Kreisau/Krzyżowa - Fundacja "Krzyżowa"
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Kreisau/Krzyżowa - Fundacja "Krzyżowa"
Kreisau/Krzyżowa – ein Ort des deutsch-polnischen Dialogs Kreisau/Krzyżowa – ein Ort des deutsch-polnischen Dialogs Herausforderungen für ein europäisches Narrativ Waldemar Czachur und Annemarie Franke (Hg.) Redaktion: Waldemar Czachur, Annemarie Franke Gutachter: Prof. Dr. Klaus Ziemer Übersetzung: Sabine Stekel, Annemarie Franke Korrektur: Dominik Kretschmann Graphik und Satz: Michał Olewnik Die Publikation ist das Ergebnis des gemeinsamen Projektes „Wissenschaftliche Bestandsaufnahme zum Narrativ von Kreisau/Krzyżowa in Polen und Deutschland“ der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, des Willy-BrandtZentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław, der Forschungsstelle Gedenkstätte Deutscher Wid erstand in Berlin und des Instituts für Germanistik der Universität Warschau. Copyright by Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, 2013 ISBN: 978-83-926273-2-6 Fundacja „Krzyżowa“ dla Porozumienia Europejskiego Krzyżowa 7 58-112 Grodziszcze Tel.: +48 74 85 00 300 www.krzyzowa.org.pl Diese Publikation wurde gefördert durch die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung in Frankfurt/Oder. Inhaltsverzeichnis Waldemar Czachur / Annemarie Franke Kreisau/Krzyżowa – ein Ort des deutsch-polnischen Dialogs. Herausforderungen für ein europäisches Narrativ . . . . . . . . . . . . 7 Gottfried Zeitz Kreisau/Krzyżowa – ein gemeinsames europäisches Vorhaben . . . 11 Iwona Kozłowska „Mehr Europa“ – Kreisau als Ort des deutsch-polnischen Dialogs und seine Bedeutung für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Die deutsch-polnische Versöhnung und das vereinigte Europa . . . . . . . . . . . . . . . 23 Annemarie Franke Kreisau/Krzyżowa wieder entdeckt – was sollte in Kreisau aus polnischer und deutscher Perspektive 1989/90 entstehen? . . . . . . . . . . . . 24 Monika Szurlej Wie kam es zur Versöhnungsmesse in Kreisau? . . . . . . . . . . . . . 30 Waldemar Czachur / Ryszarda Formuszewicz Kreisau/Krzyżowa – über die Notwendigkeit, das Symbol der deutsch-polnischen Versöhnung in Kreisau wiederherzustellen . . . 37 Robert Żurek / Burkhard Olschowsky Kreisau/Krzyżowa als Erinnerungsort für den deutsch-polnischen Dialog der Gesellschaften vor 1989 und die Versöhnungsmesse . . . . . 45 Andrea Genest Deutsche Perspektiven auf den historischen Ort Kreisau . . . . . . . . 53 Pierre-Frédéric Weber Deutsch-französische und deutsch-polnische Beziehungen: Verständigung jenseits von Bilateralität . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Gregor Feindt Welches Europa in Kreisau? Europavorstellungen im Umfeld der Stiftung Kreisau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Der „Kreisauer Kreis” aus polnischer und deutscher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Janusz Reiter Der deutsche Widerstand aus polnischer Perspektive . . . . . . . . . . 70 Peter Steinbach Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen – mehr als abweichendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Krzysztof Ruchniewicz Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Rezeption in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Marcin Miodek Der „Kreisauer Kreis” im polnischen kollektiven Bewusstsein über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus . . . . . 96 Historische und politische Bildung in Kreisau. Methoden und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . 109 Dominik Kretschmann Kreisauer Narrative – Erwartungen von Besuchern und Schwierigkeiten bei der Vermittlung des Ortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Ondřej Matějka Kreisau als eine Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Kreisau/Krzyżowa – ein Ort des deutsch-polnischen Dialogs. Herausforderungen für ein europäisches Narrativ „Das Neue Kreisau ist ein Kind des ostmitteleuropäischen Umbruchs im Jahre 1989. Es gibt zwischen Elbe und Bug kein weiteres zivilgesellschaftliches Projekt dieser Grössenordnung, das seine Entstehung dem Geist dieser Zeit verdankt”. – so schrieb rückblickend Ludwig Mehlhorn, Brückenbauer zwischen Deutschland und Polen, DDR-Bürgerrechtler und einer der Gründer der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, über die Bedeutung