich nicht beruhigt.
Tadle, o Wald, mich nicht mit deinen Wipfeln; ängstige, o Wasser, mich nicht mit deiner Tiefe!
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Flügel der Leere
Ich stehe auf der Schwelle. Das Haus warf mich
aus seiner Erinnerung.
Die Zeit kann mich nicht
wieder annehmen.
Ein wenig werde ich noch nachdenken,
dann aber
wende ich mich um
und breche in Gelächter aus.
Ein Gelächter, aus dem die Flügel
aller Sterne erschaffen wurden
in der endlosen
Leere
des Alls.
¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º
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Dossier: Vesna Parun
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Gedicht in Form eines Gebets
Guter Geist meines feurigen Lebens, erhöre mein Gedicht in Form eines Gebets,
in Form eines Brunnens, der nie versiegt. Mein Gedicht, gerichtet an die Verachteten.
Den ins Gras Verliebten habe ich seit langem nichts mehr zu sagen, und den in den
Vogelflug Verliebten kann ich nicht helfen ihren kindischen Traum zu vergessen.
Aber denen, auf die der Zorn des Himmels und der Erde hinabstürzte, blicke ich
in die Augen, denn ihnen verdanke ich den morgigen Tag.
Wegen ihnen werde ich die Wabe des Lebens in Stückchen schneiden und jedem
eine goldene Biene aus meiner Brust vermachen.
Guter Geist meines feurigen Lebens, verwahre meine bitteren Wünsche in einem
urtümlichen Kästchen der Winde und stelle es an einen dunklen Kreuzweg, damit das
Geheimnis eines jeden daraus erstrahle.
Sorge dafür, dass mich alle verlassen, die in mir eine Bestätigung für ihre süßen
verlockenden Irrtümer suchen.
Gib, dass ich immer von neuem meine Ruhe verliere und finde, die für mich
unentbehrlich und schwer und fremd ist.
Es war ein heißer, endloser Sommer.
Komm, Geliebter
Wer auf dem weiten Meer lenkt meine Sehnsüchte
und treibt meine Augen in die Wildnis?
Mich quält ein Lächeln, an das ich mich erinnere.
Mich quält eine Gestalt, nach der ich mich sehne.
Blickt in meine Erinnerungen, so werdet ihr sehen,
es ist nicht e i n e Gestalt.
Es ist nicht e i n e Leidenschaft.
Nicht nur ein einziger Ruf,
ein einziger Wirbelsturm,
ein einziges Gebet,
das mein ferner Jupiter hört
und lächelt.
Ferner Gott,
falls auch dein Haar dem Gras ähnelt
und deine Schenkel denen des Hirschen,
erlaube mir, ihre Wälder zu lieben,
ihre Stirnen und ihren Gang,
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Vesna Parun: Gedichte
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der uralt und einzig ist
auf diesem bebenden Stern.
Erlaube mir, deine Welt so zu lieben,
wie ich es möchte.
Auch wenn zuletzt alles in Schmerzen endet.
Auch wenn zuletzt alles zu Wildnis wird.
Meine Wildnis wird üppig sein
vom wachen Lied der Weiblichkeit, erdichtet
zum Ruhm des Körpers, der stirbt,
und des Herzens, das unsterblich ist
wie der Stamm der Agave auf dem Felsen,
geschunden von der Gier des Meeres.
Auf dem Felsen: der weißen Brust, getaucht
aus der Trauer des uralten Ozeans.
Wenn du die Erde bist und ich eine Frau, geschaffen
für den Irrsinn der Pflanzen und den Traum des Pflügers,
dann wollen wir deine und meine Lieder singen,
wollen fruchtbar sein, hellsichtig und unsterblich.
Auf dass wir eine neue Sanftheit der Welt gebären.
Ein neues Heiligtum der Güte. Wach auf,
ferne Flöte. Komm, Geliebter!
¹Ropstvo – Sklaverei, 1957º
Das Kind und die Wiese
Nur das Kind spürt deutlich im Moos das Glitzern
des baldigen Frühlings, das Zwitschern im Gefieder des Eisvogels.
Es läuft mit den Bächen um die Wette, küsst sonnen beschienene Fichten, und seine Augen
nehmen die Farbe des nahen Hügels an.
Das Kind kann mit seinem Lachen die Schönheit des Morgens wecken
ohne auf die Dauer des Klanges zu achten,
der zufällig im Wind zerriss.
Kinder sind das Echo erloschener Dinge.
Nackt und rein wie ein Fischteich sehen sie sich
im Auge der Wiese, im Netz der Spinne.
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Dossier: Vesna Parun
Foto: Jakob Goldstein
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Zoran Lazi} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
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Vesna Parun: Gedichte
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Ein echtes Gedicht
Ein echtes Gedicht hätte man vor langer Zeit schreiben müssen,
als die dunklen Urnen des Lebens noch im vergoldeten
Zenit des Sommers standen, unbeweglich,
und die Klänge der Tiefen
sie nicht berührten.
Als das Schweigen bitterer war und die Worte leichter,
und die Gedanken sich mit den Gedanken
wie Sonnenstrahlen in den verzauberten Räumen des Südens trafen.
Ein echtes Gedicht hätte man vor langer Zeit schreiben müssen,
um es den Menschen zu geben, die es verachten würden,
und hätte ohne es weitergehen müssen,
um sich im Dunkel
nach ihm umzusehen.
Aber ein echtes Gedicht hätte uns mit sich
in seine Wirklichkeit fortgeführt,
dort wo die Bäume erfrieren und wo
tote Menschenaugen groß wie Seen wachsen.
Ein echtes Gedicht würde uns ertränken
in diesen Seen, in diesen Augen, den großen, toten,
in diesen Urnen, die langsam vom Zenit herunterstiegen,
um sich im Kreis um unser Herz zu gruppieren,
mit der Anmut der Nachtigall
seine Asche zu sich rufend.
¹I prolazim `ivotom – Und ich gehe durchs Leben, 1972º
Schlaflied
Ihr lieben Fernen, heilt mir die schweren noch wachen Augen
mit einem Lied vom Märchenwald, einem Lächeln in der Umarmung,
einem Gespräch einsamer Boote in schattigen Häfen.
Tragt mich, ihr weißen Arme, zur Kindheit an die klingende Küste.
Ach, dort werde ich vielleicht nur den Duft der alten Bäume finden,
das Zischen des Meeres, besorgte Augen, rauchigen Jugo.
Den Grund des Brunnens werde ich nicht finden. Auch nicht den Rand der Sterne.
¹Vidrama vjerna – Den Fischottern treu, 1957º
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Dossier: Vesna Parun
Wenn du in der Nähe wärest
Wenn du in der Nähe wärest, lehnte ich meine Stirn an deinen Stock,
und lächelnd umschlänge ich deine Knie.
Aber du bist nicht in der Nähe, und meine unruhige Liebe zu dir
kann keinen Schlaf finden im nächtlichen Gras,
nicht auf den Wellen des Meeres, nicht auf den Lilien.
Wenn du nah wärest. Wenn du wenigstens so
unbeständig nahe wärest wie eine Regenwolke
über dem einsamen Haus im Tal.
Wie über dem bleigrauen Meer der Schrei einer Möwe, die
vor dem kommenden Sturm ängstlich in den Abend fliegt.
O, wärest du wenigstens so traurig nah
wie eine Blume, die mit geschlossenen Augen
unter einer weißen Schneedecke schläft, in der Stille
steinerner Wälder den Frühling erwartend.
Wenn du nah wärest, o, meine kalte Blume.
Wenn du nur mit einer Bewegung in der Nähe
meiner freudlosen Gärten wärest,
die schon verdorren, erschöpft vom langen Wachen.
Aber es ist Nacht, und die Welt ist fern,
und ich weiß nichts von deiner Ruhe. Meine Vögel
flogen von deinen Ästen. Und der Glanz des frühen Morgens
verschwand für immer aus meinen Augen
in die verletzte Erde des Vergessens,
in der der Name Liebe unbekannt ist.
¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º
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Vesna Parun: Gedichte
Eifersucht
Ich weiß, dass Orkane tausendjährige
Bäume entwurzeln.
Ich weiß, dass Rost die Flanken
von Ozeandampfern zerstört.
Ich kenne das Toben, über die Ufer getretener Flüsse,
und das Brüllen der Löwen vor einem Erdbeben.
Ich weiß, dass Termiten in Australien
Schäfersiedlungen untergraben können.
Und Heuschreckenheere, die gen Norden ziehen,
die Sonne verdunkeln.
Aber ein Übel kenne ich,
das schlimmer ist als alle Unwetter,
als das Tosen reißender Ströme,
als Heere von Heuschrecken.
In unserem Herzen brennt ein Feuer,
das von zwei uralten mit Binsenmatten
bedeckten Teufeln bewacht wird.
Dort rührt in kupfernem Kessel
eine grünäugige Zauberin das stärkste Gift,
das die verzweifelte Phantasie der Liebe erdacht hat.
Das ist die Eifersucht.
Ich habe Angst, dieses Wort voll Grabesluft
und Fäulnishauch auszusprechen.
So wie ein Kuckuck im Nest
eines zarten Vogels aufwuchs, hat die Eifersucht,
die im Nest der Liebe nistet,
aus meinem Herzen alle Singvögel verstoßen
und mich unglücklich gemacht.
Folgt mir nicht,
umgeht meinen Weg,
auf dem eine Kobra lauert.
Trinkt nicht aus jenem Brunnen,
aus der verseuchten Quelle Aussätziger!
¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º
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Dossier: Vesna Parun
Langeweile oder wer weiß, was für ein Tag
In einem Gedicht, das ich nie schreiben werde,
Liegt ein See, schon alt geworden
Von taubenetzten unsichtbaren Blüten, die eine
Unbrauchbare Leiter immer tiefer
In mich tauchen, in eine Stadt
Zu einer lustlosen Statue des Frühlings,
Dem grünen Trommler, der in Lumpen gehüllt,
Bei militärischem Regen irgendwo wartet,
Wo altmodische Tränen müde wurden
Und sich in Hass verwandelten.
¹Bubnjevi mjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º
Musik der Nacht
Die Abendglocken sind verklungen.
Grau fließt der Fluss in der Niederung.
Geheimnisvolle Schritte hab ich vernommen
am leeren Brunnen in der Dämmerung.
Nachts dürsten die Lippen, und die betrogene
schmerzende Seele schluchzt auf im Schlaf.
Lodernde Nacht, in Rosen wogende,
als das irre Mädchen mit dem Mond sich traf.
Musik der Nacht: das sind die Flüsterstimmen
der Vögel, die am Wegesraine
im Dunkel betend auf den Bäumen liegen.
Wenn aus dem Schlaf sie wecken morgendliche Stimmen,
wird die Musik, zerstoben in die Steine,
im Morgennebel leicht verfliegen.
¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º
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Vesna Parun: Gedichte
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Fenster
Ich träume von grünen Schiffen im stillen Hafen,
in einer unbekannten Gegend, jenseits des Hügels.
Irgendwo bellt ein Hund in weiter Ferne. Die Straße
wartet vor dem Haus, voll Ungeduld. Ein Pferd mit goldener Mähne wiehert
in einem mit Mauern umgebenen Hof. Es ist windstill.
Wenn ich auf den Turm steige, werde ich die Himmelskuppe sehen,
niedrige, niedrige Wolken. Eine Schwalbe und den Rauch des Dampfers.
In noch weiterer Ferne wird die Welt groß und merkwürdig sein.
Unter dem roten Balkon ruht der Abend auf Rosen.
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Die Mutter des Menschen
Besser, du hättest den schwarzen Winter geboren, o Mutter, statt meiner,
einen Bären im Bau geboren, eine Schlange im Nest.
Und einen Stein geküsst, besser als mein Gesicht,
dass mich ein wildes Tier mit dem Euter gesäugt, es wäre besser als eine Frau.
Und hättest du einen Vogel geboren, o Mutter, so wärest du Mutter.
Du wärest glücklich, unter dem Flügel würdest das Vöglein du wärmen.
Hättest du einen Baum geboren, der Baum wäre zum Leben erwacht im Frühling,
eine Linde würde erblühen, das Schilf ergrünen bei deinem Lied.
Zu deinen Füßen schliefe das Lamm, wärest du eines Lammes Mutter.
Würdest zärtlich du sein oder weinen, dein sanftes Junges würde dich verstehen.
So aber stehst alleine du da und teilst mit den Gräbern dein Schweigen;
es ist bitter, ein Mensch zu sein, wenn Messer und Mensch sich verbrüdern.
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
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Dossier: Vesna Parun
Der Körper und der Frühling
Schlage aus, mein Apfelbaum, die Sonne kam zur Tür herein.
Heimlich steigt das Wasser des Baches, und der Wind rauscht von ferne.
Warm zwitschert der Mittag, die Tage glänzen in goldenem Schein,
entferne den schmerzenden Vorhang, dass in blauer Nacht ich sehe die Sterne.
Flüsternd lass Früchte lebendig werden, mein stiller Apfelbaum,
klare Augen wie deine, o Brunnen, schenke auch mir!
Lass den Stein mir zum Kissen werden, mein Herz zum Farbentraum,
ein weiches Blumenlager erfrische mich hier.
Teile mit mir, o Welt, dein ewig’ Gedicht, in einen Wald mich verwandle.
Meine Seele schlage aus, gib im Schlaf ihr die Größe.
Ich werd’ eine andre mit dem ersten Wandrer, der über die Landstraße wandle.
Der Frühling kommt, horche; o Mutter, die Brust mir entblöße!
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Angst
Mir kommt in den Sinn
ich könnte sterben
die Finger auf dem Kissen
die Finger die noch den ganz blauen blauen
auf deine Schwelle geworfenen
blauen Mittag suchen
Ich erschrecke
und laufe in die Felder
¹Vjetar Trakije – Der Wind von Thrakien, 1964º
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Vesna Parun: Gedichte
Ich war ein Junge
Im Mondschein verbarg mich
der Abend, die Kerze löschend.
Die ganze Nacht träumend lag ich
zwischen blauen Bäumen schlafend.
Ich war eine Weinbeere, eine pralle
zwischen den Zähnen beim Küssen,
ein Fuchs, entkommend der Falle,
ein Junge jauchzen wird müssen.
Biss eines Gedichts auf der Stirne Mitten,
eine bunte Katze beim Spiel in der Laube.
Was ward mir nicht alles, Erfüllung der Bitten,
Spiegel des Fisches in der Otter Auge!
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Die Mädchen im Mausoleum
Das Gold der Mosaiken weckt Tulpen
auf dunkler Mauer.
Nachdenklich bewegen sich die Schatten.
Wer könnte die stillen Jahre des Mausoleums zählen?
Wir sind braungebrannt, halbnackt.
Und betreten das kalte Oval der Gruft,
schlanke Eidechsen, von Liebe gequält.
Wir flüstern: du alter Marmor,
sind wir schön?
Jung ist dieser Abend, voll Unruhe;
schwer von Glut der Horizont.
Das grüne Herz in uns
wie Mondschein.
Keine Galeeren sonnen sich, keine Kaiser schreiten durch die Säulenhalle.
Wir aber lachen im Peristyl.
Das Echo erschreckt dunkel gewordene Tauben.
Heute Abend werden wir durch die Straßen ziehen, wild und außer Atem.
Düster das Stimmengewirr des großen Platzes ahnend.
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Dossier: Vesna Parun
Ach, niemand versteht die dahinschwindende Zeit,
unsere Vorfahren, die Barbaren, die freudlose Sphinx.
Unter einer gelben Lampe im Rov
wird schwermütig gesungen.
Feuchte Trauer der Dinge fällt auf uns.
Erzählt nichts mehr von dem merkwürdigen Diokletian!
Angst trübt unsere Augen.
Das Meer schwemmt Apfelsinen in den Hafen.
Und der Frühling hat den Himmel rot gefärbt.
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Das Fenster durch das ich den Mond heimlich beobachte
Ans Fenster gelehnt, erwarte ich das Aufgehen des Mondes;
sein Kopf erscheint dort unten hinter den Sträuchern am Saveufer,
wo die Frösche quaken. Gierig und träge
erhebt er sich, wächst, während auf der anderen Seite des Flusses
die Erde mit dem Krieg sich paart. Wehklagen ist zu hören.
Den blutigen Mondteller waschen die Mädchen
hinter den Büschen im Nebenarm des Flusses,
wo leichte Winde die Leichen anschwemmen.
Barfuß, mit nackten Armen, laufen sie hin und her
im Sumpf, bei den kichernden Wildenten.
– Nie wieder wirst du aufgehen, kranker Mond –
schreien sie ihm ins Ohr. – Von deinem Schatten
erwuchs der Mensch, der über die Spitzen des Schilfrohrs geht
und uns verfolgt. O, ihr Sumpfgötter,
euer Tempel steht verlassen, in ihm knien Witwen...
Und dann sehe ich, wie zwischen den Sträuchern am Saveufer
ein Jüngling von unendlicher Schönheit hervortritt.
Auf dem Rücken trägt er einen tausendjährigen Wald,
sein Mund ist ein glühheißer Mühlstein.
Aus den Grübchen seiner Wangen fliegen Schmetterlinge
und hinterlassen nur güldene Asche
für mich, späte Pilgerin des Schmerzes.
Bezaubernd ist die Landschaft seines schwermütigen Gesichts,
wie man es oft auf Gemälden alter Meister sieht,
wo Augen und Himmel ineinander verschmelzen.
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Vesna Parun: Gedichte
Am Horizont stirbt die Sehnsucht, und das Geschick wird geboren.
Manchmal kündigt es sich an mit Flüchen, manchmal mit einem Lied;
nichts lockt das Herz so süß wie die Vergänglichkeit.
O, geballte Stille der Leidenschaft, du Unverständnis,
das in jeder Saite göttlicher Musikinstrumente summt!
Im Nebel des Sumpfes kämpft sich der junge Mann durch seinen
glühendsten Traum. Er flüstert: ein Schlafwandler bin ich,
doch nirgends find ich eine Ebene für meinen aufrechten Gang,
auch keinen Engel, mir mit Küssen die Fesseln zu lösen.
Worin soll ich das Leben hüllen, ich, Totengräber des Mondes,
auf dass ich nie mehr den Leib einer Frau berühre,
ich, ein Krieger mit erloschener Fackel, Geliebter der Heimat...
Ich sammle den Staub unter deinen Füßen. Du gehst fort
voller Erinnerungen, voller Vögel und Hagebutten der Morgenröte.
Und nie mehr wird es die goldene Einsamkeit
ruhiger Nachmittage geben.
Und nie mehr Liebe
diesseits
der Sonne.
¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º
Die Ballade von den betrogenen Blumen
Gerade war das Geißblatt an den Hängen erblüht.
Und das Gold meckernder Herden rauschte
über das Grün schattiger Weiden.
Die Jungen zogen ihre Schuhe aus,
um die Gänseblümchen nicht zu zertreten.
Warm war der Sonntag; die Schwalben durchstießen
das Blau des Himmels.
Ein weißes Netz spann die Spinne im duftenden Kiefernwäldchen.
Wer denkt an die Traurigkeit ungetünchter Zimmer und an Tote!
Kinder glauben nicht, dass die Erde den Körper verschlucken wird.
Am Horizont steigt schwarzer Rauch auf. Ein Gerücht
von sich nähernden Soldaten geht um.
Wem gehören die rot schimmernden Weiden,
wem die Fenster auf dem Hügel?
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Dossier: Vesna Parun
Rundum läuten die Glocken, sie läuten im Gänseblümchen,
in Blicken blau wie Veilchen.
Warum spannte die Spinne ihr Netz aus, warum nähert sich das Heer?
Ach, lest das klangvolle Märchen von Blumen,
von Wolken, ihr Brüder!
Im schmelzenden Schnee sind noch Spuren von Rehen erkennbar,
und das Rauschen der Nadelhölzer tönt um die freien Gipfel.
Man sagt, ein böser Geist erschrecke den Mondschein
mit den funkelnden Scheinwerfern seiner Augen.
Warum gehen die Jungen mit der Zielscheibe des Spinnennetzes
nicht nachhause? Gefangene Hummeln sollten sie freilassen
und fliehen, fliehen.
Der böse Geist geht um im Mondschein. Die Jungen binden
den Drachen los, und das Heer nähert sich.
Hunderte kleiner Hämmerchen schmieden goldene Tulpen.
Nichts ahnt die blinde Made. Nur das Kind hat Augen.
Das unglückliche Kind! Es wird den erhängten Vater sehen
am weiß blühenden Pflaumenbaum im Hof, an ihrem Pflaumenbaum.
Gestern erblühte das Geißblatt am Hang,
und heute zerstört das Trommelfeuer den Frühling.
Alarm läutet über den stillen Lichtungen,
Alarm erschreckt die Blumen. Ein Schuss verwirrt das Eichhörnchen.
Die Jungen stürzen sich in die am Ufer liegenden Kähne,
aber Wachposten erlauben ihnen nicht, sich zu entfernen.
Kriecht schnell in kleine Ameisenhaufen, löscht die Kerze.
Versteckte Torpedos zerstören den Fischfang. Nichts verblieb mehr
in der Sonne. Nur der Wind trägt aus trockenen Gräbern
namenlose Asche. Die Toten vergiften den Tag.
Was bleibt dem Menschen zu tun übrig?
Das Gänseblümchen öffnet vor Angst die Augen,
denn der Heckenschütze zog seine Stiefel nicht aus.
Ein Lamm verlor die Milch und bleibt betroffen an der Straße stehen.
Der Feind – ein Mensch – überfiel die unbewaffneten Blumen.
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
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Foto: Jakob Goldstein
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Igor Rajki beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
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Dossier: Vesna Parun
Regen
Ich höre keinen Regen mehr.
Das Fenster, die grüne Seerose,
atmet im Zwielicht.
Die Stimmen der Jungen entfernen sich zur Mole hin,
wo die weißen und schwarzen Dampfer ankommen.
In ebenerdigen Spiegeln liegt die Farbe des Himmels,
ruhig und gedämpft.
Einsame Spaziergänger suchen noch den Sommer im Weinberg.
Ein Jäger wartet in der Dämmerung.
Die Phantasie ist golden wie die ferne Ebene.
Den Pinien und dem Mond öffne ich die Tür.
Ans Fenster gelehnt ahne ich ein fernes Echo.
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Lauter als die Jahrhunderte
¹für A. B. [imi}º
Aus den wachenden Sternen schuf der Dichter
einen Traum von der Heimat
für die, die mit dem Herzen die Heimat nicht erkannten.
Er lieh seine Augen dem Morgenrot, dass es hinuntersteige
ins Bodenlose,
von der Sonne beschienen. Und blind auf der Höhe stehend,
von der aus die irdischen Mächtigen nur einen Schatten
der Erde erkennen,
starrt er auf das, was Gott vor den Sterblichen verstecken will.
Und stumm ruft er den Sternen entgegen: diesen Augenblick
meines Lebens hielt ich an
durch die Kraft eurer Ewigkeit. Und meine
Heimat folgt mir.
¹Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen, 2003º
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Vesna Parun: Gedichte
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Wenn das Meer sich fortbewegt
Wenn das Meer sich von einem Ende des Horizonts zum anderen fortbewegt –
bewegen auch wir uns mit ihm zusammen fort, du meine Seele, die du mit der
Eintönigkeit der Erinnerungen bedeckt bist. Wenn sich das Meer, in Wut gehüllt, aus
den schweigsamen Grüften der Vorfahren erhebt – erheben auch wir uns mit ihm
zusammen unwillig, du meine Seele, du Brachland, auf das das Korn der Zukunft gesät
wurde. Das Meer mag verschwinden, aber es stirbt nicht. So verschwindet wohl auch
die Seele, ohne etwas von dem zauberhaften Tod zu wissen, den sie nur mit dem Rand
ihres Flügels gestreift hat!
Die Seele verschwindet und nimmt in eine unendlich milde Schatzkammer all das mit,
was aus Gottes Hand in ihr erblühte.
O Meer, das meine Seele besser als ich versteht, hilf mir, dass ich sie wie eine traurige
Fackel durch das Dunkel des Gebets trage!
¹Telegram, 26. 11. 1971º
Vor dem Meer, wie vor dem Tod, habe ich keine Geheimnisse
Wenn du den Weg zu meiner Seele suchst,
führe mich ans stürmische Meer.
Dort wirst du mein enthülltes Leben sehen –
einem zertrümmerten Tempel gleich: meine Jugend,
eine von Feigenbäumen umstandene Hochebene.
Meine Schenkel: ein uraltes Klagelied,
wegen dessen die heidnischen Götter
auf die Knie sinken.
Vor dem Meer, wie vor dem Tod, habe ich keine Geheimnisse.
Erde und Mond verwandeln sich in meinen Körper.
Die Liebe verpflanzt meine Gedanken
in die Gärten der Ewigkeit.
¹Vidrama vjerna – Den Fischottern treu, 1957º
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Dossier: Vesna Parun
Pilgerfahrt in den Schlaf
So wollen wir, meine Seele, diese feindliche Welt bereisen.
Wir lieben sie nicht mit den Augen, trotz des Durstes,
der uns quält. Wir haben es nicht eilig, ihre Geschenke
mit unserem neugierigen Herzen zu empfangen.
Alleine wollen wir die steilsten Pfade betreten,
an gefährlichen Stellen Zeichen setzen, und nur
das Eichhörnchen mit der blauen Nuss zwischen den Zähnen
wollen wir nach den Jahreszeiten fragen, nach dem
zwischen Fichtenwurzeln und dem Grün der Erinnerung
verronnenen Tag.
Aber was wir auch erforschen auf der Erde,
wir können uns nur mit all dem an sie wenden,
was sie selbst uns freudig gab,
(mit unserer Jugend, mit Augen unklarer Visionen).
Die Blumen wachsen nicht, um uns zu ergänzen,
wir leben nur, um ihr Leben zu verteidigen.
Man muss ihn betrachten, den unverständlichen Lauf
alles dessen, was uns umgibt,
um die einzige Möglichkeit des Atmens zu erkennen.
Die Liebe aber ist etwas ganz anderes. O, diese Entfernung
zwischen uns und dem Frieden der Blume,
die uns gegeben wurde, um deren Glück zu betrachten.
Dieses Reifen erzeugt in uns den Durst und den Begriff der Liebe
und lässt uns erkennen, dass sie der schwerste Weg zur unerreichbaren
Schönheit des Schlafes ist.
Warum zögern wir? Machen wir uns auf dorthin, von wo
die Blume uns nicht mehr zurückbringen kann,
auch dann nicht, wenn wir alle Irrtümer, die wir
in unserer Jugend mit Augen unklarer Visionen hegten,
erkennen. Aber was wir auch in der Schatzkammer der Erde fanden,
wollen wir für immer, für immer lieben.
Und nur für immer, denn ein anderes Wort weiß uns die unbekannte
Ewigkeit nicht zu sagen. Sie schläft.
¹I prolazim `ivotom – Und ich gehe durchs Leben, 1972º
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Vesna Parun: Gedichte
Du deren Hände unschuldiger sind
Du, deren Hände unschuldiger sind als meine
und die du weise bist wie die Sorglosigkeit.
Du, die du von seiner Stirn besser als ich
seine Einsamkeit ablesen kannst
und die leisen Schatten des Wankelmuts
von seinem Antlitz verscheuchst
wie der Frühlingswind die Schatten der Wolken,
die über den Hügel ziehen.
Wenn deine Umarmung das Herz ermutigt
und deine Schenkel die Schmerzen heilen,
wenn in deiner Nähe seine Gedanken ruhiger werden
und deine Kehle seiner Lagerstatt Frische bietet
und die Nacht deiner Stimme zum Fruchtgarten ihm wird,
noch unberührt von jeglichen Stürmen.
Dann bleibe bei ihm
und sei frommer als alle,
die vor dir ihn geliebt.
Fürchte dich vor Wehgeschrei, das sich
der unschuldigen Lagerstatt der Liebe nähert.
Und sanft bewache seinen Schlaf
bei den Bergen, den unsichtbaren,
an des tosenden Meeres Ufer.
Wandere über seinen Kieselstrand. Trauernde Delphine
mögen dich begleiten.
Durchstreife seinen Wald. Freundliche Eidechsen
werden dir nichts Böses antun.
Und die durstigen Schlangen, die ich zähmte,
werden demütig dir begegnen.
Die Vögel, die ich wärmte in Nächten
klirrenden Frostes, mögen für dich singen.
Der Junge, den ich schützte vor Bösewichtern
auf einsamer Straße, möge dich streicheln.
Und die Blumen, die ich mit meinen Tränen begoss,
mögen für dich duften.
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Dossier: Vesna Parun
Die schönste Zeit seiner Mannbarkeit
erlebte ich nicht. Seine Fruchtbarkeit
empfingen nicht meine Brüste,
die von den Blicken der Viehtreiber auf den Märkten
und gieriger Räuber verwüstet wurden.
Nie werde ich seine Kinder
an der Hand führen. Und die Geschichten,
die ich seit langem für sie ersann,
werde vielleicht weinend ich
kleinen armseligen Bären erzählen,
die im düsteren Wald verlassen wurden.
Du, deren Hände unschuldiger sind als meine,
bewache zärtlich seinen Schlaf,
der arglos blieb.
Doch erlaube mir sein Antlitz zu sehen,
wenn unbekannte Jahre
sich auf ihn senken.
Und erzähle mir manchmal etwas von ihm,
damit ich nicht Freunde fragen muss,
die sich über mich wundern, und die Nachbarn,
die meine Geduld bemitleiden.
Du, deren Hände unschuldiger sind als meine,
bleib neben seinem Lager
und sanft bewache seinen Schlaf!
¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º
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Vesna Parun: Gedichte
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Aufgehaltene Schritte
In einer Stadt sah ich
einen Platz voller Rosmarin
der Sonne zugewandt
Und plötzlich
war alles so
freudig überwunden
Der Tod war ganz
sinnlos geworden
im abendlichen Grün
des Laubes
vergessener Gemächer
¹Vjetar Trakije – Der Wind von Thrakien, 1964º
Nur eins verstehe ich nicht mehr
Nur eins verstehe ich nicht mehr: die Sternensehnsucht,
diesen irrsinnigen, leidenschaftlichen, brutalen, unendlichen
Fluch des Wachsens der Seele in alle Richtungen. Wie soll man
den eigenen Drachen in ein fremdes Schicksal einspannen,
diese dunkle Verbindung des Wurzelwerks, die keine Verantwortung trägt
für das, was sich mit dir und so manchen anderen ereignen wird.
Zufällig triffst du auf eine Wolke und denkst: sieh da, ein Spaziergänger,
der dem Flüstern des Grases bei Tagesanbruch ähnelt.
Jemandes blasse Stirn nimmt einen Platz in dir ein, für immer.
Bohrt ein Schloss in die Zeit, tritt hinaus in einen Fisch.
Umsonst die eisernen Gitterstäbe.
Am anderen Ufer gibt es keine Wahl mehr. Schließ die Kammer auf!
Alles ist so, wie wir es uns wünschten. Du wirst nicht getäuscht.
Die gierige Zeit in uns wurde fortgeschoben. Endgültig.
Der Weg ist unser Gefangener. Wir aber sind frei. Gerührt
entfernt sich der Mensch mit seiner Geschichte, in der nichts erfunden wurde.
¹Stid me je umrijeti – Ich schäme mich zu sterben, 1974º
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Dossier: Vesna Parun
Der Olivenhain
Ich weiß nicht, ob mich die Stimme eines Vogels
oder das Pfeifen des Ostwinds einst
am späten Abend in den Olivenhain führte,
wo über den silbriggrünen Wipfeln
noch das friedliche Licht des Tages hing.
Damals stieg ich hinab in die bittere Bucht
der einsamen Kräuter und erblickte am Ufer
des glitzernden Meeres, auf den vom Mond
beschienenen Kieseln, seine sanfte Gestalt,
umhüllt vom Flüstern und Murmeln der Wellen.
O, hätte doch nie ich ihr Rauschen gehört!
Wäre ich doch bei der Mauer geblieben
unter dem wilden Feigenbaum, wär ich doch nicht
in den schattigen Hain am Silberstrand
und mondbeschienen Felsen hinab gestiegen.
Du hast einsam und unbekannt
auf einem Stein gesessen am sandigen Ufer.
Und des Windes trauriges Tosen
wiegte die dunkel gewordenen Äste
und deine düsteren Gedanken.
Und vielleicht wärest du unglücklich
über die herbstlichen Hügel geirrt,
verwandelt in einen ziellosen Vogel,
in einen Stern, unruhig glühend
über der Weite des Meeres.
Ich aber wäre unbesorgt unter dem wilden Feigenbaum
früh eingeschlafen, wäre nicht traurig,
die Wege des Jünglings nicht zu kennen,
der alleine und fremd beim Glanz der Wellen
und Schweigen des Sommers das Meer betrachtet.
¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º
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Vesna Parun: Gedichte
Der Baum
Du sagtest: Sei ein Baum.
Und ich wurde zum Baum.
Du sagtest:
Sei schüchtern.
Und ich wagte nicht,
mit den Blättern zu rauschen.
Du sagtest: Sei treu.
Und ich wartete.
Dann schwiegst du.
Der Baum aber steht noch hier.
Und wagt nicht,
mit den Blättern zu rauschen.
¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º
Der schlafende Jüngling
Hingestreckt auf die Kiesel der schattigen Bucht,
liegt er wie ein umzäunter Weinberg,
einsam und den Wellen zugekehrt.
Sein Gesicht ist lieblich und ernst.
Der Mittagswind umspielt ihn.
Ich weiß nicht, ob ein Zweig des Granatapfelbaums
voll zwitschernder Vögel oder die Vertiefung seiner Taille,
geschmeidiger als eine Eidechse, schöner ist.
Ich lausche dem Dröhnen fernen Donners,
das vom Meer aufsteigt und immer näher kommt.
Und versteckt hinter einer alten Agave beobachte ich,
wie die Kehle des Jünglings zur Möwe wird
und der Sonne entgegenfliegt, melancholische Schreie
in gelbe Wolken ausstoßend. Und aus der Bronze
seines prächtigen Leibes erhebt sich dunkel
eine blühende Klippe, auf der entzückende
Feen und Märchenköniginnen ruhen.
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Dossier: Vesna Parun
Der Kieselstrand klirrt und das Meer färbt sich grau.
Goldene Schatten verdunkeln den Weinberg.
Wolken türmen sich auf in der Ferne.
Blitze berühren die bewaldete Bucht.
Ich atme den Duft des Sommers, der über den Pflanzen hängt,
und ihre Nacktheit berauscht mich.
Dann betrachte ich meine glänzenden, vom Meeresschaum vergoldeten
Arme und Hüften, aus denen das Öl der Olivenhaine fließt.
Und als ich meine stillen Blicke wieder auf den Schlafenden richte,
der eingetaucht in den Lärm des trägen Sturms und alt wie eine Agave ruht,
denke ich voll verwirrenden Verlangens,
wieviele weiße Vögel in den weißen Wolkenschluchten
dieses Körpers mit ausgebreiteten Flügeln zittern,
die mit ihrer Stille das Rauschen des Meeres
und die Einsamkeit der Gräser verwirren.
¹Crna maslina – Der schwarze Olivenbaum, 1955º
Unbegreifliche Passanten
Jemand verließ uns, lächelnd. Es war Mitternacht.
Es war im Dezember.
In unserer, wie ein Spiegel kalter Erinnerung
schweigt sein Bild und welkt.
Der Jüngling mit dem braungebrannten Gesicht eines Vagabunden
ging fort und wird nicht wiederkehren.
Langsam und ohne Lärm machen wir uns auf den Weg.
Immer seltener denken wir an ihn, manchmal mit Verwunderung.
Eines Tages aber wird ein Schmetterling ins Zimmer fliegen,
und die Mutter wird erschrecken: Wer steht dort vor der Türe?
Die Straße hat sich völlig verändert. Durchs Fenster sehe ich:
Jemand betrachtet nachdenklich die Wolken.
Wer könnte je vergessen, wie sehr der Jüngling das Blau des Himmels liebte
und den Staub der Landstraße!
Es riecht nach frischer Farbe. Hier stehen Neubauten.
Die Frühlingssonne wärmt gelbe Schlüsselblumen.
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Vesna Parun: Gedichte
RELA
Plötzlich ist das Meer so nah, so nah;
Der Dampfer hat angelegt, wie damals.
Sie schickten einen Korb Feigen und einen Brief; wer grüßt da
mit geduldiger Handschrift schon jahrelang?
Ist meine Mutter nicht müde? O, schon lange ist das alles her.
Wir eilen weiter, reißen Stückchen von der Vergangenheit ab –
wie verwelkte Blumen. Hinter uns zurück bleiben Baumreihen,
abgeholzt und traurig. Unbegreiflich ist das Scheiden.
¹Zore i vihori – Morgenrot und Wirbelsturm, 1947º
Die dem Meer zurückgegebene Koralle
Zurück gebe ich diesen scharlachfarbenen Sonnenreifen, diesen Stern der Erde
im Spiegel des Meeres,
verkörperte Form des Lebens, die sich nicht ausreißen lässt,
die in der Siedlung lebendigen Wurzelwerks und großer, regloser Fische auf dem
Grund des Meeres wächst,
zurück gebe ich, was ich zuerst nahm, um mich wie eine Pflanze zu schmücken
zur Feier der Menschen und des Frühlings
vor der morgendlichen Ikone des Lichts und den Winden der Ferne,
zurück gebe ich den Samen des Lebens, die rote verästelte Blume,
die nicht Stein nicht Muschel nicht Salz nicht Rebe nicht Keim ist,
jedoch lebt und wächst und zum Berg und zur Insel werden kann.
Zurück gebe ich meine Jugend und meinen Tod und alles, was der Baum
vom Morgen bis zum Abend gibt,
Zurück gebe ich die Boote der hohen See und die Vögel dem Festland,
die Bäche dem Klee, die Nester dem Licht im Osten,
die Zärtlichkeit den Bitteren und Verwirrten, den Mut den zum Aufbruch Bereiten,
die Einsamkeit dem sich verirrten Mond, die Trauer den Herden der
Morgenröte im Gebirge,
zurück gebe ich die Wiege dem Meer, das Feuer den Feuersteinen
und schreite weiter auf den unbekannten Wegen meines Lebens,
das vom Lauf der Sterne und von der Fülle der Stille stammt.
¹Koralj vra}en moru – Die dem Meer zurückgegebene Koralle, 1959º
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Dossier: Vesna Parun
Wenn ein Vogel aufhört zu lieben
Wenn ein Vogel aufhört einen anderen Vogel zu lieben, sagt er zu ihm: fliege jetzt tausend
Meilen weit fort, um nicht zu sehen, wie die Gleichgültigkeit in meinen Augen wächst!
Denn ein Vogel ist nicht träge wie der Mensch; Ferne bedeutet für ihn das Flattern
süßen Lichts, das Liebe entfacht.
Er sagt nicht zu ihm: Jetzt verstecke dich tausend Fuß unter der Erde, um nicht zu
hören, wie ich des Abends ein sanftes Schlaflied einer anderen Liebsten singe, die mit dem
Schnabel unter meinem Flügel neben mir liegt!
Denn ein Vogel ist nicht oberflächlich wie der Mensch; er weiß, dass das Schlagen des
Herzens unter der Erde noch stärker ertönt, und statt der beruhigenden Klänge eines
Schlaflieds müsste der ganze Wald das Dröhnen des unterirdischen Raums, das der Schmerz
hervorrief, hören.
Wenn deshalb ein Vogel aufhört einen anderen Vogel zu lieben, bleibt er bei ihm, um
in Einsamkeit zu sterben.
Wenn aber der Mensch aufhört, einen anderen Menschen zu lieben, vor Scham und
Verwirrung weiß er nicht, was er tun soll, und indem er weiter und weiter vor ihm flieht,
setzt sich für immer in seinem Herzen dessen Trauer fest.
Die Gedichte auf den Seiten 72-99
aus dem Kroatischen übersetzt von Hedi Blech-Viduli}
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Nikola Mili}evi}: Vesna Parun
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Foto: Jakob Goldstein
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Maike Wetzel beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
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Dossier: Vesna Parun
101
Vesna Parun
Nikola Mili}evi}
W
ie ein Komet stieg Vesna Parun
1947 auf mit ihrer Gedichtsammlung
Zore i vihori (Morgenrot und Wirbelsturm), die aus verschiedenen Gründen ein besonderes Datum in der
Entwicklung der kroatischen Poesie
darstellte. Wir wissen, dass im Augenblick des Erscheinens dieser Sammlung die Kritik ihren Wert nicht erkennen wollte oder konnte, aber später wurden über das Buch zahlreiche
treffende und wesentliche Charakteristiken aufgezeigt, über die als Erster Stanislav [imi} sehr scharfsinnig
in seinem Nachwort zu Crna maslina
(1955) (Der schwarze Olivenbaum)
schrieb. Doch trotzdem hat sich bis
heute niemand grundlegend mit dieser originellen Gedichtsammlung befasst, um aufzuzeigen, um welche
Neuheit es sich hier eigentlich handelte, weshalb sie so bedeutend und
ungewöhnlich war. Dabei hätte das
Buch es wirklich verdient, wieder verlegt zu werden, was leider nie geschah.
Der ganze Gedichtband ist durchdrungen vom Geist und der Kraft der
Jugend, vom unmittelbaren Erleben
der Welt, in der die Elemente der
Sinnlichkeit überwiegen. Die Dichterin legt weniger einen Sinn in die
Dinge, sondern sie fühlt sie mehr.
Aber Gefühle und Empfindungen
führen zu innerer Unruhe oder auch
zu Unbesonnenheit. Deshalb sagt sie
an einer Stelle: „Im Regen brechen
wir auf, glühend vor Erregung“. Und
jene Empfindungen durchziehen wie
ein roter Faden das ganze Buch: Eine
ständige heftige Sehnsucht nach Bewegung. Das Ziel ist unwichtig; an
einem bestimmten Ort anzukommen ist nicht notwendig. Wichtig
ist, dass uns etwas in seinen Strudel
zieht, uns fortschwemmt, uns erregt,
dass vor allen Dingen die Sinne befriedigt werden. Es ist jene Kraft, die
aus dem Innern quillt, der wir uns
aber oft nicht bewusst sind (Konjanik) (Der Reiter). Deshalb nähert
sich die junge Dichterin allem so, als
befände sie sich „scheu versteckt im
Hinterhalt der Sinne“, wie sie selbst
sagt. Und allem nähert sie sich in
erster Linie mit scheuer Bewunderung, als wenn sie noch nicht aus der
ganzen Vielschichtigkeit von Welt
und Leben geschöpft hätte. In ihrer
ungetrübten Naivität wünscht sie sich
eine Welt ohne Makel, eine heitere
und unbeschmutzte: „O, wenn doch
die Welt ganz aus Morgenrot und
aus Brot gemacht wäre!“ Und dann
ruft sie aus, befürchtend, die klaren
Ausblicke könnten getrübt werden:
„Erschrecke mich, Wasser, nicht mit
deiner Tiefe!“ Doch bald schon erkennt sie, dass die Welt nicht so hell
und nicht so harmonisch ist, wie sie
sie sehen möchte. Auf Schritt und
Tritt tauchen Hindernisse, Widerstände, dunkle Wolken auf. Sie aber
scheint sich weder damals noch später mit dem Bösen in der Welt versöhnen zu können, da sie in ihrer
Sanftheit hilflos ihm gegenübersteht.
Und so lesen wir auch in Sto soneta
(1972) (Hundert Sonette):
Wohin soll denn ich mit
meinen Kinderhänden
in diesem Dunkel inmitten
des Bösen?
So steht Vesna Parun schon am Anfang ihrer Dichterlaufbahn vor einem Chaos, das sie nicht entwirren
kann und es auch gar nicht erst zu
entwirren versucht. Ihr Leben lang
steht sie bestürzt davor und das Einzige, was ihr übrig bleibt, ist, ihre
Verwunderung, ihr Nichtzustimmen
und ihre Erbitterung auf ihre Weise
auszudrücken. So entsteht schon in
Zore i vihori ein Riss zwischen ihr
und der Welt und es ist ihr nie gelungen, mit dieser Welt vertraut zu
werden und sie zu verstehen.
Einzig und allein die Natur bleibt
gut und sanft, die Natur und die
Erde, die uns ernährt und trägt: „Die
Erde kennt keinen Hass, sie schenkte uns das Leben wie ein schönes
Wunder“. Und dieses Wunder des
Lebens und die Schönheit der äußeren Welt stört nur der Mensch, der
die herrliche Fähigkeit besitzt, alles
düster zu machen und zu beschmutzen. Deshalb sagt die Dichterin: „Sie
(die Welt) wird dich lieben, der
Mensch aber war dein Henker“. Und
es folgen Schmerz und Leid und die
Frage: warum? Warum kann nicht
alles menschlicher und großmütiger
sein:
102
Nikola Mili}evi}: Vesna Parun
Ihr Brüder, wir hätten doch leise
wie ein Feuer sein können,
knisternd im roten Glück,
weil wir Menschen sind.
Kindlich staunend vor der Welt ruft
sie sogar aus: „Wer sah den Tod? O,
ihr Geschöpfe, glaubt nicht an ihn!“
Aber auch diese Illusion wird bald
zerschlagen werden von dem Ansturm der kalten Wirklichkeit, sodass sie an anderer Stelle sagt: „Die
Toten vergifteten den Tag. Was soll
der Mensch da tun?“ Alles Malerische in Vesna Paruns Poesie stammt
aus der Natur, alle ihre Assoziationen, Vergleiche, Eindrücke entstammen der verwirrenden Vielfalt der
Naturerscheinungen, hauptsächlich
der Pflanzen- und Tierwelt. Wahrscheinlich gibt es in den Gedichten
von Vladimir Nazor (der Naturwissenschaften studierte), kaum so viele
Namen von Pflanzen und Tieren wie
bei Vesna Parun, die die ganze Botanik und Zoologie auswendig zu wissen scheint. Hier nur einige ungewöhnlichere Bezeichnungen, die wir
in erwähnter Gedichtsammlung antreffen: Fichte, Geranie, Primel, Vergissmeinnicht, Löwenzahn, Bambus,
Geißblatt, Gänseblümchen, Maßliebchen, Minze, Schöllkraut, Annemone,
Pfingstrose, Kamille, Ulme, Kornblume, Zypresse, Ananas, Kaktus,
Mimose; Pirol, Dohle, Reiher, Specht,
Eisvogel, Kolibri, Hecht, Aal, Delphin, Forelle, Maulwurf, Schildkröte, Walross, Orang-Utan, Kamel,
Gazelle, Küchenschabe, Hummel,
Hirschkäfer usw. Doch für Vesna
Parun ist die Natur kein buntes Gemenge, kein bloßer Dekor, auch keine Ausstellung schöner Bilder fürs
Auge. Für sie ist die Natur ein Partner des Lebens. Sie ist nicht statisch
sondern dynamisch, lebendig, vital.
Wälder, Bäume, Tiere, Wind, Regen,
Gewässer, all das lebt miteinander in
wundersamer Harmonie und sich
gegenseitig helfend, wie in dem Gedicht ^udesna panorama (Ein wun-
dersames Panorama). Die Natur spielt
auch eine Rolle in den Gefühlen und
Wünschen des Menschen: Sie trägt
ihn, lebt mit ihm zusammen, ernährt
ihn mit Schönheit und Brot, versetzt
ihn in einen Rausch oder spendet
ihm Trost, wie in dem Gedicht Rujan
(September), jener enthusiastischen
Hymne auf die Fülle des Lebens:
Weinet, satt vor Glück,
das euch die Erde bietet,
jene Erde, die reifen
und wachsen kann.
Vesna Parun zeigt hier in erster Linie
ein tiefes Gespür für die Sprache und
wir können nur staunen, über welchen Wortschatz sie verfügt. Und die
Sprache empfindet sie, genau wie die
gesamte Umwelt, vor allen Dingen
sensuell, in ihrer berauschenden –
tönenden und farbigen – Wirkung,
wobei sie natürlich auch auf die Bedeutung der Wörter achtet. Die Sensualität (beim Empfinden von Welt
und Sprache) verleiht ihrem gesamten Werk ein charakteristisches Gepräge, was bei den Kritikern viel
Uneinigkeit und Unsicherheit beim
Beurteilen ihrer Gedichte hervorruft.
Denn da drängt sich zuerst einmal
die Frage auf: kann eine solche Poesie, die aus sinnlichen und emotionalen Quellen stammt, als modern
angesehen werden? War also Vesna
Parun in dem Augenblick, als ihre
Gedichtsammlung erschien, bahnbrechend neu und originell (modern)
oder bot sie nur eine eigene spezifische Synthese bisheriger dichterischer Erfahrungen? Jedenfalls war sie
kein poetischer Revolutionär mit bestimmtem Programm. Höchstwahrscheinlich wusste sie auch gar nicht
viel über dichterische Programme
und interessierte sich auch nicht dafür.
Aber gewiss trat sie mit einer bestimmten dichterischen Erfahrung
auf (wie auch alle anderen), die sie
mehr instinktiv als planmäßig absorbiert hatte. Sie war außerordentlich
begabt, neugierig, phantasievoll, vol-
RELA
TIONS
ler Begeisterung, Kraft und Feinsinnigkeit. So besaß sie alle Voraussetzungen, um sich leicht an verschiedenartige Strömungen anpassen
und sie in sich vereinigen zu können,
sie umzugestalten und ihnen in ihrem eigenen Reichtum eine Form zu
geben. Aus diesem Grund war Vesna
Parun originell und neu und modern. Sie ging von anderen aus, war
aber urwüchsig genug, um anders als
alle anderen zu sprechen. Ihre ganze
Erlebniswelt, ihre ungewöhnliche
Phantasie, ihre völlig neue, oft luzide
Bildhaftigkeit und erstaunliche Weise, simultane Bilder zu verbinden,
die Art ein Gedicht aufzubauen – all
das war wirklich ihr eigenes, unwiederholbares Werk. Ihre reiche
Metaphorik baute sie nach schon
bekannten Prinzipien auf, aber dennoch gestaltete sie sie auf ihre Art
und Weise, gab ihr ihre eigene Dimension und Färbung. Sie entstammte also der Tradition, war aber trotzdem originell und neu, da sie das
Erbe auf ihre Weise annahm, es bereicherte und ergänzte mit eigener
schöpferischer Erfindungsgabe. Das
aber ist das Wesentliche eines Künstlers. So war sie in unserer Poesie auch
modern. Im Übrigen wirkte sie gerade
mit ihrer ersten Gedichtsammlung
wegweisend und setzte Zeichen, die
nützlich sein konnten und waren für
diejenigen, die nach ihr kamen, denn
jede echte Erfahrung beeinflusst auf
die eine oder andere Weise die zukünftigen Kunstrichtungen. Und wer
könnte überhaupt sagen, was die
„Modernisten“ der fünfziger Jahre
aus Zore i vihori in sich aufgenommen haben von jener modernen Sensibilität, die verwurzelt ist im Menschen der modernen europäischen
Zivilisation, der sich oft zerrissen
und hilflos im Chaos der neuzeitlichen Gesellschaft fühlt, was auf verschiedene Weise viele Dichter, angefangen von Baudelaire bis zu den
Heutigen, zum Ausdruck brachten?
Vesna Paruns reiche Metaphorik ging
RELA
TIONS
meistens nicht aus der modernen
europäischen Poesie hervor, deren
Wege von Baudelaire und Rimbaud
geebnet wurden, denn ihre Erlebnisse waren nicht mit deren dunklem
Fluch belegt. Der größte Teil ihrer
Metaphorik, und damit auch ihres
Welterlebens, sind sehr verwandt mit
dem Romantiker Lamartine (um bei
der französischen Poesie zu bleiben).
Eine große Anzahl ihrer Bilder setzt
sich aus Naturphänomenen zusammen oder aus Begriffen der Pflanzen- und Tierwelt (worüber schon
etwas gesagt wurde), wie z. B.: der
Flügel des sanften Pirols, der Federbusch der goldenen Kolibris, das
Gezwitscher in den Federn des Eisvogels, der blaue Durst in der Kehle
des Vergissmeinnicht, der Hochzeitstraum der Gazelle, ein Festtag der
Lorbeerzweige usw. Alle diese und
viele andere Bilder stammen nicht
aus der Tiefe sondern aus der Atmosphäre, sind fluid und berühren
die Sinne. Aber bei den Gedichten,
die düsteren Ahnungen entspringen,
hat auch das Malerische einen anderen Charakter, da es mit einer anderen Atmosphäre verbunden ist. Hier
sind die Bilder dunkler, tiefer; betreffen nicht nur Farben sondern
sind auch voller vernunftmäßiger Andeutungen, beinhalten eine schwerwiegendere semantische Struktur:
Vertieft ins Geflüster zurückgebliebener Stürme; ängstige mich, Wasser, nicht mit deiner Tiefe; der Tote
sitzt auf einem Baumstumpf; Erinnerung kalt wie ein Spiegel; wir suchen nach Resten der Vergangenheit; unterirdisches Wehgeschrei besiedelt die Stoppelfelder.
So zeigt Vesna Parun schon in ihrer
ersten Gedichtsammlung ihren ganzen kreativen Reichtum. Hier finden wir alle wesentlichen Eigenschaften, die beständig in ihrem Werk
anwesend sein werden. Manche dieser Eigenschaften wird sie später vervollkommnen und disziplinieren, andere werden nach und nach ihren
Dossier: Vesna Parun
ursprünglichen Reiz von Frische und
Unmittelbarkeit verlieren. In den
folgenden Büchern Vesna Paruns werden wir eine Reihe von schwerwiegenderen, tiefgründigeren und stabileren Gedichten finden, aber trotzdem besitzen einige aus Zore i vihori
eine unwiederholbare Spontanität,
die den reinen, noch ungetrübten
Quellen ihrer kühnen Erfindungsgabe entspringen.
Trotz alle dem wurde das Buch
geradezu verrissen, was in unserer
Literatur zum Paradebeispiel für Missgriffe rücksichtsloser Kritik wurde.
Die junge Dichterin wurde dadurch
sehr in Verwirrung gebracht und da
sie ungeschickt und in ihrem Urteil
schwankend war, richtete sie sich
sofort nach jenem Fehlgriff der Kritik, so wie sie später auch sich selbst
sehr oft Zugeständnisse machte, indem sie ihrem zügellosen Trieb zum
Dichten allzu oft nachgab. Um angeblich ihre „Schuld“ zu berichtigen,
schreibt sie, beeinflusst von der fehlgegangenen Kritik, das hauptsächlich fehlgeschlagene Buch Pjesme
(1948) (Gedichte) mit 120 ¹!º Gedichten mit je vier Strophen. Hier
gibt es auch einige gute Gedichte,
inspirierte Verse, aber es überwiegen doch Monotonie, Reimerei,
Verschwendung ihres Talents. Die
einzige teilweise Entschuldigung für
dieses Zugeständnis wäre, dass dieses Buch vielleicht eine gewisse Entlastung für die Dichterin bedeutete,
eine Pause und Übung, nach der sie
ihren eigenen Weg finden und gehen wird.
Erst sieben Jahre nach Pjesme erscheint die Gedichtsammlung Crna
maslina (1955), die Vesna Parun in
neuem Licht erscheinen lässt. Hier
leuchtet ihr Talent in voller Reife auf.
Manch einer meint, es handele sich
vielleicht um ihren besten Gedichtband überhaupt; jedenfalls aber nimmt
dieses Buch einen bedeutenden Platz
in ihrer Entwicklung ein. Zore i vihori bedeuteten ihre kühne Öffnung
103
der Welt gegenüber, ein pures Eintauchen in die Fülle von Natur und
Leben, während Crna maslina sie zu
sich selbst, zu ihrem nackten und bitteren Inneren zurückbrachte. Allerdings war das ein ganz natürlicher
Entwicklungsweg, denn weder das
Leben noch ein schöpferisches Werk
können auf der gleichen Stelle stehen
bleiben. Einmal wird die Kraft der
Jugend verbraucht, es folgen Schicksalsschläge, Erfahrungen, Erkenntnisse und Enttäuschungen; danach
folgen Konzentration und Reife, und
das menschliche Wort nimmt eine
andere Färbung und einen anderen
Sinn an. So gibt es zwischen Zore i
vihori und Crna maslina nichts anderes als Lebenserfahrung und Erfahrung des Dichtens, einen Aufstieg
aus dem grünen Tal der Jugend zum
windigen Berg des Lebens. Die innere Schwere musste ausgerückt werden in schwereren und dunkleren
Versen. Die glänzende und kühne
Bildlichkeit ist verschwunden, aber
das Wort wurde intensiver, konzentrierter, innerlich angespannter. Stanislav [imi} bemerkte, dass Zore i
vihori moderner sind, Crna maslina
dagegen traditioneller, intimer (was
manche nach ihm wiederholten).
Vielleicht stimmt das, aber es ist
schwer, den Wert der beiden Bücher
in die Waagschale zu legen, da beide
bedeutend und wertvoll auf unterschiedliche Weise sind. Sie ergänzen
sich wie zwei Lichter, die zu einem
einzigen Glanz zusammenfließen.
Während in Zore i vihori nur Ahnungen und verhaltene Sehnsüchte
eines unruhigen Mädchens zum Ausdruck kamen, entdeckte Vesna Parun in Crna maslina die leidenschaftliche und vielschichtige Welt einer
reifen Frau. Hier zeigt sich ihre ganze
Spannung zwischen Fleischlichkeit
und Seele, eine Kluft, die sie nie überbrücken wird: Es begann das ewige
Umherirren zwischen Leidenschaft
und Schmerz. Nach kurzen Augenblicken von Schlaf und Vergessen
104
Nikola Mili}evi}: Vesna Parun
folgen andere Momente des Leids,
Nachdenkens, der Hilflosigkeit. Seitdem klingt aus ihren Versen ununterbrochen „das Leid, das keine Ruhe
finden kann“, wie sie in einem Gedicht aus Crna maslina sagt. Das aber
ist das „Unheil der Liebe“ (wie einer
ihrer Titel lautet), Unheil und Fluch,
in dem es Höhen und Tiefen gibt,
Leben und Sterben, Leuchten der
Sterne und dunkle Abgründe. Die
Liebe beinhaltet alles; sie bedeutet
für die Dichterin das Maß des Lebens und allgegenwärtige Qual. Deshalb sagt sie, dass nur diejenigen, die
sich lieben, „wissen, dass es nicht
völlig vergeblich ist zu leben“ (Ti i
nikad) (Du und nie). Und in der
Gedichtsammlung Koralj vra}en moru (1995) (Die dem Meer zurückgegebene Koralle) wiederholt sie nach
vielen bitteren Erfahrungen ihre Ergebenheit und Hilflosigkeit gegenüber diesem Gefühl, das sie nährte und
ihr die Kraft zu leben gab:
Die Liebe, die wir nicht mehr
verstanden, obwohl sie uns als
Erste die Welt offenbarte.
Wegen ihr wurden wir mutig,
durchschwammen Flüsse und
durchwateten Sümpfe.
Wir trugen sie durch alle
Erniedrigungen auf dem Arm wie
ein weißes Lamm des Friedens,
um sie zu retten, sie, die Einzige,
und um sie als Letzte zu verlieren.
Wegen ihr bin ich nun Vagabund
und Dichter.
Und dennoch, was bedeutet in Wirklichkeit die Liebe für Vesna Parun?
Wenn sie ihr das ganze Leben und
den größten und sehr bedeutenden
Teil ihres dichterischen Werkes ausfüllte, wenn sie die Liebe als schicksalhaft und gut empfand, was sah sie
dann eigentlich als Wesentliches in
ihr, und gab ihr die Liebe einen bestimmten (philosophischen) Sinn im
Leben? Man kann sofort sagen, dass
diese Frage sehr schwer zu beantworten ist, da sich die Dichterin
selbst in ihren Versen nicht ganz klar
und eindeutig über ihr Erleben und
Begreifen des Liebeslebens ausdrückt.
Deswegen beurteilten es die Kritiker
auch auf verschiedene Weise. Jedenfalls könnten wir nur schwer eine
genaue Philosophie ihrer Liebe in
Worte fassen, denn sie gab ihrer Liebe keinen tieferen Sinn, sondern sie
lebte und fühlte sie. Sie sprach mehr
von konkreten Gefühlen und Erlebnissen, als von abstraktem Sinn und
Zweckmäßigkeit. Deshalb ist ihre
Liebe immer gespalten zwischen der
Kraft der Leidenschaft und der Schwäche des Geistes.
In Zore i vihori öffnete sich die
Dichterin erst der Welt, und es quälte sie nur die Ankündigung und Ahnung einer versteckten und drohenden Sinnlichkeit, wie in dem Gedicht Tijelo i prolje}e (Der Körper
und der Frühling), in dem sie sagt:
„Der Frühling nähert sich, horch; o
Mutter, entblöße mir die Brust!“ So
wird sie auch auf den warmen Kieseln spüren, wie aus ihren Schenkeln
„jung und habgierig ein schmiegsamer Delfin lachend auftaucht“. Hier
ist ihre Liebe nur ein unbewusstes
Blühen und Lodern, als wenn eine
junge Göttin beginnt, in des Pans
Haine des Lebens zu treten, ohne zu
wissen, was sie dort erwartet, sich
aber nach etwas Wundersamem und
Ungewöhnlichen sehnend, was sie
erregen und mitreißen könnte. Deshalb ist in diesem Buch, in dem es
gar keine wirklichen Liebesgedichte gibt, die Liebe keine Qual, kein
inneres schmerzliches Verglühen,
keine Angst und keine Bitternis.
Hier kommt vor allen Dingen Lebensfreude, voll heiterer Erwartung
und Ergebenheit, zum Ausdruck,
während die Liebe als „sanftes Prickeln an einem Grashalm“ bezeichnet wird, als „reiner Schluck“ und
„Märchen einer schöneren Welt“.
Über jene Zeit sagt die Dichterin später: „Ich war ganz rein und tauig und
sanft“.
RELA
TIONS
Allerdings wird nach etwa zehn Jahren das Bild vollkommen anders aussehen, und das Märchen wird sich in
eine Ballade oder ein Klagelied verwandeln. Indem sie die Süße und das
Gift der Frucht des Eros erfährt, breitet Vesna Parun in Crna maslina
(1955) und Ropstvo (1957) (Sklaverei) eine abgerundete und vollkommene Chronik ihres Liebeslebens mit
all seinen keineswegs lichten Erfahrungen vor uns aus. Hier finden wir
auch alle wesentlichen Merkmale
ihrer Beziehung zur Liebe. In diesen
Gedichtsammlungen erkennen wir
das Schicksal einer starken Frau, die
sich ihrer Schwächen, über die sie
mit Stolz spricht, bewusst ist. Wir
sehen vor allen Dingen ihren Schmerz
über die Schicksalsschläge und Erniedrigungen, die sie als schwächeres Wesen erfuhr, das in seiner Naivität Schutz und Verständnis erwartet, jedoch auf Grobheit und Gleichgültigkeit stößt. Sie hat das Gefühl,
die Schönheit sei gestorben, die Kindheit mit ihren Märchen verschwunden und der vernichtete Mensch wisse nicht mehr wohin. Daher stammen ihre Brüche, die Erschöpfung
und die Hilferufe, ausgedrückt in
bitteren und harten Worten der Klage. Es wurde schon mehrmals erwähnt,
dass solche Liebesbekenntnisse mit
solch schmerzlicher Ehrlichkeit in
unserer Poesie niemand vor ihr geschrieben hat. Es sind das Gedichte
einer Frau, die erkannte, dass es ein
großes Übel ist, „wenn man all seiner
Träume beraubt wird“ und die von
sich sagen konnte: „durch alle Spießruten der Liebe lief ich“. Deshalb
kann man mit Sicherheit behaupten, dass ihre Liebespoesie nicht aus
trunkener Begeisterung und Genuss
entstand, sondern aus tiefem Leid
und Aufopferung.
Liebe widerfuhr Vesna Parun spontan und auf unerklärliche Weise, „so
wie das Wachsen einer Blume unklar ist“. Sie wusste nur, dass sie jenes dunkle und unruhige Meer be-
RELA
TIONS
reisen musste, aber sie wusste und
fragte nicht, wohin die Fahrt sie führen werde. Deshalb sagt sie, Empfinden der Liebe ahnend: „Das ist Liebe. Mache dich auf ins Weglose“. Sie
wusste, dass die Liebe stärker ist als
sie selbst, und deshalb, so sagt sie,
liebte sie sorglos, „ohne zu denken,
verwundert“. Sie versuchte also noch
nicht einmal, eine Lösung für dieses
verwirrende Rätsel zu finden. Deshalb überließ sie sich dem unwiderstehlichen Trieb, dass er sie trage,
wohin er wolle. Und indem sie diesen verwunschenen Weg begeht, kann
sie nur feststellen:
Keine Sümpfe gibt es, die ich
nicht durchwatete,
keinen Baum, vor dem ich
nicht niederkniete.
Am meisten litt sie, weil ihre Anhänglichkeit nicht geschätzt wurde
(„Keine andere war so gehorsam wie
ich“) und man sie auszog, „wie einen
Schuldigen, nicht wie eine Frau.“
Das aber ist eine tiefe Verletzung
sinnlicher und sanfter Weiblichkeit.
Sie fühlte sich wie die Beute in der
Höhle eines Lüstlings, und sie singt
„eine Hymne an ihre erniedrigte Liebe“. Und sagt, dass die Liebe derer,
denen sie sich hingab, wertlos ist,
der Baum in der Ferne jedoch und
die Glut der Morgenröte prachtvoll
(Ropstvo). Das aber war nur eine
Täuschung, denn weder der Himmel noch die Erde konnten in Wirklichkeit das Feuer der Fleischlichkeit
und die Sehnsucht einer heißen Seele
ersetzen. Als eine andere begabte
Dichterin (Vesna Krmpoti}) über das
Gefühl der Erniedrigung sprach, bemerkte sie: „Die Frau gleicht der
Erde, die alle mit Füßen treten, und
die alle ernährt. Das ist eine traurige
und stolze Weisheit, die zwischen
den Seufzern Vesna Paruns reift“.
Vesna Parun schrieb einmal die außerordentliche Zeile: „Die Liebe verpflanzt meine Gedanken in die Gärten der Ewigkeit“, aber das war nur
Dossier: Vesna Parun
ein schöner Gedanke des Augenblicks,
denn ihre Sehnsucht nach Liebe verwandelt sie in Wirklichkeit nie in
metaphysische Illusionen, auch idealisiert sie nicht die Erotik. Diese
fast tragische Priesterin des Eros brachte ihre Brandopfer nicht auf einem
steinernen Altar des Gebets sondern
auf der lebendigen Haut ihrer Sinnlichkeit. In ihrer Begeisterung versuchte sie nicht, sich jenseits von
Körper und Leben emporzuheben.
Sie war realistisch, und ihre Gedichte sind voll verborgener Sinnlichkeit.
Sie selbst sagt: „O Rose der Liebe,
Rose der Wollust!“ Und dennoch
wäre es ein großes Unrecht zu behaupten, diese Dichterin sei ausschließlich eine Anhängerin körperlicher Leidenschaften. Sie dichtete
zwar aus den Schmerzen des Körpers, noch mehr aber aus den Tiefen
ihrer verletzten und unglücklichen
Seele heraus. Deshalb scheint mir,
dass es für ihr Erleben der Liebe keine bessere Definition gibt als Ujevi}s
Vers: „Meine Seele leidet am Fleisch“.
Die meisten Liebesgedichte von Vesna Parun entstammten nicht dem
Erleben ihrer Leidenschaft sondern
dem Leid, das danach kam. So besang sie nicht den Akt der Liebe sondern seine Folgen, das aber ist der
Schmerz der Einsamkeit: „Ich aber
bleibe wieder allein zurück.“ Aber sie
zieht sich nicht in die Einsamkeit
zurück, um ihre Liebe in etwas Mystisches umzuwandeln, in erotische
Illusion (wie es die alten Mystiker
taten) oder in übersinnliche Begeisterung. Sie verband die Liebe nicht
einmal mit dem Tod (Eros-Thanatos),
obwohl uns das, was wir am meisten
im Leben bejahen, mit der größten
Angst vor Vergehen und Vernichtung erfüllt. Der Tod wird in ihren
Gedichten erst viel später erscheinen. Damals erwähnte sie ihn nur
hier und da als unbestimmte Ahnung: „Mit der Liebe gewöhnen wir
uns immer leidenschaftlicher an den
Tod.“ Aber wegen ununterbroche-
105
ner Verluste ist neben ihrer Liebe
immer die Angst anwesend – die
Angst vor Vergänglichkeit. Deshalb
ist ihr Hedonismus nie vollkommen,
nie ganz frei; immer wird er von
Ungewissheit, Unzufriedenheit und
dem Vorgefühl zukünftigen Leids
beschattet, was auch der Grund dafür
ist, dass die Dichterin sich den Geschenken des Lebens immer mit einem Gefühl von Trauer hingab. Alle
ihre Genüsse scheinen im Voraus von
Schmerz durchdrungen zu sein, als
wenn über ihnen die unbarmherzige
Hand eines finsteren Schicksals drohen würde, die den Menschen nirgendwo in Ruhe lässt, sondern immer
in seiner Seele wühlt und ihm jede
Freude heimtückisch vergiftet: „Deine Stimme begleitet mich mit Vergänglichkeit“. Dieses Angstgefühl finden wir sehr oft, fast unausweichlich
in Vesna Paruns Versen, weshalb sie
an einer Stelle sagt: „Liebe und Angst
werden sich nie verstehen, aber sie
werden immer gemeinsam auf den
Straßen sein“.
Warum gerade auf den Straßen? Sehr
wahrscheinlich schrieb die Dichterin
dieses Wort nicht zufällig. Es tauchte wahrscheinlich aus ihrem Unterbewusstsein auf, aber wir wissen, dass
aus dem Unterbewusstsein oft die
nacktesten Wahrheiten dringen. Zweifellos handelt es sich hier um eine
sehr wichtige Eigenschaft der Liebe
Vesna Paruns, einer Liebe, die im
Grunde vagabundenhaft und ruhelos ist, ständig auf der Suche nach
etwas, was es nicht gibt. Sie erwähnt
oft Unbekannte, Reisende, Seeleute,
Obdachlose, Landstreicher, von denen sie weder Namen noch Heimat
kennt. Schon in Zore i vihori sagt sie
zu einem „fremden Jungen“: „Ich
kenne deine Heimat nicht“. Und in
dem wunderbaren Gedicht Dom na
cesti (Ein Heim auf der Straße), sagt
sie: „Weder ich sah sein Gesicht,
noch er das meine“, und alles endet
in schmerzlicher Verlorenheit, für die
es keine Rettung gibt:
106
Nikola Mili}evi}: Vesna Parun
Und der Mensch nimmt sein
Bündel und wendet sich
weinend seinem Zuhause zu.
Sein Zuhause aber ist der
Staub der Straße
wie mein Zuhause auch.
Es liegt etwas Schweres und Tragisches in der Erkenntnis der Verdammnis des ewig Umherirrenden,
des Ahasverus, der nie ein Zuhause
und nirgends Ruhe finden wird. Eine
solche Erkenntnis und ein solches
Gefühl sind ein Charakteristikum
ausschließlich großer Seelen, die in
unablässiger Bewegung, in ewiger
Suche nach etwas Übernatürlichen
und Unerreichbaren sind. Solche
Seelen wissen, dass sie nie ans Ziel
kommen, dass sie nie ihr verlorenes
Paradies finden werden, aber ihren
Weg werden sie nicht aufgeben, da
sie wissen, dass ihr Schicksal nicht
Rasten sondern Suchen ist, so wie sie
auch wissen, dass das Umherirren
sie nie allzu glücklich machen wird.
So wusste auch Vesna Parun nur
allzu gut, dass sie ständig an einer
Stelle wartet, „wo noch nie jemand
glücklich wurde“. Indem sie hartnäckig und sich dessen bewusst ist,
schreibt sie auch diese Verse:
Erlaube mir, deine Welt so zu
lieben, wie ich es möchte.
Auch wenn zuletzt alles in
Schmerzen endet.
Eine solche Frau trachtet nicht danach,
sich geistig mit dem Wesen, das sie
liebt, zu vereinen, sich hinzugeben
und mit ihm zu verschmelzen und in
ihm zu bleiben in ständiger Seligkeit
und Ruhe. Zu solcher Hingabe war
sie zu selbstbewusst, zu unruhig und
unzufrieden, sie sehnte sich nach einem Getränk, dass nicht leicht zu
finden ist. Und eine einzige Liebe
konnte ihre reiche und ungestüme
Seele nicht erfüllen:
Blickt in meine Erinnerungen,
so werdet ihr sehen, es ist nicht
e i n e Gestalt.
Es ist nicht e i n e Leidenschaft.
Sie gibt sich hin, macht sich los und
geht weiter, eine Liebe lebend, die
kein Zuhause, keine Ruhe und keine
völlige Befriedigung kennt und die
von ewigem Durst getrieben wird.
Um von neuem zu lieben, um wieder
zurückzukehren zum Wasser berauschender Quellen, musste sie verlieren und leiden, um im Leid wiedergeboren zu werden und Kraft zu gewinnen für – neues Leid. Sie war, so
scheint es, nur in ihrer Unbeständigkeit beständig:
Ich bin, genau wie ihr,
unbeständig wie der Sand
unter unbeständigem Himmel.
Deshalb war ihr Herz eine wahnwitzige „Spielhölle der Liebe“, einer Liebe, „die das ist, was wir ununterbrochen zurücklassen“, und in einem
ihrer späteren Bücher (Stid me je
umrijeti) (Ich schäme mich zu sterben) zieht sie den Schluss: „Die Liebe:
nur Übersiedlungen, Übersiedlungen“.
Nach dem jugendlichen, aus voller
Kehle gesungenen Zore i vihori, erreicht Vesna Parun in Crna maslina
Besonnenheit, Erfahrung und Reife.
Ihre Beziehung zum Leben ist immer
bitterer und bestimmter, ihr Ausdruck ruhiger. Deshalb war zu erwarten, dass die Dichterin von Jahr
zu Jahr immer gesammelter und gefestigter werden würde, dass die Lebens- und dichterische Erfahrung sie
zu Besonnenheit und klassischem
Maß beim Aufbau ihrer Gedichte
führen würde. Ihre Schaffenskrise
hielt jedoch ziemlich lange an, und
sie brauchte zehn und mehr Jahre,
um größere Konzentration und Tiefe
zu erreichen, damit ihr Wort schwer
und durchdringend wird. Das gelingt ihr besonders in dem Buch
Ukleti da`d (1996) (Der verwunschene Regen), aber auch in weiteren
Gedichtbänden der siebziger Jahre,
oder besser gesagt, in den gelungensten Gedichten jener Sammlungen.
Nachdem die Dichterin alle menschlichen Wege und Irrwege gegangen
RELA
TIONS
ist, wobei sie ununterbrochen die eigenen Wunden pflegt, spürt sie sich
plötzlich wie gereinigt und von Schwere befreit, als wenn sie in sich „die
Liebe der Töne, die keine Körper
haben“ ahnt. Alles wird stiller und
gedämpfter, während nur die Endlosigkeit und die Sehnsucht, in sie
einzutauchen, bleibt, damit sie sich
ihr hingibt in einem glückseligen und
schwerelosen Zustand: „Merkwürdig,
wie schwerelos die Arme in den Höhen sind“. Indem sie die Tragik des
menschlichen Schicksals auf Pascal’sche Weise versteht: „Hier, wohin wir geworfen wurden“ und wo
„wir uns wie Schuldige quälen, um
unsere Heimat zu finden“, wünscht
sie fast auf buddhistische Art, sich
vom Schmerz zu befreien, sich sogar
auch von ihrem Körper zu befreien:
Ich überlasse diesen Körper
dem Wind, der dornigen Rose,
in der die Schönheiten klarer
als alle Winter blühen
All das wünscht sie nur, um „Kultstätten orphischer Harmonie“ zu finden, die sie früher einmal in dem
Gedichtband Koralj vra}en moru erwähnte und in Olovni golub (Die
bleierne Taube) als „Antrieb zum
Tau der Harmonie“ wiederholte. Jene
Heiligtümer der Schönheit, nach denen die Dichterin ewig suchte, erschienen ihr jetzt in unerreichbarer
Höhe. Deshalb sagt sie, man müsse
Die Schale des irrsinnigen
Eies des Willens zerschlagen und
in die Wirklichkeit hinausgehen,
wo Licht und Blumen einen
gemeinsamen Weg in die
Höhe haben.
Damit ist auch ihre Frage verbunden: „Gibt es eine Stadt, in der die
Bäume nicht sterben?“, und wo die
Liebe ein Gedicht ist, ein ewiges und
unauslöschliches, wo vielleicht auch
der Mensch den Hauch der Unsterblichkeit spüren würde. Fasziniert von
diesen Erkenntnissen wird sie auch
ausrufen:
Dossier: Vesna Parun
107
Foto: Jakob Goldstein
RELA
TIONS
Milko Valent beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
108
Nikola Mili}evi}: Vesna Parun
Verwandle mich, Leben,
in eine Salzsäule.
Lass mich zurückkehren, o Gott,
in eine Handvoll Lehm.
Die Dichterin gibt ihrem erdachten
Ideal und endgültigen Ziel keinen
Namen. Es ist die Höhe („Höhe, bleibe unser unsichtbares Zuhause“), die
Schönheit, die Musik. Alles ist ins
Erhabene gesteigert zu berauschender Ergebenheit, zur „Musik des Vergehens“, zu einzigartiger Erhöhung
und Gesang, verbunden mit tiefer
Sehnsucht nach Befreiung von jeglicher irdischen Bitterkeit und dem
Wunsch, sich mit dem unerreichbaren Strömen des Lichts, der Zeit und
der Ewigkeit zu verschmelzen. Ist das
nicht ein Suchen nach etwas Endgültigem und Absolutem, das zuletzt
alle durchlebten Qualen krönt – wenn
auch mit einem Dornenkranz – und
sie in endgültigen Glanz verwandelt?
Oder ist es vielleicht ein Suchen nach
dem „Kristall der Seele der Zeit“,
vereint mit dem Wunsch, dass alle
sichtbaren Farben verschwinden und
nur die inneren, die in uns brennen
(Smrt je jeka boja) (Der Tod ist das
Echo der Farben), übrig bleiben?
Alle diese ernsten Erkenntnisse werden auf ebenso ernste und ehrwürdige Weise ohne die einstige strahlende Metaphorik ausgedrückt. So sollte man zum Beispiel das außerordentlich gelungene, längere Gedicht
(Jedno stablo iz vje~nosti) (Ein Baum
aus der Ewigkeit) betrachten, um zu
sehen, wie ein Vers in den nächsten
übergeht, ein Bild ins nächste; wie
diese Bilder verschmelzen und kein
einziges herausragt aus dem Fluss des
Gedichts, aus seinem wesentlichen
Sinn, wie es der Dichterin manchmal
passierte. Es gibt etwas wirklich Zauberhaftes in dem spontanen und reichen, so bedeutungsvollen und luziden Aneinanderreihen, etwas was aus
dunklen und unerklärlichen Tiefen
ihrer Imagination stammt. Zu erwähnen wäre auch das Gedicht Ho-
do~a{}e snu (Pilgerfahrt zum Traum)
aus dem Gedichtband I prolazim
`ivotom (Und ich gehe durchs Leben), von dem Ivan V. Lali} sagt,
„Rilke hätte es in einer seiner zartesten Inspirationen schreiben können“.
So finden wir auch in weiteren Gedichtsammlungen der siebziger Jahre Gedichte, die aus tiefer Konzentration entstanden, aus einem Blick
auf „reine Ufer des Wachens“, in
denen man den Sinn unseres Daseins und unserer Entwicklung finden könnte, um „den unverständlichen Verlauf alles dessen, was uns
umgibt“ zu begreifen und vielleicht
„die einzige Möglichkeit zum Atmen
zu erkennen“. Auch hier ist, genau
wie früher, die Suche nach der Kindheit anwesend, das Eintauchen in die
Güte der Natur, aber auf tiefere und
zartere Weise: Alles wird wie ein dauerhafter, vergeistigter Besitz betrachtet, um die Welt „für unsere Augen
fremd und unschuldig“ darzustellen,
befreit von allem Verkehrten, das sie
entstellt. Deshalb sagt die Dichterin
„alles lieben, was unschuldig unter
diesem schrecklichen Himmel lebt“.
In vielen Gedichten aus diesem wirklich reifen Zeitabschnitt Vesna Paruns gibt es eine uranfängliche, wie
gerade erst erwachte Kraft, die aus
den Wurzeln der Pflanzen und den
Säften der Erde zu entspringen scheint,
eine Kraft, die sich in einer konzentrierten und suggestiven Sprache verwirklicht. Man könnte sagen, dass in
der kroatischen Poesie der Nachkriegszeit kaum jemand so vollkommene Gedichte schuf.
Vesna Parun schrieb in neuerer Zeit
auch viele satyrische Gedichte, was
man von einer lyrischen Dichterin
ihres Gepräges nicht erwarten würde. Über eine solche Art von Versen
kann man auf verschiedene Weise
urteilen, sicher aber ist, dass sie auch
hier oft wahre Meisterschaft im Aufbau der Verse erreichte. Geistreich,
bitter und bissig konnte sie sein, war
aber auch geschickt im Finden von
RELA
TIONS
passenden Ausdrücken, Wörtern, Reimen, hatte witzige Einfälle, spielte
mit der Sprache, sodass ihr Gedanke
im Reim an Schlagkraft gewann. Als
Tonko Maroevi} über ihre Sammlung satyrischer Gedichte Apokalipti~ne basne (1976) (Apokalyptische
Fabeln) schrieb, sagt er, dass Vesna
Parun, „was syntaktische und verbale Mannigfaltigkeit betrifft, wahrscheinlich nicht ihresgleichen hat“
und dass sich hier Zorn und Gesang
„in einem Maß vereinen, das alle Einschränkungen purer satyrischer Poesie übertrifft“.
Außerdem veröffentlichte sie etwa
zehn Kinderbücher in Versform: Gedichte, Erzählungen und Romane.
Dieser Teil ihres Werks hatte großen
Erfolg bei den jungen Lesern, und
manche dieser Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Unmittelbar und gewandt im Verseschreiben schaffte sie Wertvolles auch
auf diesem Gebiet. Auf sensible und
einfache Art und Weise verstand sie
es, sich in die reiche Welt der Natur
oder in Szenen aus der Tier- und
Kinderwelt hineinzuversetzen. Vielleicht war sie auf dem Gebiet unserer
Poesie für Kinder nicht besonders
neu, aber sie konnte sich auf ihre
Weise der kindlichen Phantasie mit
lyrischer Feinfühligkeit und geistreichen Einfällen anpassen.
Vesna Parun übergab der Öffentlichkeit bis jetzt auch drei Theaterstücke: Marija i mornar (Maria und der
Seemann), Magare}i otok (Die Insel
der Esel), Potres u gradi}u Kali (Erdbeben im Städtchen Kali). Diese Texte enthalten Geist, Erfindungsgabe
und Ausdrucksreichtum. Sie sind
hauptsächlich auf einer Reihe von
Einzelheiten, von zahllosen lebendigen Gedankensplittern, sprachlichen
Bravouren, geistreichen Repliken,
stichelnden Anspielungen aufgebaut,
auf einer Mischung von Unwirklichem und Wirklichem, Möglichem
und Unmöglichen, und obwohl das
alles oft unlogisch, vielleicht auch
RELA
TIONS
absurd erscheint, ahnen wir doch einen versteckten Sinn. Aber in diesen
Theaterstücken gibt es keine einheitliche und durchlaufende Handlung,
es scheint auch keine wirklich dramatischen Momente zu geben, die
die Aufmerksamkeit des Publikums
erregen könnten.
Vesna Parun wurde oft als weiblicher Dichter bezeichnet, und eine
solche Bezeichnung enthält gewöhnlich einen degradierenden Beiklang.
Zwar stimmt es, dass viele ihrer Gedichte aus der typischen Welt der
Frau stammen, und dass sie durchdrungen sind von Emotionen und
Beichten, aber es stimmt auch, dass
sie die üppige und vielschichtige Welt
einer wirklich starken Frau zeigen, die
oft auch ihre größten Mutlosigkeiten
und Schwächen auf männliche Art
auszudrücken wusste. Sie fiel und
strauchelte und richtete sich tapfer
wieder auf in ihrem Wort und ihrer
Bitternis. Und viele Male verstand
sie es, sich hoch über alle persönlichen Bürden zu schwingen, um vor
allen Dingen im Gedicht, im reinen
Akt des Schreibens, in der von allen
niedrigen Zwängen befreiten Stärke
zu leben. Denn wie sehr die Seele
dieser Dichterin auch von der Sanftheit des mediterranen Klimas geformt
wurde, sicher brachte sie ebenfalls
etwas von der rauen Kraft des Meeres, der Härte des Karsts und der
Schärfe der Boras mit sich.
Durchs Leben geht sie eher wie eine
Träumende als wie ein wirklicher
Mensch („Schwer ist es, den zu wecken, der wachend schläft...“), aber
trotzdem bewegt sie sich nicht außerhalb der harten Gleise des Lebens
und ist nicht blind gegenüber all dessen, was um sie herum geschieht.
Davon zeugen viele ihrer Gedichte –
angefangen von ihrem ersten Gedichtband und allen weiteren – in denen
sie auf ihre Weise inspiriert über die
Probleme ihrer Zeit spricht. Oft wird
vergessen, dass sie zu Zeiten des Krieges wie nur wenige spontan, ehrlich
Dossier: Vesna Parun
und auf starke Weise die Leiden des
Kampfes und die Wiederherstellung
und Geburt einer neuen Zeit besang.
Übrigens ist ihr menschliches und
schöpferisches Prinzip eine humanistische, sinnvolle und emotionale Beziehung zur Welt und ein menschliches Engagement in Lebens- und
Ethikfragen. Sie wurde von vielen
Missgeschicken und Ungerechtigkeiten heimgesucht, geriet in schwierige Situationen, es gab Augenblicke
der Hoffnungslosigkeit, aber ihre Zähigkeit brachte sie immer wieder zurück in Wind und Wetter ausgesetzte Gebiete des Lebens und von der
Verzweiflung wurde sie nie ganz niedergedrückt. Deshalb gibt es in ihrem
Werk keinen Platz für Pessimismus.
Indem sie ihrem dichterischen Weg
unermüdlich und ergeben folgte, suchte und fand sie sich in mannigfaltigen Manifestationen des Lebens und
menschlichen Geistes; sie tauchte in
die Schönheit und Vielschichtigkeit
der äußeren Welt, in den Reichtum
der Natur, aber auch in dunkle Bereiche ihres Inneren; aus sinnlichem
Empfinden versetzte sie sich in gedankliche und geistige Regionen und
plagte sich mit den ewigen Rätseln
des Lebens und Sterbens, der Gegenwart und der Ewigkeit, wobei sie
sich bemühte, das Wesen des Jenseitigen, den Sinn des Lebens zu erfassen. Deshalb ist Vesna Parun nicht
nur eine Dichterin der Liebe (wie
manche meinen), sondern sie ist eine
Dichterin der ganzen Vielfältigkeit
des menschlichen Lebens und sie
schuf in dem Band Ukleti da`d wie
auch später Gedichte, die in ihrer
geistigen Sammlung, ihrer Tiefe und
Aussagekraft alle ihre früheren (Liebes-) Gedichte weit übertreffen.
In ihrer Entwicklung, in der Erkenntnis von Welt und Leben, gibt
es kein bestimmtes System, aber es
gibt glänzende geistige Errungenschaften und tiefe Konzentration, es
gibt etwas, was spontan aus dem
Abgrund des menschlichen Wesens
109
hervorquillt. Aber man muss sagen,
dass Vesna Parun nicht nach irgendeiner bestimmten Ordnung oder nach
Regeln leben und schaffen konnte.
Sie sagt selbst über sich, dass ihr Vater die Flucht und ihre Mutter – das
Unmögliche ist. Deshalb hätten ein
System oder Programm sie nirgendwo
hingebracht. Sie konnte zu ihren nebelhaften Zielen nur im Halbschlaf
reisen und gelangen. Deshalb sollte
man in ihrem oft luziden Gedankenreichtum keine Systematik suchen,
was sie in etwa auch selbst sagt: „Diese Hoffnung ist nur ein reiner Kristall der Eingebung, hinter ihr ist
nichts“ (Ukleti da`d). Sie konnte fast
nie abstrakt denken ohne lebendige
Basis, ohne sinnliche Anregungen
und emotionale Unruhe, dessen war
sie sich auch selbst bewusst ist, wenn
sie in einer Anmerkung sagt: „Wenn
du versuchst, in Abstraktion zu fliehen, schickt dich das Gedicht zu deiner augenblicklichen Aufgabe zurück:
zum Zeugnisablegen“. Ihre Gedankenflüge sind oft nicht bis zu Ende
ausgedrückt, aber sie sind voll Kraft
und Suggestivität, da sie immer mit
einem Schleier innerer geheimnisvoller Glut umhüllt sind. Sie schwebt
immer an der Grenze zwischen Traum
und Wirklichkeit. „Wenn wir ein
Gedicht schreiben, berühren wir den
Boden eines Märchens“, sagt sie in
ihrem ausgezeichneten Essay über die
Märchen. Indem sie das Leben besingt, verwandelt sie es oft in mythische Visionen, während sie in den
Märchen den menschlichen Sinn des
Lebens sucht.
Aus all dem Gesagten ersehen wir,
dass Vesna Parun zu den besten und
bedeutendsten Dichtern neuerer kroatischer Poesie gerechnet werden muss,
und ihr reiches und mannigfaltiges
Werk wartet noch auf gründlichere
Leser und Interpreten.
Aus dem Kroatischen
von Hedi Blech-Viduli}
110
Tea Ben~i} Rimay: Wenn der Mensch aufhört ...
RELA
TIONS
Wenn der Mensch aufhört,
einen anderen Menschen
zu lieben
Tea Ben~i} Rimay
Wenn aber der Mensch aufhört, einen
anderen Menschen zu lieben,
vor Scham und Verwirrung weiß er
nicht, was er tun soll, und indem er
weiter und weiter vor ihm flieht,
setzt sich für immer in seinem Herzen
dessen Trauer fest.
Vesna Parun
Viele Seiten wurden über Vesna
Paruns Poesie geschrieben, besonders
über einzelne, anthologische Gedichte – wie über Du deren Hände unschuldiger sind; Der schlafende Jüngling; Die Mutter des Menschen usw.
Schließlich wurde ihre erste Gedichtsammlung Zore i vihori (Morgenrot
und Wirbelsturm) als Beginn der modernen Poesie bezeichnet – neben
dem Gedichtband Crveni konj (Das
rote Pferd) von Jure Ka{telan auch als
Beginn der sog. Nachkriegspoesie; aber
wichtiger zu sagen ist, dass sich andere, persönlichere Arten des Schreibens von Gedichten entwickelten.
Die Kritiker jedoch befassten sich
häufiger mit neuen aber gleichzeitig
gemeinsamen Charakteristiken des
Dichtens, und es gibt eigentlich nur
wenige Texte, die gerade einer spezifischen Eigenart der Dichterwelt gewidmet sind, dem auf neue Weise
dargestellten Universum Vesna Paruns. Jene Welt stilisierter und starker Empfindsamkeit, voll Güte und
Verzeihen, Liebe und Opfer ist auch
heute ebenso in ihrer Poesie anwesend
als einer Quelle, aus der weiterhin
ununterbrochen geschöpft werden
kann, wie auch in deren lang andauernder Wirkung, in ihrem Verwobensein mit Kultur und Tradition.
Viele befassten sich mit der Poesie
Vesna Paruns, aber es scheint, dass
über das Wichtigste, das Gehaltvollste in ihren Gedichten bis jetzt nicht
gesprochen wurde. Vielleicht wurde
ihre Poesie in den ersten drei Jahrzehnten ihres Schreibens zu oft erwähnt, später dann immer seltener
und ungenügend analysierend. Im
Unterschied zu manchen Auslegungen z. B. der ersten Gedichtsammlung,
die immer noch mit der Nachkriegszeit verbunden war und meist auch
mit dem Syntagma der „Kriegsstürme“
dargestellt wurde, meine ich, dass
schon in der Überschrift der hintangesetzten Morgenröte ein viel größeres Gewicht gebührt als dem Wirbelsturm, bzw. schwerwiegender sind
die Gedichte, in die wir wie in sonnige Morgen treten, die beschienen
sind von der Heiterkeit zwangloser
Begeisterung eines jungen Wesens
ungezähmter Vitalität. Allein das Wort
„Morgenrot“ wird später in Vesna
Paruns Poesie sogar die trübsinnigsten Situationen und rauen Winde,
die in ihre Poesie hereinbrechen, erhellen. Aus den ersten Gedichten
sprach natürliche und unschuldige
Ehrlichkeit; das sind die Gedichte
Tijelo i prolje}e (Der Körper und der
Frühling), Djevi~anstvo (Jungfräulichkeit) und der üppige Rujan (September), die in den fünfziger (sogar
in den vierziger!) Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmt völlig verrückt klingen mussten in dem
noch immer nicht erwachten und
konservativen Umfeld der kroatischen Poesie und Kritik. Jede Unschuld und kindliche Begeisterung
(Bila sam dje~ak) (Ich war ein Junge)
besonders aber sinnliches Schwärmen
in den folgenden Gedichtsammlungen
wurde mehr als erfunden und naiv,
ja sogar als unreif, wild und dekadent
ausgelegt. Aber gerade die ungezähmte Wildheit war vielleicht damals
schon die wertvollste Eigenschaft der
Poesie Vesna Paruns, die später ehrlich verwundert war über das von
den Menschen verursachte Böse und
Chaotische in der Welt. Denn die
Dichterin brachte bei ihrem Erscheinen in der kroatischen Poesie gren-
RELA
TIONS
zenlosen Glauben mit sich, kindliches Vertrauen und die Überzeugung,
dass es die Liebe ist, die die Welt in
Bewegung setzt. Völlig ergeben, sich
ihren starken Emotionen überlassend, die die Aussage in ihren Gedichten auf mustergültige Weise begleiten, bot sie der Welt ursprünglichste Unverfälschtheit und erwartete mit kindlicher Naivität, dass ihr
eine solche Liebe auf die gleiche Weise entgegengebracht würde. So überstand die Poesie in ihrer Gesamtheit
den kindlichen Traum der Dichterin.
Und bald schon gerät sie in den erahnten Wirbelsturm, nicht nur in den
Krieg und die Nachkriegszeit der
äußeren Welt, sondern auch in die
Kämpfe der menschlichen Seele (Zlo
ljubavi – Das Übel der Liebe; Bol {to si
~ovjek – Der Schmerz, ein Mensch zu
sein), die unfähig ist, die Ursprünglichkeit fremder und eigener Empfindsamkeiten anzunehmen und die
Schönheit und Kraft einer reinen
Seele, die sich plötzlich im Schmutz
der Welt befindet, zu erkennen. Wie
sie schon in Zore i vihori die lebhafte
Herde der Worte – zur Quelle des heiteren Tals trieb, so zeigte sie mit Crna
maslina (Der schwarze Olivenbaum),
Vidrama vjerna (Den Fischottern treu),
Ropstvo (Sklaverei), Koralj vra}en moru
(Die Koralle, die dem Meer zurückgegeben wurde), Ukleti da`d (Der verwunschene Regen) und anderen Gedichtsammlungen eine erstaunliche
Spannweite zwischen Sinnlichem,
Imaginärem, Geträumtem und Mythologischem. Die Ausgangspunkte
ihres Dichtens befinden sich in der
Nähe biblischer Quellen, ihre Themen sind die Idee der Liebe, aber
auch das Leid wegen des menschlichen Schicksals.
Die tiefe Empfindsamkeit Vesna Paruns, die sich schon bei Dora Pfanova zeigte, wird mit ihrer Sinnlichkeit, Wollust und ihrem Erotismus
noch verstärkt werden. Unmerklich
und leise werden in der kroatischen
Poesie die Liebe und der Mond auf-
Dossier: Vesna Parun
tauchen, wie auch die mythologisch
und märchenhaft klingende Metapher archaische Lilien werden sich in
Wirklichkeit verwandeln. Anscheinend ist das Paraphrasieren der Gedichte Vesna Paruns die einzige Art
und Weise, die Interpretation nicht
von ihren Gedichten zu entfernen.
Gerade ihre metaphorischen Syntagmen, die übernatürlichen und kindlichen Landschaften, führten sie spontan und unmittelbar zum Prosagedicht, das bei dieser Dichterin von
der märchenhaften Kurzgeschichte
zu distanzieren ist (z. B. Molitva
Ard`uninu strijelu – Gebet an Ard`unins Pfeil oder Le{ina Marabu ptice –
Der Kadaver des Vogels Marabu), das
bei ihr aber auch besonders beachtet
werden sollte wie spezifische Kristalle im langjährigen Spiel mit der Poesie, wenn die Poesie aber aufhört, ein
Spiel zu sein und zum heiligen Ort
der Beichte wird. Bei ihr finden wir
nur sehr wenige Prosagedichte, die
alle ziemlich spät entstehen (wenn
man bedenkt, dass ihre Gedichte seit
1947 veröffentlicht wurden). Den
Zyklus Krv svjedoka i cvijet (Das Blut
des Zeugen und die Blume) schrieb sie
1989 und die außerordentliche Prosagedichtsammlung Indigo-grad (Indigo-Stadt) 1990.
Im Unterschied zu ihrem ständigen
Dichter-Reisegefährten Jure Ka{telan, der beim Schreiben seiner Prosagedichte Sprache, Ausdrucksweise,
Struktur und die Beziehung zum
Gedicht ändert, verändert sich in den
Prosagedichten Vesna Paruns fast gar
nichts außer der strudelnden Tiefe –
die sie jetzt mit dem Gedicht öffnet –
da der Ausgangspunkt ihrer märchenhaften Landschaft, der die Metaphorik strukturiert, schon seit langem vorhanden ist. Nur wurde in
den Prosagedichten der Ausdruck
gedrängter, wenn die Dichte des Beschriebenen es erlaubte, Wörter, nicht
aber Gedanken zu wiederholen. Der
Gedanke in ihren Gedichten erweiterte und breitete sich geradezu aus,
111
begleitet von einer immer größeren
Farbenvielfalt, angefangen von hellgelb, orange und feuerrot, über indigoblau, mondscheinblau, bis schwarz
(das schwarze Meer). Es ist interessant – auch für eine genauere Analyse
– wie die Dichterin selbst ihre lyrische Vorgehensweise in ihren ausführlichen und polemischen Essays
aufdeckt. Da der Weg vom Gedicht
zum Prosagedicht lang ist, muss auch
Schritt für Schritt theoretisch jener
Weg erklärt werden. Doch schon
jetzt wollen wir sagen, dass es sehr
wichtig beim Schreiben von Poesie
ist, sich das eigene Vorgehen bewusst
zu machen, zur Quelle der irgendwo
entstandenen Landschaften und Bilder zu gelangen. Das Märchen und
der Mythos sind ein unerschöpflicher Ausgangspunkt für fast jede literarische Form, die aus Vesna Paruns Feder fließt.
„Ich werde mein eigenes Forschungsvorgehen darlegen, damit ein anderer,
der das alles nicht erlebte, auf meiner
Erfahrung – die potentiell auch die
seine ist – die Verknüpfung seiner eigenen Vorstellungen und Kenntnisse, die
wiederum auch meine potentiellen sind,
aufbauen kann. Sich als Nachkommen der gleichen uralten Phantasie
dieser Welt zu fühlen, bedeutet, sich
an den Traum unserer gemeinsamen
weit zurückliegenden Vergangenheit
zu erinnern und zur geistigen Sorglosigkeit zu werden, sich mit ihr zu vereinigen – wenigstens für einen verwunschenen zeitlosen Augenblick, wie er
nötig ist für Großmutters Verwandlung
einer Schlangen- in eine Menschenzunge, einer archetypischen in eine
kommunikative.“
Gerade die angedeutete Kommunikation, die eine wichtige Eigenschaft
der Poesie Vesna Paruns darstellt, ist
ein paradoxes Phänomen, wenn wir
die fast ununterbrochene Metaphorik ihrer Gedichte in Betracht ziehen, die zahlreichen Personifikationen, die Synekdochen, den Abstieg in
112
Tea Ben~i} Rimay: Wenn der Mensch aufhört ...
mythische und archetypische Schichten des Bildlichen, tausend Fuß tief
unter die Erde! Deutlich auch in der
schwierigsten Aussage zu sein, nah
und verständlich, dies verleiht ihrer
Poesie Gewicht und Kraft, ist ein
Zeichen ihres Zeitbezugs, und steht
in Verbindung mit ständiger sprachlicher Wandlung, erkennbar auch
am formalen Gewand der Gedichte
– von unterschiedlichsten Vers- Strophen- und Reimformen, bis zu freien Versen und dem anspruchsvollen
Prosagedicht, das bei Vesna Parun
wie in plötzlicher Eingebung als eine
erstaunliche Fortsetzung schon bekannter Motive aus ihrer früheren
formal gebundenen Poesie auftaucht.
Die hier gebotene Auswahl der Gedichte Vesna Paruns zeigt ihre fortdauernde, aber auch unerschöpfliche
Liebesbeziehung zur Poesie, die sie
seinerzeit wütend und vehement von
sich wies, als sie den Glauben an sie
verlor, an ihrem Zweck und Sinn
und an ihren eigenen Anfängen – in
Wahrheit an sich selbst – zweifelte.
Oft wurde jene Koralle dem Meer
zurückgegeben, oft gab das Meer,
diese ewige Heimat hilfloser Schönheit, die Dichterin dem Gedicht und
dem Leben zurück. Denn es war
nicht einfach, die Begeisterung, mit
der Vesna Parun die Welt des Gedichts betrat, alle die Klänge und die
Magie der Landschaften und die Situationen der Seele, alles Staunen und
alle Bitternis, die sie in den Gedichten zum Ausdruck brachte, aufrechtzuerhalten. Deshalb ist es wichtig,
eine wesentliche Richtungsänderung
im Aufbau ihres reichen Werks zu
verfolgen – die Veränderung in Vesna
Paruns Liebe und Leidenschaft. Es
handelt sich dabei nämlich nicht
mehr um nur eine Person, es handelt
sich überhaupt nicht mehr um eine
Person, sondern um die verwandelte
Liebe zur dichterischen Reinheit, um
die Sehnsucht nach dem Aufbau eines poetischen Kristalls, ohne überflüssige Worte, wenn Liebe, Leiden-
schaft, Begeisterung, Fruchtbarkeit
und das angefachte Feuer ihre antithetischen, besänftigten Pole der Weisheit und des Verständnisses erlangen. Die Dichterin sagt das am besten auf ihre Weise:
Die Liebe verpflanzt meine
Gedanken
in die Gärten der Ewigkeit.
Aus der Schatzkammer, aus dem
Reichtum zwanglosen Dichtens näherte Vesna Parun sich einer weisen,
selbstbewussten Beziehung zum Gedicht als einem Wesen. Sie sagt:
Der Kristall meines Wesens
ist schon geschliffen, Leere
und Echo funkeln in ihm.
Luzidität und oft auch Scharfsinn,
die sie in ihrer Poesie wie auch im
Leben entfaltete, bewahrten die innerlich angestaute Kraft, aus der heraus
ihr Gedicht wie aus unversiegbarer
Quelle erwuchs; brüllend und lärmend brachen die unaufhaltbaren,
beweglichen, in den Rythmus und
die Harmonie reimender Vierzeiler
und Terzetts gebetteten Herden ihrer Worte heraus ins Sonett (Sonet o
~isto}i – Sonett über die Reinheit, Sonet
o naran~i – Sonett über eine Apfelsine,
Sonet o proljetnoj ptici – Sonett über
einen Frühlingsvogel). In den achtziger Jahren engte die Dichterin selbstbewusst die breiten Spektren ihres
dichterischen Vokabulars ein und
„entblätterte“ – wie Tin Ujevi} – das
Gedicht bis auf die nackte Haut,
kürzte die Länge der Verse.
Durch die Kraft der Erfahrung und
der Reife wurde diese Poesie diszipliniert und harmonisch. Der Forscher des Gedichts in Vesna Parun
beaufsichtigte jetzt ununterbrochen
ihre Poesie. Wieviele Male sagte ich
mitten in der Nacht: Lebt wohl ihr
Feuer! Ich gehe für immer einer wunderbaren Einsamkeit entgegen... sagt
die Dichterin in einem Sonett. Wenn
es schien, dass sie sich in ihren ersten
Gedichten manchmal am Rande des
Sentimentalen, Romantischen, allzu
RELA
TIONS
Empfindsamen oder allzu Hingebungsvollen bewegte (obwohl sie nie
ins Pathetische abglitt), in den neueren
Gedichten, besonders in der Sammlung Indigo-grad (die ich für die reifste, wichtigste und poetisch stärkste
Sammlung halte), zeigte sie die Ursprünge ihrer Empfindsamkeit, den
Kontext von Ursache und Wirkung,
ließ das Gedicht als Ganzes, sowie
seine Struktur harmonischer werden.
Wenn für Vesna Krmpoti} die Poesie der vom Vogel gelöste Flug ist, so
ist für Vesna Parun die Poesie der
Vogel selbst, der nicht oberflächlich
wie der Mensch ist, der weiß, dass das
Schlagen des Herzens unter der Erde
noch stärker ertönt, und statt der beruhigenden Klänge eines Schlaflieds müsste der ganze Wald das Dröhnen des
unterirdischen Raums, das der Schmerz
hervorrief, hören.
Durch ihren ganzen dichterischen
Opus, ohne Rücksicht auf den Wandel der Form ihrer Gedichte, zieht
sich beharrlich eine Diagonale, eine
jetzt schon reife ontologische Kategorie ihrer Poesie, in deren Aufbau
Liebe, Träume, Freiheit die Basis bilden. Vesna Parun hört nie auf zu
lieben und in der Liebe zu unterweisen, zu träumen und im Träumen zu
unterweisen, dem weißen Faden der
Freiheit zu folgen. Sie bleibt ihrer
Begeisterung für die Liebe treu, der
feurigen Leidenschaft und deren Echo,
dem Widerschein – wie Dora Pfanova sagen würde. Auch Vesna Parun
nimmt in ihren dichterischen Schoß
dieses Wort auf, denn auch sie hat
wie Dora Pfanova ihre bitteren Wünsche in einem altertümlichen Kästchen
der Winde aufbewahrt, das sie einsam
an eine Wegkreuzung stellte – damit
jedes Menschen Geheimnis daraus widerscheinen soll.
Das Meer ist ein unerschöpfliches
Thema in Vesna Paruns Poesie. Eher
noch könnte man sagen, dass das
Meer ihr dichterischer Spiegel ist, es
spiegelt ihre Seele bei jedem Wetter
wider, im Guten wie im Schlechten,
RELA
TIONS
weshalb sie sagt, wenn du den Weg in
meine Seele suchst, führe mich zum
stürmischen Meer, oder sie gibt sogar
die Wiege dem Meer zurück oder sie
selbst ist das Meer von Wut umhüllt.
Vor dem Meer, wie auch vor dem
Tod, hat sie keine Geheimnisse. Das
gleiche Meer entwickelt sich zum
Symbol, wenn die Metapher sich
selbst überragt, das Zeichen umfasst,
das in seiner Größe die kontrapunktischen Motive von Liebe und Tod,
Erde und Mond, Heiterkeit und Wut
annehmen kann. So entdecken wir
noch eine erstaunliche Verfahrensweise in der Poesie Vesna Paruns –
sie verschiebt, schmelzt Symbole,
denn das gleiche Meer kann auch in
seiner Identifikation mit der Seele
verschwinden, hinter die andere Seite des Spiegels gelangen (einzig und
allein die Poesie ist stärker als das
Meer!). Verschwinden heißt nicht
sterben, im Gegenteil: In eine milde
Schatzkammer treten und seine Blüte hineintragen.
Das Meer verschwindet vielleicht, aber
es stirbt nicht, sagt die Dichterin. So
verschwindet wahrscheinlich auch die
Seele, ohne etwas von dem zauberhaften Tod zu wissen, den sie nur mit dem
Rand des Flügels flüchtig berührt hat!
Die Seele verschwindet und nimmt
das, was in ihr aus Gottes Hand blühte, in eine unendlich milde Schatzkammer mit.
Was ereignet sich eigentlich in jener
unendlich milden Schatzkammer, in
die das Meer und die Seele ihre Geheimnisse brachten? Es ereignet sich
das Gedicht, denn gerade Vesna Parun zeigt und beweist, dass die Poesie ein Akt der Seele, weniger der
Emotionen und des Intellekts ist.
Vor langer Zeit gab die Dichterin
einem ihrer Gedichte aus der Sammlung Prolazim `ivotom (Ich gehe durchs
Leben) den Titel Prava pjesma (Ein
wirkliches Gedicht). Darin sagt sie,
sie habe schon längst ein wirkliches
Gedicht schreiben sollen, als die dunk-
Dossier: Vesna Parun
len Stunden des Lebens hoch am vergoldeten Zenit des Sommers unbeweglich standen. Natürlich hat Vesna
Parun das wirkliche Gedicht schon
seit langem geschrieben. Das ist ein
Gedicht, das fast nicht erlaubt, dass
wir jemals aus ihm hinausgehen, erschüttert vom überwältigenden und
aufrichtigen Eindruck, den es auf uns
macht. In dieser Auswahl befindet es
sich auf dem Ehrenplatz, d. h. an erster Stelle. Mati ~ovjekova (Die Mutter des Menschen) ist ein Gedicht,
dass man zuerst als eigene Erfahrung
unseres Daseins erlebt, das in einem
bestimmten Augenblick so unerträglich wird, dass man dem entsagt, der
uns erschuf. Die Gestalt der Frau als
Mutter wird bildhaft in animalische
(Bär, Schlange) oder sogar unbewegliche, zum Gegenstand gewordene
Surrogate (ein Stein) verwandelt. Das
Schockante des letzten Verses der
ersten Strophe: es wäre besser, dass
mich ein wildes Tier mit dem Euter
gesäugt, als eine Frau wird in der zweiten Strophe vollkommen gemildert,
da die ganze Strophe auf Vogelflügeln
in die Höhe fliegen und uns mit dem
archetypischen Bild des Baums, der
duftenden und blühenden Linde (der
Baum der Kindheit!) beruhigen wird.
Der freimütige Ausruf des ersten Verses am Anfang des Gedichts scheint
aus dem Mund eines zürnenden Mädchens am Bach zu stammen – wie ein
geflügeltes Wort oder sogar ein Fluch:
Besser, du hättest den schwarzen Winter geboren, o Mutter. Jetzt sind wir
von dieser Stelle schon einen ganzen
Zivilisationsschritt entfernt, denn
dies ist ein Zivilisations-Gedicht, das
in seiner hilflosen Schönheit Boden
und Höhe, Weltlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Wesens entzweibricht.
Dieses Gedicht besitzt – entwickelt
innerhalb einer pyramidalen Konstruktion – die Kanons eines befestigten und stabilen Bodens, einer
Höhle; durch die Steigerung der Auswahl von Lexemen, die eigentlich
113
antithetische Pole des Gedichts sind,
steigt es in die Höhe bis zum Vogel –
von der Schlange im Nest bis zum
Lamm, dem sanften Jungen, von
Winter und Kälte zum wärmenden
Flügel, zu Zärtlichkeit und Tränen.
So erschafft die Dichterin ein wunderbares, wirkliches Gedicht, aus
dem schon seit langer Zeit die Botschaft des letzten Verses widerhallt:
es ist bitter, ein Mensch zu sein, wenn
Messer und Mensch sich verbrüdern.
Die Einsamkeit des Menschen, das
Erleben des Todes, der Tod selbst,
aber vor allen Dingen die Gewalttätigkeit im Menschen hallen mit einem solchen Gedröhn an Bedeutungen wider (Vesna Paruns neuester
Gedichtband trägt den Titel: Bubnjevi umjesto srca – Trommeln statt Herzen), dass es unmöglich ist, sie aufzuzählen, unmöglich sie zu vergessen,
denn nach jedem wiederholten Lesen, finden wir, selbst wenn wir das
Gedicht schon auswendig können,
etwas Neues darin, etwas noch nicht
Bemerktes obwohl so Kraftvolles,
wie jede der Metamorphosen, die es
in diesem Gedicht, wie im gesamten
poetischen Werk der Dichterin in
Hülle und Fülle gibt. Wir dürfen den
Titel nicht vergessen – es handelt sich
nicht um unsere oder um die Mutter
Vesna Paruns, sondern um die Mutter – des Menschen.
Alles beginnt dort, wo es wiedererkannt wird, und die Poesie Vesna
Paruns muss man von neuem entdecken, auf rechte Weise wiedererkennen. So werden wir auch ihre schwer
zu interpretierende Metaphysik deuten, das Wunder des Daseins und
des Wiedergeborenwerdens. Wo?
Dort wo die großen Flüsse die
Nacht erleuchten
Und die Wasserfälle den Namen
Der noch ungeborenen
Welt aussprechen
Aus dem Kroatischen
von Hedi Blech-Viduli}
Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ...
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
114
Georgi Gospodinov beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
115
Ergreifende Erinnerungen
an die dalmatinischen Tafeln
Eine Reise in die Vergangenheit und Gegenwart
unter dem Einfluss der Serenissima
Veljko Barbieri
A
m dunklen Mahagonitisch, an
dem ich seit meiner Kindheit an der
tagtäglich durch das Essen gestillten
und gezähmten Leidenschaft meiner
Großeltern teilnahm, strömte aus alten Schüsseln aus Aluminium, Kupfer, Porzellan oder Silber die kulinarische Geschichte – neben Menüs
und Speisen, die sich wohlriechend
und dampfend auf dieser stets lebendigen Bühne bewegten und bisweilen
das Halbdunkel des Esszimmers mit
einem zarten Dunst erfüllten, der auf
dem Gaumen sogleich die Empfindung eines bekannten und verlockenden Geschmacks hervorrief oder
aufgrund seines würzigen Geruchs
die kindlichen Lippen verschloss, da
sich diese damals häufig gegen die
schweren und in der Regel zum Kult
gewordenen familiären Gerichte wehrten. Eine Geschichte der verwickelten, über Generationen mündlich oder
schriftlich weiter gegebenen Herkunft dieser Speisen, die in einem
dunklen, klebrigen Fleischsaft oder
in einer roten Fischsoße, die nach
trockenem Weißwein roch, kondensiert wurde. Oder im Dampf, der
vom benetzten Braten aufstieg, mit
gleicher Intensität aus seiner vergoldeten Haut wie von der Oberfläche
eines dampfenden gekochten Fleisch-
Veljko Barbieri wurde 1950 in Split geboren. Sein Abitur machte er am Klassischen Gymnasium in Zagreb, wo er später auch an der Philosophischen Fakultät
studierte. Er verfasste zahlreiche Prosawerke und seine Romane und Erzählungen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er erhielt mehrere Literaturpreise
und seine Prosa ist in einheimischen und ausländischen Anthologien vertreten.
Sein bekanntester Roman Epitaph eines königlichen Feinschmeckers („Epitaf
carskog gurmana“), der die Gastronomie als Ausgangspunkt im Kampf eines Einzelnen gegen die autoritäre Gewalt wählt, wurde in der größten Auflage in der
Geschichte der kroatischen Literatur gedruckt und distribuiert. Nach gastronomischen Rubriken in verschiedenen Wochenblättern und kulinarischen Beiträgen im kroatischen Nationalfernsehen schreibt er seit drei Jahren die ständige
Kolummne in der Wochenzeitschrift Nacional, aus der das vierteilige Werk
Canzoniere der dalmatinischen Küche: Mediterrane kulinarische Erinnerungen
(„Kuharski kanconijer“) entstanden ist. Nur der erste Band des Canzoniere wurde
bis jetzt in vier Auflagen veröffentlicht und ist ein literarischer und gastronomischer Bestseller. Das Buch wurde ins Deutsche, Englische und Italienische
übersetzt und vom Verlagshaus Profil herausgegeben. Das gesamte Projekt ist
als dreibändiges Werk gedacht, das das gastronomische Erbe unseres Mittelmeerraums, an den Grenzscheiden der Geschmäcker und Düfte, der Epochen und
der Zeit historisch und zivilisatorisch darstellt.
stückes, dessen Essenz die kräftige
dalmatinische Suppe bereits bereichert hatte. Erst viel später, als ich
aus diesem großen geerbten Kaleidoskop jede einzelne Speise auszulesen
vermochte, als ich die leichten Kalbsgerichte von den schweren betörenden pa{ticadas zu unterscheiden lernte, die aromatischen brujets von den
zarten Fischaufläufen, die gewürzten
Risottos von den Teigwaren und
Gnocchi in ihren {al{as, begann sich
diese gastronomische Kette langsam
zu einer persönlich erlebten Geschichte zu ordnen. Sie durchzog ganz unmittelbar, dabei völlig unbemerkt,
die Wurzeln meiner Ahnen und meiner selbst, und über die Löffel und
116
Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ...
Gabeln, mit denen die einzelnen Bissen von den Tellern gereicht wurden,
durchzog sie auch Küchen, alte Kessel
und Gefäße, die immer noch auf den
längst erloschenen Flammen rauchten, vom mittelalterlichen Brescia
über das humanistische und ungezähmte Venedig der Renaissance bis
zum barocken Dalmatien, nach Trogir, Zadar, Split, Hvar, Vis, Makarska und Dubrovnik, all’ das Orte, in
denen seit Jahrhunderten meine Vorfahren und meine Eltern leben. Es
wäre freilich sowohl anmaßend wie
auch unwahr, die eigene familiäre
Linie für ein Musterbeispiel jener
Dalmatien und dem Mittelmeer eigenen Fähigkeit zur Vererbung zu
halten, auch wenn sich diese Linie
stützt auf die verloren gegangenen
und überlebten Rezepte, die von Mund
zu Mund weiter getragen und später
in ersten handgeschriebenen Kochbüchern festgehalten wurden, in welchen sich die Sprachen und die Bedeutungen vermischten; in späteren
Zeiten gab es ja auch gedruckte kulinarische Handbücher, die ebenfalls
sehr persönlich gestaltet und später
von unseren Großmüttern durch Anmerkungen ergänzt wurden. Aber
auch dieser begrenzten, manchmal
beengten Auswahl, die unter anderem von der vererbten Zuneigung zu
diesem oder jenem Gericht, zu dieser oder jener Zusammensetzung von
Geschmäckern und Gerüchen bestimmt wurde, wohnt eine unverhüllte Vitalität inne, die tagtäglich
von der Küche bis zum Gaumen,
vom Gaumen bis zum Bauch den
Willen zum Leben und zum Genuss
festschrieb. Es genügt, mich an die
wechselseitige Leidenschaft meiner
Großeltern zu erinnern, die sich in
den – im Verlauf eines Tages mehrfach wiederholten – Ritualen der
Teilhabe am Kochen und am Tisch
äußerte, an die Ungeduld, die bis zu
jenem Zeitpunkt spürbar war, an
dem ein Gericht aus dem Topf meiner Großmutter hervortrat und mei-
nem Großvater serviert wurde, an jenes stille, schweigende Genießen und
an die abschließende laute Zustimmung, die von ausführlichen Disputen über die Qualität der Speise begleitet wurde, um in dieser persönlichen Geschichte von Zuneigung und
Hedonismus die Spur der Zeitumschichtung zu erkennen, die beim
Aufstieg Dalmatiens sowohl in den
Kesseln großer Umwälzungen wie
auch in den Töpfen voller heute verlorener Geschmäcker und Gerüche
erkennbar wurde. Auch wenn es nur
einen Aspekt zeigt, ist dieses Bild
zugleich doch sehr allgemein. Es ist
sowohl im Nachhall der scharfen
Stimme der Großmutter erkennbar,
mit der bei jedem Abendessen mit
einem beinahe prophetischen Beiklang verkündet wurde: Morgen werden wir pa{ticada haben, übermorgen
gebratene Pute, am nächsten Tag
schwarzen Risotto oder frittierten
Rochen und so unendlich weiter, bis
zu einem Feiertag oder dem Tag eines Heiligen, einer Gelegenheit, bei
der alle altertümlichen Menüs in einem Festival familiärer Geschmäcker
und kulinarischer Tradition detonierten, wie auch im eingeprägten
Genuss dieser Gerichte, die als Unterpfänder der Herkunft und als gekonnt gekochte Stückchen gemeinsamer Rezepte und Zutaten über unseren Tisch und unseren Gaumen
glitten.
Diese aufregende, nur anscheinend
persönliche Geschichte, die meines
Erachtens in Dalmatien sowohl in
den Tönen des antiken Erbes wie
auch der romanischen und kroatischen Erfahrungen erklingt und sich
anlehnt an byzantinische, sarazenische,
apulische und levantinische Einflüsse, hat das kulturelle und kulinarische Bild einer einheitlichen gastronomischen Region geschaffen, bevor sich die Löwenpranke der venezianischen Republik über sie legte.
Ab diesem Augenblick wurde der
Einfluss Venedigs, so scheint es mir,
RELA
TIONS
entscheidend. Vor allem ab dem XV
und XVI Jahrhundert, als die reiche
Küche des Geflügelten Löwen, die
auch selbst dem antiken und dem
byzantinischen Erbe entstammte und
die durch östliche und levantinische
Einflüsse bereichert wurde, die Venedig auf demselben Weg wie Dalmatien erreichten und den illyrischen Küsten die Vielfältigkeit der
Zubereitung schenkte, die milderen
gastronomischen Akzente, die vermischten Grundlagen aus geschmolzener Butter und Olivenöl, die wieder
entdeckten Teigwaren und Risottos,
gefüllte Kopffüßler und Salate aus
Meeresfrüchten, verfeinerte Gerichte aus Wild, Geflügel und Fisch, die
Jahrhunderte lang in den Lagunen
der Republik entwickelt wurden. Die
Republik begann im Gegenzug allmählich den dalmatinischen Kohl zu
genießen, das dalmatinische Gemüse, Safran, Salbei, Origano, Thymian, Mandeln und Johannisbrot, gesalzene Sardellen und Anchovis, Öl,
Wein, aber auch geräuchertes Fleisch
und geräucherten Fisch, die für Feierlichkeiten nach Venedig exportiert
wurden, lange bevor Mitte des XV
Jahrhunderts jener Abenteurer Pietro
Querini den Stockfisch aus dem Norden mitbrachte. Eine kurze Aufzählung, der ich noch in den Menüs
meiner Großmutter lausche und in
denen noch tiefer zu graben sich lohnen würde, um daraus schöpfen zu
können, wie mit einem Löffel im tiefen Porzellan der Zeit. Bis hin zu
jenem gemeinschaftlichen, wahrhaftig rituellen Mord, bei dem die Zähne zum ersten Mahl in das Fleisch
der lebenden Muschel vordrangen
und mit dem eine Entwicklung beginnt, die bis zu jenem Augenblick
führt, in dem der gepresste Saft einer
wilden Apfelsine oder einer Zitrone
das Sterben der Kreatur erschwerten
und einem mittlerweile vergessenen
Feinschmecker einen echten gastronomischen Genuss verschafften – jenem Augenblick, in dem die Küche
RELA
TIONS
und die Kunstfertigkeit der Zubereitung von Speisen geboren wurden.
Ein mit Vorsatz angewandtes Verfahren zur Veränderung der chemischen Zusammensetzung von Lebensmitteln, erhoben zu einem hedonistischen und überaus intellektuellen Akt.
Auf der üppigen und lustbetonten
dalmatinischen Tafel gibt es viele
Reste aus uralten kulinarischen Zeiten, verborgen in oder ausgegraben
aus den Ablagerungen großer Höhlen, wie aus jenen auf der Insel Hvar,
in denen im Zeitraum vom 6. bis
zum 1. Jahrhundert vor Christus
Tierknochen, meist von gezüchteten
Ziegen und Schafen, aber auch von
Wild, wie auch Muschelgehäuse und
Fischgräten gelagert wurden – neben
Fragmenten neolithischer ritueller
und landwirtschaftlicher Gefäße zur
Aufbewahrung von Getreide und
Körnern, griechischer und römischer
Pfannen und Schüsseln, in denen das
Erbe von Arhestrat und Apicius noch
nicht erloschen ist und das heute
noch präsent ist in den noch beliebten Speisen aus Innereien wie den
dalmatinischen Kutteln oder den einheimisch gewordenen Speisen aus
verschiedenen Leberarten, die unsere Familientafel zierten. Ihre Provenienz ist vollkommen venezianisch,
allerdings in einer uns angepassten
Form, wie bei der Leber dolce garbo
oder jener alla veneziana. Aber auch
hier, in diesem süß-sauren Ensemble,
leben die Antike und das Mittelalter
fort, der Genuss und das Ritual, in
dem die gedünsteten Innereien mit
guten und schlechten Vorzeichen
vermischt werden, die die griechischen Hieromnamons und die römischen Haruspexe aus den Eingeweiden geschlachteter Tiere und die Mönche in der lebenden Inkarnation des
Christus-König sahen. Über unsere
Tafel zogen sowohl die ruhmreichen
dalmatinischen le{adas, gregadas und
brodets, dicke Fischaufläufe, deren
Vorlagen ebenfalls in der gastrono-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
mischen Mittelmeergeschichte brodeln, und Varianten davon mit ähnlichen oder gleichen Namen und etwas anderer Zubereitungsart duften
von Portugal und Spanien bis in die
Provence, nach Ligurien, Veneto,
Istrien und Dalmatien. Die ganze
gastronomische Welt ist in eine allgemeine hedonistische Weltanschauung verwoben. Dalmatien hat freilich
jeden dieser Einflüsse aufgesaugt, angefangen von der archaischen und
verhältnismäßig enthaltsamen, aber
gewürzten Küche ihrer Polis-Städte
Pharos und Issa, in der das Meer und
das Festland ebenbürtig vermischt
wurden, Seeigel und Muscheln, geopferte Welpen und Singvögel, Scampi und Krabben in Honig, Lammund Ziegenfleisch mit dem starken
Wein und Essig der ionischen und
dorischen Siedler dieser Provinzen.
Später die der entwickelten und hohen Küchenkunst der römischen Zentren und Großstädte wie Jader, Salona
und Narona, künftiger bedeutsamer
byzantinischer und venezianischer
Besitztümer, die in der imperialistischen Epoche bei den üppigen Festgelagen überall in den Munizipen
und Kolonien zu Ehren kam. Es
wurde kaum ruhiger an den verrauchten Feuerstätten und in den
Weinschenken vom VI bis zum X
Jahrhundert, als sich die Geschmäcker und Glaubensbekenntnisse der
adriatischen Romanen, die die antiken und byzantinischen Namen der
Fische, der Kochtechniken und der
Gerätschaften übertrugen, mit denen
der ersten angesiedelten Kroaten vermischten, die uralten Fladenbrote, die
gleichermaßen den antiken, levantinischen, dalmatinischen und venezianischen Tisch zieren, mit den biblischen Brotlaiben, der hellenistische gesalzene Fisch mit neuen Kunstfertigkeiten. Und wenn zur Sommerzeit die mir damals verhassten und
meinem Großvater so lieben gefüllten Auberginen auf dem Tisch erschienen, wurden ihre im Ofen über-
117
backenen Hälften plötzlich zu schnellen Booten der Sarazenen, die neben
Konflikten und Brandstiftungen auch
die Gerüche und Geschmäcker des
italienischen Südens mit sich brachten, Siziliens, Nordafrikas und der
Levante, den schon vergessenen Reis,
Kichererbsen, Gewürze, Obst und
Gemüse, welche die Wüstenreiter zusammen mit dem wieder entdeckten
alten Können in die eroberten Gebiete trugen. Das napoletanische und
sizilianische, hohenstaufensche und
anjouische Königreich importierte
vom XI bis zum XIV Jahrhundert
seine ebenfalls durchmischte gastronomische Hinterlassenschaft nach
Dalmatien und an das gemeinsame
Mare Nostrum und brachte venezianische und dalmatinische Gewürze,
Techniken, Lebensmittel und Veredelungen mit ihren unschwer erkennbaren gemeinsamen Wurzeln in
seine Besitztümer zurück. An jenem
Mahagonitisch, an dem ich immer
noch meine Großeltern sitzen sehe,
verbindet sich die Erinnerung an diese Zeiten mit schweren, gedünsteten
Speisen aus Fisch und Fleisch, die
alle mit dem euphemistischen Beiwort „wie Wild“ tituliert wurden,
mit Rosmarin, Knoblauch und Petersilie, begossen mit Weinessig, mit
der einen oder anderen verirrten Gewürznelke und etwas Muskatnuss.
Diese Speisen scheinen die kreuz und
quer laufenden Wege, in deren Mitte
gerade Dalmatien lag, zu durchkreuzen, sie wenden sich gleichermaßen
den alten venezianischen Aufläufen
aus Fisch und Fleisch aus der Zeit
des Ruhms zu, bevor Dalmatien und
Serenissima, ihre Märkte und Küchen vom Gemüse aus den beiden
entdeckten Amerikas überflutet wurden. Und obwohl der venezianische
und der dalmatinische Tisch nun auf
ein kleines Meer beschränkt waren,
in einer Zeit, die gerade die Kontinente entdeckte, erlebten gerade der
Geschmack, die Rezepte und das
Wissen, die über den mittelalterli-
118
Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ...
chen Horizont hinaus gingen, ihre
Auferstehung in der Renaissanceküche, die von Venedig und vom
Mittelmeer beeinflusst war, in den
bedeutsamen Werken von Maestro
Martin, Bartolomeo Platina und Bartolomeo Scappio, in welchen man
wieder die belebte Lust der hausgemachten maccheroni, der dalmatinischen makaruni, der istrianischen
fu`i spürt, von Malvasia und Plavac
und von einem Strauß aus aromatischen Pflanzen, deren Duft von dalmatinischen Tellern zu den humanistischen italienischen Tafeln strömt,
um von dort veredelt zurück zu gelangen. Etwas später färbt sich der
gastronomische Horizont rot durch
die aus Neapel kommende Tomatensoße, die Felder und Mündungen
großer Adriaflüsse werden gelb von
Polenta und vom Mais, diesen Stützen der venezianischen und dalmatinischen Gastronomie, und noch später werden Paprika und Kartoffeln
auf den Tisch gebracht, zusammen
mit Hülsenfrüchten, den künftigen
Ernährern Europas und der Adriaregion – diese werden das alte Bild
der gastronomischen Welt verändern. Wie viele andere wichtige Errungenschaften, die die Spanier und
Portugiesen schrittweise aus Amerika und Asien brachten, so werden
auch diese zunächst nach Venedig
und dann nach Dalmatien kommen,
manchmal nach Serenissima aus dem
Norden Italiens und nach Illyrien
aus dem Süden, aber nie mit einer
großen Verspätung gegenüber den
immer erreichbarer gewordenen französischen und europäischen Tafeln.
Denn die adriatischen Zentren waren im kulinarischen und gastronomischen Sinne bereits gut organisierte Kommunen. Durch ihre mittelalterlichen und Renaissance-Statuten waren die Handelsweisen und
-orte von Fleisch und Fisch vorgeschrieben, die Bedingungen für Export und Import, die im Kolonat geregelten Besitzverhältnisse der Grund-
stücke, die Zucht von großem und
kleinem Vieh. Immer wenn ich mich
an eine anspruchsvolle Speisefolge
meiner Großmutter erinnere, von
buzara, marinada, Risottos und Suppen über gefüllte Tintenfische zu großen gegrillten Fischen, erinnere ich
mich gleichzeitig an die Hunderte
ordentlich beschriebener Blätter von
Verordnungen, die in den Verträgen
der Fischer, Händler und Nahrungsverarbeiter vom XV bis zum XIX
Jahrhundert erwähnt werden und die
sowohl die Entwicklung dieser Zentren an der Adria und am Mittelmeer beeinflusst haben, wie auch die
Qualität des Lebens und der Ernährung all’ ihrer Bewohner.
Die Mahlzeiten konnten mit luftgetrocknetem Schinken und Würsten beginnen. In früheren Epochen
mit den heute vergessenen tinguli –
Tunken aus Vögeln, Tauben, die mit
kleingeschnittenem Speck, Knoblauch, Zwiebeln, Sellerie, Weißwein
und Lorbeer gedünstet wurden, mit
ein wenig Nelke und Safran. Mit
Kutteln und Risottos aus Fleisch
oder aus Muscheln und Krebsen, gewürzt mit demselben Safran, mit Rebhühnern im eigenen Saft oder mit
großen Tabletts, auf denen gebratene
Hühner, Kapaune, Gänse und Enten in Soßen aus wilden Apfelsinen,
mit welchen manchmal auch die zeitgenössischen Dalmatiner ihren gebratenen Fisch beträufeln, aneinander
gereiht wurden. Diesem Gang folgt
der harte und herbe Schafs- und Ziegenkäse oder der junge, in aromatischen Kräutern eingelegte, danach
kamen Torten aus Mandeln und
Maraschino wie die berühmte Torta
Macarana, erneut eine starke gastronomische Erinnerung an die Kindheit, die ravjioli, die sich zusammen
mit dem Karneval aus Venedig eingeschlichen haben, fritule, kro{tule
und pa{urate. Das Barock wurde langsam von der Aufklärung abgelöst,
und im immer weniger wichtigen
Dalmatien, das immer noch unter
RELA
TIONS
der Obhut von Serenissima, dessen
Glanz dank den Menüs von Canaletti, Goldoni und Casanova erhalten wurde, stand, in dieser vernachlässigten Provinz also pflegte man –
natürlich bei feierlicheren Anlässen,
bei Gesprächen, die für die Schicksale vieler damals schon angeschlagener Kommunen vermeintlich wichtig waren, – auch jene Speisen aus
Artischocken aufzutischen, die meine Großmutter alla dalmata zubereitete, in einer Soße aus Knoblauch,
Petersilie und Semmelbröseln, gekocht mit Saubohnen und Erbsen,
des weiteren Lammfleischgerichte
aus den Berg- oder Inselregionen, im
Frühling ein Zicklein am Spieß, im
Herbst, während der Weinlese, gegrillte Frikadellen aus Hammelfleisch,
ferner Hasen und Kaninchen, bei
winterlichen Festlichkeiten auch einmal ein gebratenes Spanferkel, aber
am häufigsten die schon so oft erwähnte pa{ticada, die unter allen dalmatinischen Speisen am ehesten einen Kultstatus erreicht hat, die direkte Vorgängerin oder die Weiterentwicklung der venezianischen pastissada aus einer zarten Rindernuss.
Als Beilagen wurden alle Arten von
Blattgemüse gereicht: Mangold, Ginster, Mischungen aus verschiedenen
Sorten. Spargel im Frühling, die raren Trüffeln im Herbst. Nach dem
Tod Venedigs im Sand der bonapartistischen Arena, nach einer kurzzeitigen französischen, englischen und
dann der langen österreichischen Herrschaft, begann sich die dalmatinische
Küche langsam der europäischen anzunähern und ihre Tische füllten sich
immer öfter mit verschiedenen Suppen, Gulaschs, Ragouts und Koteletts, Wiener Schnitzeln, Süßwasserfisch in Wein, Butter und Öl, Nudeln
und Risottos, ergänzt durch neue Soßen aus Fleisch oder aus Meeresdelikatessen, in denen zugegebenermaßen die dalmatinische und venezianische gastronomische Hinterlassenschaft wieder eine Rolle spielte,
Zeitgenössische Poesie und Prosa
119
Foto: Jakob Goldstein
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TIONS
Lucia Etxebarria beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
aromatische Kräuter und Pflanzen,
Kapern und Oliven, der gesalzene
oder der schöne frische Fisch, frisches und geräuchertes Fleisch und
wohlriechendes Mittelmeergemüse,
zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits
in ein neues kulturelles und gastronomisches System eingegliedert. Es
kommt nicht selten vor, dass in dem
von der Hand meiner Urgroß- und
Großmutter geschriebenen Rezeptbuch Anweisungen zur Zubereitung
von venezianischem riso in cavroman,
dalmatinischem Reh „wie Wild“,
französischen timbales de cervelle und
österreichischem Käsekuchen in trauter Nachbarschaft vorzufinden sind,
bei immer stärker anwachsender Präsenz der damals etwas exotischen
otomanischen und balkanischen Einflüssen der sarma und verschiedener
dolmas. Ein bunter kulinarischer Fächer, in dem sich die ersten Anzeichen der Vereinigung der allgemei-
nen europäischen Küche mit der partikulären dalmatinischen Tradition
zeigen, ja auch mit jener venezianischen – keine Ausnahme innerhalb
der neuen gastronomischen Tendenzen des XIX Jahrhunderts, dieses bürgerlichsten aller Jahrhunderte, in dem
zugleich die Republik auf den Lagunen und die kleinen oligarchischen
Stadtstaaten verschwanden, unter ihnen Dubrovnik, wo meine Familie
ebenfalls gelebt, gekocht, gegessen
und das Leben genossen hatte.
Ich sehe wieder, wie ich mich an jene
dunkle Tafel niedersetze, während die
Gerichte unter den Lichtbändern,
die durch die geschlossenen Fensterläden fallen, glitzern. Eine Spannung, die nur feierlichen Augenblicken eigen ist, verströmt von der duftenden Oberfläche der Speisen, die
ihre lange Geschichte ausstrahlen.
Über einem von Dampf umhüllten
Teller zeichnet sich die Silhouette
meiner Großmutter ab, die etwas erklärt, verloren im Hintergrund der
großen Vitrine, aus der mich glasierte Pagoden und Brücken aus chinesischem Porzellan anstarren, eine Landschaft, der in jedem Augenblick Marko Polo entspringen und uns die ganze Welt seiner großen Entdeckungen
darbieten könnte. Die Sagen über die
Nudeln vermischen sich mit den
Legenden über seine Abstammung
von der Insel Kor~ula, und mein
Großvater probiert zufrieden die dargebotenen Speisen und spinnt Geschichten über ihre jeweilige Herkunft. Vor ihm die feierlich gedeckte Tafel, auf die Großmutter gerade
die Creme aus Stockfisch stellt, die
wir einst wie Leberwurst dick auf
frisch getoastetes Brot schmierten.
Direkt danach bietet sie uns den dalmatinischen Stockfisch „weiß“, der
mehr einer Suppe ähnelt als der venezianische. Mit dem dalmatini-
120
Veljko Barbieri: Ergreifende Erinnerungen and die ...
schen roten brodet aus diesem schon
heimisch gewordenen getrockneten
nördlichen Fisch endet der Fastentag, und schon beginnt der nächste,
an dem dicke Fischsuppe serviert
wird, Muschelrisotto, Kraken, Sepias
und Tintenfische in einer dunklen
Soße mit Polenta und geriebenem
harten Ziegenkäse und am Schluss
der gekochte oder zart gratinierte
Fisch aus dem Backofen. Wir essen
schweigend in der Erwartung des
Fleischfeiertages. Und schon kommt
die klare Kalbssuppe, und dann duftet aus der Küche die pa{ticada mit
den hausgemachten Gnocchi und
Maccheroni, die meine Großmutter
am Vortag vorbereitet hat. Es folgt
die gebratene Putenbrust mit Kastanien und Lammfleisch mit Kartoffeln aus dem Ofen. Am Ende wird
aus der Kristallkaraffe Wein in die
Gläser gegossen und zusammen mit
dem Rubin und dem Gold gleiten
die Gestalten unserer gemeinsamen
Vorfahren aus Venedig nach Dal-
RELA
TIONS
matien und zurück, aus dem uralten
Dalmatien nach Venedig, aus der
Karaffe in das Glas und aus dem
Glas in die Karaffe zurück und werden in meinem Bewußtsein wie Wirklichkeit in Erinnerungen umgefüllt,
wie Nahrung in Entstehung, wie
Gegenwart in Vergangenheit, wie
das Leben in den Tod.
Aus dem Kroatischen
von Alida Bremer
Rezepte zum Text:
Gregada von der Insel Hvar: In Wasser kochen wir 1 Kilogramm in Scheiben geschnittener Kartoffeln mit 1
Kilogramm in Ringe geschnittener Zwiebeln, 5 Knoblauchzehen und einem Bund kleingeschnittener Petersilie zu
2 Kilogramm festem Fisch – Meeraal, Seeteufel, Drachenkopf und weißer Fisch. Wenn es zu kochen beginnt,
werden eine Tomate und einige Lorbeerblätter in die gregada gegeben. Etwas später nehmen wir mit einem Sieb
ein Drittel des bereits gekochten Gemüses ab und zerdrücken es zu einem Püree und geben es zurück in den Topf.
Wir fügen Salz und Pfeffer hinzu, gießen 100 ml Olivenöl dazu und lassen es noch einmal kurz kochen, bis alles
dick geworden ist. Ganz zum Schluss empfiehlt es sich, ein Glas trockenen Weißwein zuzugeben.
Dalmatinische pa{ticada: Lassen Sie eine gespickte Rinder- oder Jungbullennuss (2 Kilogramm) einen Tag und
eine Nacht in einer Marinade aus verdünntem Wein, Weinessig und aromatischen Kräutern liegen. Dünsten Sie
sie mit 1 Kilogramm kleingeschnittener Zwiebeln, zwei Möhren und einer Selleriewurzel und begießen sie Sie
dabei behutsam mit der Marinade. Wenn das Fleisch von allen Seiten Farbe bekommen hat, fügen Sie zwei
Teelöffel Tomatenmark hinzu, gießen Sie ein Glas pro{ek und ein Glas Rotwein darüber, salzen Sie und pfeffern
Sie nach Geschmack, fügen Sie Nelken und Muskatnuss hinzu und löschen Sie allmählich mit Wasser und mit
einem dicken Fleischfond, so lange, bis das Fleisch im klebrigen dunklen Saft weich geworden ist. Nehmen Sie
das Fleisch heraus und schneiden Sie das Stück in Scheiben; diese begießen Sie mit dem durchsiebten Saft der
pa{ticada, in dem Sie getrocknete Feigen gekocht haben. Reichen Sie das Gericht mit hausgemachten Gnocchi
oder mit Maccheroni und mit geriebenem harten Käse.
Torta Macarana: Für den Teig benötigt man 400 Gramm gesiebtes Mehl, 3 Eigelbe, 200 Gramm Butter, die
geriebene Schale einer Zitrone, ein wenig Maraschino und 2 Esslöffel Zucker. Die Zutaten werden gut verknetet,
bis der Teig geschmeidig ist. Mit einem Nudelholz wird aus ca. 2/3 des Teiges ein ziemlich dünner Tortenboden
gerollt; mit diesem Boden wird eine flache, breite und eingefettete Form von allen Seiten belegt. Mit einem
Löffel wird die Füllung hinzugefügt.
Füllung: 1 Kilogramm leicht gerösteter Mandeln wird gemahlen, 1 Kilogramm Puderzucker und etwas Vanille mit
den Mandeln vermischt. 15 ganze Eier werden geschlagen, die Mandeln mit dem Zucker, die geriebene Schale
einer Zitrone und einer Apfelsine, 1 geriebene Muskatnuss und 2-3 Gläschen Maraschino werden hinzugefügt
und alles gut vermischt. Vom Rest des ausgerollten Teiges werden Streifen geschnitten; diese werden wie ein
Netz über die Füllung gelegt. Die Torte wird 45 Minuten bei guter Hitze gebacken. Anschließend wird sie
reichlich mit Maraschino beträufelt und mit Puderzucker bestreut.
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
121
Der Sommernachtstraum
Alida Bremer
Man stirbt leicht in diesem Kaff –
sagte Jozo nachdenklich. Er schwenkte den Wein in seinem Glas.
– Wie meinst du das? – meldete sich
Ana, seine Frau.
Wir saßen in ihrem Garten, auf der
Terrasse direkt vor der Küche, und
da sich über uns der Balkon erstreckte, bildete er eine Art Vordach, so
dass die Einrichtung hier draußen
wie in einem Wohnzimmer wirkte.
Hier tranken wir morgens Kaffee
und abends Wein.
– Habt ihr nicht ein anderes Thema?
– fragte ihr Sohn Marko, ein junger
Mann mit dichtem schwarzen Haar,
unter dem er schwitzte.
Ich sagte gar nichts. Die Hitze dieses
Juni-Tages hatte etwas nachgelassen,
und ich genoss es, endlich ruhiger
und tiefer atmen zu können.
– Ich erinnere mich an all die Toten
in den letzten Jahren – setzte Jozo in
dem gleichen nachdenklichen Ton
fort, als hätte er die beiden gar nicht
gehört. – Stipe stand plötzlich im Hinterhof und rief um Hilfe, und hinter
ihm hörte man seine Frau röcheln.
– Mein Gott – seufzte Ana. – Muss
das jetzt wirklich sein? Sie hatte doch
Magenkrebs.
– Ich habe sie gemeinsam mit Stipe
ins Krankenhaus gefahren. Sie kam
nicht mehr zurück. Und dann der
Nachbar Ivo. Er wollte zu Weihnachten seine Tochter besuchen. In
Zagreb. Das verwöhnte Ding hat in
Alida Bremer, geboren 1959 in Split/Kroatien. Mit ihrem Mann und zwei Kindern
lebt sie in Münster. Freie Autorin und Übersetzerin.
Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik, Slavistik und
Germanistik in Belgrad, Rom, Münster und Saarbrücken. Langjährige Tätigkeit
als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lektorin an den Universitäten in Münster und Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur- und Kulturtheorien, Erzählforschung, Frauen- und Geschlechterforschung, kroatische, bosnische und serbische Literatur – Forschungsprojekte, Artikel, Essays und andere Texte zu diesen
Themen in Deutschland und Kroatien.
Zahlreiche Übersetzungen aus dem Kroatischen, Serbischen und Bosnischen
¹Gedichte, Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Essaysº.
Zagreb studiert und vergessen, dass
der Vater, der den Spaß bezahlte, hier
alleine ist. Und das zu Weihnachten.
Wenn in seinem Garten die Mandarinen so groß wie Tennisbälle sind.
Der Zug blieb sieben Stunden lang
im Schnee stecken, die Lokomotive
hatte eine Panne. Natürlich hatte der
Zug keine Heizung. Und unser Ivo
holte sich eine Lungenentzündung
und starb.
– Jetzt kommen alle Verwandten und
Bekannten an die Reihe, einer nach
dem anderen – sagte Marko in meine
Richtung und zwinkerte mit den
Augen. Mit seinen schönen Augen.
Der plötzliche Tod unseres Nachbarn (sein Haus liegt zwischen meinem und dem von Jozo, Ana und
Marko) hatte uns alle geschockt, und
ich konnte nur schweigen. Eine Kat-
ze huschte durch die blauen Hortensien, auf die Ana besonders stolz war.
– Die Jagd beginnt – zwang ich mich
zu sagen, und ich zeigte mit dem
Finger auf die Katze.
Jetzt verstummte auch Jozo, und wir
alle sahen der Katze nach. Vom Meer
kam endlich eine milde Brise auf,
und am Himmel zeichneten sich die
Sterne immer deutlicher ab. Irgendwo
in der Ferne lachte jemand.
– Sag mal – fragte mich plötzlich
Marko – wie kam es eigentlich, dass
William hier landete?
– Tot – sagte Jozo ganz leise. – Mausetot ist er, und noch gestern hat er
mir von seinem neuen Außenkamin
mit Grill erzählt. Er wollte ihn ganz
fein mauern, aus Stein, mit allen
Schikanen. Der Alte tat es auch, aber
der gute alte Willi wollte es immer
122
Alida Bremer: Der Sommernachtstraum
ganz besonders gut haben. Ich meine
mit dem Haus. Das war ihm besonders
wichtig. Er hat auf jede Kleinigkeit
geachtet, jede Blüte sah aus wie aus
dem Bilderbuch, und nur er hatte
diese komischen Korbsessel, die meine
Frau so vornehm findet, aber bei uns
hat man so etwas nicht. Wir achten
doch nicht auf die Farben der Sitzkissen und Markisen! Sind eigentlich
alle Engländer so? – er blickte zu mir.
Ich kam mir nicht gerade als Expertin
für britische Verhältnisse vor. Die
einzige Qualifikation, die ich hatte,
war meine Reise nach Leeds vor zwei
Jahren, die beim sonst sehr verschlossenen William dazu geführt hatte,
dass er mir etwas mehr erzählte, als
er es üblicherweise tat. Er konnte mit
mir Englisch sprechen, und das war
vielleicht das Ausschlaggebende, denn
sein Kroatisch war schlecht, und wenn
man ihn vom Weitem reden hörte,
glaubte jeder, dass er Englisch spricht.
– Verstehst du eigentlich Englisch,
Marko?
– Nein, wir alle nicht – antwortete Ana.
– Erzähl schon – drängte Marko. Die
Schweißperlen bildeten einen Kranz
auf seiner Stirn. Die kleine Lampe
an der Außenwand des Hauses beleuchtete ihn, während wir anderen
im Schatten saßen.
– Gut. Ja, ich glaube, dass das schon
sehr britisch ist, die Farbe der Sitzkissen in seinen Korbsesseln mit der
Farbe der Blumen auf der Terrasse abzustimmen, oder bei unseren Wasserverhältnissen den Rasen zu sprengen.
– Ich habe ihm immer gesagt, was
ich darüber denke – brummte Jozo.
– Er hat auch Tee getrunken. Kaffee
lehnte er strikt ab und machte sich
damit im Ort unbeliebt. Immerhin
ist das unsere Lieblingsbeschäftigung:
zum Kaffee vorbei zu kommen – sagte Marko.
Es war unheimlich, dass der Nachbar William morgens nicht mehr
über den Zaun grüßen würde. Sein
grauhaariger Kopf tauchte immer
zwischen den lilafarbenen Blüten einer Bougainvillea auf, wenn ich vorbei
ging, um Brot zu holen.
– Wir wissen alle, dass er seine englische Frau und die gemeinsamen drei
Kinder wegen Kata verlassen hat.
Aber ich glaube, er war nicht geschieden, womöglich erbt jetzt die
Frau sein Haus. Ob sie das überhaupt
interessiert? Vielleicht wegen der Kinder, aber vielleicht legt sie auch keinen Wert darauf. Er hat Kata kennen gelernt, als die Befreiung der
Küste durch den gemeinsamen Kampf
der Partisanen und der Engländer
gefeiert wurde – das war noch unter
Tito. Die schöne Kata stand in Volkstracht und mit Blumen in den Händen am Flughafen, und da haben sie
sich zum ersten Mal gesehen. Er war
persönlicher Referent von irgendeinem wichtigen Menschen oder so
etwas. Da Kata nicht nur schön, sondern auch ehrgeizig war, wurde sie
auch in den nächsten Tagen als Dekoration benutzt. Alle anderen Mädchen wurden nach Hause geschickt.
Wie sich die Liebesgeschichte dann
entwickelt hat, weiß ich nicht, auf
jeden Fall ist William nach einigen
Monaten wieder gekommen.
– Das wusste ich schon alles, aber warum ist er geblieben, als sie ihn verlassen hat? Diese Frage hätte ich ihm
gerne gestellt, aber es war mir unangenehm. Dabei haben wir uns jeden
Tag gesehen! Aber er hat nur über seine Weintrauben, seine Feigen, seine
Granatäpfel und sein Boot gesprochen.
Die Nachtluft duftete nach Rosmarin und Meersalz. Ana und Jozo atmeten beide tief und ruhig, als würden sie schlafen. Ich senkte etwas
meine Stimme:
– Dass Kata nicht zurückkommt, war
ihm schon klar. Sie war so wenig
verwurzelt hier. Als ob sie nicht aus
unserem Dorf wäre. Aber er hat sich
hier eingelebt. Und er wusste nicht,
wie er ein neues Leben in England
beginnen sollte. Innerlich war er zer-
RELA
TIONS
rissen. Denn wegen seiner Heimat
hat er mindestens so stark gelitten
wie wegen Kata. Allerdings nicht
stark genug, um dieses Meer zu verlassen. Und die Sonne. „Siehst du
meine Zitronen, Rozana?“ hat er
mich oft stolz gefragt.
Ana unterbrach mich so überraschend
aus der Dunkelheit, dass ich in meinem Sessel hochfuhr. Oder kam mir
ihre Stimme nur deshalb zu laut vor,
weil sich die dalmatinische Nacht
über uns gelegt hatte?
– Glaubst du, dass er sie wirklich so
geliebt hat?
– Wen? Die Zitronen oder Kata?
– Kata.
– Ja, ich glaube schon. – Ich spürte,
dass es falsch war, das zu sagen. Etwas lag plötzlich in der Luft, eine
Spannung, die nicht hierher gehörte.
– Nimm noch etwas Wein, Rozana –
sagte mir Jozo und füllte darauf mein
Glas, ohne dass ich mich gerührt hatte. – Was interessiert es uns, warum
William hier geblieben ist? Er war
ein Holzkopf, wenn du mich fragst.
Doch ich hörte ihm kaum zu. Eine
Hortensie verwandelte sich in den
runden Kopf der Chashire Cat. In
einer langsamen Prozession glitten
vor meinen Augen die möglichen
Enden dieser Geschichte mit tödlichem Ausgang vorbei:
William hatte ein Auge auf unsere
Ana geworfen, und Jozo hat ihn
umgebracht.
Ana hat ein Auge auf William geworfen, und da er nur von Kata
schwärmte, hat sie ihn umgebracht.
Mit einem selbst gemachten Nachtisch aus Giftbeeren.
Marko hat gespürt, dass zwischen
Ana und William etwas läuft, und da
er alles tun würde, um seine familiäre
Idylle auf dieser Terrasse zu retten,
hat er ihn umgebracht.
Ich war in Marko verliebt und habe
gehört, dass Kata seinetwegen William verlassen hat, und dann wollte
ich sie umbringen, aber da sie nicht
RELA
TIONS
andersetzung hat sie William eine
tödliche Spritze verpasst.
Die funkelnden Augen der Grinsekatze waren erloschen.
123
– Willst du noch Wein, Rozana? – fragte Anas weiche Stimme aus dem Nichts.
Ich hörte sie kaum noch, da mich ein
süßer, schwerer Schlaf überkam.
Foto: Jakob Goldstein
aufzutreiben war, habe ich William
umgebracht.
Die englische Ehefrau war zurückgekehrt und nach einer kurzen Ausein-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
Hans Gunnarson beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
124
Da{a Drndi}: Leicaformat
RELA
TIONS
Leicaformat
¹ Auszugº
Da{a Drndi}
Es war ein kranker Winter, ein
krank-warmer Winter. Die Tiere unterbrechen ihren Winterschlaf, kommen auf die Lichtung und taumeln
umher wie Geister – völlig verwirrt.
Der Ginster blüht. Die Zweige werden grün, überall Knospen, die Stadt
kann kaum atmen unter dem Mantel aus dichter Feuchtigkeit, die auf
ihr klebt wie der Schweiß auf dem
Gesicht einer Frau in den Wehen.
Die Geräusche sind gedämpft, das
Leben surrt trübe, kein Echo, kein
Sprechen, nur Geflüster. Wenn ein
Glas fällt, dann fällt es dumpf, es
zerspringt nicht. Die Schiffssirenen
melden sich, als bereite sich Die lange
Reise in die Nacht vor, die Eisenbahnlinie ist unterbrochen, die Fußgänger schweigen, während sie sich schleppend fortbewegen, als würden ihre
Füße an den steinernen Straßen festkleben, und es scheint, als schmelze
der Stein. Das Licht bewegt sich
trunken, es zwängt sich durch die
Ritzen der Wirklichkeit, und dann
gibt es auf, kehrt in sein Versteck
zurück, dort oben über dem Berg,
der genauso wie das Meer unter ihm
schweigt. Das Meer tritt über die
Ufer und verschmilzt mit dem Regen, verliert sein Salz und seine Kraft,
wälzt sich über die Straßen, die Erde
kann es nicht aufnehmen, da sie voll
und aufgedunsen ist, sie kann nicht,
Da{a Drndi} wurde 1946 in Zagreb geboren. „Ich hatte einige ganz verschiedene
Leben in einigen ganz verschiedenen Städten in einigen ganz verschiedenen
Ländern zusammen mit verschiedensten Menschen.“ Sie lebte lange in Belgrad
und kehrte im Krieg nach Kroatien zurück, emigrierte von dort nach Kanada und
kehrte nach bitteren Emigrantenerfahrungen erneut nach Kroatien zurück...
Heute lebt sie in Rijeka, lehrt an der dortigen Anglistik und schreibt. Sie studierte
Medizin, Anglistik und Dramaturgie, schrieb 30 Hörspiele, viele Dokumentarsendungen für den Rundfunk, übersetzte aus dem Englischen und veröffentlichte
folgende Prosawerke: Der Weg zum Samstag, Stein vom Himmel, Sterben in
Toronto, Canzone della guerra, Totenwande, Doppelgänger, Leicaformat und
Sonnenschein.
und das Meer läuft in die Gullys. Die
Stadt ist übersät mit Salzkristallen,
sie funkelt grau-weiß, vor allem im
Traum; würde es doch nur schneien.
Würde es doch nur schneien, lange
und trocken, damit alles einfriert und
erhalten bleibt. So aber droht der Stadt
unter dem Regenmantel aus Feuchtigkeit Zerfall, eine langsame, gründliche und schmerzhafte Fäulnis.
An einer einsamen Stelle und doch
in der Nähe der Stadt wächst eine
Fichte und stößt einen herzzerreißenden Schrei aus. Eine großartige Fichte, achtundzwanzig Meter hoch, siebzig Jahre alt, bei bester Gesundheit,
eine königliche Fichte mit ausladenden und festen Ästen, mit denen sie
in Richtung Himmel winkt, und
schwarze und rote Beeren zittern und
beben wie fröhliche Tränen, die nicht
fließen, sondern nur ihren Glanz und
ihren göttlichen Duft verbreiten. Eine
schwere Fichte, sieben Tonnen, die
ihren Harz an die einsamen, kleinen
Kapellen und Kirchen in der Umgebung verschenkt, wo er zu Weihrauch wird – als wäre es der Extrakt
ihrer Seele.
Wir werden nur den besten Honig
an unseren Quellen sammeln,
nur den Weihrauch aus den
verborgensten, wohlriechendsten
Ideen.
Und dann halten – in diesem feuchten, klebrigen und schweren Winter
– Kräne unter der einsamen Fichte,
unter der Fichte, die sich von der
unvorhersehbaren und unangekündig-
RELA
TIONS
ten warmen Luft irreführen lässt und
die unbedacht zarte, hellgrüne Triebe bekommt und sich an ihnen erfreut wie eine Frau, die nur scheinbar schwanger ist. Die Kräne sind
eingetroffen, um ihre Wurzeln herum wird gegraben, gebohrt, gegraben, gezogen, gewühlt. Es kreischen
elektrische Sägen, Hubschrauber fliegen über der Fichte und kreisen um
sie herum wie Geier und warten auf
ihren Tod.
Und siehe da, ein Wächter, ein
Heiliger,
kommt vom Himmel herab
und ruft mit mächtiger Stimme:
„Fällt den Baum,
sägt die Äste ab,
entfernt die Blätter,
werft die Früchte fort!“
... ich bin Jahve,
der den hohen Baum erniedrigt
und den niedrigen erhöht;
den grünen Baum trockne ich aus,
und den trockenen Baum lasse ich
erblühen.
Die Ermordung der Fichte wird laut,
hastig und pompös abgewickelt. Sieben Tage lang schießen die Medien
Fotos und jubeln. Sie schwafeln von
Stolz und von Glück, vom Glück und
vom Stolz aller in Kroatien und
anderswo lebenden Kroaten, die den
toten, getöteten Baum für sich vereinnahmen, weil er als Geschenk für
den alten, erschöpften und in den
Gemächern seines Glaubens eingemauerten Mann vorgesehen ist, möge
er etwas von der Kraft einatmen, die
diese Liebhaberin der Vögel und Wolken ausstrahlt, diese anschmiegsame
Königin des Waldes, deren Odem
Zeitgenössische Poesie und Prosa
jeden Reisenden ins Nirvana versetzen kann.
Und die Fichte macht sich auf die
Reise. Eingewickelt in dunkle Jute,
eingeschnürt, in die Waagerechte gelegt wie ein Schwerkranker. Dieser
Riese der Natur, dieses Spiegelbild
der menschlichen Kleinlichkeit und
Bosheit erstickt in seinen eigenen
Säften und zappelt in der ihm aufgezwungenen Enge. Die Fichte versucht vergeblich ein letztes Mal ihre
Äste zum Gruß zu erheben, ein Lebewohl an die anderen Bäume, die zurück bleiben und die, in ihrer Sprachlosigkeit gefesselt, schon sehen und
spüren, wie sich der Tod an ihrem
Stamm empor schlängelt.
¹Ich bewundereº die Bäume. Diese aufrechten, ruhigen Stoiker. Die
einzig Weisen unter den Lebewesen. Sie wissen, wann es an der Zeit
ist, Laub zu bekommen, zu blühen, Insekten anzulocken und den
Wind zu empfangen, der sie befruchtet; sie wissen, wie man mit
Wurzeln Wasser und nahrhafte
Mineralien aus der Erde saugt; die
Blätter in Richtung Sonne stellt, so
dass sie Licht tanken können: Sie
wissen, wann sie Früchte empfangen, austragen und abwerfen, wann
sie ihre Blätter zu verlieren haben,
um den Winter mit nackten Zweigen begrüßen zu können. Wie sie
unter ihrer Rinde das Leben aufsaugen, wie sie Schnee, Orkane und
andere Verrücktheiten der Natur
ruhig und weise über sich ergehen
lassen können, und all’ das lautlos,
ohne zu blöken und zu brüllen...
Sie ertragen es geduldig, als erwar-
125
te sie in ferner Zeit eine große und
helle Zukunft, in der sie ihre Wurzeln aus der fettigen, flachen und
dümmlichen Erde herausziehen,
um sich befreit emporzuheben und
mit den Vögeln, den Baumkronen,
den Bienen und Schmetterlingen
aufzufliegen...
Die Fichte fährt nicht allein nach
Rom. Gemeinsam mit ihr verlässt
eine Kolonne von ermordeten kleinen Tannen und etwa vierzig kleineren, nur zwei bis sechs Meter hohen
Fichten, die an einen Zug gefangener Kinder erinnert, dieses Land. Die
kleinen Tannen und Fichten werden ebenfalls den zentralen Platz einer verbrauchten und halbtoten Welt
zieren, sowie die stickigen Gemächer
der vatikanischen Kardinäle, und die
demütigen Besucher werden sich gefällig und unterwürfig
man soll den Kleinen Gegenüber
nicht unbillig streng, noch den
Mächtigen gegenüber kriecherisch
unterwürfig sein
verbeugen und die Luft in sich aufsaugen, von der sie glauben, sie würde ihnen die Wiedergeburt schenken, aber sie erkennen nicht, dass sie
die Reste des Lebens einst freier Bäume berühren, während die kleinen
irdischen Engel, von Kopf bis Fuß in
Weiß gekleidete Mädchen und Jungen, Stille Nacht, Heilige Nacht anstimmen – auf beinahe allen Sprachen der Welt.
Aus dem Kroatischen
von Alida Bremer
Tea Ben~i} Rimay: Wenn der Mensch aufhört ...
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
126
Simon Crump beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
127
Die Metzger
Drago Glamuzina
Drago Glamuzina ¹1967º, geboren in Vrgorac. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft
und der Philosophie an der Philosophischen Fakultät Zagreb. Arbeitete als Journalist bei der
Tageszeitung Vjesnik und stellvertretender Chefredakteur beim Nachrichtenmagazin Nacional,
derzeit ist er Chefredakteur und Verlagsdirektor von Profil. Er ist Mitbegründer und einer der
Programmdirektoren der Zagreber Buchmesse. Lyrik, Prosa und Kritiken veröffentlichte er in
Zeitschriften, Zeitungen und im Radio. Zusammen mit Roman Simi} brachte er die Anthologie
kroatischer erotischer Kurzgeschichten Libido.hr ¹2002º heraus. Er veröffentlichte den Gedichtband Mesari ¹Naklada MD, 2001º, für den er den Vladimir Nazor-Preis für das Buch des Jahres und
den Kvirin-Preis für den besten Lyrikband des Jahres 2001 bekam.
Der Gedichtband Mesari wurde ins Slowenische ¹Litera, Maribor, 2001.º und ins Makedonische
¹Makedonska rije~, Skopje, 2004.º, einzelne Zyklen aus dem Buch ins Deutsche, Englische, Polnische und Russische übersetzt. Er wurde in zahlreiche Anthologien zeitgenössischer kroatischer
Lyrik aufgenommen: Zvonimir Mrkonji}: Me|a{i – hrvatsko pjesni{tvo 20. stolje}a; Miroslav
Mi}anovi}: Utjeha kaosa – antologija suvremenog hrvatskog pjesni{tva; Milo{ \ur|evi}: Ru{enje
orfi~kog hrama – antologija novijeg hrvatskog pjesni{tva; Jurij Hudolin i Nenad Rizvanovi}: Ludi
po{tari ulaze u grad – antologija suvremene hrvatske poezije; Tvrtko Vukovi}: Off-line – hrvatsko
pjesni{tvo devedesetih und andere.
Als hätte sie sie nie geliebt
Anais Nin betrog 1933 ihren Mann
mit Henry Miller
mit Antonin Artaud, ihrem Vetter Eduard
und mit ihrem Vater. Sie hat sie alle geliebt.
Auch ihren Mann.
So steht es zumindest im Tagebuch
daran zweifle ich ja nicht.
Wie ich auch an ihr nicht zweifle
wenn sie sagt, sie habe sie geliebt,
auch ihren Mann,
aber dass sie jetzt alle tot seien.
Wenn sie sagt, sie würde sie auf der Straße nicht einmal grüßen,
wenn ich das so will.
128
Drago Glamuzina: Die Metzger
Will ich nicht, sage ich
aber trotzdem –
während ich ihr sage, dass sie das einmal,
später, jemandem
auch von mir sagen wird –
betaste ich das, was sie gesagt hat
und streichle verstohlen diesen Satz
wie meinen Hund
nach dem Essen.
Kraust sich Bra~
Hinter deinem Rücken kraust sich Bra~
es regnet nicht
aber du bist traurig und verliebt
und mich stören die Finger des Mannes
der mir die Haare stutzt.
Obwohl sie warm, weich und sanft sind
genau wie die Finger der Frau, die das sonst
tut. Du bist hier, weil du sehen wolltest, wie
sie mich berührt, du wolltest wissen
von welcher Art dieses
kleine, saubere und absichtslose
Vergnügen ist, von dem ich dir erzählt habe
und jetzt siehst du im Spiegel
wie mein Missmut wächst.
Und nimmst eine Strähne deines Haars
und formst sie über deinen Lippen zum Bart
und hältst sie so
bis ich lächeln muss.
Es ist früher Morgen und wir sind uns einig
Es ist so früh, dass es draußen noch fast finster ist.
Aus deiner Bibliothek
schmeißen wir alle Bücher, die dir
ehemalige Liebhaber geschenkt haben,
die mit Widmung und die ohne Widmung.
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Zeitgenössische Poesie und Prosa
Nicht dass wir uns der Sinnlosigkeit
unsres Tuns nicht bewusst wären, aber wir lachen und fluchen
während wir sie zerreißen und in den Müll schmeißen.
Es ist früher Morgen und wir sind uns einig.
Der Schnee, der eben zu rieseln beginnt
Sie sagte, ich dürfe mich nicht
nach anderen Frauen umdrehen
denn das könne sie nicht ertragen,
aber auf meine Frau sei sie nicht eifersüchtig.
Wir saßen auf den nassen Laken
und beobachteten, wie in der kleinen Pfütze in ihrem Nabel
eine Fliege ertrank. Wir leckten uns und pissten
einander an, wie Hunde, die eine Spur hinterlassen wollen,
die der Schnee nicht begräbt,
der eben zu rieseln beginnt.
Ich hoffe, dass ich dich nie mehr
sie sagte
ich hoffe, dass ich dich nie
mehr sehen werde.
sie sagte
geh raus und komm nicht zurück
bevor ich nicht aus diesem haus verschwunden bin.
ich sagte sie brauche sich nicht zu beeilen,
ich müsse das auto in die werkstatt bringen
und bliebe lange aus.
ich zog lederjacke und schuhe an.
dann stand ich vor der tür
und sah zu, wie sie kleider in die tasche stopfte.
nach einigen minuten
öffnete ich ein wenig die tür
und schloss sie wieder.
draußen schneit es, sagte ich
und blieb weiter vor der tür stehen.
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Drago Glamuzina: Die Metzger
ich stand vor der tür
und wartete, dass sie losschluchzte.
ich wartete auf den richtigen moment
überzeugt, dass auch sie auf ihn wartete.
Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden
Sie liebte ihn und er
liebte sie. Und dann kidnappte sie
der Türke mit dem Pferdeschwanz,
entführte und vergewaltigte sie beinahe.
Ich sage beinahe,
weil sie am Ende selbst
die Beine breit machte. Ihr gefiel der wilde
Türke, der Köpfe abschlug, als
wären sie gerade dafür in seinem Garten
gezogen, der alles nahm als wärs sein Eigen
sie aber wollte er jetzt eben nicht, sondern er schlief vor dem
Zelt und wartete, dass sie ihn hineinrief
und sich ihm selbst hingab.
Und dann fand
ihr Mann die beiden,
der ein ganz anderer Mann war
als dein Mann.
Während sie sich im Clinch würgten
verlangten sie von ihr, mit dem Schwert den
zu köpfen, den sie nicht liebte.
Es fiel ihr nicht leicht,
aber sie köpfte ihren Mann.
Vielleicht, weil sie glaubte,
er würde ihr nie verzeihen,
weshalb sie sich bei der Wahl zwischen den beiden
für sich selbst entschied.
Vielleicht aber auch, weil der wilde Türke sie
dorthin gebracht hatte, wohin beständige Liebe
es nie geschafft hatte.
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Zeitgenössische Poesie und Prosa
Franco Nero tötete trotzdem Dragan Nikoli}
und brachte seine Frau
mit der Blume des Türken auf der Stirn wieder heim.
Und ließ nicht zu, dass sie ihr Vater
mit glühendem Schwert blendete.
Seine Liebe war stärker als das Gesetz
und als ihr Versuch, ihn zu töten.
Sich ihrer selbst sicher, umhüllte sie sie
wie diese Decke uns.
Jeden tag schlägt mir jemand den kopf ab
jeden tag schlägt mir jemand den kopf ab.
das sagte sie, als sie
den rock hob und stammelte
ich kann nicht mehr,
und ihren slip zur seite zog.
der wind blies
und es war kalt und grau.
ich wollte, dass sie sich möglichst bald auf mich setzte,
damit mir warm wurde.
auf der bank neben uns
betrachtete uns ein alter neugierig.
er zeigte keinerlei absicht
zu gehen,
auch nicht als ihr zucken
ganz offensichtlich wurde.
Der alte herr, der sie gevögelt hat
gestern hat ihr ehemaliger liebhaber angerufen
der alte, der um die sechzig ist
und von dem sie einmal in ihr tagebuch geschrieben hat:
„nie hat mich jemand so erregt.
weder vorher noch nachher.“
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Drago Glamuzina: Die Metzger
er war ein freund ihres vaters
dieser alte herr, der sie gevögelt hat
als sie im krankenhaus lag.
und danach. der glaubt,
dass er nach fünfzehn jahren
anrufen kann und sagen:
’ich hab in der zeitung dein foto gesehen,
morgen habe ich dienst, komm
zu mir wenn es dunkel wird.
es wird dunkel
und ich steige zum krankenhaus hinauf.
ich möchte diesen arzt sehen
dem sie so untergekrochen war,
dass er noch heute glaubt,
es reiche aus zum telefon zu greifen
und sie anzurufen.
Ein nachmittag mit meinem sohn
heute nahm ich meinen sohn mit in die stadt
er sah die leute, mit denen ich arbeite, meinen
chef und die chefin, er aß pizza mit mir
und meiner geliebten, er fragte
warum ich sie anschreie. dann küsste er mich.
um zu zeigen, dass er auf meiner seite ist.
später lief er über den platz,
schlief in der straßenbahn ein
kam nach hause voll einer welt
die er nicht versteht
die aber in ihm
mit sicherheit
ihren platz gefunden hat.
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Zeitgenössische Poesie und Prosa
Foto: Jakob Goldstein
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Etgar Keret beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
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Drago Glamuzina: Die Metzger
Wie der reiber in der straßenbahn
du wartest auf sie in der straße, durch die sie kommen muss und dann
schüttelst du dich wie ein nasser hund und gehst ihr nach,
stunden folgst du ihr durch die stadt und schaust wie sie geht.
wie sie geschäfte betritt, mit den verkäuferinnen
spricht, wie sie die zeitung kauft,
sich in der straßenbahn drängelt.
schließlich erinnerst du dich an ihren mann,
erinnerst dich, wie entrüstet du über den typ warst,
der das telefon seiner frau abhört.
schuldbewusst drängst du dich in ihre nähe
lehnst dich mit dem rücken an sie
wie der reiber in der straßenbahn, von dem sie dir erzählt hat,
und wartest, dass sie sich umdreht.
Ausgestreckt
wieder in diesem hässlichen hotel.
wir liegen auf dem rücken und hören
diesen typ und die frau, wie sie vögeln
im zimmer nebenan.
wir versuchen zu reden und lassen es sein
das stöhnen, das hartnäckig herübertönt und das zimmer füllt,
erregt uns schon längst nicht mehr.
dieses rappeln, zwei menschen, die ineinander dringen
die dunkelheit, die immer dichter wird und wir beide
ausgestreckt nebeneinander.
dann der abgang, durch das spalier
von vertriebenen aus vukovar auf dem gang,
die uns wie gefühllose eindringlinge betrachten,
die kommen, um vor ihrer nase zu vögeln.
zimmer, gänge und momente, an die sich der körper
erinnern wird, in anderen momenten
voll verlangen nach dieser zeit.
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TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
Er sagte, sei nicht böse, sie sagte, ich bin nicht böse
gestern hat ihr ehemaliger liebhaber angerufen,
und mein freund
den ich vor vielen jahren ermutigt habe
in der beziehung mit dieser unmöglichen frau auszuhalten.
er verlangte, dass sie ihn anruft, wenn sie alleine ist.
ich verlangte, dass sie ihn anruft
wenn ich neben ihr bin, und dass sie ihm das natürlich
verheimlicht.
er sagte ihr, er wolle wieder mit ihr zusammen sein
sie sagte ihm, das sei nicht mehr möglich.
er sagte – sei nicht böse.
sie sagte- ich bin nicht böse.
ich war zufrieden mit dem, was ich gehört hatte
bis mich im autobus der gedanke befiel,
sie könnte ihn noch einmal angerufen haben
nachdem ich gegangen war
um ihm zu sagen – ich hab’s mir anders überlegt.
Das telefon läutete lang
dann fragte ich:
hast du ihn angerufen.
sie antwortete
nein.
Zitternde Hirsche
„Hasardeure und Liebhaber spielen im Grunde genommen um zu verlieren“
Die Nacht kam
und Mahler ging Gropius holen,
zwei Männer gingen lange in der Finsternis, einer hinter dem anderen,
ohne auch nur ein Wort zu wechseln.
Als sie ankamen, rief Mahler Alma und ließ sie im Salon
mit ihrem Liebhaber alleine.
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Drago Glamuzina: Die Metzger
TIONS
Als Alma endlich Gustav holte
fand sie ihn
in der Bibel lesend – und er zitterte, ich bin sicher,
dass er zitterte. Dann sagte er zu ihr:
„Das, was du tust, wird das beste sein.“
Einige Minuten später begleitete Mahler, mit dem Hut in der Hand,
Gropius bis zum Zaun ihres Anwesens
und leuchtete ihm den Weg mit einer Lampe aus.
Später setzte er sich, und auf das Manuskript der Zehnten Symphonie
schrieb er mit zitternder Hand:
„Für dich leben, für dich sterben, Almschi.“
Neun Jahre später ist Mahler tot und Alma lebt. Es ist das Jahr
1918 und der wohlgebaute Leutnant der deutschen Armee und Begründer des Bauhauses,
Walter Gropius, kehrt aus dem Krieg zurück.
Bei seiner Ankunft in Wien holt er zuerst den korpulenten Franz Werfel
und nimmt ihn mit nach Hause. Dort fällt
der vierfach verwundete Städtebauer
vor Alma
und ihrem Liebhaber
auf die Knie und sagt mit zitternder Stimme:
„all das ist meine Schuld.“
Und am nächsten Tag, in neun oder fünfzehn Jahren? Was habt ihr denn gedacht: Franz
Werfel – der mit der Novelle „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ Ruhm
erlangte – sieht durch das Fenster auf den Pfarrer, der jeden Morgen und Abend zu seiner
Frau kommt, und sagt mit zitternder Stimme:
„Das ist Almas letzter Wahnsinn.“
Die Höhle der Schwimmer
Fall nicht drauf rein und sage nie
es sein ein Traum gewesen oder das Ohr habe dich verführt
Konstantin Kavafis: Gott verläßt Antonius
Durch das Dunkel der Höhle drangen
Bruchstücke einer unverständlichen Zunge
die sich zwischen unsere Zungen flocht,
unsere Küsse verschlüsselte.
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Zeitgenössische Poesie und Prosa
Gestern noch haben wir uns vor deinem Mann versteckt
auf dem Markt in Tripolis
und als der Wüstenwind
dein Kleid anhob
und als die Araber
sahen, dass du kein Höschen trägst –
sprangen sie auf die Tische,
sprengten die Pyramiden aus Wassermelonen,
Datteln und Johannisbrot und versuchten
schnaubend, dich im Gedränge zu erhaschen.
Du hast gebebt wie Nessims Fohlen
hinter der Jalousie der Pension
und zugesehen, wie deine Verfolger
auf der Straße brüllten, lachten
und sich die Eier hielten.
Sag mir, was sie sagen, sagtest du
während sich Bruchstücke der unverständlichen Zunge
zwischen unsere Zungen flochten
und dann lauschten wir, wie der Sand
über das Fenster rieselte.
Wie der Regen in Dover,
sagtest du.
Und morgen.
Wirst du mich in die Wüste schicken
um Rommel zu suchen
Bevor ich gehe, wirst du mir
die Finger in den Mund schieben und auf meiner Zunge
ein Steinchen zurücklassen
um das sich Wasser sammeln wird.
Sie kost mich auf serbisch
es ist früher morgen und sie treibt mich
zur arbeit, kost mich auf serbisch:
ti si moj pesnik* und sagt, sie werde mich,
* Serbisch: Du bist mein Dichter, Anm. d. Ü.
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138
Drago Glamuzina: Die Metzger
wie Nietzsches schwester, ins zimmer
sperren, solange, bis ich etwas zu papier
gebracht habe.
ich setze mich an den computer,
und sie setzt sich auf unser
rotes sofa, das wir auf kredit
gekauft und über das wir uns gefreut
und geglaubt haben, seine
weichheit würden uns einander wieder näher bringen.
in seinen mulden würden wir
öfter zueinander gleiten.
dann liest sie, was ich geschrieben habe.
Ich küsse sie, sie küsst ihn, er küsst mich
ich küsse sie, sie küsst ihn,
er küsst mich, gleichzeitig
so dass sich unsere drei nasen
die ganze zeit berühren.
dieses spiel hat unser sohn erfunden,
der dreieinhalb ist, als er zwischen uns
im bett lag
und mitanhörte,
wie wir uns stritten
Josips mama
heute morgen erfuhr ich, dass Josip verunglückt ist.
und ich versuche mich zu erinnern
was er mir alles bedeutete,
wie wir beide, freunde,
zusammen aufgewachsen und schießlich
auseinandergegangen waren
wie menschen eben
nach einer bestimmten zeit auseinandergehen.
ohne besonderen grund.
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TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
ich möchte an ihn denken
sein tod scheint mir
grund genug, wieder an ihn
zu denken, aber so sehr ich mich auch bemühe
und über mich ärgere – ich kann nichts
finden, was in mir lebendiger wäre
als die geschichte von der möse seiner mama,
die vor ihm ging
völlig nackt
Alles ist genau so wie es sein muss
ende august, vor zehn jahren.
ein unbekannter mann und eine unbekannte frau
setzen sich an unseren tisch und zanken sich.
vor uns, die wir, im gegensatz zu ihnen,
nur ein wenig beschwipst sind.
gerade so sehr, dass wir nicht aufstehen und gehen.
sie redet von den flecken, die sie wieder
auf seiner hose gefunden hat.
über die nutte, die er in der arbeit vögelt.
dann sagt sie – und ich habe ihn so geliebt, und erzählt,
wie sie am tag ihrer hochzeit
gekommen ist, bevor er sie berührt hat.
vor lauter glück.
gestern, im bett,
lagen wir da und schwiegen,
hörten, wie der kassettenrekorder
im nebenzimmer eierte.
du sagtest –alles ist genau so
wie es sein muss,
und ich erinnerte mich an die frau,
an die fromme entzückung, mit der sie uns
von ihrem orgasmus erzählt hatte. an deine hand in meiner
als wir ihr zuhörten.
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140
Drago Glamuzina: Die Metzger
RELA
Ich sollte in die küche gehen, ein messer nehmen
und diese buchstaben zerschneiden
Sechs jahre sind schon vergangen, seit wir die wohnung gekauft haben
aber erst vor ein paar tagen
bemerkte ich die in die klotür geritzen buchstaben
da steht – Boris.
Boris war der sohn des mannes, der uns die wohnung verkauft hat,
ein serbe verliebt in eine kroatin, mit der er 1993 gefallen ist –
vom dach des gebäudes unter sein zimmerfenster. Boris’ eltern sind
damals aus der stadt gezogen und wir haben
ihre geschichte von den nachbarn erfahren.
es gefiel uns nicht, dass wir in einer wohnung leben würden, die
nur deshalb verkauft wurde, weil sein bewohner eine frau liebte,
die er nicht lieben durfte. aber davon wussten wir nichts als wir sie
kauften, acht jahre waren wir untermieter gewesen und für die wohnung
haben wir uns tief verschuldet – wir wehrten uns indem wir sie in ein heim verwandelten.
manchmal erzählen wir diese geschichte unserer wohnung
gästen. selten, ernst und pietätvoll, aber– zugegeben – auch als bizarrerie, die
das erlahmende gespräch beleben soll.
Die Metzger
längst habe ich mich daran gewöhnt,
dass mich dieses metzgerbeil
ins bett treibt.
vorher möchte ich aber noch die letzte
folge von Campells Comic
über Bacchus zu ende lesen. heute
ist er viertausend jahre alt
und müde von all dem wein und den frauen.
er treibt sich in den kneipen von New York umher und erzählt, bei einem glas
wein wie einst die Griechinnen zu ihm kamen, sich aufreißen zu lassen.
auch königinnen und nutten.
manchmal übertreibt er und holt seinen verschrumpelten
schwanz heraus und schlägt mit ihm auf den tisch – wie mein freund Milko –
worauf sie ihn normalerweise aus der kneipe schmeißen und die polizei rufen.
TIONS
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
141
ich öffne das fenster und lasse die morgenluft ins haus.
schweinehälften, fertig zum tranchieren,
werden in die metzgerei im erdgeschoss getragen
um aufgerissen zu werden.
dann koche ich kaffee und wecke Lada.
wenn sie zur arbeit geht, lege ich mich
genau auf die stelle an der
sie gelegen hat.
ich spüre noch die wärme ihres körpers
während ich warte, dass der schlaf mich übermannt.
dass ich auf diesen alten gott vergesse,
auf seine frauen, die metzger.
Foto: Jakob Goldstein
Aus dem Kroatischen
von Christine Okresek
Halgrimur Helgason beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
142
\ur|a Kne`evi}: Über meine Mama, die Russen ...
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TIONS
Über meine Mama,
die Russen, Feuerwehrmänner
und andere
¹ Auszug aus dem Romanº
\ur|a Kne`evi}
Die Feuerwehrmänner üben
Die Junisonne hatte sich in die-
sem Jahr entschlossen, die Erde zu
verbrennen – mit einer Wucht, die
dem Kalender nach noch nicht zu
erwarten war. Es war Mittag und die
Sonne im Zenit übergoss die Gemeindekirche so ungeschützt mit ihrer Gluthitze, dass diese nicht den
geringsten Schatten um ihre Mauern herum zu bieten hatte. Einige
Dorfköter lagen in der vollkommenen Stille regungslos dicht an die
hintere Kirchenmauer gekauert, da
sie dort eher instinktiv Schutz vor
der Sonne, Schatten erhofften, und
sie hechelten kurzatmig und schnell
mit heraushängenden Zungen. Die
gelbliche Fläche, die sich hinter der
Kirche erstreckte, war überzogen von
flechtenartigem dünnen, vertrockneten und verendeten Gras und ohne
sichtbaren Grund mit einem niedrigen Zaun umsäumt, und sie diente
in besseren Tagen als Fußballplatz.
Heute geschah dort etwas ganz anderes, es herrschte beinahe Gedränge, ein Zustand, der für diesen Ort,
der sich schon längst an die triste
Verlassenheit gewöhnt hatte, gänz-
\ur|a Kne`evi} wurde 1952 in Jastrebarsko/Kroatien geboren. Sie studierte
Geschichte und Archäologie in Zagreb. Bis 1992 war sie Direktorin des Museums
der Revolution des kroatischen Volkes, 1992 gründet sie die Fraueninfothek in
Zagreb, das erste politisch-feministische Bildungszentrum in Kroatien. Als Leiterin der Fraueninfothek entfaltet sie eine umfassende Verlagstätigkeit, gibt die
Zeitschrift Brot und Rosen heraus, leitet das internationale Seminar „Frauen und
Politik“, das einmal im Jahr in Dubrovnik stattfindet. Viele ihrer Artikel, Essays
und Studien wurden in feministischen und politischen Publikationen in Kroatien
und in vielen Ländern Europas und in den USA veröffentlicht. Ihr erster Roman
Über meine Mama, die Russen, Feuerwehrmänner und andere hat die gesamte
politische und feministische Öffentlichkeit in Kroatien überrascht – niemand
wusste, dass \ur|a Kne`evi} Prosa schreibt, und noch weniger erwartete man,
dass sie einen solchen Roman schreiben würde. Seit dem hat sie zwei weitere
Romane geschrieben...
lich ungewohnt war. Der denkwürdige Kommandant der Feuerwehrbrigade, ein groß gewachsener Mann,
dessen Wangen, die auch sonst schon
rot waren, jetzt beinahe lila glänzten,
schrie laut, was aufgrund seines weit
aufgerissenen Mundes und seiner
geschwollenen Halsadern wahrlich
leichter mit den Augen als mit den
Ohren zu erkennen war. Mit einer
Stimme, die angeschlagen war von
Anstrengung und Durst, mit seinem
brüchigen Falsett rief er den nicht eben
jedem verständlichen und schon gar
nicht eindeutigen Satz: „Gesäß zum
Zaun, heute hinstellen wie gestern.“
Zehn Männer, die schon zuvor sichtbare Schwierigkeiten mit den Befehlen „Linksum“ und „Rechtsum“ gehabt hatten und sich deshalb meist
in die entgegengesetzte Richtung drehten, verstanden erst jetzt, was von
ihnen verlangt wurde. Nach diesem
letzten für sie klaren und präzisen Befehl sollten sie alle harmonisch ihre
Hintern dem Zaun zuwenden und
auf diese Weise eine Reihe bilden. Und
tatsächlich schafften sie es trotz eini-
RELA
TIONS
gen Drängelns und Herumstolperns
– die einen, indem sie sich nach links
drehten, die anderen, indem sie sich
nach rechts wandten, und die dritten schließlich, indem sie sich umguckten und bemüht waren, sich zu
merken, wie es die Kollegen machen
– am Ende doch, alle mit ihren Hintern den Zaun zu berühren und eine
einigermaßen gerade Reihe hin zu
bekommen.
Die Hunde, die an der Kirchenmauer lagen, drehten jedoch ihre
Köpfe nicht zu den Männern, den
freiwilligen Feuerwehrleuten, die in
der örtlichen Freiwilligen Feuerwehrgesellschaft organisiert waren und die
das Programm für die Parade einstudierten. Mit ihren Bäuchen, die an
der Erde klebten, hofften sie auf Abkühlung, und das war das Einzige,
womit sie sich in diesem Moment
und bis auf Weiteres, solange diese
Bruthitze herrschte, bereit waren
auseinander zu setzen. Sie kümmerten sich nicht einmal um die Fliegen, die langsam auf ihren Schnauzen landeten und die man ohnehin
nicht vertreiben konnte. Es reichte
nicht aus, mit der Schnauze oder
dem Fell zu zucken. Auch mit der
Pfote zum Schlag auszuholen, brachte kein Ergebnis. Die Fliegen hoben
nur faul einige Zentimeter zur Seite
ab und kehrten sofort dorthin zurück, wo sie gesessen hatten.
Die Hunde hatten schon längst von
den Fliegen abgelassen, aber noch
weniger als die Fliegen interessierte
sie die nahe und merkwürdige Versammlung von Menschen. Diese setzte sich vorwiegend aus Dorfburschen
ohne bestimmte Berufe zusammen,
weiter dem örtlichen Metzgergesellen,
einem Elektriker, einem Notariatsgehilfen aus dem Gemeindehaus und
einem Studenten, von dem im Ort
keiner so genau wusste, was er eigentlich studiert; tatsächlich fuhr er
jeden Tag zu seiner Fakultät nach
Zagreb und studierte so lange Jahre,
dass niemand mehr nach der Art sei-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
nes Studierens fragte. Nun standen
sie nach ihrem kurzen Kampf mit
der linken und der rechten Seite ordentlich und in gerader Linie gereiht
vor dem breitschultrigen und in seine neue schmucke Uniform gekleideten Kommandanten der Feuerwehrbrigade der FFG. Die freiwillige Mannschaft musste sich mit altmodischen, dunkelblauen und plumpen, zu großen oder zu kleinen Uniformen zufrieden geben. Den einen
reichten die Ärmel kaum bis zur Hälfte des Unterarms, während bei anderen nur die Fingerspitzen herauslugten. Einem Blick, der die in Reih
und Glied stehenden Füße gestreift
hätte, hätte sich eine ähnliche Szene
offenbart. Offensichtlich hatte das
aber keinen Einfluss auf den glänzenden Geisteszustand der kleinen
Truppe. Sie standen mit stolz geschwellter Brust, mit scharfen, entschlossenen Blicken, ihre Köpfe bedeckt mit den glühenden Metallhelmen, deren Messingränder entweder ihre Ohren vollständig bedeckten oder aber überhaupt nicht
bis zu den Ohren reichten. Von den
feuerroten Gesichtern floss ihnen
reichlich Schweiß hinter den Ohren
und am Hals entlang in die steifen
Kragen, und die Flecken, die noch
dunkler als die Farbe ihrer Uniformen waren, breiteten sich stetig auf
den Rücken und unter den Achselhöhlen aus.
Die freiwillige Brigade übte das feierliche In-Reih-und-Glied-Stehen und
auch das simulierte Feuerlöschen für
die bevorstehende und außerordentliche Feuerwehrparade. Es hatte noch
nie im Verlauf der langen und – wie
man sagt – ruhmreichen Feuerwehrgeschichte unserer Gegend, eine Parade mitten im Sommer stattgefunden. Und nie eine solche. Es war
üblich und allgemein akzeptiert, dass
der Herbst oder der Frühling, meist
jedoch der Herbst, die Zeit der Weinlese und der Weintaufe zum Hl.
Martin, die passende Zeit für die
143
Feuerwehrübungen ist. Aber diese
außerordentliche Gelegenheit, für die
sie sich gerade vorbereiteten, war von
besonderem Charakter und hoher,
ja geradezu höchster Wichtigkeit, so
dass niemand auf die Idee kam, irgendwelche Beschwerden vorzutragen. Sie
war vielmehr so wichtig, dass sie
nicht einmal ein mögliches Feuer,
das zur gleichen Zeit ausgebrochen
wäre, in Frage hätte stellen können.
Brände hat es letztlich immer schon
gegeben und es wird sie auch immer
geben, aber einen solchen Anlass, ein
Ereignis, wie es bevorstand, erlebt
man einmal im Leben, und nicht
einmal das ist gesagt. Um ganz offen
zu sein, es geschieht selten, sehr selten, und wenn wir ganz ehrlich sind,
eigentlich nie.
Tage- und wochenlang wurden Geschichten über das große Ereignis
durch den Ort verbreitet. Alle wussten etwas, einige wenig, andere beneidenswert viel, aber niemand, so
schien es, wusste alles. Die Bürger
informierten sich gegenseitig und jeder fügte Teilchen des eigenen Wissens hinzu, häufig eines unsicheren
Wissens, getrieben von der Sehnsucht, jene Bruchstücke aufzuschnappen, die einem selbst fehlten. Es war
jedoch schwierig zu erkunden, was
noch fehlt. Und so fand sich jeder,
ohne alles vollständig und endgültig
zu wissen, auf seine eigene Art zurecht, jeder nahm etwas und fügte
eigenes hinzu, und die Aufregung
wuchs immer mehr. Es gab schließlich
keinen, der sich allein auf seinen zwei
Beinen bewegen konnte, der nicht
das Grundsätzliche, Wesentliche und
Wichtigste gewusst hätte, und es
handelte sich kurz gesagt um folgendes. Die Nachricht, die in allerkürzester
Zeit durch den Ort ging, besagte,
dass zu einem bestimmten Zeitpunkt
der Präsident auf seiner Fahrt mit
einem Automobil in Richtung Adria
durch den Ort fahren würde. Die
erste Kunde davon durchzuckte den
Ort wie ein Stromschlag und stieß
144
\ur|a Kne`evi}: Über meine Mama, die Russen ...
überall auf eine gewisse Ungläubigkeit, und darauf folgten und vermischten sich Begeisterung, Besorgnis und schließlich, als sich doch zeigte, dass es sich nicht um ein bloßes
Gerücht handelt, ergriff alle ein Gefühl enormer, übermäßig großer Wichtigkeit. Vor allem diejenigen, die
selbst die wichtigen Menschen im
Ort waren.
Der liebste Gast
Es stimmt, wir alle betrachteten seine Photos, die an den Wänden in
den Büros und Klassenzimmern hingen, die in den Lehrbüchern beinahe
aller Fächern abgedruckt waren und
in den Zeitungen – wenn man sie las.
Wir trafen seine Gestalt auf Plakaten
und Kalendern und in jenen zu bestimmten Anlässen herausgegebenen
Büchern. In fein gebundenen und in
Kunstdruck gestalteten Monographien und Biographien, in denen er
in verschiedenen Posen und in noch
mehr verschiedenen Anzügen und
Uniformen verewigt wurde. Feierlich oder nur streng offiziell, gelassen und lachend mit Kindern in geeigneten Uniformen, besorgt und
konzentriert, bevor er den entscheidenden Knopfdruck tätigt, jenen
Knopfdruck, mit dem er auf der Stelle das Wasserkraftwerk in Funktion
setzen wird, und in demselben Augenblick wird in Tausenden von
Haushalten der Strom zu fließen beginnen. Wir sahen ihn, wie er breit
in Farbe lacht, aus dem Zugfenster,
mit einem schwungvoll zum Gruß
erhobenen Arm und nach außen gedrehten Handrücken. Voller Hochachtung betrachteten wir die Szenen
aus der gefahrvollen Wildnis mit
dem Bär unter dem siegreichen Fuß,
oder jene ganz gegenteiligen Momente der Beschaulichkeit in weichen,
watteweißen Mokassinschuhen hinter dem großen, ebenfalls weißen Klavier mit glänzender Goldverzierung.
Wir betrachteten ihn, ja das stimmt,
aber das war doch alles eine manchmal
von der schlechten Druckfarbe etwas schlampig geratene, unbewegliche Gestalt auf dem billigen Zeitungspapier oder erfroren auf den
Fotos, die mit der Zeit an den Wänden verblassten und vergilbten, und
ihre glänzenden Oberflächen waren
mit ungehörigen braunen Pünktchen
und feinen dünnen Rissen wie von
Falten übersät. Es war irgendwie unpassend, geradezu schwierig Ihn zu
betrachten, wie er mit den Händen
am Schiffszaun lehnt, während in
einer seiner Hände eine Zigarette
glüht und der Rauch sich irgendwohin zur Seite kräuselt, und diese
Hand will sich kein einziges Mal erheben und diese glimmende Zigarette zum Mund führen, um uns alle
die Erleichterung verspüren zulassen,
dann, wenn er den Rauch einzieht und
seine Hand wieder an den Zaun legt.
Der Ereignis, das auf uns zukam,
war etwas ganz Außergewöhnliches,
Einmaliges und beinahe Unglaubliches. Wir alle im Ort werden ihn
sehen, und er wird sich live hier unter uns bewegen. Vielleicht wird er
lachen und direkt danach, in einem
sehr wichtigen Gespräch, sichtbar
ernst werden, seine Hand wird er
nach Belieben heben und senken, die
Zigarette anzünden, rauchen und
dann ausdrücken, er wird sicher laufen, sich vielleicht hinhocken, er wird
die Arme ausbreiten, vielleicht einem Glückspilz die Hand schütteln,
er wird sich sicher beugen, um das
Köpfchen eines kleinen Jungen in
Scout-Uniform zu streicheln, oder –
und das ist ganz sicher – um Blumen
von einem noch kleineren Mädchen
in einer noch kleineren Uniform der
staatlichen Kinderorganisation in
Empfang zu nehmen. Und es ist
beinahe sicher, daran kann kaum
gezweifelt werden, dass er sogar etwas sagen wird. Er liebte Gespräche
mit gewöhnlichen Menschen, er erkundigte sich gerne nach verschiedenen Dingen. Die Verantwortli-
RELA
TIONS
chen des Ortes haben jedenfalls in
weiser Voraussicht verschiedene nützlichen Angaben über die lokale Produktion und vor allem über die Erträge der Ernte vorbereitet.
Wir hörten im Radio hundert, tausend Mal seine Stimme, jeden Tag,
das war nicht das Problem, aber das
jetzt war etwas ganz anderes. Es handelte sich darum, dass er sich an uns
wenden und etwas zu uns sagen würde, den Hiesigen, er wird direkt in
unsere Augen schauen, Tausende
unserer Augen werden mutig und
ehrlich in die seinen blicken und seine Sätze werden in einem bestimmten Moment für uns geformt und
genau an uns gerichtet. Und was
noch wichtiger ist, vielleicht wird er
etwas Besonderes sagen, etwas, was
noch niemand, weder wir, die Einheimischen, noch alle anderen Staatsbürger je zuvor gehört haben.
¹...º
Zwei Russen und dann auch noch
meine Mama
¹...º
Die Proben des Schulchors fanden
an verschiedenen Tagesabschnitten
statt, manchmal auch abends, man
fehlte viel in der Schule, eifrig und
mit großer Freude. Man betrachtete
uns, die wir in den Kultursektionen
aktiv waren, als glückliche Menschen,
weil wir, vor Wichtigkeit strotzend
und ohne um Erlaubnis zu fragen,
den Unterricht zu jeder Tages- und
Stundenzeit verlassen konnten. Doch
es übte nicht nur der Schulchor und
man übte nicht nur im schulischen
Rahmen. Fleißig übten auch die Turnsektionen und die Folkloregruppen,
die dieselbe hohe Wichtigkeit besaßen und die beinahe so hoch geschätzt wurden wie der Schulchor.
Neben den Feuerwehrleuten übten
noch die lokalen Jäger und Briefmarkensammler. Sie bereiteten eine
interessante und lehrreiche vergleichende Präsentation von Briefmarken, auf denen verschiedene Tiere
abgebildet waren, und einer Sammlung der meisten dieser Tiere auf den
Briefmarken, die in präparierter Form
im Besitz der Jägergesellschaft waren. Der Schachclub und die örtliche
Bibliothek bereiteten zusammen ein
Kulturprogramm von Ausstellungen
in der Volkshochschule vor. Es gab
beinahe niemanden, der nicht etwas
einübte oder vorbereitete. Doch es
gab welche.
Die Ortspolizisten übten nicht. Schließlich war das für sie etwas Echtes, eine
äußerst wichtige und ernsthafte Aufgabe. Eine toternsthafte. Die Sicherheit des Präsidenten in ihren Händen.
Auch unser Pfarrer übte nicht. Er
wurde nur still und dann, wenn man
ihn überhaupt vor die Augen bekam,
ging er mit einem etwas beleidigten
Gesichtsausdruck an einem vorbei.
Noch beleidigter wirkte sein Küster,
eine Frohnatur mit etwas schwächerem Verstand, der sonst einige herausragende Dienste ausübte, die wichtigsten davon waren sicher das Tragen des Kreuzes bei Beerdigungen
und Kirchenprozessionen, das Treten des Blasebalgs der Kirchenorgel
und natürlich das Glockenläuten. Er
war auf diese bedeutenden Dienste
so stolz, dass er deshalb mit dem
denkbar breitesten Lächeln strahlte,
während er seine Arbeit ausübte, etwa
auf dem Blasebalgpedal der Orgel
herum hüpfte oder das Kreuz bei einer Beerdigung trug.
Einmal ereignete sich eine wahre
Tragödie. Der arme Küster wurde
von Gefühlen großer Enttäuschung,
Trauer und Wut heimgesucht. Der
Pfarrer hatte sich für Modernisierung
entschieden und damit verbunden
für eine große technologische Veränderung in seiner Kirche. Er führte
die Elektrizität als Antrieb für den
Blasebalg der Kirchenorgel ein. Der
Küster verzweifelte, weil die Orgel
ihn nicht mehr nötig hatte, sie spielte ganz verräterisch „von alleine“. Es
sah so aus, als könne er diesen Schlag
nicht verkraften, aber man tröstete
Zeitgenössische Poesie und Prosa
145
Foto: Jakob Goldstein
RELA
TIONS
Rashid Novaire beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
sich damit, dass ihm noch zwei wichtige Dienste geblieben waren, von
denen er sich nicht vorstellen konnte, dass sie ihm jemand auf irgendeine Art streitig machen könnte, im
Gegenteil, er glaubte fest daran, dass
sie ihm geradezu von Natur aus für
immer zugesprochen waren. Mit der
Zeit kehrte seine gute Laune dann
doch zurück, er verschmerzte die
Orgel, und nur manchmal, wenn er
in der Kirche diente, indem er die
Almosen einsammelte oder darauf
achtete, dass die Kirchengegenstände
nach dem Gottesdienst auf ihren
Plätzen blieben, und wenn dann die
Orgel zu erklingen begann und in
tiefen Basstönen „von alleine“ – ohne
seine Hilfe – donnerte, wurde sein
Gesicht von Sorge und leichter Trauer überschattet. Um so mehr und
wahrscheinlich aus Trotz trug er mit
noch mehr Freude und Eifer das
Kreuz und zog an den Glockenseilen.
Klein, flink und dunkel, lachte er,
während er an ihnen zog, und zeigte
dabei seine starken und großen Zäh-
ne. Am Anfang hüpfte er nur fröhlich, aber wenn das Glockengeläut
schneller und stärker wurde, begann
er leicht zu hopsen und dann immer
stärker zu springen mit Sprüngen,
die immer höher wurden, als seien
sie von der Erdanziehung nicht mehr
gedämpft – irgendwie wild. Der Küster, nun zum Glöckner geworden,
tollte immer mehr und bewegte sich
in seinen Sprüngen immer höher und
höher, und es sah so aus, als ob er an
den Seilen festgebunden wäre und
als ob eigentlich diese an ihm zögen
und nicht er an ihnen, als ob sie ihn
herum schleuderten und immer weiter in die Luft empor tragen würden.
Die Glocken brummten und dröhnten, der ganze Glockenturm bebte
und zitterte. Es schien so, als würde
sich der Glockenturm mit schwerem
und immer heftigerem und schnellerem Glockengeläut von der Erde
erheben und als Rakete zum Himmel fliegen, den ekstatischen, verrückt gewordenen Glöckner an den
Seilenden mit sich tragend.
146
\ur|a Kne`evi}: Über meine Mama, die Russen ...
Er lächelte fröhlich und stolz auch
bei Beerdigungen, was die Ortsansässigen und die Trauernden nicht
im Geringsten beachteten, nur bei
dem einen oder anderen Gast löste es
gelegentlich Bestürzung aus. Dieses
Lächeln verschwand von seinem Gesicht und wich einer düstren Grimasse, die unvorstellbare Wut ausdrückte, als einige von uns boshaften Kindern ihm leise zuriefen: „Du wirst es
nicht mehr tragen, man hat das elektrische Kreuz erfunden!“ Die Perspektive einer weiteren Modernisierung
und das Voranschreiten der Technologie an seiner Arbeitsstelle, die
ihm, das wusste er ganz genau, das
Wichtigste in seinem Leben rauben
würde, war eine schreckliche, unbegreifliche, die letzte denkbare Beleidigung. Sein Gesicht verzog sich vor
Schrecken und wurde noch dunkler,
seine Augen verengten sich gemeingefährlich und wurden klein und
böse. Er sah schlimm aus, und als er
einmal dergestalt herausgefordert wurde, konnte er sich nicht zurückhalten, er warf das Kreuz mitten auf
den Weg, ließ die Trauernden geschockt und die ganze Prozession
erstaunt zurück, und zu unserer unbeschreiblichen Freude – gleichzeitig machte er uns auch Angst – rannte er wild hinter uns her. Das war
RELA
TIONS
gefährlich, wirklich gefährlich und
natürlich derart überwältigend, dass
wir kaum die nächste Beerdigung
abwarten konnten.
Der Küster fühlte sich durch diesen
Anlass, der plötzlichen Ehre eines
persönlichen Präsidentenbesuchs in
unserem Ort, genauso wie der Pfarrer zutiefst beleidigt, denn verständlicherweise kam es nicht in Frage,
dass man beim Empfang des Präsidenten das Kreuz trägt oder die Orgel
unserer Ortskirche spielt.
Aus dem Kroatischen
von Alida Bremer
Über meine Mama, die Russen, Feuerwehrmänner und andere
¹Zum Roman von \ur|a Kne`evi}º
Die Überraschung, die uns dieser Roman bereitet, basiert auf mehreren Punkten: Die Autorin wählt als
Ausgangspunkt ein klassisches Werk der russischen Literatur – den Revisor von N. V. Gogol. Doch nicht ein
Revisor soll das Örtchen besuchen, in dem die kindliche Ich-Erzählerin zu Hause ist, sondern der Präsident
persönlich, der namentlich nicht genannt ist. Man glaubt jedoch, Josip Broz Tito in ihm zu erkennen. Die Leser
aus dem Reich der ehemaligen Länder, etwa der ^SSR, der UdSSR oder der DDR, würden in ihm bestimmt andere
Persönlichkeiten zu erkennen glauben – bei weiterem Nachdenken ließe sich anstelle von ihnen eine stattliche
Zahl nicht nur kommunistischer und sozialistischer, sondern verschiedener anderer Führer in der kleinen
Geschichte vorstellen.
Die Geschichte ist deshalb „klein“, weil sie sich um ein einziges Ereignis rankt: Es verbreitet sich die Kunde, dass
der Präsident auf einer Durchreise in „unserem Ort“ Station machen wird. Oder vielleicht auch nicht, aber
passieren wird er ihn auf jeden Fall. Aus der Perspektive eines sich gut erinnernden, aufgeweckten Mädchens
werden die Vorbereitungen für dieses große Ereignis dargestellt, wobei vor den Augen des Lesers eine ganze
Galerie origineller Gestalten entwickelt wird. Zunächst sind da die Feuerwehrmänner, die eine Parade einüben,
dann verschiedene Sektionen des Kulturlebens des Volkes, die – dem kollektiven Verständnis von Kultur
entsprechend – ihre Gruppenauftritte vorbereiten. Neben der Tradition der russischen Literatur (mit ihrer
Phantastik und mit ihrem Humor) verdanken wir einem russischen Emigranten die „Russen“ im Titel des Buches.
Er ist ein beliebter Gast bei den Kaffeekränzchen, die „meine Mama“ aus dem Titel veranstaltet und bei denen
das Mädchen ganz andere Geschichte hört, als jene, die es auf den Pionierversammlungen begeistert aufsaugt.
Das Mädchen ist allerdings das einzige Familienmitglied, das an den Sieg des Sozialismus glaubt. Der Papa ist ein
gutmütiger und bekannter „Staatsfeind“, der sich im Interesse des großen Ereignisses freiwillig ins Gefängnis
begibt, um dort zu trinken und Karten zu spielen. Den Schlüssel stecken die Wächter von innen in die Tür der
Gefängniszelle, da es ein Feuer geben könnte und alle Feuerwehrmänner beschäftigt sind. Am Ende sind alle gut
vorbereitet – und der Präsident kommt, man sieht nur seine leicht winkende Hand hinter der dunklen
Fensterscheibe seiner Limousine. Noch lange wird im Ort darüber diskutiert, ob die Autokolonne mit dem
Präsidenten kurz angehalten hat oder nicht.
Alida Bremer
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
147
Diese Handvoll Sand
¹ „To malo pijeska na dlanu“, Profil, Zagreb 2005º
Marinko Ko{~ec
Dieser Mann war so lange abwesend,
dass er für die Frau, die er verlassen
hatte, schließlich aufhörte zu existieren.
Und die Frau quälte dieser Gedanke so
sehr, dass der Mann zuletzt wirklich
aufhörte zu existieren.
Jacques Sternberg, Abwesenheit
Es schneit wieder; es muss wohl zu
einer Zeit angefangen haben, da die
Nacht mit ihrer Quälerei innehält
und mich ausliefert an ein gleichförmiges Schwarz. Du hörst den Schnee
nicht, aber du spürst ihn hinter den
Scheiben, und die von der Straße heraufklingenden Geräusche sind weicher, wie durch Gaze dringend. Der
erste Bus quietschte um genau fünf
Uhr fünfzehn, nahm zwei schon verkrustete Gestalten auf, die den Alkoholpegel in sich nur durch ihre
Umarmung halten konnten, schnaubte verächtlich über einen so dürftigen
Menschenhappen und brummte die
Victoria’s Street hinunter. Um halb
sechs wurden die Müllcontainer geleert. Der Schneepflug fuhr vorbei
und schob den Pulverschnee zu Haufen zusammen, die später auf Lastwagen davonfahren würden. Vereinzelt tröpfelnd, begannen die ersten
Autos vorbeizufahren, bis sie alle vier
Fahrstreifen in Richtung Zentrum
füllten, wie Monsterbienen, die zur
Giftquelle eilten, um ihren Durst zu
Marinko Ko{~ec ¹1967º, Dozent für französische Literatur an der Abteilung für
Romanistik der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Diplom in englischer und
französischer Literatur an der Philosophischen Fakultät in Zagreb, Magistertitel
in Literatur an der Universität Paris VII und an der Philosophischen Fakultät in
Zagreb, wo er 2005 auch den Doktortitel erlangte. Er schreibt Prosa, ist als
Übersetzer und Redakteur tätig.
Ausgezeichnet mit dem „Me{a Selimovi}“-Preis ¹2002, Jemand anderes – „Netko
drugi“ – für den besten Roman, der 2001 im bosnischen, kroatischen, serbischen
und montenegrinischen Sprachraum veröffentlicht wurdeº und Gewinner des
Preises des Verlagshauses VBZ ¹2003, Wonderland – für den besten unveröffentlichten Roman des Jahresº. Dreimaliger Finalist des Wettbewerbs der Tageszeitung Jutarnji List für das Prosawerk des Jahres.
ROMANE: Eine Insel unter dem Meer ¹Otok pod moremº, Feral tribune, Split 1999;
Jemand anderes ¹Netko drugiº, Konzor, Zagreb 2001; Wonderland, VBZ, Zagreb,
2003; Diese Handvoll Sand ¹To malo pijeska na dlanuº, Profil, Zagreb 2005. In
Vorbereitung für 2008 ¹Profilº: Alles über uns sagte schon der Wind. Ein Roman
über menschliche und natürliche Transitionen. ¹Sve o nama ve} je rekao vjetar.
Roman o ljudskim i prirodnim tranzicijama.º
WEITERE BÜCHER: Skizzen zum Porträt der modernen französischen Prosa ¹Skice
za portret suvremene francuske prozeº, Sammlung von Essays und Übersetzungen, Konzor, Zagreb 2003; Michel H. – Mirakel, Märtyrer, Manipulator ¹Michel H.
– mirakul, mu~enik, manipulatorº, eine Studie der Werke von Michel Houellebecq,
Antibarbarus, Zagreb 2007; Gemurmel im Dunkeln ¹Mrmor u mrakuº, eine
Antologie der modernen französischen Kurzgeschichte, Profil, Zagreb 2007.
stillen; ihr Gebrumm wird erst gegen
Mitternacht wieder allmählich ersterben, gemeinsam mit dem Dröhnen
der Flugzeuge, die alle fünfzehn Minuten in solch geringer Entfernung
abfliegen oder landen, dass man die
Namen der Fluggesellschaften ablesen
kann, einer exotischer als der andere.
Es schneit Tag und Nacht. Mitunter
setzt es für ein, zwei Stunden aus,
dann rieselt es weiter, ohne Eile,
gründlich, die Sonne lediglich wie
eine Erinnerung durchlassend. Es
heißt, einen so kalten Winter hätte es
noch nie gegeben; wenn die Temperaturen auf fünfzehn Grad minus
148
Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand
ansteigen, möchte man in kurzen Ärmeln hinausgehen. Den kanadischen
Boden, jene dünne Schicht, die auf
den Landkarten bezeichnet ist, habe
ich noch nicht unter der Schneekruste erblickt. Zugefroren ist auch
der See; letztes Wochenende bin ich
mit dem Bus am Red River entlang
hingefahren, bin an seinem Ufer spazieren gegangen, obwohl man den
See selbst unter der eintönig ausgebleichten Ebene lediglich dank der
Wildgänse erahnen kann, die von
einem Ufer ans andere wechseln,
durch Erinnerungen an diesen Ort
gekettet oder weil ihnen kein anderer einfallen will. Auch die Gerüche
sind im Eis gefangen, alles ist steril,
weiß, taub, wie in einem Kühlraum,
in dem wir alle, Gänse wie Menschen, darauf warten, zur Obduktion an die Reihe zu kommen.
Jeden Morgen erwache ich um fünf.
Ein Ruck, Herzklopfen, und dann
bleibt mir nichts, als mich im Dunkeln in dieselben schmerzvollen Gedanken zu bohren; sobald das Bewusstsein sich in Gang setzt, sind sie
da. Seit Monaten, bestenfalls haben
sie ein bisschen Platz gemacht für
etwas, das auf der Arbeit gefordert
wurde, aber nicht einen Augenblick
lang haben sie aufgehört, mich zu
treten, zu durchwühlen, in immer
kleinere Trümmer zu zerbröckeln.
Immerhin ist es besser geworden, seit
ich in Kanada bin. Mein Körper ist
taub geworden; wenn das Stechen
einsetzt, bringe ich sogar ein Lächeln
zustande. Dabei ist es nicht zum Lachen, aber bitte, lachen wir eben,
warum nicht. Warum nicht den einen oder anderen dreckigen Witz
beim Bier erzählen, warum nicht
U-Bahn fahren, Würstchen grillen,
ins Museum gehen oder in den Stripjoint. „Sure“, sagte ich, als Jeremy
diesen Vorschlag machte, um auf
diese Weise meines Geburtstags zu
gedenken, nachdem mir dummerweise herausgerutscht war, dass ich
vor genau dreiunddreißig Jahren ge-
boren bin. Bestimmt wollte er mir
damit eine Freude machen, und ich
wollte ihn nicht enttäuschen. Eine
innere Stimme sagt mir, dass er noch
nie einen nackten Frauenkörper unmittelbar gesehen, geschweige denn
berührt hat; dadurch wird seine mystische Aura nur noch vollkommener.
Während ich am Küchentisch schreibe, liegt Jeremy in seinem Zimmer,
in der unveränderlichen Pose einer
Mumie, seine zwei Meter Länge leblos auf dem Rücken ausgestreckt.
Ihm bleiben noch fünfzehn Minuten
bis zum Weckerklingeln; wäre Wochenende, würde es bis mittags dauern. Ich weiß nicht, was genau ihn zum
Mystiker macht, aber ich habe keine
andere Bezeichnung für die Seligkeit,
die aus ihm strömt, für das Gefühl,
dass er in einer nur ihm bekannten
Weise absolutes Gleichgewicht, Vollkommenheit, Abgerundetheit innerhalb seines eigenen Körpers erlangt
hat. Im ersten Moment könnte einen
der Jammer packen beim Anblick
dieses betäubt daliegenden Hünen,
der aus lauter Muskeln besteht, mit
Schultern so breit wie Kirchenschiffe,
blonden Haaren, die, zum Pferdeschwanz zusammengebunden, bis an
seinen Hintern reichen. Beim Fällen
einer jahrundertealten Eiche durchweht es das Herz kälter, als wenn ein
Zwetschgenbaum dran glauben muss.
Aber dazu besteht kein Anlass; er ist
mit sich selbst vollkommen im Reinen, erwidert jeden Blick mit einem
Lächeln, zu Hause wie auch auf der
Arbeit. Nicht ein einziges Mal habe
ich ihn in Aufruhr gesehen oder gehört, dass er die Stimme erhoben
hätte. Mit derselben Hingabe und
Zufriedenheit, als wäre genau dies
der Weg, das Nirwana zu erlangen,
reißt er mit dem Presslufthammer
Wände ein oder rührt sich beim Frühstück seine Haferflocken an, bis sie
zu einer gleichförmigen Masse werden, um dann über jedem einzelnen
Löffel zu meditieren. Auf Fragen antwortet er sanft und gutwillig, er selbst
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stellt nie welche. Ich auch nicht; er
hätte kaum einen passenderen Mitbewohner finden können. Ich bringe
nie Besuch mit, bin nicht laut, erzeuge so gut wie keine Geräusche,
aber ich bin hier, das ist unbestreitbar, zumindest körperlich. Er gibt
mir auf seine diskrete Weise zu verstehen, dass er das bemerkt und respektiert.
Am Samstag, dem neunundzwanzigsten, Hamburger aus der Pfanne und
Fertigfritten mit Ketchup gratis, dann
auf zur Odyssee in die Nacht von
Winnipeg. Mit Jeremys klapprigem
Chevrolet durch das am Flughafen
aus dem Boden geschossene kosmopolitische Viertel, ein Labyrinth aus
lauter Gebäuden mit mindestens fünfzehn Stockwerken und Sozialwohnungen. Weiter durch einen Tunnel,
bestehend aus einer Reihe Aluminiummonster, die die Straße säumen, oder
genauer gesagt, aus deren Konturen,
die unter Neon-Strahlenkränzen und
dicken Rauchsäulen verschwimmen,
dann durch eine eisstarre Einöde.
Und zum Schluss ein ebenerdiges
Blockhaus mit der Aufschrift Nude
Inn, innen und außen mit verspielt
blinkenden Lichterketten, zu Ehren
des Neuen Jahres. Hier haben Jeremy
und ich meine Geburt gefeiert, mit
abwechselnd spendierten Bierrunden.
Die erste zahlte er, die nächste ich,
dann noch einmal Jetzt-ich, Jetzt-du.
Jedes Mal prosteten wir uns zu, bedeutungsschwere Blicke austauschend,
dazwischen meist schweigend. Er
schaute zum Podium, doch seinem
Gesichtsausdruck zufolge hätte man
meinen können, dass dort ein Bergbächlein plätscherte und ein Rehkitz
sich daran labte. Die Mädchen wechselten sich ab, einzeln oder in Paaren, wanden sich um eine Metallstange oder umeinander und zeigten
immer mehr Akrobatik. In der Pause sagte er mir etwas ins Ohr, aber
die Musik war zu laut, und ich zu
müde. Auf der Rückfahrt fügte er
noch hinzu, dass wir einen ausge-
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TIONS
zeichneten Tisch gehabt hätten, und
ich pflichtete ihm bei.
Tags darauf, und das war das einzige
Mal, sagte er mir ein paar Worte
über sich, mit der gleichen weichen
Stimme und demselben ungetrübten
Lächeln. Unlängst sei er aus einem
kleinen, fünfzig Meilen nördlicher
liegenden Ort hergezogen, nachdem
die Firma, bei der er arbeitete, pleitegegangen und die Tante, bei der er
aufwuchs, gestorben sei, ebenso sein
Zwillingsbruder. Die Tante habe nie
geheiratet; vor geraumer Zeit an multipler Sklerose erkrankt, sei sie die
letzten zwölf Jahre ans Bett gefesselt
gewesen. Seine Mutter habe er im
fünften Lebensjahr durch die Hand
seines Vaters, genauer: eine Holzaxt
verloren. Den Vater habe er nie im
nüchternen Zustand erlebt; nach dem
Gefängnis habe er sich ab und zu
noch blicken lassen, im Haus einer
Witwe, mit der er ein neues Leben
angefangen hatte, doch bald schon
verlor er dieses durch einen Brand,
den er, betrunken im Bett rauchend,
selbst verursacht hatte. Seinen Bruder habe er im letzten Jahr verloren,
als diesem bei der Jagd das Gewehr
ins Gesicht explodierte. In Winnipeg
gefalle es ihm; mit der Arbeit sei er
rundum zufrieden.
Ich ging vor dem Mittagessen, hinaus in die Kälte, die an der Haut riss.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten
Fußstampfen und Warten kam der
Zug; er war leer. Bis das Abtauchen
unter die Erde ankündigte, dass man
sich dem Zentrum näherte, öffneten
und schlossen sich die Türen umsonst.
Bis zur Yong Street kam gerade mal
ein Häufchen von Kopf bis Fuß vermummter Gestalten zusammen, und
jeder hatte Eile, sich auf einen der
beheizten Sitze zu kauern. Im chinesischen Viertel hatten einige Läden
geöffnet. Aus einer Bäckerei quoll
Dampf durch Spalten in den maroden Fenstern; ich trat ein und kaufte
eine Tüte Gebäck mit Krabben und
Ananas von einem Männchen, das
Zeitgenössische Poesie und Prosa
nicht aufhörte, sich zu bedanken,
selbst als ich die Tür schon wieder
geschlossen hatte, und das mir, an
der beschlagenen Fensterscheibe klebend, noch einmal zuwinkte. Von dem
Nachmittag erinnere ich nur noch,
dass ich eine Zeit lang in Büchern
stöberte, im Untergeschoss eines Einkaufszentrums, das nach dem weihnachtlichen Kaufrausch auf einmal
in Apathie versunken war, obgleich
weiterhin in Neon die Versprechen
blinkten, dass 2006 all unsere Wünsche in Erfüllung gehen würden.
Irgendwie schleppte sich die Abendbrotzeit heran. Ein von Hand beschriebenes Schild lockte mit taiwanischen
Leckereien zum feiertäglich ermäßigten
Sonderpreis in ein Restaurant, das
sich am Ende eines Hofes zwischen
ein Blumengeschäft und ein Bestattungsunternehmen zwängte. Gleich
hinter der Schwelle ragte die Rezeption auf, kaum niedriger als ich und
ausgestattet mit einer richtigen Hotelklingel, auf die man draufhauen musste, damit jemand kam. Ein beängstigend breites Frauengesicht tauchte
auf; während der paar Sekunden, die
es mich von oben herab betrachtete,
war ich nicht sicher, ob es sich um
einen Scherz handelte, eine Karnevalsmaske, die man sich hier als Willkommensgruß überstülpte. „Eat one
person“, sagte sie mit einer Betonung,
die sie sicherlich als Fragestellung
empfand, stieg dann von ihrem Thron
herab und bedeutete mir mit dem
Finger, ihr in einen Saal zu folgen,
der vollkommen leer war. Die Wahl
des Tisches erforderte freilich einiges
Nachdenken; sie brachte mich in einer
der Boxen für Paare unter, hinter einer
prunkvollen Trennwand aus Sperrholz, verziert mit einem Dschungel
aus Reliefschnörkeln, knallroten, grünen, goldfarbenen. Der Raum erstickte in malerischer Pracht, Vergoldung und Plastik. Auf jedem Tisch
thronte ein Kunstblumenstrauß, an
den rosa Wänden hingen künstliche
Kerzenleuchter und zahlreiche ori-
149
entalische Abstraktionen, von der
Decke wiederum Leintücher, die man
knapp über Kopfhöhe durch den Raum
gespannt hatte, und bunte Papierdrachen mit heraushängenden Zungen. Als Kontrapunkt zur koloristischen Exaltation drang, während der
ganzen Zeit, die ich in diesem Etablissement verbrachte, aus einem Lautsprecher das dünne Rinnsal einer
blutleeren Frauenstimme, so klagend,
dass selbst der Teppichboden, hätte
er Taiwanisch verstanden, in Tränen ausgebrochen wäre; begleitet wurde diese Stimme hingegen von ziemlich hektischer Klaviermusik, die mal
in Richtung französisches Chanson,
mal in Richtung Salsa tendierte. Und
von einem durchdringenden Surren,
das die Musik zuweilen erstickte.
Es dauerte und dauerte, doch das
Essen kam nicht. Lediglich Bratgeruch, schwer und üppig, und eiliges Geschirrklappern aus der Küche,
als würde sich die gesamte vielköpfige
Familie ins Zeug legen, um massenweise Gäste zu bedienen, obwohl
sich bis zum Ende meiner Mahlzeit
keine Menschenseele blicken ließ.
Die Wirtin brachte mir schließlich
doch noch die Muscheln, die ich
bestellt hatte, präsentierte sie feierlich mitsamt deren Begleitung, einem
Schälchen Reis und einer Flasche
Leitungswasser, und sie schmeckten
nach Schwein. Als sie mir das Wechselgeld zurückgab, sagte sie so besorgt wie enttäuscht: „Not eat much.“
Zur Antwort simulierte ich, so gut
ich konnte, ein taiwanisches Lächeln
mit Verbeugung.
Bei der Fülle der gastronomischen
Attraktionen von Winnipeg gehe ich
nirgendwo zweimal hin. Gestern,
beim Japaner, war das Dekor genau
das Gegenteil: Rechtwinklige, asketische, makellos reine Linienführung;
ein Minimum an Farben, Blassgelb
und Schwarz; das Licht diskret, gedämpft durch Flächen aus Reispapier, keine Musik. Am Eingang stehen sie Spalier, der Inhaber und sei-
150
Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand
ne Frau nebst zwei Burschen, offensichtlich die Söhne. Alle haben sie
mich, während ich aß, einzeln besucht, um zu fragen: „Everything
okay?“ oder um mir Wasser nachzugießen. Ich sinnierte über ihrem Credo, das im Klo auf einem Täfelchen
eingraviert war: Who comes as a friend,
always comes too late, and leaves too
early. Ich habe immer aufrichtig an
Freundschaft geglaubt, und in dieser
Überzeugung bin ich auch zu ihnen
gekommen; aber das hier war ein
Hinweis, dass alle Hoffnung vergeblich ist, immer ist es zu spät, wenn es
denn nicht zu früh ist.
Am Nebentisch unterhielten sich
zwei japanische Geschäftsleute leise
zwischen zwei Bissen. Sie verstanden sich ausgezeichnet so, mit halben Worten; kaum hob einer zu sprechen an, nickte der andere, die Lücken füllten sie mit gemeinsamem
Kopfnicken. Dezent und mit kultivierten Bewegungen, fügten sie sich
tadellos ins Ambiente ein. Während
des Abendessens allerdings blätterte
nach und nach ihre Politur ab; beim
Öffnen einer neuen Flasche wurde das
Sakko über die Stuhllehne geworfen
oder der Krawattenknoten gelockert,
oder die Krawatte wurde ganz abgelegt und zusammengerollt in der Hosentasche verstaut, man sprach immer
lauter, lachte glucksend mit vollem
Mund, trocknete sich mit dem Tischtuch die schweißfeuchte Stirn. Von
irgendwoher schneite eine Gruppe
von Asiatinnen herein, Teenager,
vermutlich auf einer Klassenfahrt.
Sie quetschten sich an fünf zusammengestellte Tische und fingen alsbald
zu tschilpen an, in einer den Obern
unverständlichen Sprache mit vielen
langen, ansteigenden Tönen. Die Verhandlungen wurden auf Englisch geführt, und das recht mühsam: Eines
der Mädchen übersetzte den übrigen
jedes Gericht von der Speisekarte,
was heftige Diskussionen hervorrief,
bis eine riesige Gemeinschaftsplatte
eintraf, die mit lauten Rufen und
Applaus begrüßt und umgehend mit
Fotoapparaten in Angriff genommen
wurde. Sie fotografierten sich auch
gegenseitig, sich umarmend oder mit
Wasser Brüderschaft trinkend. Nicht
eine trank Alkohol, aber bald wurden
sie von einer Hochstimmung erfasst,
kollektive Berauschtheit durchflutete den Raum. Der Wirt, selbst schon
mit gehöriger Schlagseite, schloss sich
den Geschäftsleuten an und begann,
sich mit einem von ihnen über etwas
sehr Erheiterndes auszutauschen; einstimmig brachen sie in Gelächter aus,
schlugen sich auf die Schenkel und
bleckten breit die Zähne. Der andere
kicherte, den Kopf auf den Tisch
gelegt, mit abwesendem Blick und
mitunter vor sich hinsummend. All
das ergab sich ganz natürlich, alles
Mögliche hätte nun eintreten können, um ein Haar hätten wir alle
angefangen, im Chor zu singen, auf
den Tischen traditionelle Tänze zu
tanzen; es fehlte nicht viel, und Feuerschlucker wären eingetreten, Trapezkünstler, Giraffen.
Die koketten Blicke, die mir die
Mädchen zunächst verschämt zuwarfen, wurden schließlich ganz unverhohlen, forschend, begleitet von Flüstern und schrillen Ausrufen. Durch
die angenehme Stimmung war ich
versucht, mich an ihren Tisch zu setzen. Ich war geradezu überzeugt, dass
ich im selben Augenblick die Sprachbarriere, die Rassen- und Alters-,
vielleicht auch die ideologischen Unterschiede überwinden, mich mit jeder Einzelnen von ihnen verschwestern und in seliger Umarmung nach
Hause gehen würde, wohin auch
immer.
Dennoch verließ ich das Lokal. Trat
hinaus in die grässliche, knirschende
Kälte, zwischen Flocken, die erneut
zu tanzen begonnen hatten, diesmal
einen horizontalen Danse macabre,
befördert von einem durchs Mark
dringenden Nordwind, und langsam
trug ich meinen eigenen Sack voll
Knochen durch dieses Gräberfeld aus
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TIONS
Glas- und Stahlriesen, deren Beleuchtung gespenstisch verloschen war.
Es ist kein Masochismus, der mich
in solche Restaurants zieht. Im Gegenteil, in der Regel kommt es zu einer
wohltuenden, befreienden Umkehr:
Der angestaute Kummer lodert auf,
wächst an zu einer unerträglichen
Fülle, bis er explodiert und hervorbricht, begleitet von hysterischem
Lachen, das in diabolische Euphorie
umschlägt, dann in ein Gefühl des
Behagens, das ich, fast schwebend,
mit mir forttrage. Und für die nächsten paar Stunden ist alles blank gespült, ist alles verschwunden, es ist
mir verdammt gleichgültig, wo ich
bin und was geschieht, wenn man
mich darum bäte, gäbe ich bis aufs
letzte Stück alle meine Kleider her,
sorglos würde ich zuschauen, wie
man mir meine inneren Organe herausschneidet.
Doch am nächsten Morgen, Punkt
fünf, beginnt alles aufs Neue, vollkommen gleich.
***
Nach genau drei Wochen fingen sie an
herabzufallen. Zu wenig Zeit, um zu
Atem zu kommen. Um abzuwarten,
dass die Aggression der fremden Gerüche aufhörte, die Geister der früheren
Untermieter verflogen, die Überreste
von wer weiß welchen zerbrochenen
Existenzen, wer weiß welchem hinausgestoßenen Jammer. Und um einen
wenn auch brüchigen Frieden mit diesen Räumen zu schließen, ohne Ehrgeiz, sie je als meine eigenen zu empfinden.
Ein Wohnzimmer, zum Atelier umfunktioniert, Bad, Küche mit Essecke, eine
Schlafkammer. Ausreichend Licht dank
der großen Fenster. Zum Glück mit Gittern. Auch wenn es paranoid sein mag
– als Frau allein in einer Souterrainwohnung habe ich nichts dagegen.
Schnell habe ich herausgefunden, dass
Hunde an die Fenster pinkeln, selbst
die, die an der Leine geführt werden.
Zeitgenössische Poesie und Prosa
151
Foto: Jakob Goldstein
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Mirja Unge beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
Ich habe mir immer einen Hund gewünscht, oder zumindest das Bellen.
Einen wie den, der von seinem Besitzer
zum Hüten in der Wohnung gelassen
wird, ungefähr drei Stockwerke höher.
An die Fenster pinkeln auch die mit
Bier abgefüllten Fussballfans, nach jedem Spiel im hundert Meter entfernten Stadion. Ausschließlich in Gruppen. Und dabei grölen sie ihr „Dinamoooo” oder „Kro-azien ist Wääältmeister”. Vor den Fenstern liegt ein
allzu knapp bemessener Parkplatz, auf
dem einige Anwohner heldenmütig
eine kleine Naturoase pflegen mit Hilfe von Schildern wie Töte die Pflanzen
nicht, Gottes Auge sieht dich. Gegenüber steht ein Haus, das irgendeine
Glaubensgemeinschaft für ihre Bedürfnisse errichtet hat. Diese bestehen in
abendlichen Zusammenkünften an den
Wochenenden und bestimmten Wochentagen. Du siehst sie nicht, wenn
sie kommen, aber auf einmal ertönt
Gesang, kaum hörbar, dann immer viel-
stimmiger, immer stärker durchdrungen von Seiner Stimme. Wenn sie
vollends entfesselt sind, öffne ich die
Fenster und drehe Industrial Noise auf.
Oder die Neofolk-Sängerin Siegfriede
Skunk, aus der Zeit ihrer paradoxen
satanistischen Phase, nach der sie ins
Irrenhaus eingeliefert wurde. Sie lassen
sich dadurch nicht gerade entmutigen, aber in der Luft entsteht immerhin
eine Art Gleichgewicht. Die Nachbarn
von oben höre ich ebenfalls, und wie! –
wenn sie vögeln, oder wenn sie sich
kloppen und dabei Möbel zerschlagen.
Einmal habe ich versucht sie darauf
hinzuweisen, dass meine Ohren nichts
damit zu tun haben wollen, und habe
mit dem Besenstiel an die Decke geklopft. Das haben sie als meinen Wunsch
mitzumachen aufgefasst, als koketten
Ansporn, den sie mit demselben Pochpoch-poch erwiderten, daraufhin gaben sie sich erst recht Mühe, noch inbrünstiger zu stöhnen und sich gegenseitig sämtliche Vorfahren zu ficken.
Und dann ist die Dame aus dem zwölften Stock gesprungen. Ich saß auf dem
Fensterbrett mit meiner millionsten
Zigarette. Ohne Gedanken, außer vielleicht dem an die Wärme einer Herbstnacht oder das Funkeln der Sterne,
während meine Blicke über den Himmel schweiften, um irgendwo vielleicht
doch noch einen Schlaf bringenden
Engel zu erspähen. Und hörte auf
einmal hinter meinem Rücken ein Geräusch wie einen Windhauch. Ich konnte gerade noch den Kopf ein wenig zur
Seite drehen, weit genug, um einen
Blick auf den unnatürlich verrenkten
Unterschenkel mit strumpflosem Fuß
zu erhaschen. Einen Augenblick später
gab es einen dumpfen Aufprall, ohne
Widerhall, ein Haufen bereits lebloser
Gliedmaßen krachte herunter und verwandelte sich sofort in einen formlosen, völlig entmenschlichten Lappen.
Die Dame, hieß es, sei krank gewesen.
Im Kopf und anderswo. Obendrein alt
und einsam. Aber warum musste sie
152
Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand
auf mich warten, um ihrem Leid ein
Ende zu machen? Warum musste sie
es fünf Meter vor meinem Fenster abladen?
Drei Monate später war die Eröffnung
meiner Ausstellung in der Galerie Gradec. Über drei Stockwerke verteilt, mit
Fernsehen und dem Kulturminister und
allen wichtigen Kulturministranten,
endlich, zwölf Jahre nach der ersten
Stadtbücherei. Und einer Menge aufgedonnerter Weiber, die mit ergriffenem Seufzen vor den Bildern standen,
die Hand auf der Brust, und nur noch
stammeln konnten: „Das ist ja... Das
ist ja...” Und deren mächtig betuchten
Männern mit ihren halslosen viereckigen Riesenschädeln, die sich heimlich
meine Adresse notierten in der Absicht,
ihren Schatz zu überraschen, einzig darum besorgt, dass sich die Farben nicht
mit dem Canapé bissen. Und Wüstlingen, die sich erfolgreich im Gewühl
tarnen, aber wenn sie dich allein im
Atelier abpassen, wirst du sie nicht
mehr los. Zunächst erkundigen sie sich
ganz allgemein nach Techniken, nach
der Bedeutung von diesem und jenem,
decken kosmogonische Konnotationen
auf, streuen immer gewagtere Anspielungen ein und verzehren sich die ganze Zeit doch nur nach einem: Den
Hosenladen aufzumachen und ihn dir
zu zeigen. Es war wirklich brechend
voll, aber ich bemerkte auch zwei, drei
Kolleginnen, die sich diskret in größtmögliche Nähe zu irgendwelchen Kustoden und Galeristen treiben ließen
und dabei in alle anderen Richtungen
blickten außer auf die Gemälde. Und
zwei Kollegen, die dagegen vergnügt,
den vernichtenden Daumen und Zeigefinger ans Kinn gelegt, die Bilder betrachteten, einander abwechselnd etwas ins Ohr flüsterten und sich dann
vor Lachen bogen.
Im Scheinwerferlicht und unter dem
Schwall von Lobeshymnen zitterte ich
vor Angst, dann vor Scham. Dass man
mich wie eine Zirkusattraktion vorführte, fürs Familienalbum fotografierte, befummelte, mir Diktiergeräte in
den Mund schob, das war okay, das
musste abgearbeitet werden. Aber die
Bilder! – als sähe ich sie jetzt zum
ersten Mal. Auf einmal hingen da an
den Wänden Abbilder meiner Trauer,
die ich auf der Leinwand breitgetreten
hatte, Tag und Nacht, monatelang,
nicht wissend, was ich tat. Da schrie es
nun von den Wänden, zeigte mich zerrissen, in hundertfacher Ausführung.
Mir schien, alle im Raum bemerkten
es. Als sähe mich jeder Einzelne von
ihnen so, wie ich mich vor ihnen sah,
nicht nur entblößt, sondern gehäutet.
Dennoch drangen allmählich Worte zu
mir durch, mit denen meine Arbeit gewürdigt wurde, etwas wie Abtauchen
in archetypische Mäander, Verkettung
von Ursprungsmetamorphosen, psychogrammatische Textur, Überschneidung
phantasmagorischer Ebenen, und mir
ging auf, wie sehr ich mich irrte. Man
sieht weder mir etwas an noch den
Bildern. Diese Bilder gehören jetzt ihnen, sie können sie zerreißen, wenn sie
wollen. Mir haben sie nie gehört, sie
sind nur durch mich hindurchgegangen. Das brachte mir Erleichterung,
eine riesige Last fiel von mir, entlud
sich wie rinnender Sand. Gleichzeitig
stieg ich zur Decke auf und blieb
darunter schweben, unsichtbar. Benommen, sogar leicht kichernd brach
ich nach Hause auf, zu dem Ort, den
ich begonnen hatte, mein Zuhause zu
nennen. Die Champagnerbläschen wirkten mit vereinten Kräften, trugen mich
wie auf Händen die Vla{ka- und Maksimirska-Straße hinunter. Selbst dann
noch, als ich das Gedränge vor dem
Gebäude bemerkte, Menschen, die mit
den Armen fuchtelten, und andere, die
herbeigerannt kamen.
Meine Reaktionen sind immer verzögert. Wer nur ein bisschen Selbsterhaltungstrieb besitzt, hätte darin ein
Zeichen zum schleunigen Kehrtmachen erkannt. Ich aber setzte meinen
hypnotisierten Gang fort, bis ich mich
buchstäblich von Angesicht zu Angesicht mit etwas befand, was zunächst
wie ein Fußball aussah, der unter eines
RELA
TIONS
der geparkten Autos gerollt war. Erst
nachdem ich eine ganze Ewigkeit hingestarrt hatte, erkannte ich, dass es
sich um den wichtigsten Bestandteil
eines Menschen handelte, der sich,
noch zielsicherer als seine Vorgängerin,
vor mein Fenster gestürzt hatte. Wie
mir die Hausmeisterin, meine neue
Freundin, ausführlich erklärte, hatte
sich der Kopf in einer Wäscheleine im
ersten Stock verfangen, war davongerollt
und hatte sich so vor den Findern der
Überreste verborgen. Ehe ich hinzustieß, war man schon übereingekommen, dass es sich um einen beispiellosen
Mordfall durch Enthauptung handelte.
In jenen Augen lag eine erstaunliche
Wachheit. Etwas, das mich seit jeher
aus dem Dunkel beobachtet, mit
schüchterner Zurückhaltung, das aber
jetzt ohne zu zögern bei mir blieb.
Als ich schließlich kehrtmachte und
denselben Weg zurückging, durch die
Maksimirska- und dann die Vla{kaStraße, geschah das ohne jegliche Absicht. Erst an der Kreuzung mit dem
Medve{~ak wurde mir klar, wohin ich
ging, dass ich diese Nacht bei Vater
verbringen musste. Ich blieb drei Tage.
Er war fürsorglich, bekochte mich und
brachte mir das Essen aufs Zimmer. Ich
verließ es nur, um ins Bad zu gehen, die
übrige Zeit verbrachte ich zusammengerollt auf dem Bett. Zumindest weckte das vorübergehend seine Lebensgeister. Nach langer Zeit bemerkte er
wieder, dass ich existierte.
Am dritten Tag spürte mich meine Wirtin auf, voll tröstender Worte, vor allem aber besorgt darüber, wie sie unter
diesen Umständen einen neuen Untermieter finden sollte. Die Hausmeisterin
habe alles erledigt, beteuerte die Stimme im Hörer, unnötigerweise die Verantwortung übernehmend: Sie habe sie
gut bezahlt. Was genau sie denn damit
sagen wolle? Ja, ob ich denn nicht
wüsste, dass ich das Fenster offen gelassen hätte, sodass ein Teil jenes unglücklichen Menschen, genauer: dessen, was sich in ihm befunden habe...
hier unterbrach ich sie.
RELA
TIONS
Nur mit großer Mühe konnte ich mir
vorstellen, wieder dort zu wohnen. Ich
hätte jemanden bitten können, meine
Sachen zu holen. Sie irgendwo unterzubringen. Und dennoch, vielleicht aus
Trotz, vielleicht weil ich nur schwer
der Gelegenheit widerstehen kann, mir
selbst zu schaden, bin ich zurückgekehrt. Die Frau, die sich der Drecksarbeit angenommen hatte, hat ihr Bestes getan. Sie hat die Vorhänge gewaschen, die Möbel poliert, sogar das Essbesteck ordentlich in die Schubladen
geräumt. Aber sie ist betagt, tatterig,
und mit ihren fingerdicken Brillengläsern sind keine herausragenden Ergebnisse zu erzielen. Noch Tage später
fand ich immer wieder Erinnerungsstücke: zwischen den Rippen des Heizkörpers, an den Pinseln, sogar auf den
Ölgemälden, die ich zum Trocknen aufgestellt hatte. Zugegeben, diese Flecken,
ja selbst die reliefbildenden Stückchen
haben sich nach dem ersten Schock
ganz gut eingefügt. Ein Mensch, über
den ich nie etwas erfahren werde noch
zu erfahren wünsche, ist, obwohl ihn
alles Mögliche außer diesem Vorhaben auf das Gebäudedach hätte führen können, auf eigentümliche Weise
zu einem Bestandteil meines Werkes
geworden. Und hat es verdient, dass
ich die Existenz dieser wenigen Spuren nicht auslösche, und sei es auch
in irgendeinem ultradurchgestylten
Esszimmer oder im Konferenzraum eines Mobilfunkbetreibers. Auf jeden
Fall werden sie den Kunstkritikern
zum Ausfindigmachen von Archteypen
und phantasmagorischen Ursprüngen
ebenso gut dienen wie irgendein beliebiger Pinselstrich von meiner Hand.
So sind die im zweiten Stock wohnhafte Hausmeisterin und ich uns also
nähergekommen. Tatsächlich besteht
die Annäherung darin, dass sie mich
fast täglich besucht und mir auf dem
Sljeme gesammelte Pilze mitbringt.
Diese bilden so ungefähr ihre einzige
Nahrung, was sie aber zu verbergen
sucht, wie die anderen Zeichen ihrer
extremen Armut. Sie steht im Morgen-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
grauen auf und geht zu Fuß den ganzen Weg, hin und zurück, der Gesundheit wegen. Dieses Pilzesammeln ist
im Grunde gefährlich, durch ihre Kurzsichtigkeit wird wohl auch so mancher
Giftpilz in ihre Tasche wandern. Ich
ertrage Pilze sowieso nicht, für mich
gibt es schon in Menschengestalt zu
viel, das von Verwesung lebt. Aber das
erste Mal habe ich sie im Namen der
Freundschaft angenommen, und so
habe ich denn nun Kontakt zu einer
Menschenseele aus dem Gebäude, welche dies als Aufruf zur Wohltätigkeit
aufgefasst hat, als Gelegenheit, sich
um jemanden zu kümmern. Sie erlaubt
mir, ihr einen Kaffee zu kochen, mehr
aber nicht. Bis zur Mittagessenszeit
bleibt sie sitzen und erzählt mir Episoden aus ihrem Leben, die allesamt himmelschreiend traurig sind. Offen gestanden, wiederholt sie sie mehrere
Male und mit krassen Variationen. Einmal war es ihr jüngerer und einziger
Bruder, der noch in der Kindheit ertrunken ist, weil er einen Freund, der
nicht schwimmen konnte, retten wollte, ein anderes Mal ein Lamm, und das
dritte Mal wurde er von Ustaschas
getötet. Das verschafft dem Gehör
immerhin eine gewisse Immunität. Die
Pilze getraue ich mich nicht in unserem Müllcontainer zu entsorgen, sodass ich mit der Abfalltüte in der Hand
durchs ganze Viertel laufe. Noch habe
ich sie nicht beim Wühlen im Container ertappt, aber die Aussichten sind
allzu groß.
Der Hausmeistertitel hilft ihr wenig,
wenn es gilt, irgendeinen Spaßvogel
mit Sinn fürs Praktische daran zu hindern, die Glühbirne im Erdgeschoss zu
klauen, sobald diese erneuert worden
ist. Im Zusammenwirken mit dem ewig
aufgebrochenen Haustürschloss verwandelt sich dadurch am Abend der
Korridor zu meiner Tür im Untergeschoss in fünfzehn Sekunden Panik.
Und noch weniger wird dieser Titel die
Selbstmörder des Stadtteils daran hindern, in Scharen auf unser die umliegenden Häuser überragendes Gebäu-
153
de zu steigen, nachdem jetzt an zwei
Exempeln sichtbar geworden ist, wie
gut es funktioniert. Einer jähen Eingebung folgend, habe ich einen Zettel an
die Eingangstür geklebt mit der Aufschrift Selbstmöder werden gebeten,
ab und zu auch auf der Nordseite abzuspringen. Meine Freundin hat mich am
nächsten Morgen nur verwundert und
mit leicht tadelnden Blicken angesehen. Sie hatte Recht, das war kindisch,
und so habe ich den Zettel wieder abgenommen.
¹...º
In mir war alles stehen geblieben. Von
der Welt trennte mich eine dicke
Glaswand. Aus dem Innern betrachtete ich meine eigenen Bewegungen
wie die eines Fremden, in Zeitlupe.
Jeden Morgen musste ich mir erneut
in Erinnerung rufen, warum ich lebte, was mich von den Latten unterschied, auf denen ich lag, wozu eine
Zahnbürste diente. Draußen kulminierte das Wettstreiten um Vielfarbigkeit, Mobilität, Dringlichkeit.
Im Fernsehen wurden kroatische Idole, Vertreter der Kommunalverwaltung gewählt, wurde immer intensiver die Integration in euroatlantische
Strukturen angestrebt. Im Briefkasten landeten eilfertig Rechnungen
und Werbezettel mit noch günstigeren Angeboten für Waschmittel und
geräucherten Pancetta. Aber das waren nur Papiergaukeleien, Relikte einer versunkenen Welt. Im Haus fehlte es an allem; das letzte Stückchen
Schokolade, die letzte Tütensuppe
aufbrauchen, war, als würde man für
immer ihre Existenz abschaffen. Eins
ums andere verschwanden die Dinge um mich herum, oder enthöhlten
sich von innen heraus und ließen leere Hülsen zurück. Wenn ich jemanden auf der Straße traf, war es, als
sähe ich ihn zum letzten Mal, was
immer wir sagten, schmeckte nach
Abschied. An jeder Ampel hing die
Möglichkeit in der Luft, dort wie
eine Mumie sitzenzubleiben, bis das
Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
154
Regis Jauffret beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
Einsatzteam aus der zuständigen Einrichtung einträfe. Bestenfalls lebte
ich zwei oder drei Stunden am Tag,
gerade so viel bekam ich noch an
Lebensähnlichem zusammen.
¹...º
Die Tage legten sich dennoch einer
über den anderen. Die Wochenenden dauerten unermesslich lange,
doch auf der Arbeit erledigte ich,
was immer man verlangte, mit der
Verlässlichkeit eines Roboters. Gerade Arbeitsaufträge waren es, die, je
sinnloser, desto besser, ein minimales Vegetieren gewährleisteten. Und
dann kam diese Buchpromotion.
Junianfang, die Zeit der letzten Sommereinkäufe, der richtige Augenblick, um Inspirationen zu kulinarischen Abenteuern zu lancieren. Dennoch hatten sich im Restaurant Peking kaum mehr als die Verwandt-
schaft der Autorin und ein paar zufällige Besucher eingefunden. Mit
dem kalten Büfett wartete man, bis
der Chefredakteur ein Lob auf die
chinesische Kultur dahergestottert
und einer unserer Prominentenköche
über den Aufschwung dieser Küche
bei uns sinniert hatte. Bevor man sie
zur Verköstigung vorließ, wandten
sich alle Köpfe auf Geheiß in die
Richtung der Buchillustratorin. Da
erblickte ich dich.
Du standst neben einem der Originale, die man aus dem Anlass an den
Wänden aufgehängt hatte, mit verschränkten Armen, das Kinn in die
Hand gestützt, eine Zigarette zwischen den Fingern. Ich aber hatte
auf einmal nur noch einen schmalen
Streifen Boden unter den Füßen, alles Übrige versank in Unbestimmtheit, in einer wortlosen weiße Leere,
alles außer dieser Gestalt, die, offenbar nur wenige Schritte von mir ent-
fernt, von einer wohlwollenden Hand
herabgelassen worden war und wie
auf Knopfdruck die Welt um sich
herum ausgelöscht hatte.
Ich stand wie geblendet, ohne ein
Atom Luft in der Lunge und ahnungslos, wo ich sie hernehmen sollte. Zum Suchen blieb auch kein
Raum mehr; ich war gefunden. Aus
der Tiefe, aus wer weiß welchen Urgründen jenseits der Vernunft, strömte Licht hervor und erfüllte meinen
Körper mit Prickeln. Es war unwirklich, in diesem Augenblick überhaupt
etwas zu empfinden, und dennoch
überflutete mich unwiderlegbar die
Wachheit meiner Sinne und trug
mich bereits tosend fort, ohne die
geringste Chance zum Widerstand.
Diese Augen. Kalt wie eine Winternacht, wie Brunnen von dichtem Dunkel und flackernd vor Glut zugleich.
Auf einmal wünschte ich nichts so
sehr, und ich hätte mir nie träumen
RELA
TIONS
lassen, dass ich etwas so sehr wünschen könnte, als mich an der Quelle
dieses Glanzes zu befinden, in irgendeiner Weise daran teilzuhaben.
Als sich meine erste Blindheit legte,
begann ich dich Stück für Stück zu
erkennen. Die Augenbrauen. Ihre
Bogen, entfaltete Schmetterlingsflügel,
und in Ruhestellung hochgezogen zu
Fragezeichen, die zugleich tadelnden
Kommentar zum Ausdruck brachten,
scharfe Grenzen zogen, sich wunderten über das hoffnungslose Bemühen, dich in all das hineinzuziehen, dich als eine der Ihren zu betrachten. Vollkommen menschliche
Augenbrauen dennoch; sie ließen
nichts Sphärisches verlauten, keinerlei Ruf aus dem Jenseits. Aber wie
können Augenbrauen, fragte ich
mich, wie kann irgendein Körperteil
so viel Seele, so viel Vollkommenheit des Wesens enthalten? Das Gesicht darunter war in schwungvollen, großzügigen, doch auch filigranen Zügen gezeichnet, mit Liebe zu
jedem Detail, ohne eine Spur von
Kosmetik, durchzogen von Schatten,
winzigen Anspannungen, fein sich
kräuselnden Partien. Das Haar, nicht
einmal versuchsweise in Form gebracht, war gekürzt und in einer
gestrüppartigen Schwärze von solcher Dichte belassen, dass es metallen schimmerte. Die Feingliedrigkeit
der Gelenke; jede Biegung und Verschränkung bezeugte, wie sorgfältig
man dich zusammengefügt, wie viel
Mühe man in deine Gliederung investiert hatte, um dann dem Werk
nur eine dünne Hülle überzuwerfen,
die stellenweise schmerzvoll angespannt war. Dein Wuchs erinnerte
an die Gestalt Däumelinchens, doch
wie du so unbeweglich dastandst,
erzeugtest du um dich herum Glut
und Zerstörung, wie sie in diesem
Raum die unverhoffte Anwesenheit
eines Tigers hervorgerufen hätte; und
infolgedessen wurde alles darin künstlich, unecht, burlesk. Ja, eines Tigers. So sehr ahnte man in dir Ge-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
schmeidigkeit, konzentrierte Bewegung, verborgene Gefahr. Fieberndes Lauern, gepaart mit Gelassenheit, gärenden Hunger, verborgen
hinter Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber niedrigeren Wesen,
die dir selbst aber zum Verhängnis
wird. Ich beobachtete deinen Blick,
während er über die Oberfläche der
Dinge wanderte, als ob er gestellten
Fallen auswich; mitunter blitzte er
auf wie eine angreifende Schlange,
trug ein Stückchen des Raumes mit
sich fort, sondierte es mühelos und
archivierte es. Mich ängstigte die
Ahnung, dass nichts in mir imstande
war, ihn aufzuhalten, dass du auch
durch mich hindurchschauen würdest, als wäre ich aus Glas.
Seltsam, du sahst unnahbar aus, als
gäbe es keine Schritte, mit denen ich
die Entfernung zwischen uns verringern könnte; und zugleich war diese
Gestalt mehr als eine Erscheinung,
sie prägte sich unmittelbar in meinen Körper ein, wie ein Siegel, brannte mir auf der Haut durch ihre tiefe,
allumfassende Gegenwart, die die
gesamte Atmosphäre in die Überfülle
der Materie katapultierte, ihr Dimensionen von ohrenbetäubendem,
pulsierendem Charakter verlieh, mehr
Sinngehalt, als die Gebäudestatik
aushalten konnte, mehr als das, was
weltliche Architekten vorgesehen hatten, alles war auf einmal wie aus den
Angeln gehoben, seinen Konturen
entglitten, alles schwankte in Verwunderung, das Geschenk dieser schwerelosen Freiheit betastend.
Nicht nur, dass ich das Undenkbare
tat, indem ich das interstellare Vakuum durchschritt, sondern ich zweifelte dabei auch nicht einen Augenblick, dass ich wissen würde, was ich
dir sagen sollte. Ich fühlte, dass ich
keinen Fehler machen konnte. Wenn
es mir gegeben war, irgendwann im
Leben etwas Richtiges zu sagen, in
genau der richtigen Weise und im
rechten Augenblick, wenn es denn
so etwas auf der Welt gab, dann war
155
dies nun bereit, über meine Lippen
zu kommen. Vielleicht in einer Sprache, die ich nicht verstand. Vielleicht
in Gestalt einer Blume.
Es überraschte mich nicht im Geringsten, dass du mich ohne Verwunderung ansahst, völlig ausdruckslos, nur den Kopf zu mir wendend,
als ich an dich herantrat. Ich sagte
nichts. Einen Schritt von dir entfernt
blieb ich stehen, nahe genug, um
dich zu berühren, doch das tat ich
nicht, denn wenn ich schon entdecken sollte, dass du bloß ein Wunschbild warst, so mochte es zumindest
noch ein paar Augenblicke dauern.
Über dein Gesicht huschte ein Lächeln, das mir als dein Lächeln so
vertraut werden würde, ähnlich einer
Pforte, die sich zur Seligkeit selbst
öffnet, aber ungreifbar, kaum länger
als ein Aufflackern und mindestens
zehnfach von Schatten unterlegt.
***
So viele hatten mich schon angesprochen mit irgendwelchen charmanten
Instantfloskeln, etwas Einmaligem,
immer noch Originellerem. Nur zu gut
kenne ich solche Worte, die nicht
einmal versuchen, mehr zu sein als eine
Präsentationsmappe und ein Passierschein für das Reich des Lustprinzips.
Und haben sie ihre Mission erfüllt, wird
die gesamte Sphäre der Verbalität aufgehoben, und die grässliche Banalität
des nicht Erwähnten gibt sich zu erkennen. Angenehme Worte, unvermeidliche, mit denen wir einander schmeicheln, unterwürfig, aus Angst, zur Antwort eine Ohrfeige zu bekommen.
Ich wartete, bis meine Anwesenheit
auf der Promotion offiziell überflüssig
wurde, wie sie es ja ohnehin von Anfang an gewesen war. Alles an diesem
Ort schrie laut seine Überflüssigkeit
heraus, die Krawatten, das auf den
Hälsen zerstäubte Parfüm, meine Bilder, der verbrauchte Sauerstoff, obwohl keiner der Anwesenden dies selbst
unter Folterqualen je eingestanden
156
Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand
hätte. Im Übrigen hoben sie sich dadurch
nicht von der Masse ab, die in geringerer oder größerer Dichte über den Planeten gespült wird, zwischen Wände,
die sich in nichts von den hiesigen unterscheiden.
Da tratst du an mich heran.
So wie ein geübtes Auge an ein Bild
herantritt, versuchend, den Blick in etwas im Innern Liegendes zu vertiefen
und dabei die nötige Entfernung einzuhalten. Dies war dann doch etwas
Neues, leicht Beunruhigendes. Dass
mich jemand betrachtete und dabei
ein Bild in mir suchte. Als hätte ich in
diesem Blick den Ort entdeckt, von dem
die Bilder ausgehen. Doch es war nur
ein Aufblitzen, es ließ sich nicht fassen, in etwas Fließendes verwandeln.
Auf einmal befandest du dich da, einen
Schritt entfernt, ohne das Geringste zu
fordern oder selbst etwas anzubieten,
außer einer Weichheit, die sich von
allein ergoss, stumm, melancholisch,
und sich schon an mir festsaugte.
Sehr schnell, vielleicht schon während
wir dort standen, wusste ich, dass ich
es mir nicht einbildete. Obwohl es noch
gar nicht wahr sein konnte. Obwohl
die Wahrheit erst Masche um Masche
gestrickt werden musste. Obwohl mich
so oft schon irritiert, entmutigt hatte,
was ich im Vorhinein wusste. Wenn
nur noch eine Schablone zu füllen ist,
zu füttern mit dem eigenen Fleisch.
In dem Raum zwischen uns wirkten
Worte lächerlich klein, unnötig, ja
schädlich, am ehesten imstande zu
zerstören, was auch immer sich anbot.
Nun galt es aber trotzdem zu reden.
Diesen Augenblick, der uns aus der Zeit
herausgelöst hatte, irgendwohin zu
lenken. Und hier sitzen wir nun am
Tisch eines vollkommen leeren Cafés,
den Barkeeper nicht mitgerechnet, der
ständig an seinem Instrumentarium
herumfummelt, um zu vertuschen, dass
er uns belauscht – unerschöpflich ist
das Verlangen der Menschen, das zu
hören, was sie nichts angeht. Vielleicht
macht ihn gerade das neugierig, dass
fast nichts zu hören ist: Diese zwei
Sonderlinge sind hierher gekommen,
um einander anzustarren. Sie gleichen
sich wie ein Ei dem anderen, zwei
schwarze Eier!, und kommen aus dem
Staunen nicht mehr heraus. Gefunden
haben sie sich in einem Graben, wo
man sie beiseite gelegt hatte, in sicherer Entfernung zu den gesunden Eiern,
und haben sich in ihr eigenes Spiegelbild verliebt. Jetzt verschlingen sie es
mit Blicken, und, ohne sich aus den
Augen zu lassen, sagen sie wieder und
wieder: Wie schön du bist! Und: Was
soll ich, wo du doch so schön bist, bloß
mit dir machen? Wohin soll ich mit dir,
wo ich doch selbst schon so schwer an
mir trage, wo es mich so viel Mühe
kostet, in mir Platz zu finden? Hier,
nimm und sieh selbst, wie es sich anfühlt, mit einem Ei in der Hosentasche
durch die Welt zu ziehen. Oder sollen
wir uns gleich anbumsen, damit es
vorbei ist mit den Grenzen zwischen
innen und außen, mit dem ganzen
Schwindel der menschlichen Schale. Du
kannst dich mit Schwarz zieren, so viel
du willst, im Grunde bist du doch konfektionsmäßig fahlgelb und schleimig.
Ich sitze mit dem Rücken zur Wand,
wie immer, wenn ich die Gelegenheit
dazu ergreifen kann. Der Vorzug eines
leeren öffentlichen Raums liegt, außer
in der noblen Abwesenheit des Volkes,
auch darin, dass man leicht einen Platz
an der Wand findet. Die Wand war schon
immer der Freund, dem ich am liebsten
meinen Rücken anvertraue. Es heißt,
dass wahre Liebe mit der Zeit in Freundschaft übergeht. Werden wir genug
Ausdauer haben, um der Liebe ein Denkmal aus Freundschaft zu errichten?
Den Zweifel zum Schweigen bringen,
in erster Linie. Nicht zulassen, dass er
uns schon vor dem Startschuss lähmt.
Alle Unverbrauchtheit aus uns schöpfen, ihr die Fenster öffnen, Raum schaffen für Frische.
Zusammen würden wir zweifellos in
Höhen aufsteigen, die der Mensch noch
nicht kennt, oder nur aus der Fiktion.
Weitab von diesen bequemen, verlockenden Konstruktionen, in denen man
RELA
TIONS
sich zu zweit begräbt, damit dieser
Zustand so lange wie möglich andauern möge. Wir wären gerne die schwerelose Variation des ewigen Hormonthemas. Und natürlich nähmen wir
unsere Körper mit in die Höhe, denn
sonst macht’s keinen Bock. Wir würden brennen und aus der Asche unablässig neue Flammen entfachen. Wenn
wir doch nur hinter den Steinen in uns
hervorkriechen könnten. Dann würde
das Ei seine monolithische Glätte, seine Selbstgenügsamkeit eintauschen
für ein Körnchen fremden Salzes.
Wir kramen nach etwas in uns, das es
verdient, ausgesprochen zu werden.
Wir probieren aus, wie uns das steht,
was sich da zuhinterst im Schrank angehäuft hat und von diesem Fremden
nun entdeckt wurde. Wer bist du, dass
du glaubst, es gehöre dir? Und wer bin
ich, wenn du glaubst, dass es in mir ist?
Zusammengebracht haben uns chinesische Weisheit, kulinarische und astrologische Kenntnisse. Chinesische
Tierbilder auf Seide, verewigt in den
Bücherregalen einheimischer Feinschmecker. Was hat uns der erste Zugriff auf das Wissen über den anderen
gebracht? Dass wir im Sternzeichen
desselben (heimischen) Tieres stehen
und Bingo! sogar am selben Tag desselben Jahres geboren sind! Glückwunsch an die Gewinner unverhoffter
Zwillingshälften! In einem anderen
Fall hätte mich das zum Lachen gebracht, doch das hier roch sofort nach
Tragik. Ein völlig belangloses Datum,
der 29. Dezember zweiundsiebzig, warum musstest ausgerechnet du auch
daran hängen bleiben? In derselben
Stadt, vielleicht im selben Krankenhaus, du sagtest, dass du niemanden
mehr hast, den du fragen kannst. Haben wir uns damals schon verliebt, auf
den ersten Blick, ineinander und in die
Welt, und uns aus Nachbarbettchen
gegenseitig die Ohren vollgebrüllt über
diese Verliebtheit, die von Jahr zu Jahr
mit uns wachsen würde, wie ein Baum
mit zwei Stämmen, wie die Wertpapiere von IT-Unternehmen, wie Passa-
gierflugzeuge konkurrierender Gesellschaften, die sich gegenseitig an Größe übertreffen, bis sie die Kapazität
erreicht haben, zeitgleich ganze Städte zu versetzen, eine in die andere, zum
Entzücken ihrer Bewohner? War es Irrtum, Neid, reine Bosheit, was uns aus
demselben Bettchen hinaus auf getrennte Wege geschickt, was das gemeinsame Ei gespalten hat und es zuließ, dass seine platonischen Hälften
blind umherirrten, sich vielleicht gar
für immer verfehlten?
Horoskope gehören zu all dem Mist,
dem man nicht entgehen kann, so sehr
man ihn auch ignoriert. Los, versuch
doch mal, unter keinem der Sternkreiszeichen geboren zu sein. Versuch doch
mal, dich nicht für deine Eigenschaften zu interessieren, für das, was dich
von elf Zwölfteln der Menschheit unterscheidet. Das liegt schon gut und
gerne unter einer Milliarde! Solide
Grundlage für ein Gefühl von Einmaligkeit und einen Einblick in die persönliche Bestimmung! Was also haben
die Sterne uns beiden vermacht, welche Wegzehrung haben sie uns auf die
Reise zu den Sternen mitgegeben? Für
das Tier unseres Sternbilds gehören
Menschen zu dem, was ihm auf diesem Planeten weniger lieb ist. Es bevorzugt die Gesellschaft von Gestein,
scharfkantigen Felsen, auf denen sich
das Talvieh die Beine bricht. Es wird
dort nicht dem Edelweiß nachsteigen
(höchstens im Vorbeigehen draufpinkeln), sondern in aller Ruhe in sich
hineinlachen. Wenn es seine Ironie zur
Genüge ausgekostet hat, wird es emsig neben dem Haus grasen (Ausdauer
ist seine größte Tugend, gepaart mit
der Unfähigkeit, weiter als seine eigenen Hörner zu blicken) und mit seinem
Geruch unverdrossen das Haus vor Gästen verteidigen. Treu ist es, dieses Tier,
es bindet sich gerne, an ein Haus oder
irgendeinen anderen liebgewonnenen
Mühlstein: Wichtig ist nur, dass es et-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
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Foto: Jakob Goldstein
RELA
TIONS
Empar Moliner beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
was am Hals hängen hat. Ein Kreuz ist
nicht schlecht, aber noch heldenhafter
ist es, eine Kapelle auf seinem Rücken
zu tragen. Wichtig ist auch, dass es
jemanden zum Kräftemessen findet,
jemanden, mit dem es all seinen Kummer teilen kann. Aber bitte nicht zu
oft: Was meins ist, ist meins. So sind
wir also für das Glück zu zweit vorgefertigt.
Auch wenn der Verstand weiß, dass es
unmöglich ist, wenn kein vernünftiger
Mensch es glauben würde, der Körper
glaubt es bereits. Die Hände verraten
ihn durch ihr Zittern, suchen Halt in
einer Zigarette nach der anderen. Alle
Gefasstheit, bis hin zum letzten Tropfen Nüchternheit, geht in Rauch auf.
Wasser rauscht trunken in den Ohren.
Wein ergießt sich aus einem umgekippten Glas über Tisch und Beine. Nasse Hosen: Gelegenheit für ein Timeout, um mir auf der Toilette Wasser ins
Gesicht zu klatschen. Um mit einem
Blick aus dem Spiegel zu prüfen, ob in
meinem Gesicht noch alles da ist, ob es
vielleicht schon irgendwelche Verformungen zeigt.
So habe ich mein neues Ich kennen
gelernt, ein aus dem Gleichgewicht
gebrachtes, ordentlich durchgerütteltes Ich, das in den folgenden Tagen
durch die Stadt gehen wird, als wäre
sie von Granateinschlägen zerwühlt,
das über seinen eigenen Schatten stolpern, mit Telefonzellen zusammenstoßen, einen Blinden umrennen und ihm
sagen wird: Entschuldigung, ich habe
Sie nicht gesehen. Das über Gegenstände in seinen Händen staunen wird
und über ihre Scherben auf dem Boden. Immer hat es mich eine Riesenanstrengung gekostet, nicht den Grund
unter den Füßen zu verlieren, mich
selbst nicht aus den Händen gleiten zu
lassen. Immer waren irgendwo Drähte
gespannt, die mir halfen, das Gleichgewicht zu halten. Unablässig mussten
Nähte überprüft werden, die bis zum
Bersten gedehnt waren. Und jetzt gebe
ich all das, was mich zusammenhält,
in die Hände einer blinden Neugier.
Aus dem Kroatischen
von Silvia Sladi} und Dagmar Schruf
Marinko Ko{~ec: Diese Handvoll Sand
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
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Carlos Aguilera beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
159
Der Vampir
¹ Romanauszugº
Boris Peri}
Der kleine schwarze Hund, der mir
fröhlich mit dem Schwanz wedelnd
knapp hundert Meter vor Kringa entgegengelaufen kam, hatte mein belegtes Brot, das ich, die Unvermeidlichkeit eines längeren Fußmarsches
vorausahnend, am Morgen als Wegzehrung aus dem Hotel mitgenommen hatte, im Nu verschlungen. Dafür
hatte ich jetzt einen Freund fürs ganze Leben, und das ist heutzutage
immerhin eine Seltenheit. Ich saß auf
der niedrigen steinernen Mauer und
fütterte ihn. Dabei unterhielt ich mich
mit ihm, wie mit einem menschlichen Wesen, was ich auch sonst gerne
tue, wann immer mir der böse Alltag
den Glauben an meine Zeitgenossen
erschüttert. Da ich nicht gleich aufstand, sprang der kleine Hund auf
die Mauer und legte sein Köpfchen
in meinen Schoß, als wolle er sagen:
Ich habe Mitgefühl mit dir. Es war ein
ganz gewöhnlicher schwarzer Mischling und trotzdem irgendwie besonders in dieser trübseligen Landschaft,
die, ich bemerkte es erst, nachdem
ich aufgestanden war, entsetzlich öd
wirkte. Ein paar Autos, die vorbeigefahren waren, änderten nichts am Eindruck, dass wir beide in diesem Augenblick die einzigen Lebewesen unter dem trüben Herbsthimmel seien.
In Kringa, das im Grunde aus einer
einzigen Hauptstraße besteht, findet
Boris Peri}, geboren am 25. Mai 1966 in Vara`din, Kroatien. Grund- und Mittelschule in Vara`din. Studierte Germanistik und Philosophie an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Tätigkeit als Schriftsteller, literarischer Übersetzer und
Journalist bei verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Literarische Veröffentlichungen und Übersetzungen in
verschiedenen kroatischen und ausländischen Zeitschriften, sowie diversen Anthologien. Mitglied der Kroatischen Schriftstellergesellschaft und des Kroatischen Schriftstellerverbands. Lebt und arbeitet in Zagreb.
Veröffentlichte Bücher: Politi~ki vodi~ – Njema~ka ¹Politischer Reiseführer –
Deutschland, politische Publizistikº, Zagreb, 1992; Austrija ¹Österreich, politische Publizistikº, Zagreb, 1993; Sezona stakla ¹Glassaison, Prosaº, Zagreb, 1993;
Heartland ¹Prosaº, Zagreb, 1995; Putovanje na granici ¹Die Reise an der Grenze
– Auswahl aus der zeitgenössischen österreichischen Prosaº, Zagreb, 1995;
Quattro Stagioni ¹Prosa, mit Z. Feri}, M. Ki{ und R. Mlinarec), Zagreb 1998;
Groblje bezimenih ¹Friedhof der Namenlosen, Prosaº, Zagreb, 2003; Pri~e iz
be~ke kuhinje ¹Geschichten aus der Wiener Küche, Essaysº, Zagreb, 2004; Vampir
¹Der Vampir, Romanº, Zagreb, 2006; Heartland i druge pripovijetke ¹Heartland
und andere Erzählungen, Prosaº, Zagreb 2006.
man sich leicht zurecht. Im VampirCafé, von dem ich aus der Zeitung
wusste, wurde ich äußerst herzlich
aufgenommen. Das schwarz-rote Interieur, geheimnisvolle Zeichen an
hölzernen Säulen und gedämpften
Wandlampen, sowie die über Tür
und Fenstern hängenden Knoblauchkränze, verliehen dem Ort den morbiden Charme einer längst vergessenen künstlerischen Installation, aus
der Zeit als die Popart noch weitgehend mit dem Mythos vom Grafen
Drakula und anderen celluloiden
Blutsaugern kokettierte. An den Wän-
den hingen in roten und schwarzen
Rahmen Zeitungsartikel über Jure
Grando und das „Mysterium von
Kringa“, während im Nebenraum
auf einem großen Wandbild eine
spärlich bekleidete Vampirin aus der
amerikanischen Fiction-Factory durch
die dunkle Erotik ihres Äußeren die
Aufmerksamkeit der Gäste auf sich
zog. Dieses eisige Inferno schien mir
auf gewisse weiße die logische Fortsetzung von Meister Vincents Fresken in Beram zu sein: Existierte dort
noch die Illusionen einer heiteren
Welt reiner Güte, so erweist sich ihr
160
RELA
Boris Peri}: Der Vampir
Trost, in Angesicht der Heraufbeschwörung von Warhols Drakula, der
vor Durst eingeht, weil es auf der
ganzen Welt keine Jungfrauen mehr
gibt, mit deren Blut er ihn stillen
könnte, als reiste Träumerei, an die
wir – teils aus Naivität, teils aus Bitterkeit – nach wie vor hartnäckig
glauben. Nunc et in hora mortis
nostrae.
Vorbei an den misstrauischen Blicken vereinzelter Einheimischer, begleitete mich mein zottiger schwarzer Freund zur Pfarrkirche. Dort
stieß er auf eine Hauskatze und verschwand mit ihr um die Ecke. In den
Friedhof eintretend, fühlte ich dasselbe Unbehagen, wie vorher in Pazin. Der Blutgeschmack im Mund
blieb abermals aus. Die alten Gräber, deren steinernes Schweigen mich
umgab wie die plötzliche Flut von
Stille, wenn ich nachts den Fernseher ausschalte und der Einsamkeit
meiner Wohnung gegenüberstehe,
bargen viele Geheimnisse, die mir
für immer unerreichbar bleiben werden. Einige Nachnamen kannte ich
von Valvazors Liste der „ehrbaren
Exekutoren“, den Nachnamen Grando konnte ich jedoch nirgends finden. Sechzehn Jahre lang trieb der
{trigun mit den Einheimischen seine
derben postumen Späße, bis ihm die
„kühnen Männer“ des Dorfes nicht
endlich den Kopf abgeschlagen haben. Wurde sein Grab danach zerstört, damit er nicht ein weiteres Mal
aufersteht und mit seinem nächtlichen Klopfen noch mehr unschuldige Bewohner von Kringa in den Tod
treibt, oder wurde es nur an einem
weit entfernten, weniger gefährlichen Ort verlegt? Ich wusste, dass
mir das niemand mit Sicherheit sagen konnte. Niemand in Kringa heißt
heute Grando, erfuhr ich im Café,
was mich verstimmte, weil es meine
Hoffnungen zunichte machte, es würde lebende Nachfahren geben. Aber
was hat für Cernjak dann jenes geheimnisvolle „J. G.“ und „K.“ be-
deuten können? Andererseits bestand
kein Zweifel, ich spazierte über den
Friedhof, auf dem sich in der Dämmerung des 17. Jahrhunderts der erste verzeichnete Fall der Enthauptung
eines Vampirs in der Geschichte unserer trübseligen Gebiete ereignet hatte. Über dem Eingang in die alte gotische Kapelle war das Jahr 1558 eingemeißelt. Der Friedhof hatte also
auch zur Zeit von Grandos Beerdigung und Exhumierung existieren
müssen. Ich ging zur steinernen Mauer hinter der letzten Grabreihe und
blickte in die grüne Ferne. Keine
Terrassen führten zur Limska draga
hinab. Weder Häuser noch Straßen
waren zu sehen, nur dichter, unüberblickbarer Wald. Wie das Ende der
Welt, hinter dem der Traum beginnt. Ultima Coriticum. Irgendwo
im Herzen dieses tauben Nirgendlands schlummerte unsichtbar das
Grab von Jure Grando. Noch näher
konnte ich nicht an es herankommen.
Ich kehrte zur Kirche zurück, um zu
sehen, ob ich mich über Jure Grando
und seine möglichen Nachfahren mit
dem Pfarrer unterhalten oder sogar
in den Pfarrbüchern nachschlagen
könnte. Leider traf ich in der Kirche
niemanden an. An der Innenseite der
Eingangstür klebte ein fotokopiertes
Flugblatt, das, für die katholische
Kirche nicht untypisch, das Volk
dazu aufrief, weniger zu sterben und
mehr Kinder in die Welt zu setzen.
Im Lichte der Legende konnte sein
Text jedoch allzu leicht eine völlig
andere Bedeutung erhalten: „In Kringa will der Unhold, dass die Menschen verschwinden. Und wem dienen wir?“ In der Tat, wem dienen
wir, fragte ich mich, über Dr. Kraljevi}s Patienten und ihr sinnloses Gefasel von einem angeblichen Herren
nachdenkend. Andererseits denken
sich die Menschen immer wieder
irgendwelche Herren aus, deren Stiefel sie von der Last der Verantwortung befreit und glücklich macht.
Wir können nicht alles Übel der Welt
TIONS
den Vampiren zuschreiben. Kretins
sind wir auch selbst.
Nachdem ich die Kirche verlassen
hatte, setzte ich mich auf die breite
steinerne Treppe und zündete mir
eine Zigarette an. Der kleine schwarze
Hund, der bis dahin, nachdem er es
aufgegeben hatte, der für ihn ohnehin
viel zu schlauen Katze hinterher zu
jagen, verspielt die Straße hinauf und
hinunter rannte, kam zu mir gelaufen und begann mich mit seiner warmen, weichen Schnauze zu schubsen, als wolle er mir etwas zu verstehen geben. Gedankenversunken und
ein wenig verstört bemerkte ich den
PKW mit italienischem Kennzeichen
nicht, der – wahrscheinlich während
ich mir das Innere der Kirche ansah
– unweit des Eingangs zum Friedhof
geparkt hatte. Ich schenkte ihm auch
weiterhin keine Beachtung, da mir
eingefallen war, dass ich an einer
Seitenmauer auf dem Friedhof einen
Haufen Überreste zerstörter Grabsteine gesehen hatte, unter denen ich
mit etwas Glück auch auf eine Spur
von Jure Grando stoßen könnte. Von
dieser Illusion beflügelt, begab ich
mich abermals auf den kleinen lokalen Todesacker.
Obwohl die gesamte Gegend seit
Tagesanbruch unter einer Art Dunstglocke stand, machte sich in den Farben der Bäume und Gräber eine
Nuance der nahen Dämmerung deutlich bemerkbar. Der milchig weiße
Himmel war von einem Hauch früher Abendröte überzogen und leuchtete trüb über den finsteren Wäldern
der Draga. Auf den ersten Blick schien
der Friedhof gespenstisch leer. Als
ich um die alte steinerne Kapelle herum auf den Ort zuging, wo sich die
Überreste der zerschlagenen Grabtafeln befanden, fand ich jedoch
heraus, dass ich auf dem Friedhof
keineswegs allein war. Auf der niedrigen Mauer, die den Friedhof vom
Nirgendwo trennt, saß im Licht der
unsichtbaren Dämmerung eine Frau,
in deren Konturen ich eine trübe
RELA
TIONS
Widerspiegelung meines Traums von
der Anhalterin aus dem Tunnel zu
erkennen glaubte. Zunächst dachte
ich, es sei ein Trugbild, denn die
Frau hatte nichts an, abgesehen von
einer weißen, in Gold eingefassten
venezianischen Maske, die ihr Gesicht verdeckte. Sie sah wunderschön
aus, vor dem hoffnungslosen Hintergrund beinahe wie eine Trösterin.
Ihre reife, sonnengebräunte Haut
unterschied sich wesentlich von der
grazilen Blässe von Cernjaks Tochter, die mir immer noch wie ein Gespenst im Kopf herum spukte. Machten sich in ihrem Anblick noch Spuren von Klimts Nackter Wahrheit bemerkbar, so war die Frau mit der
Maske vor mir auf der Mauer die
Verkörperung der puren Rätselhaftigkeit. Die Fremdheit, die ich im
Traum im Gesicht der phantomhaften
Anhalterin gesehen hatte, spiegelte
sich im stummen Ausdruck der Maske, ihr übriger Körper versank im
Schweigen des herbstlichen Tages
und brachte durch seine Stille jeglichen Zweifel an der Wirklichkeit
dieser majestätischen Einbildung zum
erliegen. Mors liberatrix, erinnerte
ich mich an das Relief vom MirogojFriedhof. War ich denn so weit gekommen?
Ich starrte, ziemlich unverschämt, in
die nackte Verspieltheit der Konturen der Unbekannten und verfolgte
ihr allmähliches Zerfließen im weichen
Licht der unsichtbaren Sonne, als
mich eine scharfe Männerstimme,
die aus der Richtung der Kirche erhallte, grob aus meiner Betörung riss.
– Alice, vestiti, presto!
Rasch drehte ich mich nach der Stimme um und erblickte einen dunkelhäutigen jungen Mann mit einer
Kamera in der Hand. Mit der freien
Hand fuchtelte er nervös herum, aber
Alice dachte nicht daran, ihm zu folgen. Faul blieb sie auf der Mauer
sitzen und warf nur gleichgültig einen schwarzen Umhang, den ich
zuvor nicht bemerkt hatte, über ih-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
ren nackten Schoß. Die Maske, deren Vergoldung zwischen den Strähnen ihres üppigen Haars unterging,
nahm sie nicht vom Gesicht. Obwohl wir uns wieder auf dem schlammigen Boden der sog. realen Welt
befanden, wirkte ihr Anblick auch
weiterhin unwirklich wie ein Traum.
Ich ging auf den jungen Mann zu
und stellte mich vor. Wir waren
nicht wenig überrascht, als sich herausstellte, dass uns dieselbe Legende
auf den Friedhof von Kringa gelockt
hatte. Ich wollte nicht von den Ereignissen aus Zagreb erzählen und
log ihn an, ich sei Schriftsteller, auf
der Suche nach Jure Grando. Der
junge Mann war Fotograf, engagiert,
um im Auftrag einer mir völlig unbekannten Produktionsfirma eine Reihe erotischer Aufnahmen für die italienische Version der Legende zu
machen, die als Vorlage für eine
Fernsehserie oder etwas ähnliches
dienen sollte. Alice, die er mir nicht
vorgestellt hatte, schwieg die ganze
Zeit über. In seiner Welt war sie allem Anschein nach nur ein billiges,
bedeutungsloses Modell, eine von
vielen Unglücklichen, die von einer
Starkarriere träumen und bereit sind,
für ein Stückchen Ruhm jede erdenkliche Widerlichkeit einzugehen,
hauptsächlich aber nur Gebrauchsware, ohne die sein Beruf leider nicht
möglich wäre. Was sie in ihrer eigenen Welt war, konnte ich wegen der
Maske leider nicht herausfinden.
Während wir uns über Jure Grando
unterhielten und warum es in Kringa
sein Grab nicht mehr gibt, kam ich
nicht umhin, von Zeit zu Zeit verstohlen nach den wunderhübschen
Brüsten des Mädchens zu blicken.
Percy B. Shelley, habe ich irgendwo
gelesen, erlebte einmal, wahrscheinlich im Opiumrausch, einen ziemlichen Schock, als er seine Frau Mary
ansah, von deren Brüsten ihm statt
der Brustwarzen zwei runde Augen
fröhlich zuzwinkerten. Dies ereignete sich im verregneten Sommer 1816,
161
in Byrons Villa am Genfer See, als
Mary Shelley, sie war kaum sechzehn,
ihren prometheushaften „Frankenstein“ und Byron, in unwillkürlicher
Zusammenarbeit mit dem Arzt und
unverwirklichten Schriftsteller John
Polidori, den ersten literarischen
Vampir entwarf. Die Nacht, als die
Angst einen Namen bekam, dachte
ich und lächelte stumm. Ich hatte
keine Lust, dem Fotografen zu erklären, worüber ich nachdachte.
Alice hatte keine Augen auf den Brüsten. Ihre Brustwarzen waren vom
kühlen Windhauch steif geworden,
sie bekam auch schon langsam eine
Gänsehaut, dachte aber nach wie vor
nicht daran, sich anzuziehen. Unter
dem Schutz der Maske fühlte sie sich
sicher, sicher und überlegen, als würde sich das Geheimnis ihres Gesichts
über die alltäglichen Fragen nach der
Farbe ihrer Augen, ihren Augenbrauen oder der Form ihrer Nase erheben. Obwohl ich nicht wusste, wie
ich das herausgefunden haben konnte, war ich sicher, dass sie unter der
Maske mein Lächeln erwidert hatte.
Da ich mit dem Fotografen englisch
sprach, fragte ich sie, ob sie uns verstehe, sie schwieg aber weiter und
bombardierte mich fortwährend mit
ihrem unsichtbaren Lächeln. Einige
Minuten saß sie noch nackt in unserer Mitte, dann stand sie auf, warf
den Umhang über und ging wortlos
Richtung Ausgang.
– Sie ist verrückt – presste der Fotograf hervor. – Sie meint, sie sei eine
Künstlerin. Das meinen sie alle.
Ich tat, als hätte ich seine Worte überhört, und fragte ihn, welche Figur in
der ganzen Geschichte Alice eigentlich darstellen sollte.
– Ivana – sagte er gähnend. – Grandos
Frau. Seine Witwe.
Obwohl die erhalten gebliebenen
Aufzeichnungen über Jure Grando
ausnahmslos mit der Erwähnung einer Witwe beginnen, deren Bett der
{trigun jede Nacht aufsuchte, konnte
ich mich nicht erinnern, je einen
162
RELA
Boris Peri}: Der Vampir
Namen gesehen zu haben. Ich rief
mir das Foto aus dem Film der Mittelschüler aus Pazin in Erinnerung, auf
dem ebenfalls Grandos Witwe zu sehen war. Die begabte junge Schauspielerin verkörperte im Film eine
ganz andere Gestalt als Alice, deren
Talente sowohl dem Fotografen, als
auch dem italienischen Drehbuchautor offensichtlich egal waren. Die
erschrockene, sanftmütige Frau, die
nicht versteht, was ihr zugestoßen ist,
und gottesfürchtig die Behörden und
die Kirche anfleht, sie vor den Dämonen ihrer eigenen Wünsche in
Schutz zu nehmen, entsprach der
Vorstellung von einer ländlichen Witwe um die Hälfte des siebzehnten
Jahrhunderts weit mehr als der geheimnisvolle Vamp, den Alice verkörperte. Trotzdem war ich überzeugt, Alice
würde genau wissen, was sie tut, obwohl jeder Versuch, das herauszukriegen am Schmelz der Porzellanmauer ihres Schweigens zerschellte.
Ich wartete ab, bis der Fotograf gegangen war und als ich von der Straße das Geräusch des angeworfenen
Motors hörte, eilte ich zum Ort, an
dem sich die Reste der niedergerissenen Grabsteine befanden. Natürlich
fand ich nichts, abgesehen von einem Fragment einer uralten Grabtafel ohne Datum und Familiennamen. Nur zwei Namen hatte die
Tafel für die Zukunft gerettet, zwei
kurze Stichworte aus der Finsternis
eines unbekannten Jahrhunderts: Jure
und Ivana. Ich fragte mich, ob jemand
vor mir dieses unleugbare Dokument des Altertums mit ähnlichen
Anregungen schon in der Hand gehalten hatte. Konnte so die Vorstellung von der mysteriösen Ivana entstanden sein, die in keiner Chronik
erwähnt wird? Und was hat das mit
mir zu tun, mit den Vampiren in
den Zellen des Sanatoriums von Stenjevec, den Morden an den Prostituierten und dem Renfield-Syndrom? Ich zog mein Mobiltelefon aus
der Tasche und wählte Velimirs
Nummer. Der Benutzer, erklärte mir
eine mechanische Frauenstimme am
anderen Ende der Leitung, sei nach
wie vor nicht erreichbar.
¹...º
Jure Grando, „der erste kroatische
Vampir“, hatte sich in der darauf
folgenden Nacht in meine Träume
eingeschlichen. Gleich einem Schatten oder einem Gespenst im Mondschein huschte er zwischen den verschlafenen Steinhäusern des alten
Kringa umher und klopfte mit seinen knöchrigen Totenfingern mal an
diese, mal an jene Tür. Hinter den
verschlossenen Fensterläden sprachen
die erschrockenen Bauern mit gedämpfter Stimme, löschten die Kerzen aus und beteten leise zur Heiligen Jungfrau, sie möge sie vor den
entsetzlichen Qualen im Rachen des
{triguns beschützen. Das Licht der
Welt erblickte Jure in einer schwarzen Blase, auch hing ihm hinten ein
Schwanz an, den er behutsam versteckte, während er seine Nachgeburt angenäht unter der Achselhöhle
mit sich herumtrug. Sobald die Uhr
am finsteren Kirchturm die elfte Stunde geschlagen hatte, ging Jure zu den
Kreuzungen und Kreuzwegen, schlug
sich dort mit seinesgleichen herum
und trotzte den krsniks, deren Kraft
zwölf Mal größer war, als die seinige.
Von klein an mit einer widerwärtigen, aufsässigen Natur ausgestattet,
fristete Jure sein Dasein und niemandem wäre eingefallen, ohne große
Not die Grandova stancija aufzusuchen, deren Ruine in der Umgebung
von Kringa heute noch Unbehagen
verbreitet. Als Jure sieben Jahre alt
geworden war, erzählte mir eine unbekannte Stimme im Traum, erschien
in Kringa ein finsterer Fremdling mit
schwarzem Umhang und einem Hut,
dessen breite Krempe seine Augen
fast zur Gänze verdeckte, und fragte:
Wie heißt dieser Jüngling? Und die
Frauen in ihrer Unwissenheit und
Einfalt antworteten wie aus einem
TIONS
Munde: Jure Grando. Und so wurde
Jure zum {trigun. Und als er eines
Tages schließlich gestorben war, versäumten die Bauern, seine Zunge mit
einem Hufnagel zu durchstechen,
worauf er zu den Lebenden zurückkehrte, um sein übles Werk mit größerer Hingabe und Wucht fortzusetzen, als in seinem ersten Leben.
Ich sah im Traum verwüstete Häuser, Finsternis und Feuer in den Straßen, ich sah Hunderte, Tausende
Körper, tot und verwest, auf Karren
und Totenbahren aufgestapelt, in
Straßengräben liegen und auf Scheiterhaufen verbrennen, und über jedem wachte Jure Grando. Ich sah
Kriege toben, unzählige Heere um
das gepeinigte Istrien streiten, Frauen und Kinder erschlagen, Städte
und Dörfer niederbrennen, und mit
jedem Tyrannen zuckte auch Jure
Grando sein Schwert. Ich sah Hunger und Elend, Scharen von Bedürftigen auf vergeblicher Suche nach
Gerechtigkeit und Arbeit, und in der
Gesellschaft der Pfaffen und Gendarmen, Fabrikbesitzer und Wucherer schlürfte auch Jure Grando seinen Sekt. Aber das konnte doch alles
nicht genügen, um aus einem Menschen einen {trigun zu machen, erwehrte sich die Stimme meines Zweifels. Eine schwarze, blutige Einweihung hätte dem doch vorausgehen
müssen, wie es ja auch bei den späteren Blutsaugern der Fall gewesen ist,
bis hin zum „letzten kroatischen Vampir“ Igor Cernjak. Kaum zu glauben,
wie klar und einleuchtend sich das
im Traum anhörte.
Auch liebte Jure Grando seine junge
Frau, aufrichtig und leidenschaftlich, heftig und begierig, und klopfte mit ihr an manche verbotene Pforte, deren Schlüssel von der öffentlichen Moral unter den verstaubten
Teppich des Pfarrhofs gekehrt wurden. Ich sah sie vor dem Spiegel erzittern und erglühen, während sie
ihre nackte Schönheit hinter einer
weißen Maske zu verbergen suchte,
Zeitgenössische Poesie und Prosa
163
Foto: Jakob Goldstein
RELA
TIONS
Vitaliano Trevisan beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
164
RELA
Boris Peri}: Der Vampir
die Händler aus Venedig über das
Meer gebracht und die Diebe von
Tinjan durch die Draga geschmuggelt hatten. Und als sie draußen das
Tor knarren hörte, warf sie rasch ihre
schlichte Volkstracht über und empfing den auferstandenen Nächtling in
ihrer bescheidenen Witwenwohnung.
Nein, sie wusste nicht, wie ihr geschah, denn sie war sanftmütig und
sie war ängstlich, und sie war leidenschaftlich und sie war wild, und sie
fürchtete den Dämon im eigenen
Verlangen, den grimmigen {trigun
im Seufzer der Sehnsucht, und sie
glühte und sie verzweifelte, und war
eine Heilige und war eine {triga.
Dabei machte ihr jeder den Hof, seit
Pater Juraj ihren Mann beerdigt hatte, ja sogar er selbst. Es scheint, dass
der heilige Mann sich aus diesem
Grund auch so heftig gegen den
{trigun eingesetzt hatte. Er sprach zu
ihr von Sünde und Hölle, von Schwäche und Versuchung, hielt ihr das
Kruzifix vor und beschwor die Heilige Schrift, während er sie mit seinen lüsternen Blicken gierig entkleidete, bis sich die Ärmste in ihrer Verzweiflung schließlich an die örtliche
Obrigkeit wandte, mit der Bitte, sie
von den nächtlichen Heimsuchungen durch den Verstorbenen zu befreien. Ich sah sie vor dem Spiegel
zittern und weinen, gejagt von Ängsten und Fieberträumen, während die
beherzten Männer des Dorfes zum
Friedhof auszogen, um ihren Mann
mit dem Holzpflock ruhig zu stellen. Denn sie war sanftmütig und sie
war ängstlich, und schwach im Glauben, denn sie war eine Frau.
Als ich am kommenden Morgen die
Augen öffnete, versteckte der Nebel
gleich einem weißen Gewand abermals
die Stadt vor unerwünschten Blicken. Immer noch stark vom Traum
beeindruckt, kam es mir vor, als hätte Alice soeben das Zimmer verlassen. Nein, dachte ich, während ich
vor dem Spiegel im Bad allmählich
zur Besinnung gelangte, es kann nur
ein Traum gewesen sein. Ich wusste
nur wenig über Jure Grando und so
gut wie gar nichts über seine Frau,
der Alice und die junge Filmschauspielerin in meinem Traum ihre Körper und Silvija, wie es schien, ihre
wesentlichen Charakterzüge geliehen
hatten. Dabei wurde mir erst klar,
dass meine Freundin seit jeher nur
bei der Arbeit stark war, während sie
sich in anderen Angelegenheiten betont nachgiebig zeigte, ja sogar mir
gegenüber. Eigentlich gab sie nur der
Summe ihrer augenblicklichen Erwägungen und Bedürfnisse nach, oft
um den Preis der Naivität oder vorgehaltenen Gelächters, was hinreichend das Scheitern ihrer Ehen und
zum Teil auch das Verhältnis mit
Cernjaks Tochter erklärte.
Und Jure Grando? Was hätte der
denn gewesen sein können? Ein Wesen aus der Finsternis des istrischen
Unterbewusstseins oder ein unangenehmer Zeitgenosse, der von Elend,
Verzweiflung und Angst nachträglich schwarz gefärbt wurde? Oder war
er tatsächlich ein Vampir? Vielleicht
war der {trigun ja auch nur ein Sündenbock für die Plagen und Heimsuchungen, ja vielleicht sogar für die
unaufhaltbare Verarmung und den
Verfall dieser Gegend, in der es, wie
Vlavazor zu berichten wusste, allzeitlich mehr Wein als Wasser gegeben hat? Vielleicht war er einfach
nur ein Lüstling, vielleicht litt er aber
auch unter jener geheimnisvollen
Krankheit, der die Mediziner erst
drei Jahrhunderte später einen Namen geben werden? Auf keine dieser
Fragen wusste ich eine Antwort. Ich
dachte an Silvija und es befiel mich
ein Angstgefühl, dessen Grund ich
mir nicht zu erklären wusste. Es schien
jedenfalls etwas nicht mit rechten
Dingen zuzugehen. Während ich
mich rasierte, hatte ich zum ersten
Mal, seit ich nach Istrien gekommen
war, jenen vertrauten Blutgeschmack
im Mund. Ich würde beinahe sagen,
er hatte mir bereits gefehlt.
TIONS
¹...º
Ich verabschiedete mich von Velimir
und stieg an der ersten Haltestelle
nach Tinjan aus, von wo ich zu Fuß
nach Kringa zu gehen pflegte. Der
kleine schwarze Hund begleitete mich
abermals auf meinem Weg, nur wirkte er diesmal nicht im Entferntesten
so fröhlich wie sonst. Auch ich spürte
etwas Bedrückendes in der Leere, die
mich umgab. Zum ersten Mal kam
es mir vor, als sei ich imstande zu
antworten, sollte mich jemand tatsächlich fragen, wer Jure Grando gewesen sein konnte. Diese unerträgliche ländliche Beklommenheit, dieses plötzliche Verschwinden jeglichen Sinns im Angesicht der schwierigen Fragen, die die Not einem aufdrängt, das war dieser ominöse {trigun, der dem rechtschaffenen Bauern seit Menschengedenken das Blut
ausgesaugt hatte. Es war der Totentanz von Beram und die Geißel Gottes an der Fassade in Tinjan, es war
die Ohnmacht der Angst und die stille Antwort, die, über der Wiege einmal
ausgesprochen, schon im nächsten
Augenblick vom Vergessen in den
stummen Zimmern der Unruhe verschlossen wird.
In Kringa machte ich vor jedem Haus
halt, kein Jure Grando wohnte dort,
und bis zur Ruine der Grandova
stancija konnte man sich durch das
dichte Gebüsch und Gehölz gar nicht
durchschlagen. Und dennoch ist
Cernjak in Kringa gewesen, hat sich
mit Jure Grando getroffen, ihm eine
Wohnung in der Gunduli}eva Straße, gegenüber von Bastels Haus mit
den Fledermäusen an der Fassade,
verkauft. Wo mögen sie sich nur getroffen haben, fragte ich mich vor
der verschlossenen Tür des Vampir-Cafés. Als ich einige Tage zuvor
nachgefragt hatte, hatte ich eine detaillierte Beschreibung von Cernjak
gegeben, es konnte sich aber niemand an einen derartigen Gast erinnern. Sie werden sich doch nicht
RELA
TIONS
etwa auf dem Friedhof getroffen haben, schoss es mir durch den Kopf.
Nein, sagte ich zu mir selbst, das
wäre zu sehr im Sinne von Velimirs
Klischees. Die Schriftsteller werden
doch nicht alles erraten haben können. Oder etwa doch?
Außerdem konnte ich nach wie vor
nicht glauben, dass Cernjaks Kunde
jener Jure Grando gewesen sein könnte, dem man im 17. Jahrhundert den
Kopf abgeschlagen hatte. Am Friedhof angekommen, setzte ich mich
auf die niedrige Mauer, auf der letztes Mal Alice gesessen hatte, und
verfiel in Grübeln über die ungewöhnliche Geschichte. Vater Juraj,
ein Mönch St. Pauli, des ersten Eremiten, was konnte der schon von
{trigunen gewusst haben? Und warum aß er ausgerechnet bei Grandos
schöner Witwe so gerne zu Abend?
Ich stellte ihn mir als scheuen, gottesfürchtigen Mann vor, der sich gegen die bösen Geister seiner eigenen
Triebe durchaus zur Wehr gesetzt
hatte statt gleich der Ausrede, der
Geist sei willig, aber das Fleisch schwach
zu unterliegen. Der letzte Dämon
seiner sündhaften Versuchungen hieß
Jure Grando und saß hinter der Tür.
Diesen {trigun galt es zu vernichten,
damit Ivana, oder wie die Schöne
auch geheißen haben mag, am Ende
nicht auf dem Scheiterhaufen landet, denn sie hatte ihn herbeigerufen
und diente seinem abartigen Willen.
Jedes Mal, wenn sich der lästerliche
Grando frech unter der Mönchskutte
des Paters aufgebäumt hatte, zwang
sich von selbst der Gedanke auf, der
böse Geist solle ausgetrieben werden.
Oder ist es die Vorsehung selbst gewesen, die jene beherzten Männer
zum Friedhof geschickt hatte, um
das Gelübde des Vaters vor der sündhaften Überredungskunst des Dämonen zu erretten?
Und dann, wer war eigentlich dieser
Miha Radeti}? Ein tapferer Gespan,
besorgt um das Wohlergehen und
die Sicherheit seines Marktfleckens,
Zeitgenössische Poesie und Prosa
oder ein ordinärer Karrierist, der sich
durch die Erfindung des Unholds
bei seinen Herrschern einzuschmeicheln suchte? Was auch immer er
gewesen sein mochte, hatte er überhaupt eine Chance? Hatte irgendeiner aus dieser seltsamen Truppe
von Kämpfern gegen das Übel tatsächlich eine Chance? Der Holzpflock prallte jedes Mal von der Brust
des {triguns ab, als sei sein Herz mit
Eisen beschlagen. Bis schließlich einer der Exekutoren dem Unhold den
Kopf abschlug. Aber, ist es wirklich
so gewesen, schoss es mir durch den
Kopf. Könnten sie sich denn nicht
alles nur ausgedacht haben, um vor
der entsetzten Menge ihre Niederlage vor dem unruhigen Toten nicht
eingestehen zu müssen?
– Sieh her, {trigun! – wiederholte ich
laut die Formel der naiven Teufelsaustreibung des Dorfältesten. – Hier
ist Jesus Christus, der uns von der
Hölle erlöst hat und für uns gestorben ist! Und du, {trigun, kannst keine Ruhe finden.
Nichts in meiner Umgebung hatte
sich verändert, weder in Wirklichkeit, noch in meiner Fantasie. Jure
Grando lag wie versteinerst in seinem Sarg und weinte beim Anblick
des Kreuzes, da er sich vielleicht gerade in diesem Augenblick des Mysteriums, das von der Hand Gottes
diesem geheimnisvollen Symbol verliehen wurde, bewusst geworden war.
Aber vielleicht trieb er auch nur Spott
mit der weltlichen Gewalt, wie er im
vorherigen Akt seines postumen Dramas ja meisterhaft die kirchliche verspottet hatte? Vielleicht ist Grandos
Spott tatsächlich jener Zynismus,
mit dem Stoker den Charakter seines stets blutdurstigen Grafen Drakula versehen hatte? Jeder Zyniker, sagte ich faul vor mich hin, ist gewissermaßen ein Vampir. Ob jeder Vampir zugleich ein Zyniker ist, das ist
schon eine ganz andere Frage.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf der
niedrigen Steinmauer vor dem auf-
165
gerissenen Rachen des Nirgendwo
gesessen hatte. Einige Frauen waren
über den Friedhof gegangen, die einen zündeten Kerzen an, die anderen
wechselten den Blumen das Wasser,
aber zum Glück schien keine von mir
Notiz genommen zu haben. Während ich die alte Kapelle von hinten
anstarrte, versuchte ich mir vorzustellen, was wohl in Zagreb vor sich
ging. Das Renfield-Syndrom, für dessen Erforschung sich Doz. Dr. Velimir Kraljevi} so viel Mühe gegeben
hatte, kam mir plötzlich wie eine üble
ansteckende Krankheit vor. AIDS,
Pest, Tuberkulose... Großer Gott,
das sind doch alles nur Metaphern
für ein und dieselbe Mordlust, deren
Ursache, unsichtbar und verlogen,
irgendwo neben uns hockt und nur
darauf wartet, uns mit ihren knirschenden Eckzähnen zu fassen. Die
Morde, von denen ich gelesen hatte,
die Bestialität des jungen Fantasten
gegenüber meiner ehemaligen Chefin, der Angriff auf Velimir vor dem
Mirogoj-Friedhof, stand das alles
denn nicht in geheimer Verbindung
zueinander? Cernjak, seine Familie,
Silvijas plötzlicher Kräfteschwund; wie
viel Wahnsinn benötigt der Mensch,
um all das nüchtern überblicken zu
können?
Wie ganz Istrien, so wurde auch
Kringa Jahrhunderte lang von Pestepidemien dezimiert. Die zum leeren Himmel gerichteten Blicke der
Hilflosen gaben der Plage schließlich
einen Namen. Jure Grando klopfte
an die Türen der Häuser und trug
infolge einer stummen, zerstörerischen
Logik, deren zureichender Grund
nicht einmal in Gottes unergründlichem Willen zu finden war, unschuldige Leben davon. Pestbringer Grando, Nosferatu Drakula, was denn
nun? Per che non pioggia, non grando,
non neve, non rugiada, non brina più
sù cade che la scaletta di tre gradi
breve1... wer hatte das gesagt? Ich sah
mich um, der Friedhof von Kringa
war so gut wie leer. Ohne mich zu
166
beachten, lockerte eine alte Frau in
Trauerkleidung mit einer kleinen
Hacke die Erde auf einem frisch ausgehobenen Grab. Aber, die Stimme,
die ich gehört hatte, konnte nicht die
ihrige gewesen sein, sie war jünger
und zugleich viel älter; männlich und
zugleich geschlechtslos; leise und
zugleich durchdringend wie Donner. Es war die Stimme meines Unbehagens.
– Gnädige Frau, wissen Sie zufällig,
wo das Grab der Familie Grando
lag? – fragte ich die Alte.
Statt einer Antwort, warf mir die
betagte Frau einen zornigen Blick zu
und bekreuzigte sich rasch. Ich verließ den Friedhof so schnell ich nur
konnte.
Als ich am Vampir-Café vorbeiging,
bemerkte ich, dass die Tür offen
stand. Ich ging hinein, setzte mich in
die finsterste Ecke des Nebenraums
und bestellte Wein. Ich fand es angenehm, dass außer mir keine Gäste da
waren, deren Gemurmel gleich einem Virus in mein Ohr eindringen
und dort jeden weiteren Gedanken
lähmen würde. Wäre ich in Zagreb
gewesen, vielleicht hätte ich Silvija
angerufen und sie eingeladen, sich zu
mir zu gesellen, damit wir einander
bei einem Glas geteilter Einsamkeit
mit nichts sagendem Geschwätz über
unseren tristen Alltag langweilen. In
einem bestimmten Augenblick würden wir jedes Mal zu reden aufhören
und einander nur noch flüchtige,
scheue Blicke zuwerfen, manchmal
würde ich ihre Hand berühren und
mir in der Regel wünschen, ihr meine über Jahre hinweg verschwiegene
Liebe endlich eingestehen zu können, aber es kämen keine Worte über
meine Lippen, wie sie auch in weit
ernsteren Situationen meist ausbleiben. Die größten Lieben, traue ich
1
RELA
Boris Peri}: Der Vampir
mich zu sagen, wurden nie ausgesprochen und das ist der einzige Grund
ihrer bitteren Zeitlosigkeit. Ich griff
zum Handy, um sie anzurufen, gab
mich aber mit dem wehmütigen Betrachten ihrer Nummer auf dem Display zufrieden. Ich spürte, dass wir
im Begriff sind, einender zu verlieren, wie zwei trübe Vorstellungen,
die in der tauben Tiefe des Universums kurz aufeinandergestoßen sind
und jetzt jede in ihre Richtung treiben, ohne Wunsch und Möglichkeit
miteinander zu verschmelzen.
Beim nächsten Glas dachte ich an
Iva, meine lebhafte Nachbarin, die
ich im Laufe der Jahre lieben gelernt
hatte wie meine eigene Tochter. Mein
Entschluss, ihr einen Brief zu schreiben, zählte nicht viel, wie im Übrigen
auch der Entschluss, während meines Aufenthalts in Istrien ein Tagebuch zu führen. Als Iva noch klein
war, machte ich oft zusammen mit
ihr und ihrem Vater, dem Schriftsteller, lange Spaziergänge und zeigte ihr dabei all die verborgenen Wunder der Stadt, in der sie geboren wurde. Die Welt im Spiegel ihrer großen, neugierigen Augen betrachtend,
begann ich, Zagreb auch selbst wieder
zu mögen und fand zwischen seinen
Mythen und Lügen Zuflucht vor der
Boshaftigkeit der Welt, von der ich
mich tagtäglich umgeben wusste.
Wer weiß, dachte ich schläfrig von
der Wärme, die vom Wein ausging,
wie Istrien aussehen würde, könnte
ich es nur kurz durch Ivas Augen
sehen? In diesem Augenblick wurde
mir erst bewusst, wie sehr mir die
Kleine die ganze Zeit gefehlt hatte
und wie gerne ich ein eigenes Kind
haben würde, ein Kind mit Silvija,
die ich, trotz aller Schwächen und
Flausen, stets als die ideale Mutter
angesehen hatte. Natürlich waren das
alles nur Hirngespinste.
TIONS
Als ich das dritte Glas malvazija bestellt hatte, leuchteten an der Eingangstür die Umrisse einer vertrauten Gestalt auf. Die junge Frau im
schwarz-weißen Domino kam an meinen Tisch und setzte sich zu mir. Sie
trug zwar keine Maske mehr, ihr Gesicht wirkte aber auch ohne fremd
genug. Ich blickte in ihre Augen, sah
aber trotzdem nichts. Venezianische
Grazilität, Ruhe und Trauer, verwoben im stummen Rätsel einer nie erzählten Geschichte. Veni etiam, Unbekannte. Bis hierher sind wir gekommen.
– Alice! – begrüßte ich sie mit übertriebener Herzlichkeit, während ich mir
Mühe gab, so überrascht wie möglich
zu wirken. Tatsächlich überrascht
war ich, als mir die Unbekannte in
reinstem Kroatisch antwortete:
– Nenn’ mich, wie du willst, meinen
Namen kann ich dir sowieso nicht
verraten.
– Aber, warst du denn nicht... vor
ein Paar Tagen... hier auf dem Friedhof – stotterte ich verlegen.
– Natürlich war ich es – fuhr sie ruhig
fort. – Was immer du möchtest, ich
war es.
Sie bestellte sich etwas zu trinken,
einen leuchtend roten Cocktail, der
als Spezialität des Hauses galt, zündete sich eine dünne, lange Zigarette
an, blies den Rauch in die Luft und
fuhr fort:
– Ich weiß, warum du hier bist. Auch
jener, den du suchst, ist hier gewesen.
– Woher weißt du das? – fragte ich
ungläubig. – Seit Tagen kann mir
niemand etwas mit Gewissheit sagen,
und jetzt kommst du daher, als ob
du meine Gedanken lesen könntest.
– Warum sollte ich deine Gedanken
lesen? – erwiderte sie neckisch. – Seit
du hier bist, wirkst du so melancholisch und unruhig, es war nicht schwer,
auf dich aufmerksam zu werden.
„Wer jene kleine Stieg’ emporgeklommen / Von dreien Stufen, sieht nicht Reif noch Tau, / Nicht Hagel mehr, noch Schnee, noch Regen kommen.“ (Dante
Alighieri: Das Fegefeuer, 21, übersetzt von Karl Streckfuß)
RELA
TIONS
– Warum hast du nichts gesagt, als
jener Fotograf auf dem Friedhof Fotos von dir machte? – fragte ich weiter.
– Warum sollte ich? – sagte sie lächelnd. – Er versteht nichts von der
ganzen Sache und du hättest mir
sowieso nicht zuhören wollen.
– Vielleicht doch – versuchte ich
mich herauszureden. – Hier scheint
sich ja alles nur um das eine Thema
zu drehen.
– Deine Gedanken drehen sich um
ein einziges Thema – antwortete die
Unbekannte. – Dermaßen stark und
hartnäckig, dass du nichts anderes
mehr siehst. Pass auf, dass du dich
nicht in jenen verwandelst, den du
suchst.
– Du weißt also, wer Jure Grando
gewesen ist? – schlussfolgerte ich verwirrt. Die Unbekannte lächelte rätselhaft.
– Vielleicht weiß ich es, vielleicht
auch nicht. Alle hier meinen, sie
wüssten etwas und wissen doch nichts.
Und dann wissen sie wiederum mehr,
als ihnen lieb ist. Sieh dir das mal an.
Mit flinken Fingern öffnete die junge Frau, die ich einmal unter dem
Namen Alice kennen gelernt hatte,
ihr Handtäschchen, zog ein mit Versen beschriebenes Stück Papier hervor
und hielt es mir hin. Ich kann nicht
behaupten, irgendetwas sei mir in
diesem sonderbaren Schauspiel jenseits von Traum und Wirklichkeit
noch klar gewesen, trotzdem griff ich
nach dem Papier und begann bereitwillig zu lesen:
But first, on earth as vampire sent,
Thy corse shall from its tomb be rent:
Then ghastly haunt thy native place,
And suck the blood of all thy race;
2
Zeitgenössische Poesie und Prosa
There from thy daughter, sister, wife,
At midnight drain the stream of life;
Yet loathe the banquet which perforce
Must feed thy livid living corse:
Thy victims ere they yet expire
Shall know the demon for their sire,
As cursing thee, thou cursing them,
Thy flowers are withered on the stem.
But one that for thy crime must fall,
The youngest, most beloved of all,
Shall bless thee with a father’s name –
That word shall wrap thy heart in flame!
Yet must thou end thy task, and mark
Her cheek’s last tinge, her eye’s last spark,
And the last glassy glance must view
Which freezes o’er its lifeless blue;
Then with unhallowed hand shalt tear
The tresses of her yellow hair,
Of which in life a lock when shorn
Affection’s fondest pledge was worn,
But now is borne away by thee,
Memorial of thine agony!
Wet with thine own best blood shall drip
Thy gnashing tooth and haggard lip;
Then stalking to thy sullen grave,
Go – and with Gouls and Afrits rave;
Till these in horror shrink away
From spectre more accursed than they! 2
– Was ist das? – fragte ich verwundert, obwohl mir nach allem, was ich
in den letzten Tagen über Vampire
gelesen hatte, der Verfasser der Verse
keineswegs unbekannt war. – Wo
hast du das her?
– Das steht auf seinem Grabstein geschrieben – sagte die Unbekannte
und nippte an ihrem roten Drink.
– Sei doch vernünftig – unterbrach
ich sie grob. – Das wurde mehr als
hundert Jahre nach Grandos Tod
geschrieben.
– Wenn ich es dir aber sage, das steht
auf seinem Grabstein geschrieben –
167
wiederholte die Unbekannte. Meine
Grobheit schien sie nicht verärgert
zu haben.
– Und wo steht sein Grab? Du bist
wahrscheinlich die einzige, die das
weiß – fuhr ich hartnäckig fort. Statt
zu antworten, beugte sie sich zu mir,
küsste mich sanft auf den Mund und
flüsterte:
– In deinem Kopf.
Der Kuss der Unbekannten war kalt,
fremd und fern, wie die Unkenntlichkeit ihres Gesichts und geheimnisvoll wie der Tod. Ich weiß nicht,
ob ich mir das alles nur einbildete,
aber nachdem ich mich von ihren
Lippen losgelöst hatte, durchströmte
meinen Mundraum wieder jener metallene Blutgeschmack. Trotzdem
hatte ich keine Angst. Ich wollte
mehr. Ein dunkler Trieb, der plötzlich von meinem Bewusstsein Besitz
genommen hatte, ließ in mir Verachtung gegenüber jeglicher Gefahr
aufkommen. In ihren Augen, die
mich unentwegt anstarrten, spiegelte sich die Unwiderstehlichkeit eines
Abgrunds, tiefer und dunkler, als die
Grotte von Pazin. Ich fühlte mich
leicht benebelt. Oder verführt. Oder
einfach verzaubert.
– Alice! – wiederholte ich und versuchte, nach ihrer Hand zu greifen.
– Sei still! – flüsterte sie. – Wir sehen
uns wieder, ganz bestimmt.
Sie war verschwunden, ohne dass ich
begriffen hätte, wie und warum. Das
weiße Papier mit Byrons unheilschwangeren Versen lag immer noch
vor mir auf dem Tisch. Ich faltete es
zusammen und legte es in meine
Brieftasche, wobei mein Blick auf
Silvijas Foto fiel. Es gab keinen besonderen Grund, es bei mir zu tra-
Zuerst, als Vampyr umzugehn, / Soll aus der Gruft dein Leib erstehn; / Dann schleich als Scheusal in dein Haus / Und saug das Blut den Deinen aus; /Um
Mitternacht entströmt das Blut, / Des Kinds und Weibes Lebensflut. / Doch deinem Leichnam graß und fahl, / Soll Ekel werden dieses Mahl; / Dein Opfer
selbst, eh es verblich, / Erkenn als seinen Vater dich – / Am Stamm welkt deiner Blumen Leben, / Die, so verflucht, den Fluch dir geben. / Doch eine soll
als Opfer fallen, / Die jüngste, liebste dir von allen, / Die soll dich segnend Vater nennen – / Dies Wort wird dir im Herzen brennen! / Doch würgen mußt
du sie und sehn, / Der Wange letztes Rot verwehn; / Den letzten Blick, der glasig stiert, / Da leblos drin das Blau gefriert. / Dann reiße mit verruchter Rechte,
/ Vom Haupt herab die blonde Flechte, / Von der ein Löckchen sonst, ein Haar, / Ein süßes Pfand der Liebe war. / Dir soll es jetzt ein Zeichen sein, / Der
grauenvollsten Todespein! / Es triefe dir von Zahn und Mund, / Das beste Blut aus deinem Bund! / Dann tappe nach dem Grabe stumm, / Treib mit
Dämonen dich herum, / Bis diese Schar, vor Schreck erbleicht, / Dir dem verfluchtern Unhold weicht. George Gordon Byron: The Giaour (Der Ungläubige), 1813
168
RELA
Boris Peri}: Der Vampir
gen, trotzdem habe ich mich nie von
diesem Bildchen getrennt, obwohl
das, was ich tat, auch Silvija nicht
wirklich schmeichelte. Habe ich sie
betrogen, fragte ich mich stumm.
Mein Herz antwortete mit dumpfer
Leere. Ich war zu überrascht, um
mich schuldig zu fühlen.
– Wissen Sie zufällig, wer diese Frau
gewesen ist? – fragte ich beim Hinausgehen die Kellnerin.
– Keine Ahnung – antwortete sie und
TIONS
schenkte mir ein letztes Glas Wein ein.
– Ich sehe sie hier seit Ihrer Ankunft.
Ich dachte, sie seien zusammen.
Aus dem Kroatischen
vom Autor selbst übersetzt
Der Roman „Vampir“ des kroatischen Prosaschriftstellers und Literaturübersetzers Boris Peric stellt das erste
seriöse Werk dieser Art innerhalb der kroatischen Literatur dar. Im Genre zwischen Phantastik und Kriminalistik,
knüpft „Vampir“ sowohl an die Tradition der „gothic novell“ und ihrer Nachfolger in der britischen, deutschen
und amerikanischen Literatur, als auch an zeitgenössische wissenschaftliche Betrachtungen, etwa jene aus den
Bereichen Psychoanalyse, Medizin, Genetik oder Bio-Ethik, an. Die Handlung in Zagreb zu Beginn des dritten
Millenniums ansiedelnd, hinterfragt der Autor die Aktualität einer „vampirischen“ Metaphorik in unserer
alltäglichen Sprache und Welterfahrung, wobei sich das Spektrum ihrer Bedeutungen von der primären Sphäre
vergifteter zwischenmenschlicher Beziehungen und Zivilisationskrankheiten bis hin zum Unbehagen der globalen
Ökonomie, dem Fremdenhass oder der Abneigung gegenüber dem Anderen/Andersartigen, bzw. der aktuellen
politischen Folklore am Rande des Balkans erstreckt. Einen eigenen Teil des Romans bildet eine märchenhafte
Reise nach Istrien, in dessen Volksglaubens heute noch eine breit gefächerte Galerie fantastischer Wesen
(Vampire, Hexen, Nachtmahre usw.) existiert, was dem Buch zusätzlichen ethnologischen Wert verleiht. Hier
sollte betont werden, dass der „istrische Teil“ des Romans auf persönlichen Nachforschungen des Autors, sowie
einer detaillierten Auseinandersetzung mit historischen Quellen und entsprechender Fachliteratur beruht.
Bei dem zentralen Motiv der Erzählung – der Geschichte des ältesten und ohne Zweifel bekanntesten istrischen
Vampirs Jure Grando – handelt es sich um eine authentische Legende aus der Umgebung von Pazin aus der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert, die u.a. auch von slowenischen Historiker Johann Weihkard Valvasor in
seinem umfangreichen Welr „Die Ehre des Herzogthums Crain“ (Nürnberg, 1869) dokumentiert wurde.
Auf wissenschaftlicher Ebene verknüpft der Autor auf effektvolle Weise reale Resultate der psychologischen
Erforschung des Vampirismus („Renflied-Syndrom „, klinischer Vampirismus, Hämatophilie, Hämatodipsie usw.)
mit fantastischen Theorien der „Vampirbiologie“, wie wir sie in literarischen Klassikern von Bram Stoker bis Anne
Rice antreffen. Darüber hinaus liest sich der Roman als Entwicklungsgeschichte des Vampirmythos in der
Weltliteratur, von seiner ersten Erwähnung bei Byron oder Polidori (bereits der Titel kann als Widmung an die erste
Vampirnovelle überhaupt, John Polidoris „The Vampyre“, verstanden werden), über Stokers Klassiker „Drakula“
bis hin zu modernen Thrillern wie Stephen Kings „Brennen muss Salem“ oder Whitlea Striebers „Hunger“.
Der Autor über Jure Grando und seinen Roman:
„Jure Grando ist der älteste namentlich dokumentierte Vampir in Europa, dessen Charakter zudem völlig einen
literarischen Nachfolgern im 19. und 20. Jahrhundert entspricht. In alten Texten wird Grando als Zyniker
beschrieben, er verschmäht sowohl die kirchliche, als auch die weltliche Gewallt, und weist auch einen beträchtlichen sexuellen Appetit auf. Allein diese Tatsache würde genügen, um Grando in den Mittelpunkt einer Novelle,
eines Romans oder Films zu setzen, die mit dem Mythos von der Unzulänglichkeit und Infantilität des sog.
kroatischen Horrors endgültig abrechnen würden. Hinzu kommt jedoch auch eine ganze Palette anderer Herausforderungen, Situationen, Szenen und Beziehungen aus der sog. modernen Welt, in denen die Bedeutungsfülle
vampirischer Metaphern all den weltlichen Übeln, die unseren ohnehin tristen Alltag schon gewohnheitsgemäß
zusätzlich verdunkeln, einen vortrefflichen Spiegel vorhält. Wer sagt, dass eine Erzählung, wie Stokers Drakula
nicht auch im heutigen Zagreb möglich wäre, an der Schwelle des dritten Jahrtausends, während die Welt
Siegmund Freuds 150sten Geburtstag feiert und der Rachen des Unbewussten über der immer größeren Unsicherheit unserer kleinen, ungeschützten Leben auch weiterhin weit offen steht?“
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
169
Nichts darf uns überraschen
¹ Auszugº
Ante Tomi}
Kapitel 5
A
m Morgen, als sie aus der Kaserne der Grenztruppen kamen, lag vor
ihnen dichter Nebel und verschleierte das Tal, die quadratisch gerasterten Felder, die Ortschaften und
den See, und irgendwo in unbestimmter Ferne verschmolz er mit
dem Himmel. Die ganze Welt unter
ihnen verschwand im Dunst, der
langsam und leise waberte, und es
sah so unwirklich aus, als hinge der
Berg in den Wolken. Sini{a und
Hasan waren auf Patrouille an der
Grenze. Geduckt gingen sie den engen Waldpfad entlang und schützten
ihre Gesichter vor den dicht fallenden kleinen Tropfen, die der Wind
lange herum wehte, ehe sie den Boden erreichten. Der Schäferhund Lobo, ein fröhliches, gutmütiges Tier,
schnupperte neugierig in den nassen
Blättern herum oder rannte weit nach
vorne und verschwand, und dann
tauchte er – als wolle er sie überraschen – hechelnd von hinten auf. In
kurzen Abständen hob er sein Bein
an einem Baum.
„Kann der pissen“, sagte Hasan.
„Ja“, Sini{a stimmte zu.
Und das waren für lange Zeit die
einzigen Worte, die sie wechselten.
Hasan Nezirovi}, genannt Fledermaus, war ein schweigsamer, unge-
Ante Tomi} wurde 1970 in Split geboren. Er studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Zadar. Tomi} arbeitet als Journalist bei der Tageszeitung
„Jutarnji list“. Für seinen kritischen, unabhängigen und stets humorvollen
Journalismus bekam er den „Marija Juri} Zagorka“-Preis der Kroatischen Gesellschaft für Journalismus. 1997 erschien sein erster Sammelband von Kurzgeschichten „Ich habe vergessen, wo ich geparkt habe“. Die zweite, erweiterte
Ausgabe dieser Geschichten erschien 2001. 2000 erschien sein Roman „Was ist
schon ein Mann ohne Schnauzer?“, der über Nacht zum Bestseller wurde. Der
Roman hatte 7 Auflagen und wurde auch in Serbien, wo Tomi} durch FAK-Lesungen bekannt wurde, veröffentlicht. Nach dem Roman schrieb er zusammen mit Aida Bukvi} das Drama „Was ist schon ein Mann ohne Schnauzer?“, das
vom Nationaltheater in Zagreb gespielt wurde und das 2002 beim Wettbewerb
„Maruli}evi dani“ als bestes Drama des Jahres ausgezeichnet wurde. Gesammelte Zeitungskolumnen unter dem Titel „Folkloreschau“ sind im gleichen Jahr
erschienen wie der Roman „Nichts darf uns überraschen“, mit dem er sehr bald
einen ähnlichen Erfolg wie bei seinem ersten Roman erlebte; der bekannte
kroatische Regisseur Rajko Grli} verfilmte den Roman. Sein Roman „Die Liebe,
der Strom, das Wasser und das Telefon“ ist 2005 erschienen.
wöhnlich ernsthafter junger Mann,
dessen dünnes, längliches Gesicht
nur dann Heiterkeit ausstrahlte, wenn
er seine perlmuttweiße Hohner-Ziehharmonika über die Schulter hängte
und wenn dann aus ihr das komplizierte Klanggewebe verspielter Reigentänze aus Sechszehnteln und Zweiunddreißigsteln heraus brach. „Fledermaus stirbt für die Ziehharmonika“, sagte man. Und Sini{a konnte
nur zustimmen. Er hatte bisher nur
dreimal die Gelegenheit gehabt, sich
vom Können des Autodidakten mit
dem absoluten Gehör zu überzeugen:
das erste Mal beim feierlichen Gelöbnis und zweimal hier in der Kaserne, als Hasan nur so vor sich hin
spielte. Das Blut wallte und stieg
langsam an bis zur besinnungslosen
Trance, hingebungsvollere Zuhörer
konnten dabei wahrscheinlich barfuß über glühende Kohlen laufen oder
sich die Wangen mit langen Nadeln
durchstechen.
Sini{a erfuhr von ihm erst vor neun
Monaten, als er sich in der Kaserne
von Skopje meldete, aber für viele
Ante Tomi}: Nichts darf uns überraschen
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
170
Ante Tomi} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
war der neunzehnjährige Harmonikavirtuose aus Podrinje ein wahrer Star,
der schon in einigen Sendungen über
die neue Volksmusik zu Gast gewesen war und für Discoton aus Sarajevo ein Album eingespielt hatte, dessen Veröffentlichung aufgeschoben
wurde, bis der Künstler seinen Dienst
für die Heimat abgeleistet hatte. Er
verriet ihm einmal – und humorlos
wie er war, fand er es nicht einmal
komisch – dass der Einberufungsbescheid ihn kalt erwischt hatte, weil
er seine schönen künstlichen Zähne
noch nicht abbezahlt hatte; sein Manager hatte sie ihm als Investition in
ihren gemeinsamen Erfolg im Showbusiness vorgestreckt.
Fledermaus trug seinen ehrenvollen
Namen, den er später auch als Künstlernamen behielt und der sogar das
Cover der Diskoton-Kassette zierte,
wegen seiner Fähigkeit, kopfüber und
an seinen Beinen hängend zu spielen, eben wie eine Fledermaus. Er
zog nur die Gurte seiner Hohner etwas strammer, hängte sich mit den
Knien an eine Stange oder an die
Sperrholzkulisse, die man eigens für
ihn im Fernsehstudio angefertigt hatte, und spielte genauso als stünde er
mit beiden Beinen auf dem Boden,
er wurde nur etwas rot im Gesicht,
weil ihm das Blut in den Kopf schoss.
So photographierte man ihn auch
für das Cover seines Albums, im
schwarzen Frack, um die Ähnlichkeit
mit dem geflügelten Säugetier noch
besser zum Ausdruck kommen zu lassen, obwohl die Leute von Diskoton
nicht wirklich überzeugt davon waren,
da sie befürchteten, dass die Käufer
vielleicht nicht begreifen würden, wie
herum sie die Kassette drehen sollten.
Fledermaus hatte ihnen einmal anvertraut, dass er nicht viel davon
hielt, und Sini{a hatte den Eindruck,
dass ihm das Ganze vielleicht sogar
ein wenig auf die Nerven ging. In
seinem Herzen, so ahnte Sini{a, war
Hasan ein Künstler, und die Fledermaus-Nummer war für den besoffe-
Zeitgenössische Poesie und Prosa
nen Pöbel. Die Leute amüsierten sich,
wenn sie dem hängenden Spieler
Stock, Vecchia oder einen milden Slibowitz in den Mund träufeln konnten. Denn das gehörte ebenfalls ins
Repertoire der Unterhaltungstricks
von Hasan Nezirovi}. Er trank auf
dem Kopf, ohne dass ihm ein Tropfen aus dem Mund lief. Und er konnte unglaublich viel trinken. Sie füllten ihn mit scharfen Schnäpsen ab,
immer in der Erwartung, dass die
Kraft in seinen Beinen nachlassen
und er auf den Kopf fallen würde,
aber er hing wie angeschweißt an der
Stange und spielte immer schneller
und schneller und schneller...
Als er in der Kaserne in Skopje eintraf, fielen dort viele fast auf die Knie
vor ihm. Fledermaus war der Herr
Musiker, und man schätze sein Kommen höher ein, als wäre der Fußballstar Milko \urovski gekommen. Wie
alle bekam er ein Gewehr, aber er
nahm es nicht einmal in die Hand.
Er wurde weder gezwungen, seine
Knobelbecher in Marschtritt zu setzen, noch beteiligte er sich auch nur
einen Tag lang an der Rekrutenausbildung, er wurde vielmehr sofort
im Kulturzentrum der JVA untergebracht, um für das Offizierskader
Musik zu machen. Er aß und trank
mit ihnen und hurte verantwortungslos mit einer fetten Köchin herum,
die mit einem Korporal von der Technischen Einheit verheiratet war, doch
der war meist irgendwo im Einsatz.
So ging es sechs Monate lang, und es
wäre die nächsten sechs Monate so
geblieben, und hätte man Hasan gefragt, sein Militärdienst hätte ruhig
noch einmal um die gleiche Zeit verlängert werden können. Wahrscheinlich ging es noch nie einem Rekruten
vor ihm so gut. Aber dann verbockte
der Idiot alles. Sini{a glaubte manchmal, dass Fledermaus es irgendwie
absichtlich getan hatte, da er spürte,
dass in seiner besessenen Musik ein
suizidaler, selbstzerstörerischer Trieb
liegen musste. Wer weiß...
171
Wie auch immer, man feierte Sylvester, Hasan spielte schon seit acht Uhr
und dann war es beinahe Mitternacht, und seit mehr als dreieinhalb
Stunden hing er nun schon ununterbrochen an seinen Beinen. Schweiß
floss ihm an seinem geröteten Gesicht entlang, und sein Hemd war
schon ganz durchnässt, aber er gab
nicht auf. Der Abend näherte sich
seinem Höhepunkt, die ersten Gläser wurden – noch etwas zaghaft –
zerschmissen, die Offiziere knöpften
ihre Hemden auf und legten die Krawatten, die von Gummibändern gehalten wurden, beiseite, die Frauen
stiegen auf die Tische und der Harmonikaspieler spielte und spielte und
spielte pausenlos... Er spielte schon
lange nicht mehr sein Repertoire,
sondern verließ sich auf seinen Instinkt, seine Finger flogen ungezähmt
über die Knöpfe, eine zauberhafte
Melodie erklang, die nie zuvor zu
hören war und auch nie wieder zu
hören sein wird, als die Frau des Generalmajors Lukovi}, des Garnisonskommandanten von Skopje, an ihn
herantrat, eine vollbusige, gebleichte und toupierte Stewardess, viel jünger als ihr Mann, und mit ihren langen, muskulösen und netzbestrumpften Beinen begann, sich vor Hasan
zu produzieren.
Sie kam ihm ganz nah, so nah, dass
der Harmonikaspieler von unten ihr
Höschen unter dem roten Lederminirock sehen konnte, und dann
drehte Hasan durch, wahrscheinlich
aufgrund des vielen Slibowitz. Ohne
sein Spiel zu beenden, schwang er
seinen Rücken so leicht nach oben,
als hätte das zehn Kilo schwere Instrument nicht seit vier Stunden an
seinen Schultern gehangen, bohrte
seinen Kopf zwischen die Beine der
Frau General und biss ihr ins Baumwollgewebe. Durch den großen Saal
des Kulturzentrums der Jugoslawischen Volksarmee in Skopje erschallte der Aufschrei der Frau. Ein lustvoller Aufschrei, schwor Fledermaus
172
Ante Tomi}: Nichts darf uns überraschen
sein, dass er einen bei einer Schlägerei nicht hängen ließ. Es nervte ihn
nur entsetzlich, wenn Ljuba ihn Batman nannte. Es verstand nämlich
nicht, warum er ihn Batman nannte.
Sie liefen im Regen durch den Wald,
bisweilen stießen sie auf unbewaldete
Lichtungen, auf denen meterhohes
Gras stand. Auf der üblichen fünf
Kilometer langen Route bis zu jenem
Ort, wo sie um 12 Uhr mittags die
Patrouille der benachbarten Grenzkaserne treffen würden. Sie sahen einen Hirten mit fünfzig schmutzigen
Schafen und winkten ihm zu; Lobo
konnte natürlich nicht widerstehen,
einmal durch die Schafsherde zu laufen, und die Schafe wichen erschrocken vor ihm zurück. Mit diesen
Viehhirten aus den albanischen Dörfern an der Grenze, die mit ihren
Herden zwischen beiden Staaten hin
und her zogen, pflegten die Soldaten
traditionell herzliche Beziehungen,
sie tauschten manchmal mit ihnen
zu beidseitiger Freude Aufschnitt
und Sardinen gegen ausgezeichneten Schafskäse, ohne sich im geringsten darum zu scheren, dass die Offiziere gerne über Diversanten schwa-
felten, die sich als Hirten verkleiden
und die unter ihren schäbigen Mänteln, die von einem gewöhnlichen
Strick zusammengehalten wurden,
Bomben und Gewehre verstecken.
Es war eine elende Welt aus dreckigen Dörfern mit kleinen, schiefen
Hütten, bei denen die Strohmatten
hinter dem abbröckelnden Putz hervor
lugten. Unterernährte Kinder, blau
vor Kälte, rannten durch schlammige Straßen, Männer saßen vor kleinen Läden auf Bierkisten und hörten
ängstlich auf zu reden, wenn ein Soldat kam und Schnaps oder Zigaretten kaufte. Die Frauen sah man nur
dann, wenn sie durch das Fenster
blickten um zu sehen, wer dort vorbei
geht, oder wenn sie in Pluderhosen
und bunten Schlappen über den Wollsocken vor den Haustüren Wasser aus
Plastikschüsseln ausgossen. Sini{a,
der nie zuvor so etwas gesehen hatte,
erschrak vor ihrem Elend und begriff auf’s Neue, was für ein großes
und widersprüchliches Land Jugoslawien war.
Aus dem Kroatischen
von Alida Bremer
Foto: Jakob Goldstein
später, doch das spielte wirklich keine Rolle. Einige Sekunden später
knallte ein Schuss aus einer Dienstwaffe. General Lukovi}, der, wenn
man die Umstände bedenkt, erstaunlich gefasst war, hatte ihn auf die
Saaldecke abgefeuert. Und alles erstarrte. Bereits am übernächsten Tag,
dem Tag nach Neujahr, bekam Hasan
Nezirovi} einen Bescheid, in dem
ihm seine Versetzung zu den Truppen an der albanischen Grenze mitgeteilt wurde.
Sini{a wusste nicht genau, ob Fledermaus von Natur aus mies gelaunt oder
ob es die Folge seiner Vertreibung
aus dem Garten Eden des Armeekulturzentrums von Skopje war. Obwohl er ganz andere Positionen vertrat, ein wenig stur und konservativ
war, vor allem, wenn man mit ihm
über Frauen sprach, obwohl er ihre
Späße nicht verstand und auch einen
ganz anderen Musikgeschmack hatte, war Fledermaus der einzige, den
Sini{a und Ljuba in ihrer Gemeinschaft aufgenommen hatten. Er war
ehrenhaft und treu, Genosse und
Kommunist, immer bereit, jede Scheiße mitzumachen, man konnte sicher
RELA
TIONS
Arnon Grunberg beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
Zeitgenössische Poesie und Prosa
173
Die Geschichte der M.
¹ Auszugº
Milana Vukovi} Runji}
Sie träumte, dass ihr Zimmer von
Hasen bevölkert war. Das Bett, der
Sessel und der Wäschekorb waren
voll von ihnen. Sie öffnete die Tür
und aus dem Badezimmer hüpfte ihr
ein Hase entgegen. Sie wachte auf.
Vermutlich bezog sich der Traum
auf ihre Reise, aber sie wird fliegen,
und sie träumte nicht von einem
Flugzeug voller Hasen. Dafür hätte
es ein großräumigerer Traum sein
müssen. Ihre Träume aber waren eng,
als quetschten sie sich aus einer Flasche heraus. Vielleicht deshalb, weil
sie so spät aufwachte. Zu ihrer Lebensweise gehörte es, nachts wach zu
sein und tagsüber zu schlafen: vielleicht
wählte sie es nicht einmal selbst so,
sondern das Leben spielte es ihr zu.
Es war nicht etwa so, dass sie die
Nacht, Mondschein, Seen, Boote und
einsame Wälder mochte. Ging sie aber
vor der Morgendämmerung zu Bett,
bekam sie Durst, wälzte sich herum,
machte das Nachtlämpchen an und
schaute auf die Uhr. Wegen dieses
Lämpchens besiedelten eine erwachsene und ein paar kleinere Eulen, die
nachts aus den Ästen der hohen Platanen wimmerten, ihren Garten. Aufgrund solcher Gewohnheiten konnte sie sich nur mit Schreiben beschäftigen. Gottseidank verdiente sie damit Geld. Sie hätte vielleicht auch in
einem Vergnügungspark für Vampi-
Milana Vukovi} Runji} wurde in Zagreb 1970 geboren. Sie studierte Philosophie
und Vergleichende Literaturwissenschaft und beendete ihr Postgraduiertenstudium mit einer Arbeit über Marcel Proust. Sie veröffentlchte drei Gedichtsammlungen: Der Garten, Passagen über Eva und Azzurgold, Erzählungen Flügel
aus Äther, Romane Seuso, Revolver, Geschichte über M. und Die Straße der
treulosen Frauen sowie Sexopolis. Ausgewählte Kolumnen. Mit ihrem Mann
Boris Runji} leitet Milana Vukovi}-Runji} den Verlag „Vukovi}-Runji}“, in dem
die wichtigsten Werke der zeitgenössischen Weltliteratur als erschwingliche
Taschenbücher für ein breites Publikum erscheinen.
re arbeiten können, aber so etwas gab
es leider nicht. Sie konnte sich für
sich selbst keinen besseren Beruf vorstellen, und deshalb schlüpfte sie in
das Schreiben wie in eine zweite
Haut. Sie versteckte sich darin und
wartete auf eine bessere Gelegenheit.
Eine Zeit lang arbeitete sie als Mädchen für alles bei einem Magazin,
aber jetzt war sie weiter gekommen
und schrieb Feuilletons auf Bestellung für eine Frauenzeitung und Liebesromane für eine andere, etwas
schlechtere Frauenzeitung. In der
Zwischenzeit versuchte sie, ihr Diplom in Philosophie und Literatur
zu machen, doch das entpuppte sich
als harte Nuss, weil man für jede Prüfung ungefähr vierzig Bücher studieren musste, und in jedem (ob nun
philosophischen oder literatur-theoretischen Charakters) wurde die
existenzielle Problematik erörtert, es
wurde über Sinn und Unsinn diskutiert, und sie – das muss erwähnt
werden – pflegte leicht in Depressionen zu verfallen. Schopenhauer, Kant
und Fichte, die behaupten, dass die
Welt nur in unserer Vorstellung existiere, verursachten ihr eine Gänsehaut. Denn wenn sie schon über fiktive Dinge schreibt, ist es ihr wichtig, von ihrer Wirklichkeit zu wissen, dass sie wirklich ist. Doch nichts
erschien ihr weniger wirklich als sie
selbst. Sie wusste, dass ihr Schlafen
zu einer Kluft zwischen ihr und dem,
was ihr wirklich erschien, geführt
hatte: während die realen Menschen
arbeiten, liegt sie eingehüllt in Laken
und Decken. In ihrem Leben gab es
viele Mitternachtsknabbereien, aber
kein einziges Frühstück. Trotzdem
war sie nicht dick. Als wir uns ken-
174
Milana Vukovi} Runji}: Die Geschichte der M.
nen lernten, hatte sie nur ein leichtes
Doppelkinn, von dem sie behauptete, es sei angeboren. Sie hatte auch
ein Bäuchlein, allerdings elastisch
und braun gebrannt. Sie wurde mir
sehr schnell eine zärtliche und stete
Freundin, mit der man nicht vor drei
Uhr nachmittags telefonieren konnte. Sie ernannte mich zu ihrer Gefährtin und bat mich bisweilen, Dinge für sie zu erledigen, für die ein
Mensch tagsüber präsent sein muss.
Warum sollte ich nicht für sie ihre
Rechnungen bezahlen, dachte ich,
wenn sie mir am frühen Abend Kuchen backen und sich nach meiner
Arbeit und meinem Liebeschaos, in
dem ich freiwillig verharrte, erkundigen wird. Und sie wird es nicht
nur aus einem neuen Blickwinkel
beleuchten, sondern sie wird mir ihr
eigenes Chaos als ein spiralförmiges
Schneckengehäuse präsentieren, dem
man entschlüpfen kann. Und warum sollte ich nicht ein morgendliches Telefonat für sie erledigen, wenn
die Person am anderen Ende den
Klang ihrer Stimme sowieso nicht
kennt. Und warum sollte ich nicht
anstatt ihrer in einer Sendung auftauchen, in der Journalisten über ihr
Schreiben berichten, wenn sowieso
niemand mit Sicherheit sagen kann,
wie sie aussieht. Dort wo mich mein
eigenes Leben irritiert hat, hat mich
ihres getröstet und angespornt: es ist
großartig, morgens aufzustehen und
sich an einem langweiligen Schalter
anzustellen, wenn man sie ist und
nicht ich. Es ist großartig, ihr Flugticket nach Chile abzuholen, und sie
dann zu fragen, ob sie Hilfe beim
Packen braucht, die sie dann aus
Angst, dass ich in ihren Schrank blicken könnte, ablehnen wird. Ihr
Schrank ist – nach eigener Aussage –
das reine Chaos, in dem schmutzige
Schlüpfer um Blusen herum tanzen,
die aussehen, als hätte jemand Zieharmonika auf ihnen gespielt. Auch
ihr Bett war ein Chaos und auch ihr
Badezimmer – sie zeigte großes Un-
behagen, als ich mir einmal die Hände waschen wollte. Ich war vielleicht
ein- oder zweimal in ihrem Badezimmer, und außer dem ein wenig
vergilbten Waschbecken und der nicht
gerade sauberen Badewanne sah ich
auf den ersten Blick kein Chaos, doch
als ich mich nach einem Handtuch
umsah, fand ich ein Regal, vollgestopft
mit alten Shampon-Flaschen, aufgebrauchten Schaumbädern, Deckeln
von Haarspülungen, an denen Haare
klebten. Sie gestand mir, dass sie nie
einen Frühjahrsputz machte, weil sie
sich von keiner einzigen Sache trennen kann. Dazu zählen Kinokarten,
Eintrittskarten für Konzerte, Ausstellungsprospekte, nicht verschickte Postkarten, alte Terminkalender,
Streichholzschachteln und Bücher,
für die es in den Regalen keinen Platz
mehr gab. Jeder Intellektuelle hat tausend ungelesene Bücher, zitierte sie mir
einen Schriftsteller, dessen Namen
ich vergessen habe. Packen war für sie
eine Strafe, denn aus einem Durcheinander von Ärmeln und Knöpfen
musste man ein paar vernünftige Kleidungsstücke heraus fischen, einige
davon sogar waschen und sie dann
in den Koffer stopfen. Soweit ich
weiß, verreiste sie bisher eigentlich
nicht. Einmal wegen ihrer Schlafgewohnheiten, aber noch mehr wegen des Packens: Sie pflegte nur einen Tag lang nach Triest, Venedig
oder Wien zu fahren, gemeinsam mit
einem Freund, der vermutlich in sie
verliebt war, weil er diese Anstrengung einen Ausflug nannte, und er
photographierte sie auch noch auf
dem Canale Grande oder vor dem
Florian, und er fuhr sie am frühen
Morgen zurück, denn man ging nicht
vor zwei Uhr nachmittags auf die
Reise. Einmal, als wir uns noch nicht
kannten, versuchte sie ihn zu überreden, für einen Tag nach Ägypten oder
nach Malta zu fliegen, leere Koffer
mitzunehmen und sich wie echte
Touristen zu benehmen. Er erkundigte sich sogar, ob es aus Wien oder
RELA
TIONS
Budapest eintägige Rückflugtickets
nach Kairo gäbe, aber es stellte sich
heraus, dass die Reise mindestens
drei Tage dauern würde, und das
wollte sie nicht. Nicht nur, dass sich
sich vor der Reise fürchtete, vertraute sie mir an, sie fürchtete sich auch
vor der Nacht neben diesem Freund:
er würde sicher einschlafen, aber was
wäre dann mit ihr? Du wärest wach,
als wärest Du allein, sagte ich zu ihr.
Ja, aber das ist nicht dasselbe, sagte
sie, Ich würde mich noch elender fühlen, wenn ich jemandem sehen müsste,
der neben mir schläft. Ich dachte im
Stillen, dass sie getrennte Zimmer
hätten nehmen können, aber M. war
nie praktisch veranlagt. Außerdem
plante sie wahrscheinlich, diesen
Freund zu verführen, solche Dinge
hatte sie immer im Kopf. Wenn sie
nicht über das Schlafen sprach, philosophierte sie über Männer, ein wenig abstrakt und im Tonfall eines
Essays, als habe sie ein Büchlein über
die Männer im Kopf, das sie sich
nicht zu schreiben traute. Sie nahm
eine Pose ein, als wüsste sie alles, obwohl ich sie nie mit einem Freund
getroffen habe. Ich behaupte nicht,
dass sie keine Affairchen gehabt hätte, dass sie sich nie auf einem Geburtstag besoffen hätte, um danach
mit irgend jemandem auf dem Berg
Sljeme zu enden, oder dass sie sich
wirklich nie auf einer Wiese bei Zapre{i} herum getummelt hätte, aber
andere Beziehungen mied sie. Ich
kann nicht treu sein, pflegte sie so
ernsthaft zu sagen, als handele es sich
um eine körperliche Behinderung.
Ich kann nie und niemandem treu
sein. In jenem Sommer vollendete
sie ihr 24. Lebensjahr: sie lebte im
Dachgeschoss eines alten Hauses in
der Bosanska Straße. Das Haus war
in einem fast so schlechten Zustand
wie ihre Wohnung – es sah aus wie
eine überdimensionierte Walnuss.
Um das Haus herum zog sich ein
alter Garten, in dem Einhörner weideten. Auf dem Spiegel hatte M. ein
Zeitgenössische Poesie und Prosa
175
Foto: Jakob Goldstein
RELA
TIONS
Faith Liddell beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
Photo eines Einhorns – natürlich eine
Photomontage. Es schaute uns aus
dem Profil an, es hatte ein großes,
feuchtes braunes Auge. Jeden Tag
warte ich darauf, sagte M. gerne, dass
es mich von hier fort führt. Romantisch, aber irgendwie hohlköpfig.
Doch als wahrhaft gute Freundin
konnte ich ihr das nicht sagen. Ich
wusste, dass sie den Schein einer
Flucht braucht, denn es ist nicht
leicht zuzugeben, dass Ihnen Ihr einsames, ideales Leben auf den Geist
geht. M. lebte außerhalb von Zeit
und Raum, ins Kino kam sie grund-
sätzlich eine halbe Stunde zu spät,
sie vergaß Verabredungen, weil sie
die Inspiration zu einer Geschichte
hatte. Sie ließ mich im Regen auf sie
warten. Wenn Sie mich fragen, sie
war verwöhnt, und sie dachte Tag
und Nacht an sich, an sich, an sich.
Doch es steht mir nicht zu, über sie
zu urteilen. So wie ich sie nie wegen
ihrer schlechten Schlafangewohnheiten kritisierte oder wegen ihrer Unordnung – ich begriff sie einfach als
Teil ihrer Persönlichkeit, etwa wie
den Klang ihrer Stimme oder ihre
Gewohnheit, sich beim Schreiben
am Kinn zu kratzen – so verurteilte
ich sie auch nicht, als sie sich in einem dunklen, nassen Cape ins Kino
schlich. Ich erlebte sie wie ein Streichholz: wenn sie mich zu sehr nervte,
stellte ich mir vor, wie ich sie in den
Schnee werfe oder ihren kleinen Kopf
unter Wasser tauche. Vor ihrer Reise
dachte ich in meinen boshaften Momenten, nur noch ein Weilchen und
du wirst nach Chile verschwinden...
Aus dem Kroatischen
von Alida Bremer
Jadranka Pintari}
RELA
TIONS
Foto: Jakob Goldstein
176
Bernardo Atxaga beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
RELA
TIONS
Die Wahl eines Kritikers
177
Die Wahl eines Kritikers
Jadranka Pintari}
E
inst, etwa ein Dutzend Jahre lang,
war ich beim Besuchen der Buchmesse in Frankfurt, in der Funktion
der Redakteurin eines Verlagshauses,
stets tieftraurig, wenn ich all die unendliche Menge von Büchern mit dem
Bewusstsein betrachtete, dass man
die Prozentzahl der Bücher, die in
meine Sprache übersetzt und in meinem Land veröffentlich werden würden, nicht einmal in Promill ausdrücken könnte. Und wie sollen wir dann
wissen, dass wir nicht ein geniales
Buch verpasst haben, einen überwichtigen Band, der sich als jener erweisen
würde, der die Weltgeschichte veränderte, ein entscheidendes Werk, das
neue Möglichkeiten der menschlichen Wortkunst eröffnen würde? Ich
bin kilometerweit durch die riesigen
Hallen gelaufen, an endlosen Reihen von Büchern vorbei und machte
mich selbst mit dem Gedanken verrückt, das auf einem der Million Regale Das einzigartige Buch liegt, das
mir verborgen bleiben wird, weil ich
unachtsam bin. Aus denselben Gründen – dass ich Schuld haben werde an
der Vernichtung eines neuen Rimbaud
oder Joyce – schlug ich alle auf und
überflog wenigstens die meisten Manuskripte, mit denen uns einheimische
Autoren überschütteten. Zu der Zeit
verfasste ich Literaturkritiken als zusätzliche Arbeit, die mit Liebe zu Büchern und zur Literatur verbunden ist.
Dann lief es umgekehrt: Das Schreiben von Literaturkritiken wurde mei-
Jadranka Pintari} veröffentlicht als freie Künstlerin Literaturkritiken, Essays
und andere Texte, ist Redakteurin von Buchreihen und einzelnen Ausgaben,
übersetzt aus dem Englischen und ist als Mitarbeiterin in Print- und ElektroMedien tätig. Ihr Buch In Richtung der Meridiane ¹„U smjeru meridijana“º
wurde 2003 vom HFD herausgegeben. Von 1996 bis zum Jahr 2000 war sie
Chefredakteurin im Verlag des Kulturvereins Matica hrvatska. Von 1994 bis
1996 arbeitete sie als Redakteurin im Verlagshaus Mozaik knjiga. Von 1986 bis
1994 war sie redaktionelle Mitarbeiterin beim Ersten Programm des Kroatischen
Rundfunks. Sie erhielt ihr Diplom an der Philosophischen Fakultät in Zagreb
und ist Mitglied des Kroatischen Verbandes freischaffender Künstler, der Kroatischen Schriftstellervereinigung und des Kroatischen Journalistenverbandes.
ne primäre Tätigkeit und die redaktionelle Arbeit sekundär. Doch es
sollten noch Jahre vergehen, bis ich
verstand, dass ich (unbewusste) Verhaltensmodelle übertragen habe: Aus
Panik, auf einheimischem Terrain
einen modernen Andri} oder Krle`a
zu verpassen, quälte ich mich mit
dem sinnlosen Lesen schwächlicher
Werke und sinnloser Papiervergeudung. Glücklicherweise passierte in
einem Moment die Wende – vor
Überarbeitung krank im Bett liegend
– sagte ich mir selbst, dass ich nicht
für den Verlauf der Geschichte der
kroatischen Literatur verantwortlich
bin und noch weniger für die Rezeption der internationalen. Ich lese nur
gern und bin glücklich, dass ich das
zu meinem Beruf machen konnte.
Sollte ich dabei auch noch das, was ich
lese, genießen, umso besser. Aber aus
einem stillen Winkel verschwand je-
doch nicht das Bewusstsein, dass jede
Wahl auch eine Nicht-Wahl des Übrigen, eine Vernachlässigung und ein
Verschweigen der Anderen ist. Ein
Buch hervoheben, eine gewisse Menge
Text, der veröffentlicht wird, darüber
schreiben, heißt, dass einem anderen
Buch nicht die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Doch das ist das
Schicksal der Bücher, ebenso wie das
der Menschen. Das wissen alle, die
sich (das bezieht sich ausschließlich
auf jene, die es aus Liebe tun!) leidenschaftlich mit Büchern befassen,
und sie entweder drucken lassen oder
über sie schreiben, damit andere sie
lesen. Man muss es nur sich und den
anderen gestehen.
So ist auch diese Auswahl: Persönlich, fahrlässig, beabsichtigt. Jedoch
nicht willkürlich, denn Legitimität
verleihen ihr – wie das so ist – geleistete Arbeit, gesammelte Erfah-
178
RELA
Jadranka Pintari}
rung, der Glaube an einen gewissen
Riecher.
Wie auch immer. Es gilt, auch nach
einiger Zeit, hinter seiner Wahl zu
stehen. Diese Besetzung erwies sich als
zuverlässig in dieser Hinsicht – mein
Riecher hat mich nicht getäuscht.
Der Reihe nach. Schon seit dem ersten Buch, einer Kurzgeschichtensammlung (Der Ort, an dem wir die
Nacht verbringen werden, 2000), wusste man, dass Roman Simi} (1972)
ein unbestreitbares Talent ist und
die große Hoffnung jener Literaturgattung, die die Aufmerksamkeit des
Lesers, der jede Nuance der stilistischen Finesse und das Erkennen der
gelesenen Referenz zu schätzen weiß,
verlangt. Dass dem so ist, bewies er
mit dem zweiten Buch, In was wir
uns verlieben (2005), gleichermaßen
beliebt bei Kritikern (Preis der Tageszeitung Jutarnji list) und beim
Publikum (Neuauflagen).
Zvonko Todorovski (1960) affirmierte sich anfangs als Kinderbuchautor, um danach den verblüffenden
historischen Roman Mandra~ zu
schreiben, in bester Manier eines historischen Thrillers, aber mit riesigen
literarischen Ambitionen, die gerechtfertigt sind. Die Insel Hvar ist aus
vielen Gründen der mythische Ort
der alten und modernen kroatischen
Geschichte, insbesondere der Literaturgeschichte und Todorovski hat
sie zusätzlich verzaubert und zu einem Wunder gemacht. Man kann
nur hoffen, dass alle, die nach Hvar
kommen, um Spaß zu haben, auch
nach einem kleinen Teil seiner intriganten Geschichte greifen werden,
die Todorovski in einen Roman verwandelt hat.
Der Nächste in meiner Reihe, Igor
[tiks, hat einen besonderen Platz
inne angesichts der Anfangszeilen
dieses Textes. Ungefähr zu der Zeit
nämlich, als Igor [tiks (1977) seinen
ersten Roman Ein Schloss in der Romagna (2000) veröffentlichte, kamen
Ale{ Debeljak und Andrew Wachtel
nach Zagreb, um Material für ein
Projekt über Literatur in Transition
zu sammeln. Ich arbeitete an diesem
Projekt mit und sagte zu ihnen, dass
sie den jüngsten kroatischen fabelhaften Romanschriftsteller (Igor [tiks
war damals 23 Jahre alt) kennen lernen müssen. Das war eine wichtige
Begegnung, denn es entstand eine
gegenseitige Sympathie, eine schicksalhafte Begegnung, die einige Lebenswege bestimmte, vor allem wahrscheinlich Igors. Heute sind Igor,
Ale{ und Andrew große Freunde und
Mitarbeiter an literarischen Projekten, Kollegen an akademischen Lehrstühlen, Schwimmer des internationalen Literaturstromes. In der Zwischenzeit schrieb Igor [tiks den ausgezeichneten Roman Der Elias-Stuhl
(2006), einen Roman, der sein damals
bemerktes seltenes Talent, die geschliffene Erudition und den Wunsch
nach Dauer bestätigt. Im Sinne von
[tiks’Roman kann nur anmerken:
„Destiny is the most powerful coincidence of all.“
Der etwas ältere Ivica Prtenja~a (1969)
affirmierte sich zunächst als Dichter
und nach drei Gedichtsammlungen
veröffentlichte er einen Roman (Gut
ist es, schön ist es; 2006), mit dem er
die Kritik eroberte: Durch seine ehrliche Art, den Alltag eines „Zugereisten“, das Zurechtkommen und Überleben dieses sensiblen jungen Mannes aus der Provinz in der Metropole
zu behandeln. Einsamkeit ist Verlezlichkeit, aber Prtenja~a zeigte Kraft
im minutiösen Porträtieren des Lebensstils einer Figur, die völlig den
(leider!) überwiegenden patriarchalen
Lebensstandpunkt aufgegeben hat,
in allen verborgenen und subtilen
Nuancen. Gleichzeitig gewann er
mit seinem Humor die Sympathien
TIONS
des breiteren Publikums. Diese neue
männliche Sensibilität drückt auch
der Erfolgsroman von Kre{imir Pintari} (1971) aus, mit dem charmanten Titel Liebe ist alles. Kre{imir begann als Dichter und veröffentlichte
auch Kurzgeschichtensammlungen.
Er ist ein großer Fürsprecher der elektronischen Bücher bei uns und machte vier seiner gedruckten Bände kostenlos in E-Format zugänglich.
Die jüngste in der ausgewählten Nationalmannschaft ist Mima Simi}
(1976), die meine Sympathien durch
die Absicht erlangte, völlig anders,
provokativ und subversiv im Gebiet
des so genennten Queer-Genres zu
sein. Sie stellt Ihre Toleranz, Ihre
Offenheit gegenüber unterschiedlichen Lebensarten und das Bedürfnis
nach dem Austesten der Grenzen von
Fantasie und gesellschaftlich Erlaubtem auf die Probe.
Zuguterletzt: Olja Savi~evi} Ivan~evi}
(1974) ist eine Dichterin, die bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb gewann und damit die Veröffentlichung
ihres Werkes (Den Hund zum Lachen bringen, 2006). Alle Farben des
Mittelmeeres, die südliche Mentalität
und der Dialekt Dalmatiens kennzeichnen diese zweiundzwanzig Kurzgeschichten mit dirchterischem Ausdruck und einzigartiger Sensibilität.
Jeder Kritiker muss mit seinem Gewissen leben und dem Bewusstsein
von Ewigkeit und Vergänglichkeit.
Das sind Kateogrien, die seine Position unbequem machen, aber auch
verantwortunsvoll. Ich möchte daran
glauben, dass meine Auswahl verantwortungsbewusst war und jenseits
trügerischer täglicher Modeerscheinungen. Nur die Zeit wird das widerlegen. Na ja, lass sie nur.
Mein Gewissen ist ruhig. Und Ihres?
Aus dem Kroatischen
von Marijana Mili~evi}
RELA
TIONS
Die Wahl eines Kritikers
Ein generationenübergreifendes
Trauma der liebe
ROMAN SIMI]: In was wir uns verlieben ¹„U {to se zaljubljujemo“º
¹Profil, Zagreb, 2005, 174 Seitenº
Wenn wir wüssten, in was wir uns
verlieben, würden wir uns – wahrscheinlich – (mit der Betonung, dass
dieses Wort nur ein Zugeständnis an
hartgesottene Optimisten ist) nie
verlieben. Zum Teil wegen des Horrors, in dem wir uns im Moment der
Realisierung „dessen“, in das wir uns
verliebt hatten, wiederfinden würden, zum Teil wegen der Angst vor
dem Schmerz und der Ohnmacht in
dem ewig dauernden Augenblick,
wenn wir in unserem Zustand der
Verliebtheit verletzt werden, zum
Teil, weil wir mit jeder Verliebtheit
lernen, dass sie vergänglich ist, wenn
sie nicht in etwas dauerhafteres übergeht... Es gibt eine Million Gründe,
warum es nicht gut ist zu wissen, in
was wir uns verlieben. Das hat Einer
gut eingefädelt. Egal, wie wir ihn
nennen. Die Möglichkeit ist jedoch
eröffnet, dass wir die Verliebtheit wie
moderne Wissenschaftler auf das Niveau der Biologie und Chemie bringen, weil es Untersuchungen gibt,
die so einen Ansatz untermauern.
Dann gibt es (angeblich) keine Probleme mehr, keine Geheimnisse, keine Zweifel. Aber es gibt immer solche, die keine Ruhe geben und die
müssen graben, bohren, nachdenken,
analysieren, zerpflücken... Die wollen es wissen... Der Haken an der
Sache ist, dass der Zustand der Verliebtheit wie die berühmte Katze von
Schrödinger in dem bizzaren Experiment aus der Geschichte der Quantenphysik ist. Nämlich allein durch
unsere Anwesenheit beim Akt des
Versuches, verändern wir seinen Ausgang, also können wir schlussendlich
gar nicht wissen, ob die Katze tot
oder lebendig ist. Beziehungsweise,
es ist uns nicht gegeben, verlässlich
festzustellen, ob die Katze überlebt
hat oder verendet ist, nur weil wir sie
beobachtet hatten. Ebenso ist es mit
der Verliebtheit: In jenem Moment,
in dem man beginnt, sie wie ein Physiker im Laboratorium zu analysieren, ist der Zustand der Verliebtheit
selbst in Frage gestellt: Man kann
nicht wissen, woran man ist, und
allem Anschein nach ist man immer
am Verlust (würden die Existenzialisten sagen, natürlich). So wird uns
auch nicht der verführerische und
charmante Titel der neuen Kurzgeschichtensammlung von Roman
Simi} eröffnen, in was wir uns wirklich verlieben, noch werden wir uns
deswegen wirklich verlieben, aber
wir werden uns, höchstwahrscheinlich, wirklich fragen, was ist es, weswegen wir uns verliebt fühlen. Und
welche die feinen Nuancen dieses
Zustandes sind, an welchen Übergängen spüren wir die Gefahr vor dem
Fall ins Bodenlose und in welchen
179
Augenblicken als ob wir auf Messers
Schneide gehen oder aber lautlos auf
Glasscherben, wie die kleine Meerjungfrau – die alles für ihre Liebe gab,
um sich zu verlieren.
Da das „in was wir uns verlieben“
auch seine Großmutter quälte, scheint
der Held des Autoren (es ist sogar
gar nicht wichtig, ob es ein autobiographisches Element ist, es ist eher
ein Grundstandpunkt, der sich durch
alle Geschichten durchzieht) ein so
genanntes generationenübergreifendes Trauma in sich zu tragen, um es
mit trendigem psychiatrischen Diskurs zu sagen. In einer absurden Tat
des Jünglings (des Großvaters), eines
Hitzkopfes, und des Mädels (der
Großmutter), in existenzieller Gefahr, ereignete sich der Akt des SichVerliebens (letztendlich war das, historisch gesehen, der Augenblick, in
dem auch seine Existenz in der Zukunft möglich wurde, und ist deshalb wahrlich von ausschlaggebender Wichtigkeit), in dem Simi}s
Chronik des fragmentellen Sezierens
des lebendigen, sterbenden oder abgestorbenen Gewebes der Liebe im
Leben völlig (un)gewöhnlicher Versuchskanninchen, die dazu verurteilt
wurden, im künstlerischen Akt eines
literarischen Schöpfers verewigt zu
verden, beginnt. Nicht nur dass er
mit forensischer Präzision und unter
dem Einfluss der so beliebten Wissenschaft, die in Fernehserien, die auf
Intelligenz, Rationalität und Logischsein prätendieren und nicht auf
die Emotivität der Seifenopern, herhalten muss, jede sich gestellte Situation zerstückeln wird, sondern er
wird die Geschichte „Der Mann in
Damenhöschen“ wirklich in der Pathologieabteilung unterbringen, ihr
adäquat pathologische Figuren zusprechen. Trotzdem sind die elf Geschichten von Roman Simi} elf seperate Welten, unterschiedlich in allem außer einem: Der Atmosphäre,
die er ihnen gab und der Ungläubigkeit in die Möglichkeit einer dauer-
180
RELA
Jadranka Pintari}
haften und wahren Liebe, auf denen
er sie aufbaute. Sie sind auch durch
die Geschliffenheit des Textes verbunden (stilistische, syntaktische,
fabulative Sparsamkeit) und die Fertigkeit mit wenigen Worten eine Situation zu schaffen oder aber einen
Dialog glaubhaft (und/oder künstlerisch wahrhaftig) zu machen. Diese,
sagen wir mal, nicht besonders heitere, vielleicht sogar etwas bedrückende Atmosphäre erinnert an die
Geschichten von Ivan Klíma, aber
der tschechische Klassiker hat das Bedürfnis, Geschichten mit ziemlichem
Nachdruck zu beenden, sogar zu
poantieren, während Simi} auf seine
Ausschnitte nicht den symbolischen
großen abschließenden Punkt setzt.
Ganz im Gegenteil, er lässt sie offen.
Interessant ist der Aufbau des Buches:
Der erste Teil besteht aus nur einer
Geschichte, Autobiographisches suggerierend, unter dem Titel „Rahmen
für den Familienlöwen“ und danach
folgen die restlichen zehn Geschichten, zusammengefasst unter dem bedeutungsschweren Titel „Ein paar
Schritte weit sind wir glücklich“. In
dieser ersten Geschichte ist ein steinerner Löwe an den Wehrmauern von
Zadar zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges Ursache für die Entstehung
des generationenübergreifenden Familientraumas zum Motiv des SichVerliebens, also scheint die folgende
Obduktion verschiedene Musterbeispiele auf den Tisch legen zu wollen.
Für Roman Simi} (1972) spielen Titel anscheinend eine ziemlich wichtige und mysteriöse Rolle. Auch seine erste Kurzgeschichtensammlung,
veröffentlicht vor fünf Jahren, hatte
einen bedeutsamen Titel – Der Ort,
an dem wir die Nacht verbringen werden. Diese Geschichten waren durchzogen von der gelesenen Lektüre (Roman Simi} hat ein Diplom in vergleichenden Literaturwissenschaften
und Hispanistik), die ihn insofern
beeinflusste, dass sie ihn inspirierte,
was sich auf die südamerikanischen
Meister des magischen Realismus und
die Mythologie des amerikanischen
Südens bezieht. Für beide ist kennzeichnend, dass sie eine „dichte“ Atmosphäre schaffen, in der die Schicksale der Helden durch Schicksal oder
aber durch Verkettungen von Umständen vorausbestimmt zu sein scheinen
(was man auf einer höheren Stufe der
Apstraktion letztendlich gleichsetzen
kann). Mit ein wenig Vorsicht könnte man alles in allem sagen: Sie sind
nicht die Schmiede ihres Glücks.
In der zweiten Sammlung sind aber
die Referenzen verdeckt, suptil oder
verwischt, aber die Welt ist die unsere, kroatische, jetzt und hier: Studenten, Ärzte, ungeliebte Kinder und
Eltern, die sich nicht lieben, Kriegsteilnehmer, ehemalige Lieben, Tagediebe, Näherinnen, Schriftsteller
(so erscheint gar in der Pathologie
der bekannte Schriftsteller Zoran
Feri} höchstpersönlich), Ihre Nachbarn oder vielleicht Sie selbst. Und
da er ihr Schicksal mit dem Untertitel „Ein paar Schritte weit sind wir
glücklich“ bestimmte, so sind auch
seine Figuren nur einige Schritte
(Augenblicke des Lebens) weit glücklich, sie lieben und werden geliebt
und dann kommt entweder der Zustand der erschütterten Liebe, dann
der Zustand der „Un-Liebe“ – verkürzt und vereinfacht gesagt. Als ob
er seine Figuren wirklich verschiedenen experimentellen Situationen aussetzte, um nachzufragen, wie viel
Verliebtheit und wie viele Mühsale
sie ertragen können, was wird sie und
wann zerbrechen lassen, wann werden sie unter der Last zusammenklappen, wann werden sie sich oder
ihre Gefühle oder aber den/die Geliebte(n) verraten, wann werden sie
aufgeben, sie selbst und andere genug
davon haben oder sogar versagen...
„Liebestorheit ist einfach nicht dafür
gemacht, um zu dauern... Und dennoch.“ – sagt eine beeindruckende
Figur. Trotzdem lechzen sie danach,
getröstet zu werden, aber ihr Abgrund
TIONS
des Unglaubens und/oder Verzweiflung findet weder genügenden noch
ausreichend guten Trost. Und bereuen das, was sie nicht gesagt haben. Oder getan. Um zu Klímas
„Liebenden für eine Nacht“ zurückzukehren, die nicht traurig sind, denn
für sie „ist es nicht am schlimmsten
ohne Liebe zu leben, am schlimmsten ist es, in einer Liebe zu leben, die
zerfallen ist und in Stücke zersplittert keine Liebe, sondern nunmehr
Last ist“ – ihnen gegenüber stehen
Simi}s Protagonisten, die in gewisser Weise jene sind, die erst vom
Geist der Liebe heimgesucht werden, Unglückliche, weil sie unglücklich verliebt sind, keinen Partner haben, nicht ihren Traum von einer
Liebe leben, die den Versuchungen,
sowohl weltlicher als auch metaphysischer Natur, widerstehen. Selbst
wenn es sich, sagen wir mal, um Liebe gegenüber dem Erzählen selbst
oder die Nostalgie nach einer (unglücklichen) Kindheit handelt. Es geht
nämlich nicht unbedingt um eine
Person des anderen Geschlechts: Man
liebt sich selbst nicht, also liebt einen
auch niemand anderer. Insbesondere
nicht ein Idealer. Unter idealen Umständen. Liebe ohne Gewohnheit?
Liebe ohne Schablone?
Das, was den Leser in allen Erzählungen fesselt, ist die Atmosphäre, in
die ihn der Autor im Nu hineinzieht, was auch der Fall mit seinem
ersten Buch war – es muss sich also
um ein besonderes Talent von Roman Simi} handeln, das selten und
wertvoll ist. Andererseits aber kann
man die Schlussfolgerung einer seiner Figuren ein wenig abändern und
anwenden: „Jede Behandlung sagt
über den Behandelnden genau so viel
wie über den Behandelten. Sie verbindet sie als Menschen, die sich getroffen haben, um das Schicksal und
sein Geheimnis zu teilen: Das Leben
und seinen verborgensten Part: Den
Tod.“ Anders gesagt, jedes Lesen sagt
etwas über das Treffen von Schreiber
RELA
TIONS
und Leser aus, sowie über ihre Offenheit, das Schicksal und das Geheimnis des Lebens, das das Werk beinhaltet und sein Empfinden in einem
anderen Bewusstsein, zu teilen.
Am Ende ist ziemlich oft die Rede
davon, dass wir nach all dem suchen,
wonach auch Simi}s Helden suchen.
Und vielleicht ist die Lebensweisheit
Die Wahl eines Kritikers
so einfach (und so komplex) wie die
alte persische Weisheit, auf die sich
sein Großvater in der ersten Geschichte berief: Was muss ein Mensch im
Leben machen, um es sinnvoll auszufüllen? Er soll: Eine Familie gründen,
ein Haus bauen, einen Baum pflanzen. So legt auch Roman Simi} sich
und seinen Helden diese archetypi-
Unsterbliche Augenblicke
der Wahrheit und Schönheit
ZVONKO TODOROVSKI: Mandra~ oder die wunderliche Erzählung
über Petar Hektorovi}, einen altkroatischen Feudalherren, zusammengestellt aus sieben ungleichen Büchern
¹„Mandra~ ili ~udesna pripovijest o Petru Hektorovi}u starohvarskom
vlastelinu, slo`ena od sedam nejednakih knjiga“º ¹Lukom, Zagreb, 2005º
Zu der Zeit, als ich dieses Buch las,
führte ich eines Tages ein Interview
mit dem französischen Schriftsteller
Andrei Makine und bei einer seiner
Antworten bin ich sofort in Gedanken zur „wundersamen Erzählung
über Petar Hektorovi}“ zurückgekehrt.
Makine sagte nämlich, dass wir leider
Sterbliche seien und dass ein Buch
der einzige Weg sei, um etwas Unsterblichkeit zu erlangen. Dem Schriftsteller-Sterblichen macht es ein Buch
möglich, sich unsterblich zu fühlen,
schafft aber dabei auch für den Leser
Momente der Unsterblichkeit, Momente der Ewigkeit. Mit einem Buch
lernen wir, wie man sich von der
sterblichen Zeit lösen kann, von der
Zeit der Sterblichen. Und auf einmal
finden wir uns in einem anderen
Zeitrhythmus wieder. Letztendlich
ist ein Buch eine neue Geburt. Weshalb würden Menschen sonst lesen!
Um sich zu unterhalten, sehen sie
Komödien im Fernsehen oder lesen
aber lustige Geschichten. Die Tatsa-
che, dass Menschen Romane lesen,
spricht jedoch von dem Bedürfnis
nach einem Lösen von der Wirklichkeit, von einer Flucht. Ein Roman
ermöglicht uns, unserer Existenz zu
entfliehen, von den sterblichen Menschen zu fliehen. Ich würde auch
noch hinzufügen, dass ein Roman
diese magische Möglichkeit hat, Unsterbliche wieder zu erschaffen, ihnen
manch neues Leben zu schenken.
Und gerade dieser Roman spricht
vom Schicksal eines SchriftstellerSterblichen, der sich bemüht, Augenblicke der Unsterblichkeit, Augenblicke der Ewigkeit zu erschaffen
– da er seiner Sterblichkeit tief bewusst ist. Die eingewobene indirekte Zweihaftigkeit des Motivs – eines
Autors, der über einen Autor schafft
– fügt der ganzen Geschichte von
Unsterblichkeit noch eine weitere
Dimension hinzu. Obwohl, eine Sache ist gleich zu klären: Der Schriftsteller Zvonko Todorovski selbst versteckt sich geschickt, gibt an keiner
181
schen Aufgaben auf. Nur dass der
Großvater nicht wusste, dass die persische Weisheit ursprünglich besagt,
dass man auch ein Buch schreiben soll,
ob man nun, und vielleicht ist das das
wichtigste, verliebt ist oder nicht. Man
kann sich immer in eine Figur aus
einem Buch verlieben. Oder wenigstens in sich selbst als Erdichteten.
Stelle seine direkte Präsenz preis,
überlässt es ganz altmodisch diesem
famosen allwissenden Erzähler, alles
aufzuschreiben, wie es war. Auf der
anderen Seite aber, nachdem der Leser in den Roman hineingezogen
wurde, entsteht wirklich die Atmosphäre einer anderen Zeit, einer Zeit,
in der auch unsere Existenz ein anders
Licht und eine andere Dynamik bekommt. Außerdem ist dieser Roman
unterhaltsam genug, um auch diese
„sündige“ Art des Genusses eines gewöhnlichen Sterblichen zu bieten.
Also, diesen namhaften Feudalherren aus Alt-Hvar treffen wir in einem Moment, als er sich schon in
der Endphase der Erneuerung von
Tvrdalj befindet, eines ungewöhnlichen Baus, der mit seinem kleinem
Arboretum und den obligatorischen
Wasserläufen und Säulengängen darin,
eigentlich als arkadisches ländliches
Anwesen gedacht ist, aber wegen des
in der Mitte befindlichen Turms mit
„drohenden, zackigen, steinernen Zinnen“ aus der Ferne wie eine Festung
aussieht und dazu bestimmt ist, Feinde fernzuhalten. Und ebenso wie das
harte und scharfe Erscheinungsbild
von Tvrdalj täuscht, das in seinem
Inneren eine polierte poetische Weichheit verbirgt, so täuscht auch das Erscheinungsbild seines Herren: Ein
bärtiges Mannsbild in reifen Jahren,
von üppigem Leibesumfang, mit großen und starken Armen und einem
182
RELA
Jadranka Pintari}
strengen Blick – denn sein Inneres
verbirgt eine „Rundheit“, Milde und
Pracht in Details. Es herrschen unruhige Zeiten Mitte des 16. Jahrhunderts im Mediterran und an der
Adria, so zählte unser Held zu seinen
Lebenserfahrungen auch das bittere
Flüchtlingsleben in Venedig, als er
vor dem Ansturm der Türken floh.
Alles in allem ist er ein weiser Mann,
ein verantwortungsvoller und fürsorglicher Herrscher, am häufigsten
gemäßigt in seinen Reaktionen, aber
er erlaubt sich, so ganz künstlerisch
extravagant, Abweichungen unterschiedlicher Natur. Wir sehen sowieso schnell ein, dass alle in seinem
Umfeld an seine Andersartigkeit und
seine Launen gewohnt sind. Außerdem, wie es sich geziemt, sammelte
er einen Kreis von Dienern um sich,
die alle mitsamt „schräge Vögel“ sind.
Das Geleit jedes der sieben Bücher
dieser Inszenierung aus der Zeit der
Renaissance bildet eine Gallerie von
Figuren, denen Leben eingehaucht
wurde, um so gründlich wie möglich alle Nuancen der Zeit und die
Schichten der damaligen Gesellschaft
darzustellen, aber niemals improvisiert oder auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Die erste Reihe der Mis-enScene bilden troztdem Fischer, Bauern, Handwerker und anderes Volk
– deren Gesellschaft der Herr, „Freund
des Volkes“ genannt, gerne genießt.
Ihre Rollen erhielten beispielsweise
auch die Vertreter der arroganten
Aristokraten, Liebhaber der Wissenschaften, Gelehrte, Krieger, Händler. So ganz nebenbei schlendern
auch viele ruhmreiche Namen der
Republik Dubrovnik aus der Zeit
der Renaissance vorbei – entweder
sind sie zu einem richtigen prachtvollen Renaissance-Symposium, mit
dem das Buch eröffnet wird, erschienen – wie Nikola Nalje{kovi}, oder
sie sind mittelbar anwesend – wie
Mavar Vetranovi} oder haben die
Rolle von Petars Freund – wie Jeronim Bratu~evi}. Wenn wir die Entwicklung der Handlung selbst in
Betracht ziehen, die einige Helden
bis in die weit entfernte Krajina, auf
türkisches Gebiet, führt, wird klar,
dass wir den Versuch einer kompletten realistischen Roman-Rekonstruktion des 16. Jahrhunderts im kroatischen Süden vorliegen haben. Dafür
spricht auch das Bemühen des Autors, auf der grundliegenden LiebesKriminal-Handlung unentwegt „fein“,
aber dicht, kleine Bilder aus dem alltäglichen Leben einzuwerfen (wie
zum Beispiel eine ausführliche Beschreibung, wie man zu jener Zeit
Wäsche wusch oder mit Steinen baute oder ein Festmahl abhielt), auf
ungewöhnliche Kuriositäten hinzuweisen (beispielsweise, dass Petar die
Gabel als Essbesteck und gläserne
Trinkbecher in Hvar einführte, aber
auch als erster 1541 Urlaub machte
– was eine sehr lustige Szene mit
den Reaktionen des Volkes ist), eine
Untergeschichte zu einem Thema zu
entwickeln (z. B. der Himmel über
Hvar und der Stand der Sternenforschung), den Geist der Zeit einzuweben (die gesellschaftliche Lage
der Frau, dargestellt durch drei weibliche Hauptfiguren oder das Echo
der Rebellion von Matija Ivani}),
Bräuche zu erklären (wie z. B. dass
ein uneheliches Kind eines Feudalherren anerkannt werden kann, dass
TIONS
aber die Mutter völlig verleugnet
wird, als ob sie gar nicht existiert),
mit Versen (so glaubwürdigen, wie
sie nur Tonko Maroevi} verfassen
kann, der die Sprache und die Insel
bis ins Innerste Mark spürt, und dass
im Geiste von Hektorovi}) oder mit
Dialogen in der Mundart „Starogrojski“ (die Magda Dul~i} „übersetzte“) zu würzen, durch das Kreisen eines Dämons, der sich mal in
Tvrdalj aufhält mal durch die Insel
streift, magisch zu verwickeln. Alles
in allem ist klar, dass dieser Roman
Zvonko Todorovski nicht nur einfach „passierte“, sondern dass ziemlich hingebungsvolle und umfangreiche Forschungsarbeit Mandra~
voranging: Historische, literarische,
ethnographische usw. Außerdem veredelte, keine Kosten scheuend, die
Redakteurin Mirjana [igir die Ausgabe mit einem wunderschönen bedruckten Vorsatz mit der Zeichnung
der architektonischen Rekonstruktion von Tvrdalj und einem Nachsatz mit der historischen Landkarte,
beziehungsweise mit Hektorovi}s
Reise, auf der ja die Idee für sein
Werk Ribanje i ribarsko prigovaranje
(Fischerei und Fischergerede) entstand. Die Autorin beider Zeichnungen ist Magda Dul~i}.
Bevor Sie erfahren, wie Hektorovi}
auf den Titel Ribanje i ribarsko prigovaranje kam, muss gesagt werden,
dass es im Mittelpunkt der Handlung doch nicht um dieses Werk
geht, sondern um den Liebesgesang
Mandra~ – und wenn Sie noch nie von
ihm gehört haben, so haben Sie sich
selbst um den Genuss gebracht. Kurz,
dem unvorsichtigen Hektorovi} stahl
ein Böser das Manuskript dieses Titels, das im Liebestaumel entstand
(nur platonischem, wie es sich für
den Geist der Zeit gehört, denn eine
Jungfrau hat ja sittsam zu sein), und
erpresste ihn mit der Veröffentlichung, denn mit der Veröffentlichung dieser Verse wäre der Autor
entehrt und gesellschaftlich ruiniert.
In den verschiedenen Verwicklun-
RELA
TIONS
gen um Mandra~ helfen Petar seine
Freunde aus dem Volk – gerade die
Fischer, deren wirkliches und wahres Leben er vorhatte zu beschreiben, um ein für allemal die Idee vom
Schäferidyll zu zerstören. Die gesellschaftliche Unziemlichkeit von Mandra~ besteht darin, dass das Werk
Ursa gewidmet ist, Petars junger und
wunderschöner Dienstmagd, in die
fast alle Männer verliebt sind. Doch
außer dass sie schön wie ein Gemälde
aus der Renaissance ist, ist Ursa auch
klug, aufgeklärt und sich selbst treu
(ganz modern? – falsch – denn in
einem diskreten Augenblick wird
sich herausstellen, dass es auf der Insel ein stilles Matriarchat gibt). Sie
möchte schreiben lernen und nachdem er ihr ungewöhnliches Herumstreifen durch die Bibliothek enträtselt hat, beschließt der Herrscher, sie
in dieser Fertigkeit zu unterrichten.
Zum Entsetzen all jener, die meinen,
dass es einer Frau gar nicht geziemt,
sich mit Schriften zu befassen. So,
für eine ordentliche Enthüllung der
Handlung ist das genug gesagt.
Ob es geschlechtliche Parteilichkeit
oder der Einfall einer Kritikerin ist,
werden Sie nicht erfahren, aber ich
behaupte, dass das wirklich Interessante in diesem Roman drei Frauengestalten sind. Das sind drei Herrscherinnen, jede in ihrer Domäne, drei
Lebensprinzipe, drei Pfeiler, die dieses Romangebilde tragen. Obwohl
es scheinbar nicht so ist und die junge Schönheit Ursa sie in den Schatten stellt, ist die wirkliche Stütze für
den Aufbau der Geschichte über den
gestohlenen Mandra~ eine Franziskanerin aus dem Dritten Orden, Schwester Lucija. Die heilige Frau, die zu
Beginn jedes der sieben Bücher (und
ob das ein innerer Monolog, eine
Art Gebet oder ein gedanklicher Brief
ist, ist schwierig zu sagen und auch
nicht wichtig) zu ihrem Herrn Jesus
spricht und ihn vom Feuer ihres
Glaubens zu überzeugen versucht,
aber auch die Begebenheiten, die sich
sich herbeiwünscht oder hervorruft,
Die Wahl eines Kritikers
beichtet. Gelichzeitig ermöglicht sie
so dem Leser einen weiteren Einblick in die Handlung, als ihn die
Protagonisten selbst haben. Lucija
ist, na ja klar, hässlich, hager (magersüchtig? – würden wir heute sagen),
kränklich, ätherisch, düster, ungeliebt,
foltert sich selbst mit Geißelungen
und härenen Gewändern, eine arme
Einsiedlerin, aber auch gefährliche
Verrückte, wenn sie eine Vorstellung
von einer möglichen Etwicklung der
Geschehnisse hat. Die verdammte
Gottesanbeterin ist nicht nur selbstverleugnerisch wie ein Schatten, ein
Nachtgespenst, sondern auch von
der Welt vertrieben, ausgeschlossen
– auch gerade, um heilig zu sein. Ihr
Gegenstück ist die lachende, sonnige, heitere, geliebte, „weltliche“ Ursa
– ein Mädel aus einer Bauersfamilie,
drall, üppig, keck, prachtvoll in ihren Rundungen und Anforderungen
an die Welt. Sie ist auch eine Rebellin
– denn sie lief ihrem Vater davon,
der sie gegen ihren Willen verheiraten wollte, aber sehr sachlich und
pragmatisch in ihren Entscheidungen. Eine Verführerin aber auch kluges Köpfchen – denn sie meisterte
das Alphabet im Handumdrehen und
entschied fürwahr vernünftig, wem sie
ihre Hand reichen würde. Die dritte
Frau ist eigentlich unsichtbar wie ein
Geist, Petars undurchschaubare, aber
mächtige Mutter Katarina, die alte
und kranke Herrin, die aus dem Hintergrund mithilfe ihrer Schachfiguren
(und Sie werden auch erfahren, dass
man gerade zu jener Zeit auf Hvar
lernte, Schach zu spielen) entschlossene, sogar entscheidende Züge unternimmt. Niemals direkt anwesend,
aber die Feudalherrin-Witwe versucht
das Leben ihres Sohnes, der mit ihr
nicht einmal spricht, zu lenken. Wenn
man diesem Dreiergespann noch die
übrigen Inselbewohnerinnen, die Frauen der Fischer oder die betagten Alten hinzuzählt, ist es klar, warum
sich die Männer in den Barbiersalon
als ihrem einzigen geschützten souveränen Territorium zurückzogen.
183
Man muss erwähnen, dass es Todorovski schaffte, den Stil mit dem
Thema des Romans in Einklang zu
bringen, so ist er gleichzeitig klassisch und modern. Er nutzte eigentlich alle zeitgenössischen Möglichkeiten der Romantechnik geschickt, um
über ein uraltes Thema zu schreiben
– ein ebenso ewiges Thema: Menschliche Naturen, Liebe, die Möglichkeit des schöpferischen Bestehens.
Die reiche Sprache und flüssige Syntax sprechen vom Bewusstsein des
Autors, dass das Wort nur ein Werkzeug des Schriftstellers ist und nicht
ein Mittel zum Prahlen. Trotz der eingefügten Dialoge in der lokalen Mundart ist der Text nicht mit Regionalismen übersättigt und somit unlesbar.
Im Gegenteil, diese gelegentliche ungewöhnliche Sprache gibt dem Text eine
wünschenswerte milde Altertümlichkeit und Wunderlichkeit.
Ich würde gerne folgenderweise schließen: Wenn Sie, wie ich, entsetzt sind
von dem Monster, das durch Europa
kreist, dem Monster der amerikanisierten europäischen Geschichte, dem
Monster einer drittklassigen Unterhaltung, die die amerikanische Propagandamaschinerie Literatur nennt,
können Sie aufatmen, denn schon
der zweite einheimische Roman mit
Helden und Heldinnen aus der Renaissance zeigt, dass es hochwertige
literarische Werke über kroatische
Geschichte gibt und man muss das
Publikum „nur“ davon überzeugen,
dass sie besser als das Pulp-Fiction,
das sie uns aggresiv aufdrängen, sind.
Es bleibt zu glauben, dass die Leser
begriefen werden, dass die einheimischen Worte „süßer als die süßeste
Feige oder ein süßer Wein sind“.
Darüberhinaus spricht Petar Hektorovi} zu diesem Thema weise:
„Schönheit und Wahrheit müssen
ein und dasselbe sein! ... Alles andere
ist Lüge und Heuchelei und die Lüge
hat man zu vermeiden, wegen ihres
hässlichen Antlitzes, dass in der Literatur noch sichtbarer als im Leben
ist.“
184
RELA
Jadranka Pintari}
Fallen der Vergangenheit,
die Charon nicht in sein Boot lässt
IGOR [TIKS: Der Elias-Stuhl ¹„Elijahova stolica“º
¹Fraktura, Zapre{i}, 2006, 320 Seitenº
Als Igor [tiks 2000 seinen ersten
Roman Ein Schloss in der Romagna
veröffentlichte, war er (erst) dreiundzwanzig Jahre alt und deshalb nannte ihn die Kritik, trotz aller Lobesworte über künstlerische Leistungen
und die handwerkliche Exzellenz des
Werkes, das von Belesenheit und
Talent zeugt, am häufigsten einen
jungen Schriftsteller, der viel verspricht (insbesondere, da er den Preis
„Slavi}“ des Kroatischen Schriftstellerverbandes für das beste Erstlingswerk eines Autors in Buchform im
Jahr 2000 erhielt). So ganz nebenbei:
In der Zwischenzeit wurde der Roman ins Deutsche, Englische und
Spanische übersetzt und veröffentlicht. In der selben Zwischenzeit erlangte der Autor seinen Magisterund Doktortitel in Philosophie in
Paris und verdiente sich ein gutes
Fellowship in Chicago, an der rennomierten Northwestern University.
Darüberhinaus ist er sechs Jahre später mit einem neuen Buch hier: Igor
[tiks ist (auch weiterhin) ein junger
Schriftsteller, der hält, was er versprochen hat – ich meine, was auch
immer das bedeuten sollte. Er hat
sein dreißigstes Lebensjahr noch nicht
erreicht und hat einen Roman geschrieben, um dessen Komplexität,
Feinheit, Ausgereiftheit, Geschliffenheit ihn viele, deutlich ältere hiesige Autoren beneiden könnten (und
da [tiks aus Sarajevo stammt, gehören dazu ebenso unbestreitbar kroatische wie auch all jene Schriftsteller
die mit ihrer bosnischen Abstammung „angeben“ – ich meine, was
auch immer das bedeuten sollte –
denn eigentlich gibt Igor weder mit
so etwas an, noch mit irgend etwas
anderem, sondern Sarajevo ist einfach seine Geburtsstadt, der Ort seiner Kindheit, der für immer in ihn
eingemeißelt ist, auf vielerlei Arten,
persönliche und familiäre).
Der Elias-Stuhl ist auf gewisse Weise
in erster Linie eine Ode des Autors an
Sarajevo, eine Widmung und Danksagung an die außerordentliche Stadt
(die Kulmination davon ist, wenn
beseeligte Schauspieler und ein erlesenes Publikum beim Premierenempfang unter Kerzenschein Verse
deklamieren, die Der Stadt als solcher gewidmet sind, der belagerten
Stadt, dem Sarajevo von Durell und
seiner Nachdichtung von Kavafis Die
Stadt), eine Begleichung der Schuld
an seine Wurzeln und ein Entreißen
dem Vergessen, von dem was sie
war. Im Sinne der Besonderheit Der
Stadt und der Menschen darin, ihrer Historie und deren persönlicher
Geschichten (sogar autobiographischer Elemente und auserwählter
Details aus der Familienchronik).
Hier öffnet sich die zweite Schicht
der Motive – die Problematisierung
der Identität – eines unversiegbaren
Themas jeder Zeit, die Flüchtlinge
schafft, aber das Absurde besteht
darin, dass wir das noch von den
griechischen Mythen verfolgen können, also ist die Rede von einer ewigen Frage. Wahrscheinlich lässt auch
[tiks gerade deswegen mythologische Motive und Erzählungen einfließen, vornemlich von Ödipus und
Odysseus, und spielt mit dem Hades
und seiner Styx, und verleiht dem
Roman stellenweise die Atmosphäre
einer antiken Tragödie, nicht nur
wegen des tragischen Schicksals der
Protagonisten sondern eigentlich we-
TIONS
gen der Unmöglichkeit irgendwie
selbst auf ihr Schicksal einzuwirken,
das Ruder ihres Schiffes zu übernehmen – denn ihren Weg bestimmten
einst irgendwelche Götter. Auf der
dritten Ebene, ornamental aber unprätentiös, doch sagen wir mal „voluminös“ und systematisch, eingewoben
in diverse Geschichten innerhalb der
Grundflusses, in den Mund einiger
Protagonisten und Episodisten gelegt, kann man den Wunsch des Autors und sein Bedürfnis herauslesen,
seine philosophisch-soziologisch-politologische Sicht der Zeit, über die
er schreibt, auszulegen, der Zeit, die
vergangen ist, der Zeit, in der er sich
selbst befindet, seine Einsichten über
die Beständigkeit der Menschen durch
die Zeit auszubreiten. Im Geiste jener großen Tradition des europäischen Romans als dem Erbe von
Cervantes, über die Kundera sprach
oder worauf Hermann Broch hinwies (man sollte „... entdecken, was
nur ein Roman enthüllen kann, ist
der einzige Grund, warum ein Roman existiert. Ein Roman ist unmoralisch, der nicht ein bis dahin unbekanntes Teilchen der Existenz enthüllt. Erkenntnis ist die einzige Botschaft eines Romans.“), bietet Igor
[tiks kühn, verständig, mit sicherer
Stimme seine Antworten auf die Frage „was ist die menschliche Existenz
und wo befindet sich ihre Poesie“
(Zitat von Kundera); anders gesagt,
er verleiht seinem Romangebilde philosophische Grundfeste, was jedoch
heute kaum noch jemand macht,
insbesondere in Kroatien, denn, um
das zu erreichen, muss man viel lesen
und viel nachdenken und dafür hat
niemand Zeit, denn alle wollen auf
die Schnelle etwas „über die Bühne
bringen“ und Erfolg haben. Die Körnchen seiner vielseitigen Lektüre, die
schon (ja, schon – denn er ist noch
nicht mal dreißig!) Dimensionen einer bewusst entwickelten Erudition
erreichen, sind durchdacht verstreut
wie Kieselsteine auf einem Weg, den
RELA
TIONS
er dem Leser teilweise, aber unaufdringlich genug, damit der, der will,
sie einfach überspringen kann (und
dabei in demselben Wald bleibt, d.
h. der Geschichte, mit all ihren zahlreichen Seitenwegen und Abzweigungen), markieren möchte. Er hat
deshalb keineswegs zufällig als seinen Helden einen europäischen Intellektuellen mit verborgener jüdischer Abstammung (väterlicher- und
nicht mütterlicherseits!) gewählt, der
den Sinn seines Seins und sich selbst
in Sarajevo 1992 sucht, in dem die
schiere Möglichkeit eines Bestehens
der Andersartigkeit gefährdet ist.
Irgendwo im zweiten Drittel des Romans erklärt ein Jude in einer beeindruckenden Metapher, wie die Dinge eigentlich stehen – mit der Abstammung, Identität, Suche, leeren
Sehnsüchten. Seine sephardischen
Vorfahren haben nämlich vor langer
langer Zeit den Schlüssel ihres Hauses, das sie in Córdoba abgeschlossen
hatten, mit nach Sarajevo gebracht
und dieser Schlüssel wird von Generation zu Generation weitergegeben.
Der letzte Träger des Schlüssels in
Sarajevo kennt sein Geheimnis: „Wie
wäre es, den Schlüssel in das Schloss
seines Hauses zu stecken und einzutreten – der unerfüllbare Traum der
Vertriebenen! – wieder nach Córdoba
zurückzukehren? Wären wir glücklicher? Ich frage mich, würde uns dieser Sarajever Schlüssel dann, viel weniger alt, aber trotzdem der Schüssel
eines unseren Hauses, in der Tasche
drücken, würde uns dieses Córdoba
fremd erscheinen und würde uns
nicht eine neue Nostalgie quälen,
während wir geboren würden und
erwachsen werden würden mit einem
neuen Schlüssel als Erinnerungsstück an die Wand gehängt? Vom
Haus in Córdoba wird so lange geträumt bis man es betritt, ebenso wie
man diesen Schlüssel als größte Kostbarkeit bei sich trägt, solange er nutzlos ist, solange er keine Tür öffnet.“
Und hier landen wir endlich bei der
Die Wahl eines Kritikers
Geschichte, die mit ihrer magischen
Fabel Lesern, die auf der Suche nach
der Aufregung der stufenweisen Enthüllung von Geheimnissen (und Verbrechen) sind, beste Unterhaltung
verspricht. Es ist schwer, höflich zurückhaltend beim Nacherzählen dieses, um Platonow zu paraphrasieren
könnte man sagen, Hauptflusses der
Lebensstromschnelle zu sein, ohne
in stehende Flussarme einzudringen
und nicht einige wichtige Elemente
zu enthüllen, aber hier kommt ein
parteiisch unbeholfener Versuch. Die
Hauptfigur, die in keinster Weise
irgendeinem Ihrer Nachbarn ähnelt
oder ähneln wird, ist ein österreichischer Schriftsteller, der in Paris lebt,
namens Richard Richter, seinerzeit
fruchtbar, erfolgreich und preisgekrönt, aber in einer längeren Phase
der kreativen Ohnmacht. Im Alter
von fünfzig, das er wie eine Last von
mindestens achtzig empfindet, mit
einer gescheiterten Ehe und überkommen von der Sinnlosigkeit seiner weiteren Existenz, setzt er sich in
einen Zug und kehrt in eine Geburtsstadt und die Stadt seines Erwachsenwerdens, Wien, zurück. An
der alten Adresse der ehemaligen k.
u. k. Hauptstadt, in der geräumigen
185
Wohnung und ihrem winzigen bürgerlichen Leben, empfängt ihn dort
mit offenen Armen Tante Ingrid, die
ihn wie ihren eigenen Sohn aufgezogen hat. Richards Mutter Paula starb
nämlich bald nach seiner Geburt
1942 und sein Vater Heinrich Richter ging in den Krieg, aus dem er nur
ein paar Mal zurückkam, um seinen
Sohn zu sehen und beging schon bald
Selbstmord. Richard wurde von Ingrid, der Schwester seiner Mutter
aufgezogen und sie impfte ihm diese
Geschichte vom Tod seiner Mutter
und der Ohnmacht seines Vaters, in
der er die Hand gegen sich erhob,
ein. Nachdem er sich wieder in der
Wiener Wohnung eingerichtet hat,
beschließt Richard für seine Arbeit
an einem neuen Roman zwei Zimmer umzubauen, reißt die Wand hinter der Bibliothek ein, findet einen
kleinen verborgenen Safe und im
Safe nur ein blaues Heft. In dem ein
halbes Jahrhundert lang eingemauertem fatalen Heft liegt ein nicht abgeschickter Brief seiner Mutter Paula,
der an die Liebe ihres Lebens und
den Vater des Kindes, das in jenem
Augenblick in ihr wächst, gerichtet
ist und der Name dieses Mannes ist
Jakob Schneider. Sie hat ihn 1941
als kommunistischen Aktivisten im
geheimen Kreis der anti-nazistischen
Intellektuellen, den ihre Schwester
Ingrid versammelte, kennen gelernt.
Er war Jude und stammte aus Sarajevo. Sie haben sich verliebt, aber er
ist von der Gestapo verhaftet und in
ein Lager gebracht worden, so dass
sich jegliche Spur von ihm verliert.
Richard beschließt den Brief demjenigen zu übergeben, an den er gerichtet ist und so seinen biologischen
Vater kennen zu lernen – denn außer
seiner Schaffenskrise und MidlifeCrisis überkommt ihn nun auch noch
eine Identitätskrise. Für einen sensiblen mitteleuropäischen Intellektuellen, einen engagierten Schriftsteller, eine einsame Seele ist das eine
fast unerträgliche Situation. Deswe-
186
RELA
Jadranka Pintari}
gen muss er die Wahrheit kennen,
eine Antwort erhalten. Seine einzige
Spur führt ihn nach Sarajevo, wo in
diesem Frühling 1992 der Krieg entbrannte. Er kommt nach Sarajevo
als Journalist, gibt aber schnell den
informativen Journalismus auf, weil
er sich, neben seiner Suche, in anspruchsvolleren Texten mehr für Die
Stadt engagieren möchte. Dabei ist
ihm sein neu erworbener Freund eine
große Hilfe, der junge Übersetzer Ivor
(eine Figur, die viele autobiographische Elemente beinhaltet und dabei
spielte der Autor gekonnt und rätselhaft mit Details), in dessen Wohnung er auch einzog. „Er war, wie
ich ihm später sagte, als wir uns näher gekommen waren, das Abbild
eines Brooklyner Intellektuellen, der
gequält ist von den Versuchen das
Leben um sich zu verstehen, mit
nicht definierten Wurzeln und konfusen linksorientierten Einstellungen.“ Im Augenblick als er die wunderschöne Schauspielerin Alma kennen lernt und während er auf eine
Sarajever Theaterbühne Frischs Homo
Faber bringt, stellt er den Sinn einer
solchen Tat und die Bedeutung gerade dieses Textes in Frage, wobei
Richard immer stärker ahnt, dass
„Namen nie zufällig sind“ (Richard
– der Richter, Jakob – der Schneider,
Alma – die Seele usw.). Da beginnt
die Inszenierung seines Schicksals:
Darin vermengen sich ebenso Elemente des Geschicks von Herrn Faber,
wie auch die neue Version der Ödipus-Geschichte und Odysseus’sche Lösungen. Bei einem Besuch in der alten Synagoge von Sarajevo setzte er
sich unwissentlich auf den EliasStuhl, auf den Beschneidungsstuhl –
worüber ihn in einer prophetischen
Szene eine der beeindruckendsten
Romanfiguren informiert, der wundersame Alte Simon und wie man
später erfährt, der Träger des Schlüssels aus Córdoba, auch selbst einst
von Beruf Richter, der mehr versteht
als er ahnen lässt. In diesen paar
Wochen, von Mai bis Juli, sind für
Richard eigentlich fast alle Begegnungen schicksalsträchtig und unvermeidlich. Wenn Alma zu ihm sagt
„Destiny is the most powerful coincidence of all“, spürt er in seinem
Inneren ein stärkeres Brennen als
nötig, da es sich um den Werbeslogan für die Filmversion von Homo
Faber handelt. Denn Richard kennt
schon tief in sich das ganze Gewicht
der Wahrheit über das Schicksal als
mächtigsten Zufall. Es gibt nämlich
keine Zufälle und während er die
schönsten fünf Tage der Liebe durchlebt, befindet sich sein Schicksal
schon im Prozess einer tragischen und
tragödienhaften Auflösung. Nachdem
er also die Geschichte des Schlüssels
gehört hat „... fragte ich mich, suche
nicht auch ich eigentlich das Schloss
eines Hauses, dessen Schlüssel ich
verborgen hinter der Bibliothek unserer Wiener Wohnung gefungen
habe, einen Schlüssel, den ich jetzt in
alle Schlösser stecke. Sollte nicht dieses Haus, dieses väterliche Haus, dessen Existenz ich entdeckt habe, verschlossen bleiben und sein Besitzer,
wenn es noch einen darin gibt, ungestört?“ Mehr darf man nicht sagen,
um dem Leser den Genuss bei der
Entdeckung der Geschichte zu nehmen, man kann nur noch hinzufügen, was sowieso von Beginn an klar
war: Ja, Richard hat seinen Vater
gefunden, ist wie Ödipus gestorben
und am selben Tag geboren worden.
Um sich danach im wörtlichen Sinne das Leben zu nehmen.
Die ganze Geschichte erzählt uns
nämlich Richard, er schreibt im Zimmer eines Wiener Hotels, während
ein Revolver in Reichweite liegt, mit
dem er, nachdem er seine Erzählung
zu Ende gebracht hat, Selbstmord
begeht, weil er eine uralte Sünde begangen hat, die man nicht sühnen
kann, für die es keine Vergebung
gibt. Der Schriftsteller, der seinen
letzten Roman schreibt, verwandelt
sich erst im Epilog in den Protago-
TIONS
nisten Schriftsteller, der dieses Manuskript als wertvollstes Erbstück einem anderen Schriftstellerfreund anvertraut, damit der mit dem Manuskript tue, was ihm sein Gewissen
auferlegt. So liefert Ivor, der Erbe
des Manuskripts, letztendlich das
endgültige Bild vom Schicksal aller
Figuren, während er fleißig übersetzt
und somit eigentlich das letzte Werk
seines schon lange toten Freundes neu
schreibt, dem er alle Sünden vergibt.
Diese Form zum „Einschlagen“ eines Romaninhaltes ist zwar gut bekannt und oft gebraucht, aber [tiks
schaffte es, sie in einigen originellen
Elementen frisch und wieder anders,
dynamisch, zu gestalten. Doch im
Gegensatz zu seinem ersten Roman,
in dem er Sparsamkeit in der Ausdrucksweise und Knappheit des narrativen Gewebes wählte, ist er im
zweiten zergliedert, er mäandiert, wirft
Digressionen ein und durchdachte
Wiederholungen (insbesondere wenn
es sich um innere Monologe der
Hauptfigur handelt, wenn er sich
innerlich zerreißt, beschuldigt, wenn
er sich nicht mit dem Unvermeidbaren abfindet). Wie damals auch, so
hat er auch jetzt gezeigt, wie eine
Geschichte in der Geschichte aus
unterschiedlicher Zeit und Umgebung geschickt einzufügen ist, aber
mit einer verblüffenden, selbstverständlich nie ausgesprochenen, Pointe – denn darin liegt wieder der Kern
des Romans: Mittels der Figuren bis
zum schieren Ende existenzielle Themen zu erforschen. Außerdem ist es
interessant, mit welcher Leichtigkeit
er zwischen der ersten und der dritten Erzählperson wechselt, ohne dass
das den Leser verwirrt und in keinem Augenblick lässt er ihn an der
Eingeweihtheit in die Geschehnisse
zweifeln. Ebenso gleitet er von einer
Zeit in die andere, aus der Wiener Zeit
der Chronikschreibung in die Zeit
des Geschehens in Sarajevo, von den
Sarajever wertvollen Stunden in die
abgezählten Wiener Minuten, un-
RELA
TIONS
unterbrochen in einer Art räumlichzeitlicher Zick-Zack-Flucht – wahrscheinlich, um der Kugel auszuweichen, von der er weiß, dass er ihr
nicht entkommen kann. Und obwohl der Leser schon bald ahnt, was
am Ende geschieht, bleibt von entscheidender Wichtigkeit das: Wie es
geschieht. Und dieses wie schildert
eine glaubwürdige Stimme, die Stimme eines Menschen, der alles, was
ihn getroffen hat, wiederholt durchlebt, so erkennt man, wenn er tief
erschüttert ist, wenn er vor Liebe hingerissen ist, wenn er ein Beobachter
auf dem Kriegs- und Geschichtsschauplatz ist, wenn er beseelt von
der Atmosphäre ist, gerührt, aufgebracht, entsetzt. Kurzum, [tiks schaffte es, seinem Erzähler die glaubwür-
Die Wahl eines Kritikers
digen Farben einer vollen menschlichen Stimme zu geben.
Alles in allem ist Der Elias-Stuhl
sicherlich das Literaturereignis des
Jahres, ein großer Roman unserer
Tage aus der Feder eines reifen Schriftstellers (oder wie es einmal Emerson
wundervoll sagte: „Das Talent allein
macht noch keinen Schriftsteller.
Hinter dem Buch muss ein Mensch
stehen.“), der nicht nur etwas über
den Zustand der menschlichen Existenz zu sagen hat, sondern die Fähigkeit besitzt, das in ein Kunstwerk
von dauerhaftem Wert zu verwandeln. Vielleicht wäre es marketingtechnisch nützlicher, im Geiste der
amerikanischen Klappentexte, etwas
Marktschreierisches zu sagen wie:
unbedingt lesen, elegant geschrieben
Das Geheimrezept für Glück
IVICA PRTENJA^A: Gut ist es, schön ist es ¹„Dobro je, lijepo je“º
¹Profil, Zagreb, 2006, 151 Seitenº
Ich weiß nicht, ob Sie schon den
Spruch gehört haben, dass glückliche
Menschen nicht jene sind, die in einem bestimmten Gefüge von Umständen leben, sondern eigentlich
jene Menschen, die eine bestimmte
Summe von Standpunkten haben.
Irgendwo als Hintergedanke, oder
wenn man alle Schichten des zivilisatorischen Gewandes abschält oder
in den tiefen möglichen Bedeutungen und Assoziationen, ist das eigentlich jene (manchmal fatale, denn,
zum Teufel, sie hängt ja vom Kontext ab) Idee von Dostojewski, dass
ein Mensch frei/glücklich sein kann,
ohne Rücksicht auf Umstände, sich
einkapseln kann in sein geschlossenes Universum und in einem „toten
Heim“ oder einer „Unterwelt“ seinen eigenen Wirkungsraum finden
kann, in der Abgefundenheit mit
sich selbst. Jedoch wie sehr auch
immer edel, erhaben, tröstend, idealistisch gefärbt so ein Streben sein
sollte, beinhaltet es notwendigerweise einen gewissen Hauch eines
fatalistischen Akzeptierens der Wirklichkeit; wie sie auch sein mag. So
etwas ist nur selten vertraut jemandem, der eine breite humanistische
Ausbildung im Geiste der westlichen
Zivilisation besitzt, jemandem, der
vielleicht auch unbeabsichtigt etwas
vom Geiste Decartes, dem Argwohn
Humes und einer dialektisch versprochenen heiteren Zukunft aufgesogen hat. Die Zeit des passiven
187
und weise, aufregend und unvergesslich, faszinierend und suggestiv, außerordentlich und unübertrefflich, aber
ich würde lieber im Geiste jener großen europäischen Tradition enden,
die dieses Werk so schön fortsetzt,
und einen Gedanken aus dem Roman anführen: „Die Vergangenheit
ist eine Falle... und lassen wir nicht
zu, dass sie, diese fatale Vergangenheit, unsere Leben lenkt. Nicht nur
auf einer individuellen... sondern
auch auf einer kollektiven Ebene.“
Richard half es nicht, wird es uns
helfen? „Vielleicht ist gerade das der
Zweck des Schreibens – die Befreiung
von der schweren Last, die Charon
nicht in sein Boot lässt. Und ich
muss bald über die Styx.“
Aufgebens ist vorbei, ebenso wie die
Zeit des aktivistischen Bemühens
nach einer Veränderung der Welt.
Jetzt will eine aufgeklärte Persona das
Maximum ihres Glückes in den gegebenen Umständen verwirklichen.
Was auch immer es sein mag. Das
moderne Individuum erwartet viel
von sich und dem Leben – und ist
deshalb manchmal unglücklich (was
sowohl ein Eufemismus für den Zustand verzweifelter Niedergeschlagenheit sein kann, als auch eine Übertreibung für die think pink Jünger
verschiedenster Provinienz und die
übrigen natürlich oder erlernt Jovialen), manchmal scheint es ihm, als ob
das Leben einfach nur ungerecht zu
ihm ist, manchmal, dass er nicht genug
für sein Leben getan hat, manchmal,
dass ihm viel mehr zusteht und dass
das irgendwann mal kommen wird...
Wenn wir uns dabei ertappen, wie
wir irgendwie dämlich oder wehleidig in einen imaginären Kalender
188
RELA
Jadranka Pintari}
vergeudeter Tage starren, Kombinationen von Konjuktiven der Vergangenheit verschieben und von den
Konjuktiven des Futurs erwarten,
dass sie zu Fakten der Vergangenheit, unserer begehrten, werden. Kurz
gesagt, von der Generation unserer
Großmütter und Großväter erwartete man, dass sie ein gesellschaftliches
Muster ihrer Klassenangehörigkeit
erfüllen, dass sie „wie der Vater, so
der Sohn“ sind, Kinder gebären, sie
ausbilden lassen und auf das Leben
vorbereiten. Und diese Kinder sollten überdies nach Möglichkeit noch
eine Stufe höher auf der Gesellschaftsleiter steigen und ihren Nachkommen die Türen öffnen in ein – alles in
allem zeigte sich – strahlendes aber
unvorhersehbares und letztendlich
geheimnisvolles Morgen... in dem
sie, konfrontiert mit den Auswirkungen der beschissenen (Verzeihung!)
Globalisierung, einfach das finden
mussten, was sie anders, besonders,
einzigartig und einmalig macht...
Und so, verflixt noch mal, wenn du
nur etwas Grips und die Nase in ein
paar Bücher gesteckt hast, hast du
die Arschkarte gezogen – denn du
bist, auf einmal, unangepasst. Es ist
jedoch nicht vollkommen klar wem
und woran, aber du fühlst dich auf
einmal so (um nicht gar von der Peinlichkeit eines eventuell angehafteten
Etiketts mit diesem Zeichen zu reden).
Du wirst keinen Job finden, weil du
deinen inneren Drang gefolgt bist
bei der Wahl des Studiums, du wirst
auf einige Kompromisse nicht eingehen, von denen du spürst, dass sie
dich erniedrigen, du wirst einige Grenzen nicht überschreiten, weil du weißt,
dass sie nicht die deinen sind. Und
so findest du dich letztendlich in einer Patt-Position wieder. Jedoch, um
nicht weiter zu soziologisieren, ist es
doch möglich, da raus zu kommen
und seine Dosis Glück zu finden, seine Portion Gutes und sein Stückchen
Schönheit. In diesem Rahmen wandeln die Helden dieses Romans.
Schon nach ein paar (und alle sind
kurz, so richtig für einen Atemzug
des Lesens) Kapiteln von Prtenja~as
Roman dachte ich, dass der Text,
obwohl offensichtlich ausgearbeitet,
jene Saftigkeit besitzt, die aus einer
Biographie d. h. vielen erworbenen
Lebenserfahrungen stammen. Es gibt
nämlich Schriftsteller, die ein gewisses Talent für, sagen wir es mal vereinfacht, eine Glattheit der Worte
haben und nach amerikanischen Modellen aus den Workshops für kreati-
ves Schrieben Methoden erlernen
und danach Texte schaffen, die schön
klingen aber hohl und leer und unfruchtbar sind (sogar ungeachtet dessen, ob es sich um Prosa oder Poesie
handelt), denn ihnen selbst ist nichts
(tja, nicht einmal Interessantes, geschweige denn Ungewöhnliches, sie
sind einfach das, was wir – langweilige Menschen nennen, aber leider mit
einer, falschen, Ambition, weil solche nicht einmal fremde, aufgelesene oder gestohlene Erfahrungen erfolgreich fiktionalisieren können) im
Leben passiert, weil sie selbst wie
Junk Food sind: Sie sehen attraktiv
aus, sind perfekt steril, aber eigentlich ungesund und liefern leere Kalorien, darüberhinaus schmecken sie
TIONS
– igitt – immer gleich. Es gibt jedoch
auch Schriftsteller, die deben dem
Talent für die Glattheit der Worte
und das Hantieren mit den Geheimnissen des Handwerks „das gewisse
Etwas“ in der Biographie haben, wodurch sie anders sind, vielleicht nur
etwas Bizarres, sie haben eine Handvoll vielseitiger Erfahrungen gesammelt (egal wobei: beim Wechseln des
Berufs oder der Frauen), sie mussten
im Leben für etwas kämpfen und sich
anstrengen (Arbeitsplatz oder erstes
Buch), waren irgendwo an irgendeinem Rand, lassen sich nicht in eine
Form zwängen, es gibt immer etwas
„Schmutziges“ in ihnen, sie haben
Würze, sind immer anders. Es ist
klar, dass Ivica Prtenja~a zu den Letzteren gehört. Und ich weiß nicht,
worin sein Geheimnis liegt (oder
Haken): In den vielen diversen Jobs,
von denen er behauptet, sie in seinen
siebenunddreißig Jahren gehabt zu
haben (vom Bauarbeiter bis hin zum
Galleristen)?; in seiner ursprünglichen dichterischen Orientierung, die
von dem, der die Feder zur Hand
nimmt, „Blut, Schweiß und Tränen“
verlangt und nichts als Gegenleistung bietet?; in der Schlauheit und
Scharfsinnigkeit eines „Kerls“, der
bei abgeschlossenem Studium der
Kroatistik als Bibliothekar arbeitend
auch, huch, so unliterarisch trendy,
die PR für einen großen Verleger
machte, die „Formel“, die heute zieht,
durchschaute, d. h. den Code des
kroatischen Bestsellers unserer Tage
knackte. Was auch immer es ist, es
ist nicht mehr wichtig, denn – es ist
hier, es ist erfolgreich: Gut ist es,
schön ist es.
Dem Erstlingswerk in Prosa (denn
in der Poesie hat er sein Geschick
schon bewiesen) von Ivica Prtenja~a
zufolge, gebürtig aus Rijeka, in Zagreb arbeitend, sieht es so aus, als ob
er auch seine Prosa-Delikatesse fantastisch zubereitet hat: Er hat es nicht
nur geschafft, das Rezept zu enträtseln (durch den Konsum von auf
RELA
TIONS
dem Markt erhältlichen Lebensmitteln dieser Art, wie zum Beispiel dem
ebenso bezaubernden wie auch erfolgreichen Roman Liebe ist alles vom
in Zagreb ansässigen Kre{imir Pintari} aus Osijek), sondern er fügte
wie ein richtiger Chefkoch etwas einzigartig Eigenes hinzu, passte das
Rezept sich und seinem Geschmack
an, änderte inventiv die Zutaten ab
und kreierte einen delikaten Happen. Lesbar, süffig, schmackhaft, verdaulich, sättigend.
„Die Nacht glitzerte wie Fischschuppen auf einer Zeitung, vermischt mit
Blut und Eigeweiden, ich hörte bis
spät in die Nacht Radio, schlief unglücklich ein.“ – einer der Sätze aus
dem Buch, mit dem mich Chefkoch
Prtenja~a „gar machte“ (diese kulinarische Metapher ist keine Launenhaftigkeit ohne Hintergrund!) ist nicht
nur ein einfacher „Verräter“ eines
Dichters, gefangen in einer ProsaFalle, sondern ist die Aussage eines
Prosaisten, dem der Poet vielleicht
sein Alter Ego ist, sie aber nicht zerstritten sind. Sein Held, der in der
ersten Person erzählt, was ihm zugestoßen ist, seit er in einer Zagreber
Buchhandlung zu arbeiten anfing,
weil er in Rijeka keinen Job fand, bis
zu dem Tag, als er beschloss, sein
amourös-sexuelles Abenteuer mit der
jugendlichen Nachbarin ad acta zu
legen, ist eine überzeugende und glaubhafte Stimme einer jungen Person
mit humanistischer Bildung aus der
de facto nicht existierenden mittleren „Schicht“ (tja, wie sie uns unser
Kampf gab, denn wir verschmähten
die Klassen), die ihren kroatischen
Alltag des ersten Jahrzehnts des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebt.
Durchdacht oder nicht, diese Note
des Gesellschaftlichen ist trotzdem
diskret, obwohl sie in ihrem Bouquet
schichtweise interessant ist, beispielsweise in den skizzierten Nebenfiguren: Vom reichen Zagreber Arzt, über
den Bücher stehlenden Junkie, bis zu
den falsch beurteilten Kolleginnen
Die Wahl eines Kritikers
am Arbeitsplatz oder der scharfen
Abschätzung der oberflächlichen Zagreber Schickeria („Sie haben gepflegte Fingernägel und teure Handys, teure Haarschnitte, viel MakeUp und sagen ununterbrochen fuck
und motherfucker. Das dient ihnen
als Krücke, damit sie darüber nachdenken können, welches der fast hundert Wörter, die sie kennen, sie verwenden möchten. Super, super, super, so erklären sie etwas Gutes, Schönes oder auf irgendeine Weise Faszinierendes.“). Tja, aber man kann das
auch in der Menge des auf diesen
Seiten getrunkenen Bieres spüren...
Also, in seinem vierunddreißigsten
Lebensjahr kommt der Desperado,
der beweisen will, dass das Schicksal
nicht eine Frage des Zufalls sondern
der Wahl ist, in die Metropole, um
den Job eines Buchhändlers in einem Buchladen, mit einer Kollegin,
die einen Schriftsteller-Freund hat
und einer hübschen etwas jüngeren
Chefin mit schönen Schlüsselbeinen
und einem problematischen Freund,
anzunehmen. Außerdem ist er, welch
ein Elend!, Untermieter, zeitweise
„Palle allein auf der Welt“ (... in mir
wuchs nur der Gedanke, wie es möglich sei, dass ein Mensch alleine stirbt,
auf so eine erbärmliche Weise, dass
er sich nach einem Saufgelage verschluckt... Und dass es überhaupt
niemanden gibt, der kommt und an
die Tür klopft, hineingeht und die
Lage rettet.“), ein Sensibler, der früh,
und interessant genung für ein Romanereignis (in einer katholischen
patriarchalen Umgebung), erkannt
hat, dass der Weg zum Herzen einer
Frau über sanft (hmm: reumütig) gesprochene Worte der Bitte nach Vergebung führt, d. h. mit dem Geständnis, dass der unfehlbare Mann trotzdem gesündigt hat, ein Hedonist, der
„Sinn für Humor, Eros, Verstand,
Gutes und Schönheit“ liebt, obwohl
er immer zuerst an Bier denkt. Aber
man kann ihm alles verzeihen, denn
er ist einer von jenen, boshafte Men-
189
schen sagen, man kann sie an einer
Hand abzählen, Sonderlingen, die
das Dritte Programm hören („Interviews mit ausländischen Schriftstellern und bildenden Künstlern. Ich
ertaste, was ich liebe: Melancholie, ein
trauriges In-sich-ruhen, das Abenteuer des Schaffens. Von den meisten dieser Leute höre ich zum ersten
Mal im Leben. Ich höre Poesie.“) und
sogar die Nuancen und die (Un)Kultiviertheit in der Stimme eines Radiosprechers erkennen („Der Sprecher
hatte eine wunderbare Stimme, alte
Zagreber Schule, wunderbar anzuhören, auch wenn er über die Problematik des Druckens von Telefonbüchern sprechen würde.“). Jemand mit
solch einer Provenienz könnte bemerken, dass, wie die weiblichen
Literaturheldinnen von einst, dieser
Mordskerl zugibt, dass er insgeheim
im Inneren erwartet, dass ihn irgendeine magische Liebe von dieser „Erbärmlichkeit und Abgefucktheit“ retten würde („Alles schien mir ziemlich erbärmlich, irgendwie eng und
abgefuckt. Ich dachte, wenn ich schon
mit jemandem zusammen sein sollte, wird diese Liebe etwas mehr sein“).
Und da ist sie, im wahrsten Sinne
des Wortes, ihm gegenüber! Unser
Untermieter-Buchhändler verguckte
sich nämlich in die schöne Gymnasiastin aus wohlhabender Familie
aus der Wohnung gegenüber seiner.
Schritt für Schritt, Sms hin und Sms
her, du organisierst einen Zufall,
kombiniert mit einigen Zutaten und
Charme. Am Ende bereitete ihm diese zauberhafte, weiche und hingebungsvolle Ema einen „portugiesischen
Nachmittag“ und eröffnete einige
neue Kapitel seines Lebensbuches.
Leidenschaftliche. So nebenbei passiert sein Alltag und er wird Zeuge
der Lebensphasen der Menschen um
sich herum. Er ist wird auch mit
eigenen falschen Einschätzungen konfrontiert. Nicht nur einmal. Aber er
bedauert es nicht und er besticht erneut mit seiner Ehrlichkeit: „Ich schä-
190
RELA
Jadranka Pintari}
me mich. Mein kleines Leben, in
dem keiner, den ich liebte, zu früh
gegangen ist, in dem die Natur auf
gewisse Weise sich selbst folgte und
in dem Dinge ohne Einschnitte passierten, sich aufeinander legten wie
Staub, dieses Leben überschwemmte
mich mit seiner Gewöhnlichkeit.
Genauer gesagt, mit seiner schrecklichen, unheroischen Dumpfheit.“
Aber in diesem Moment, wenn nicht
schon früher, wird Er zu Ihrem Helden – denn sein Leben bis zum Ende
leben, sich selbst und seinen Träumen treu sein, heute und hier, ist
Heldenhaftigkeit, ebenso wie Ehrlichkeit sich selbst gegenüber: „Ich
ziehe viele Schlussfolgerungen und
fälle zu wenige Entscheidungen, aber
so ist es mein Leben lang.“
Aber das ist nicht wichtig, das ist
doch nicht wichtig, Ivica, ein anderer fällt sowieso die wirklich wichtigen Entscheidungen an userer Stelle
– die uns das Leben als solches bestimmen und wir trösten uns mit
dem Dekorieren der Details. Und das
ist gut, sogar schön in seinen schmerzhaften Einzelheiten. Anscheinend ist
es heute weise zu erkennen, wo die
Grenzen dieser schönen, tröstlichen
Momente des Träumens aus den
unschuldigen Jahren, als alles möglich schien, liegen. Wenigstens in den
Fantasievorstellungen im Halbschlaf.
Und erwachsen werden bedeutet
einsehen, dass wir einige Illusionen
aufgeben müssen (denn, zum Teufel, wenn wir mit so einem genetischen Code geboren wurden, bekommen wir ständig neue oder der
Neuerworbenen sind so viele, dass
wir sie niemals los werden) und uns
dem Verlust stellen müssen. Mutig
und entschlossen! Wie das auch Prtenja~as Held tut – resolut und beeindruckend.
In dem Moment, in dem ihm die
sexfreudige und ehrliche junge Ema
zuflüstert: „... Weißt du, ich denke
nicht, dass du schlecht bist, super
bist du, aber du liebst mich nicht.
Wie schön es mit dir auch ist, du bist
trotzdem weit entfernt, entschuldige, aber weißt, irgendwie bist du
durch den Wind.“ – wird er gerettet
und sie beweist wiebliche Schlauheit,
weil sie einen Mann zu wählen wusste, der „immer da ist, wenn ich ihn
brauche und wenn ich ihn nicht
brauche. Und ich hab’ Sex mit dir,
obwohl, so scheint es mir, dass ich
ihn noch mehr liebe, irgendwie schätze ich ihn mehr, wenn ich sehe, wie
du bist, wie Männer sind.“ Ema ist
klug und wählte den Richtigen und
das ist offensichtlich nicht der „auf
jede Art schwierige“ Dichter und
Buchhändler. Er hat sich damit abgefunden und darüberhinaus den Hut
vor ihrer Wahl gezogen.
Das ist also das Neue und so bezaubernd Verführerische in dieser neuen,
verzeihen Sie mir diese so altmodische geschlechtliche Teilung, männlichen (mit einem wichtigen Abgrenzung: Mir, einer Leserin in den mittleren Jahren, die man im „Splendour
in the grass“ überzeugen wollte, dass
es genug sei „bella“ zu sein, und nicht
klug) kroatischen Literatur: Diese
Männer, die zugeben, dass sie Fehler
machen; dass es ihnen leid tut; dass
sie weinen; dass sie träumen; die sich
so enttäuschend hinter, mit der Ausrede, dass ihnen kalt sei, einem über
die Augen gezogenen Schal der eigenen Scham und des Versagens verstecken; die in der Lage sind, der
Welt (und damit „ihrer Mutter“) zu
gestehen, dass sie nicht der einzige
und unwiderstehliche, unverwechselbare und unersetzbare Angehörige
der Art mit dem „Y“ Chormosom
sind (für den Kontext, siehe das Buch
von Steve Jones); diese, nicht wahr,
großen Jungs, die die Hosen voll haben (und alle wissen, das dies ein
Eufemismus für einen saftigeren Jargonismus ist) vor den schieren Tatsachen des Lebens (wie Abtreibung
oder Tod)... Scheibenkleister, wie wir
angeblich anständig sagen würden,
wie erfrischend ist das! Ich hätte Lust,
TIONS
meine Generationsangehörigkeit zu
ändern. Ich meine, sicherlich schulde ich (im Gegensatz zu den Generationen meiner Großmutter oder sogar
Mutter) grenzenlosen Dank all jenen selbstlosen opferbereiten Frauenrechtlerinnen, die uns (neben dem
verleugneten, nicht geschlechstbestimmten gemeinsamen sozialistischen Erbe von Klara Zetkin und
anderen) außer dem Wahlrecht auch
das Recht zur Bestimmung über
den eigenen Körper erkämpft haben,
gleichgültig ob es sich um Karrieren,
Orgasmen oder Abtreibungen handelt. Und ich frage mich, ob solche
Frauen diese Jungs erzogen haben
(momentan fallen mir außer Prtenja~a noch Kre{imir Pintari} und
Roman Simi} ein), die leise und unbemerkt neue Geschlechtsverhältnisse (obwohl man in meiner Jugend
von Geschlechterrollen sprach) einbringen werden, in einer Gesellschaft,
die eingetaucht in eine gewaltsam
restaurierte patriarchale Ordnung
ist, tiefe Spuren auch in er Literatur
hinterlassend, ungeachtet dessen, ob
sie aus der Position des Rockes oder
der Hose geschrieben wurde. Diese
neuen Jungs, um nicht zu sagen jungen Löwen, bringen neue Verhältnisse in ihren Büchern ein: Rechtschaffener sich selbst, ehrlicher anderen, offener Dritten gegenüber (und
das sind wir Leser).
Und letztendlich, wie der Buchhändler mit Gewissen sagen würde, das
ihn bedrückte, als er lügen musste,
um sein Gehalt zu verdienen und,
damit er ein Buch verkaufen konnte,
über „die Wärme des Satzes, die Kunst
des Stils, die Größe des Autors... die
Schönheit der Welt, die sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt...“
sprechen musste – so könnte ich völlig ehrlich und mit ruhigem Gewissen diese Komplimente an Prtenja~as
Roman richten. Doch vielleicht wäre
das nicht vollkommen überzeugend.
Deshalb ist hinzuzufügen, dass Prtenja~a wirklich eine gepflegte Aus-
RELA
TIONS
drucksweise besitzt, frische Metaphern und, so dumm das hier und
heute klingen sollte: Eine schöne
Sprache. Denn er schreibt mit jenem
wunderbaren Kroatisch, das langsam
vor den Tsunamis aus den Fremdsprachen verschwindet, vor der Epidemie des Streichens von diesem und
jenem im Dienste eines unnötigen
und absurden sprachlichen Purismus, vor der verseuchten Mediensprache, die aus ein paar hundert
Die Wahl eines Kritikers
Wörtern besteht, er benutzt sogar
Jargonausdrücke nur dann, wenn der
Kontext stimmt und wenn ihr Gebrauch aus der Situation hervorgeht.
Schau, schau – vielleicht ist es ja deshalb, weil er das Dritte Programm
im Radio hört! Von wegen! Wie auch
immer, aber sicherlich liest er und
hört häufig, jedoch Menschen – denn
alle schönen Welten sind in ihnen
enthalten. Und auch die weniger
schönen. Und weniger guten.
Ein geistvoller Liebesroman
von weicher männlicher Hand
KRE[IMIR PINTARI]: Liebe ist alles ¹„Ljubav je sve“º
¹Profil, Zagreb, 2005, 133 Seitenº
Wenn sie in alten Büchern, Zeitungen, Archiven die Angabe finden,
dass eine Ehe am falschen Ausdrücken der Zahnpasta zerbrach, werden die Jugendlichen von heute nicht
wissen, worum es geht und vielleicht
denken, dass es sich um eine verdrehte Metapher handelt und nicht
grausame Wahrheit ist. Wer erinnert sich noch an die Aluminiumtuben, die sich unwiederbringlich
verformten, wenn man ihren Inhalt
unkorrekt ausdrückte?! Und das war
doch der legendäre Scheidungsgrund!
Tja, nichts ist mehr, wie es einmal
war, wäre die logische Lamentation
in Folge. Doch lasst uns mal sehen,
wie es denn ist, wenn sich Männer
(es geht hier nicht um die statistische
Mehrheit sondern um das künstlerische Motiv und die zusammengesponnene Vorstellung des Alltags)
nicht mehr im Sessel lümmeln, mit
der Zeitung auf der durch Bier und
Sexapstinenz erworbenen Wampe,
nach einer üppigen Mahlzeit, für die
sie nicht schwitzen mussten, während ihre Frau mit Metallwicklern
im Chintzmorgenmantel demonstrativ mit dem Wischer herumwedelt,
um außer dem besoffenen Strauß
(verwelkter Schneeglöckchen) zum
Internationalen Frauentag oder dem
Luxus des Tranchierens der gewerkschaftlichen Schweinehälften am Tag
der Republik ein Körnchen Aufmerksamkeit zu erhalten. Na ja, was auch
immer die, pfui und igitt, gnadenlose Statistik über die Zahl der geprügelten und andersartig misshandelten Frauen sagt, die Literatur berichtet uns trotzdem von Herzen und
zur Freude der (wenigen? oder sind
sie nur an strategischen Orten laut?)
snobistischen intelektuellen Elite, die
aus ganzer Seele den trendigen Kult
des Phantom-Metro/Metasexuellen
promoviert, dass nunmehr andere
Umstände in den Geschlechtsverhältnissen aufgetaucht sind. Ecce homo!
191
„Als kleiner Junge vertrieb ich meine
schwarzen Gedanken und Ängste mit
intensivem Nachdenken und Träumen von schönen und unbekannten
Dingen. Und diese Gedanken trieben immer in zwei Richtungen und
hatten immer Sinn, sie retteten mich
immer, selten schlief ich unglücklich
ein.“ – Werden Sie auch nicht mit
diesem Buch. Im Gegenteil. Das
Glück ist grundsätzlich immer im
Schönen, im Guten.
Oder aber: Es entstand eine Mutation bei den Männern, so dass sie zu
Wesen evoluiert sind, die für die
Bedürfnisse langfristiger Ziele dem
momentellen Trieb aus dem körperlichen und lexischen Deminutiv des
Nomens „Kopf“ Herr werden können. Trendig ausgedrückt: My ass!
Lassen wir, sexistisch gesprochen,
den sexistischen Zynismus und unangebrache Reminessenzen sein, denn,
zum Teufel noch mal, ein altes japanisches Sprichwort sagt: Wer seinen
Feind verschont, wacht in seinen
Armen auf. Geschieht uns recht. Und
so also schreiben Männer (auch einheimische) postfeministische Liebesromane. Na, toll! Und um es noch
schlimmer zu machen, schreiben sie
sie gut. Na, toll! (Da haben sie uns nun
auch noch das Revier weggenommen, tststs...) Es ist zwar so, dass der
rückständige Typ, der einen Arschtritt/Laufpass/Korb bekam, weil er
nicht auf die Ästhetik der Zahnpastatube geachtet hatte, einst den heutigen
Romanprotagonisten als „Sitzpinkler“
bezeichnen würde (wenigstens im flachen Land aus dem der Autor des besprochenen Liebesromans stammt),
und nicht als „Schwuchtel“, der hier
und da kein Verständnis für die triviale Tatsache hat, dass Frauen von
192
RELA
Jadranka Pintari}
der Venus und Männer vom Mars
sind, und sich in ständiger Angst zerfrisst, dass ihn diese Ideale, endlich
Gefundene, trotzdem verlassen wird,
wenn er über ihre Shoppingleidenschaft meckert oder dem Ruf der
männlichen Herde zum gemeinschaftlichen Fußballschauen nachgibt. Nun
ja, wenn es auch Witz ist, ist es doch
zu viel!
Todernst und bei vollem Bewusstsein sage ich, dass Kre{imir Pintari}
(1971), (und seine Frau und Gott
wissen, dass er mit mir weder verwandt
noch verschwägert ist) den ersten lesbaren, scharfzüngigen und interessanten postfeministischen Liebesroman
mit Happyend geschrieben hat. Es
besteht auch ein wunderbarer verlegerisch-literarischer Zufall, dass nur
ein paar Monate zuvor sein Altersgenosse Roman Simi} (1972) Kurzgeschichten veröffentlichte unter dem
Titel In was wir uns verlieben, in
denen er mit zisellierter Einsicht in
den Zustand genannt „Verliebtheit“
oder „Liebe“ eine mögliche soziologische These über das Reifen einer
neuen, anderen Art posfeministischer
Männer, wenigstens in der Literatur, beweist.
Das zweite Prosawerk von Kre{imir
Pintari} (er veröffentlichte drei Gedichtbände und eine Sammlung von
Kurzgeschichten) ist eigentlich eine
Reihe von siebzehn Szenen aus dem
Eheleben einer außerehelichen Gemeinschaft. Genauer gesagt eines
glücklichen Paares, das in diesem seinen Glück so genau Anderen gleicht,
wie es unterschiedlich oder einzigartig ist, macht dieses Buch eben
anders. Den gewöhnlichen Alltag
mit all seinen Banalitäten in ein literarisches Thema zu verwandeln (und
nicht mehr auf der Schiene eines kroatischen Carverjüngers zu fahren? das
hat doch schon die vorherige Generation gemacht, nicht wahr?), da bewegt man sich auf glattem Grund
und der Autor wehrte sich vom
Schlittern ins Melodramatische mit
scharfzüngigem Witz und vom Gleiten in Langeweile mit gnadenloser
Selbstironie. Manchmal vielleicht
sogar mit übertriebener. Manchmal
gar mit selbtbewusstem Kritischsein
(was selbstverständlich contradictio in
adjecto ist, aber so ist so oft die menschliche Psyche). Ein Beispiel dafür ist
die Szene nach einem misslungenen
Einkauf: „Wir gingen schweigend
zum Auto. Ich wollte etwas zu ihr
sagen. Etwas, um ihr zu Verstehen
zu geben, dass ich sie liebe. Dann
blieb sie stehen und sagte mit der
schlichten und ehrlichen Stimme einer Person, der ein böses Geschick
auch die letzte Illusion auf einen
möglichen positiven Ausgang aller
Ungemache des Lebens zerstörte: –
Aber mich macht das Kaufen von
schönen Dingen wirklich glücklich!
Wenn ich ein normaler Typ wäre,
würde ich nicken, den Mund halten
und diese verdammte Spüle kaufen
gehen. Sofort. Auf tausend Raten,
wenn’s sein muss. Aber ich bin kein
normaler Typ. Ich bin ein Wichser.
Und was machen Wichser? Versu-
TIONS
chen normalen Leuten den Spaß zu
verderben. Ihnen das, was sie glücklich macht, zu vermiesen.
Ich holte tief Luft, räusperte mich
und sagte: – Liebling, das bildest du
dir nur ein.“
Also: Aus einem Stoff, der eventuell
seine Mutter oder besten Freund interessieren könnte, aber auch das
nicht in siebzehn Akten, schaffte er
es, einen heiteren Text aufzubauen,
ökonomisch in der Ausdrucksweise
und mit ausgesprochen dynamischen
Dialogen. Fast jede Szene könnte
eine Geschichte für sich sein, und
dass sie einen Roman bilden, der auf
den Bemühungen zweier namenloser Liebespartner im Erhalten der
Beziehung und der Liebe und der
Intimität und des Zaubers des Unbekannten basiert, scheint ein zufälliger Umstand zu sein. Im schnellen
Austausch von Themen, Dialogen,
Überlegungen zu Leben, Fußball, Literatur, Bier, Konsumleidenschaften
u. ä. bleibt der Leser ständig in Spannung, obwohl die einzige „Verwicklung“ eigentlich in der Psychologie
der Protagonisten passiert. Trotzdem, Sie ist diejenige, die wichtig ist,
vergöttert, behütet und betüttelt – Er
ist (nur) hier, um es ihr Recht zu
machen, sich anzupassen, sie zu behüten und zu betütteln. Darin besteht ihr Geheimnis. Darin besteht
auch das Geheimnis des Erfolges dieses männlichen Generations- und
Liebesromans. Leztendlich ist das
einzige, was sie ihm in diesem literarisierten Entblösen ihrer Intimsphäre übel nehmen könnte, dass er sie als
Vegetarier bezeichnet, statt als geschlechtsbewusster Mann zu sagen,
dass seine Frau Vegetarierin ist. Oder
ist das eine winzige „geschlechtliche“
grammatikalische Rache? Für die
Antwort ist trotzdem dieser unterhaltende Roman zu lesen, auch um
herauszufinden, warum Liebe alles
und was alles Liebe ist.
RELA
TIONS
Die Wahl eines Kritikers
Die Zwei gegen alle (Stereotypen)
MIMA SIMI] / IVANA ARMANINI: Die Abenteuer der Gloria Scott
¹„Pustolovine Glorije Scott“º
¹AGM, Zagreb, 2005, 80 Seiten Geschichte + 46 Seiten Comicº
Es war schon vor zeimlich langer
Zeit, als jemand gesagt hatte, dass
man in der heutigen Welt nur dann
absolut originell sein könnte, wenn
man nicht lesen würde und wenn
man viel, viel denken würde. Und
das ist natürlich unmöglich. Deshalb
kann Originalität nur aus dem ehrlichen Bemühen eines Menschen die
eigene einzigartige Erfahrung, die
gleichzeitig unzählige Male wiederholt allgemeinmenschlich ist, in eine
Form umzuwandeln, in der sich basierend auf dem umfassenden Erbe
die Facetten der Persönlichkeit, der
Unwiederbringlichkeit des Moments
und der investierten kreativen Energie spiegelt. Jede Kunst ist eine Form
des Willens und zwar des Willens
nach Fortbestand. Jeder wirkliche
Künstler findet, erdenkt seine Formel dieser Form. Eigentlich ist ja
auch seine Aufgabe eine alte, verbrauchte Form (des Willens nach
Fortbestand) zu finden und sie umzuarbeiten, d. h. sie aufs Neue zu
finden. Wenn nötig, indem er auf
eigene Art die Tradition umarbeitet
und so neue Formen bildet. Eben
das ist gerade hauptsächlich die Methode des gesamten Postmodernismus. Je mehr er versucht die Tradition zu verneinen, desto mehr baut
er auf sie.
Darauf baut auch das Prosa-Erstlingswerk von Mima Simi}: Die AntiAbenteuer der Anti-Detektivin Gloria Scott und ihrer Gefährtin/Gespielin Mary Lambert. Der urbanen
Legende zufolge (die /auch/ die Autorin selbst verbreitet) entstanden diese etwa zwanzig Geschichten während
des Krieges in Zadar – denn: „In
Zadar war es in diesen Jahren wirklich schlimm und das war sozusagen
ein gewisses Ventil für mich. Kein
Strom, kein Wasser, was kannst du
machen? So erfand ich Gloria Scott,
deren Abenteuer ich meinen Freunden vorlas und die immer mehr wollten. Mein Bruder ¹Schriftsteller und
Redakteur Roman Simi}, Anm. d. V.º
überredete mich, sie an ein paar Literaturzeitschriften zu schicken, in
denen sie dann veröffentlicht wurden – so gelangten sie auch in die
Hände der mir bis dahin unbekannten Ivana Armanini. Sie gefielen ihr
so sehr, dass sie anfing, nach ihnen
Comics zu zeichnen und bis zu meiner Rückkehr aus dem Ausland entstand eine ziemlich große Zahl davon.“
Die Legende besagt jedoch außerdem, dass die vervielfältigten Geschichten, die quasi selbstveröffentlicht
wurden, die Runde machten (wo?)
und Kultstatus erreichten. Ivana
Armanini (geb. 1970) jedoch ist eine
nicht gänzlich annonyme Zeichnerin,
sondern die ideele Urheberin des
Projekts K@MIKAZE mit einem Diplom der Zagreber Akademie für bildende Künste. Und so, als sich die
beiden trafen, unter unbekannten
Umständen, zündete die Idee für ein
gemeinsames Werk: Flip oder BuchComic; ein doppeltes Buch – auf der
einen Seite reihen sich die erzählten
Geschichten, auf der anderen Seite
reihen sich die Comictafeln dieser
Geschichten.
Die Geschichten von Mima Simi}
(geb. 1976) sind ein subversiv flippiger und frischer Lesestoff eines
collagenhaft-zitatlichen und parodienhaften postmodernistischen Diskurses (der offensichtlich weder noch
nicht tot noch uninteressant, wenn
inventiv, ist), in dem der Leser in die
Lage gebracht wird, selbst Detektiv
193
beim Suchen von Referenzen und
Antireferenzen zu werden. Im (Nicht)
Lösen ihrer Fälle stößt Gloria Scott
nämlich auch auf Figuren aus Literatur, Film und Fernsehen wie auch
auf ebensolche Plots. Und obwohl
sie auf der Grundlage von Sherlock
Holmes und aller späteren DoyleFortsetzer erschaffen wurde, spiegelt
sie dennoch die comichafte und filmische „Akkumulation“ der Kultur
des 20. Jahrhunderts der Autorin
wider. Des weiteren, indem sie ihr
negative Eigenschaften anhaftete –
Unmoralität, ethische und politische
Unkorrektheit, Überheblichkeit, Dummheit, Drogenabhängigkeit – gab ihr
die Autorin auch einen starken ironischen, gar zynischen Beigeschmack
und Beiton und Beifarbe. Und da sie
eine körperliche Beziehung mit ihrer
Gehilfin Mary Lambert hat, ist auch
ihre sexuelle Orientierung unzweifelhaft bestimmt. Der Legende zufolge, um der freiwilligen Kompromissvereinbarung mit dem Verleger
willen, wurden aus dem Originalmanuskript für den Druck (trotzdem) die saftigen Beschreibungen
ihrer leidenschaftlichen, sinnlichen
Momente herausgeworfen – damit
das Buch nicht als pornographisch
charakterisiert werden konnte. Eigentlich ist Gloria die wahre Verkörperung einer modernen Bitch. In jeder Hinsicht. Sie ist abstoßend ekelerregend sogar auch wenn sie nur
(tja, teilweise sogar nur dann?) in der
Funktion einer Parodie eingebürgerter Stereotypen der heutigen (Medien)Schönheiten und altmodischer
Ekelbatzen der (Medien)Vorstellungen von Feministinnen, hässlichen,
aber gebildeten kalten Zicken ist. So
wird Gloria beispielsweise mir-nicht-dir-nicht einem mutmaßlichen Schuldigen (Mann) das Leben nehmen,
dem alles-in-allem die Schuld nicht
nachgewiesen wurde, Aggresivität demonstrieren, auch wenn es nicht notwendig ist, sich irrational benehmen,
gerade wenn man die absolute de-
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Jadranka Pintari}
tektivische harte Logik erwartet. Was
auch immer ihre Aufgabe war zu lösen – Mord, Vergewaltigung, Diebstahl, Schmuggel, Taschendiebstahl,
unerlaubte Baumaßnahmen – Gloria
ist die Vorgehensweise eines Don
Quijote lieber als die eines Sherlock
Holmes. Sie belastet sich nicht damit, dass sie Unschuldige bestraft hat
statt der Schuldigen. Männer. Die
übrigen sind unwichtig. Übernatürliche Wahrnehmungsmöglichkeiten
dienen dazu, das, was sie gerade anfängt, auf den Kopf zu stellen: Z. B.
schuld an dem zerbrochenen chinesischen Porzellan sind die zu rigorosen unmenschlichen Bedingungen,
die die Einwanderungsbehörde stellt,
deshalb ist die Behörde zu zerstören.
Mitheldin Mary reflektiert andererseits
nur die Eigenschaften ihrer Herrin.
Die Comicstrips von Ivana Armanini haben eigentlich nicht die Funktion von Illustrationen, obwohl sie
teils der Geschichte folgen, sondern
bilden eine selbständige Art der Interpretation der Geschichten. Statt
sich hart an die Faktographie zu halten, entschied sich Armanini für einen expressiven Ausdruck des eigenen Empfindens des Gelesenen. So
besteht sie am häufigsten auf dem
Zeichnen von Atmosphären und
Gefühlen und nicht der Fabel. Eine
gewisse Schärfe und „Kurzangebun-
Ein Stück Heiterkeit
in der Melancholie des Südens
OLJA SAVI^EVI] IVAN^EVI]: Den Hund zum Lachen bringen ¹„Nasmijati psa“º
¹AGM / Vijenac, Zagreb, 2006º
In der letzen Kurzgeschichte dieser
Sammlung macht sich eine junge,
mit einer Pistole bewaffnete Frau die
Straße entlang – weil so die Geschichte beginnt: „Welche der Geschichten mich auswählen wird, weiß ich
noch nicht. Unter jenen, die sich
anbieten, muss ich den richtigen
Augenblick wählen, in dem ich einem gut aussehenden Unbekanten
zuzwinkern werde, die richtigen Stufen, auf denen ich in einen verqualmten Klub hinuntergehen werde, zu
einem guten Zeitpunkt die Pistole
laden werde, wenn nötig. ¹...º Sei
mein Zeuge, es wird einfach sein.
Ich werde den Abzug betätigen, du
den Stift. Es wird eine unvergessliche Jagd auf eine Geschichte werden. In der das Biest oftmals uns
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denheit“ der Sätze und der Sprache
von Mima Simi} spiegelt sich in der
Schärfe und „Kurzangebundenheit“
der Zeichnungen von Ivana Armanini, mit klaren Linien und sparsamem Ausdruck.
Am Schluss ist das Resultat ein Buch,
das wahrscheinlich besonders korrespondent mit der Sensibilität eines
jüngeren Publikums ist, mit einer
Leserschaft, die mit moderner PopKultur und guter Literatur erzogen
wurde, wie auch mit jenen, die genug
weiten Geistes sind und unsteifen
Sinn für Humor besitzen, um zu genießen und zu lachen über die „verschrobene“ Auffassung der Antidetektivin und das Sich-lustig-machen der Autorin über zahlreiche
Vorurteile, Typologien, sogar „heilige Kühe“. Es wird interessant sein
zu sehen, wie sich die schriftstellerische Handschrift von Mima Simi}
weiter entwickeln wird – auch deshalb, damit sie nicht nur eine Autorin
mit einem erfolgreichen vielversprechenden Erstlingswerk bleibt.
verfolgen wird. Das einzige, auf das
ich achten muss, ist, dass ich nicht
ums Leben komme, bevor ich auf
ein gutes Ende stoße. Und dass ein
gutes Ende nicht auf uns stößt, sobald
wir aus der Wohnung kommen.“
Und so betätigte in dieser „Unterhaltung für müßige Töchter“ Olja
Savi~evi} Ivan~evi} zu einem guten
Zeitpunkt den Stift, achtete darauf,
dass sie weder nebenbei noch am
Rande auf der Strecke bleibt und
stieß auf ein gutes Ende. Auf das ausgezeichnete Ende der ganzen Sammlung, die aus zweiundzwanzig Kurzgeschichten besteht und deren Druck
sie sich beim Gewinnen des Wettbewerbes des Verlagshauses AGM und
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der Zeitung Vijenac als bester junger
Autor verdiente. Obwohl sie in recht
jungen Jahren in der Literatur auftauchte, indem sie Gedichte veröffentlichte und später drei Poesiebände, ist Den Hund zum Lachen
bringen ihr Prosa-Erstlingswerk. In
der Zwischenzeit blieb Olja Savi~evi}
Ivan~evi} (geb. 1974) in Bezug auf
ihren Wohnsitz ihrer Geburtsstadt
Split treu und schrieb sowohl Literatur- als auch Theaterkritiken, Esseys,
Zeitungstexte und war Redakteurin
von einigen Studentenblättern und
Periodika.
Wenn man alles in Betracht zieht,
haben ihre Geschichten zurecht den
Wettbewerb gewonnen, denn es zeigte sich, dass die Kritik sie großartig
lobte und auch das Publikum sie
solchermaßen empfing, dass das Buch
eine Zeit lang sogar auf den Bestsellerlisten stand. Es wird wohl so sein,
dass die Geschichten sie gut erwählt
hatten, dass sie es verstand, ihnen im
rechten Augenblick zuzuzwinkern,
dass sie ihr aufmerksamer Zeuge war
und dass sie nicht umsonst nach der
Feder griff. Eine frische und klare
Stimme aus dem Süden, mit einem
charmanten dalmatischen Dialekt,
erzählte einige neue Geschichten über
das Erwachsenwerden im NachkriegsKroatien jener Generation, die alt
genug war, um sich an den Krieg zu
erinnern und die Auswirkungen zu
spüren, aber zu jung, um an ihm auch
wirklich teilzunehmen. Doch damit
wir uns verstehen: Das ist nur das
Croquis des Hintergrundes und nicht
das dominante Thema der Geschichten. Das Hauptthema ist die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Erwachsenwerdens, der Moment oder
das Ereignis des Erwachsenwerdens
gegenüber der Ablehnung jemals erwachsen zu werden, die ganze Verantwortung zu übernehmen und die
so genannte Ernsthaftigkeit zum Leben zu erlangen (es steht nicht wörtlich: Aber, hey – was soll sie denn
eigentlich sein?). Nicht den Mode-
Die Wahl eines Kritikers
trends folgend beschloss Olja Savi~evi} Ivan~evi} das, was ihr nahe,
bekannt, alltäglich ist, in Geschichten zu verwandeln: Die Grenze zwischen Kindheit und Reife; die Mitte,
in der sie aufwuchs, die aber deshalb
dennoch nicht weniger verwunderlich ist; Helden, die ihr zum Greifen
nahe sind, aber zu literarischen Personen im Entstehungsprozess der
Geschichte werden; Umstände die
nicht exotisch sind, aber dies mit
einer Intervention der Autorin werden können. Split ist nicht notwendigerweise der Schauplatz, an dem die
Geschichte sie findet, aber sicherlich
ist es immer ein Ort in Dalmatien –
wie es auch, wenn wir die Sprache in
eine andere Mundart „übersetzen“
würden – jede andere Kleinstadt im
Innland sein könnte. Mädchen, verloren in der Scheidung der Eltern,
verwirrte Teenager, eine unglückliche junge Magersüchtige, Obdachlose, Alks, Drogenabhängige, ganz
gewöhnliche Jugendliche – ja sogar
eine Supermutter mit Superkräften,
die gegen die Bürokratie Krieg führt.
Jede hat eine gewisse Andersartigkeit,
in jeder widersetzt sich jemand etwas Eingebürgertem – will anders
sein oder aber nur seine eigene Na-
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tur, Gegebenheit oder womöglich
sogar Schicksal überwinden. Die Geschichten sind zudem durchzogen
von einer gewissen Atmosphäre der
Schwermut, aber gleichzeitig scheint,
wie von der Bora gestählte zähe Pflanzen, der charakteristische dalmatinische Trotz durch – di{pet – der Trotz,
der nicht nur Lebensweise ist, sondern auch sein elementarer Bestandteil. Und gegen alle Misslagen des
Lebens hat man sich zu wehren – mit
Humor und Witz, immer Abstand
nehmen und von Herzen ehrlich lachen – wie z. B. über das Mädchen,
das für sein Abenteuer in angeblich
Australien zu jeder Lüge bereit ist;
oder über den Versager, dem eine
müde Heilige ihre Aura hinterlässt,
die entschlossen ist, sich ausruhen
zu gehen. Hier und da ein (Ent)Rücken ins Fantastische ändert die etwas traurige Grundlaune nicht.
Und viel Trauer, Elend und Unglück
sind in diesem dünnen Band konzentriert, vielleicht benötigte die Autorin gerade deshalb einen Titel, der
gleich zu Anfang dem Leser wenigstens
eine Nuance der Heiterkeit prädisponieren sollte: Den Hund zum Lachen zu bringen scheint eine ebenso
unmögliche Mission zu sein wie auch
sinnlose Absicht (ich meine, aus der
Hundeperspektive – denn was bilden wir uns eigentlich ein zu wissen,
wie und worüber ein Hund lacht?),
um einen Aha-Effekt hervorzurufen.
Doch die Titelgeschichte Den Hund
zum Lachen bringen ist eigentlich
eine wundervolle, warme menschliche (und nicht hundliche) Geschichte darüber, dass wir nach dem Geben
und Nehmen von Liebe in jeder
Form hungern – wenn wir uns das
durch all unsere Schutzschichten nur
erlauben. Durch biographisches oder
unbiographisches aber, eigentlich ist
das egal – denn am besten ist, man
stellt sich vor, es ist eine Mystifikation – Ironisieren des Standpunktes
gegenüber der Autorenschaft in der
Geschichte Die Fliege, einer der sel-
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Jadranka Pintari}
tenen, in denen sie sich direkter und
tiefer auf die Referenzen ihrer eigenen Ausbildung bezieht (Literatur),
berührt sie sowohl den romantisierenden Standpunkt des Publikums
gegenüber dem Autor als auch die
moderne allgemeine Profanisierung:
„Früher mussten die Schriftsteller ein
abgefucktes Leben haben, Drogen
nehmen, sich umbringen, sich die
Leber tätowieren, hungern, im Kanal krepieren, was weiß ich, um Superstars zu werden – heute macht
man das künstlich. Da steckt eine
ganze Maschinerie dahinter.“ In deren Hintergrund annonyme Erschaffer von Techno-Art Werken stehen.
Ob das enttäuschend ist? Tja, wie es
euch gefällt. Der Geschichtsschreibung ist das egal. Das Schreiben als
Dienstleistungsgewerbe ist auch das
Thema der witzigen Geschichte Der
professionelle Cyrano, in der ein einfallsreicher Handwerker auf dem Polizeirevier endet, nachdem er seine
Erfahrungen in einigen Vorlagen für
Liebesbriefe zusammengefasst hat,
aus Versehen den gleichen dem Ehemann und dem Liebhaber gibt. Vielversprechend für die Macht des geschriebenen Wortes in dieser Zeit
des (digitalen) Bildes ist, dass am
Schluss nicht einmal der Polizist der
Versuchung widerstehen konnte, die
Kunstfertigkeit des professionellen
Cyrano auszuprobieren.
Die herausragende Qualität der Prosa von Olja Savi~evi} Ivan~evi} liegt
in der Knappheit des Ausdrucks.
Viele Zeitgenossen, die nach der Feder greifen, könnten das von ihr lernen. Obwohl die Mehrzahl der Geschichten, wie die Autorin selbst sagt,
in relativ kurzer Zeit entstanden ist,
zeichnen sie sprachliche Präzision,
Kürze, ohne mit Stilmitteln um sich
zu werfen, und Konsequenz in der
Ausdrucksweise aus. Sie wird wohl
die Disziplin des Denkens, die die
Gedichtskunst verlangt, am prosaischen Ausdruck angewandt haben
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Foto: Jakob Goldstein
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Olja Savi~evi} Ivan~evi} beim Festival Europäischer Kurzgeschichten
und so geradezu fabelhafte Zusammenfassungen, sowohl in dialektologischen Dialogen (immer konsequent und sehr sorgfältig ausgearbeitet – im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, die sich des Dialekts bedienen und ihn dann entweder angedeutet oder halb ausgearbeitet lassen) als auch in „nur“ Verbindungsstücken des Textes, die in irgendeiner Kleinigkeit den Schlüssel oder
Kern der gesamten Thematik andeuten. Es gilt noch zu erwähnen, dass
die Autorin auch nicht in die Falle
des allgemienen Poetisierens eines
Prosatextes getappt ist! Wahrlich
nicht! Dazu muss man ihr ebenfalls
gratulieren: Es wäre wahrscheinlich
am einfachsten gewesen, die poetischen Formen in verlängerte Mischlings-Ausdrucksweisen zu „verwandeln“. Olja Savi~evi} Ivan~evi} unterlag jedoch nicht der (wenn es um
ursprüngliche Dichter doch häufigen) Versuchung, so dass ihre Ge-
schichten keine Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln sind, sondern ein neues „Gemäuer“, bei dessen Bau gerade nur mal hier und da
einige Methoden, jedoch keine Ready-made-Formeln, angewandt wurden.
Mit kleinen Zeichnungen-Ikonen
am Anfang jeder Geschichte von
Dunja Jankovi}, die entweder den
Inhalt zusammenfassen oder die Atmosphäre andeuten, ist das Buch mit
Kurzgeschichten von Olja Savi~evi}
Ivan~evi} viel mehr als ein viel versprechendes Erstlingswerk – denn es
zeigt die Reife der Autorin in der
von ihr erwählten Form: Für eine
geschickte Feder wird jedes „kleine“
alltägliche Thema ein „großes“ Thema des Lebens.
Alle Kritikern aus dem Kroatischen
übersetzt von Marijana Mili~evi}

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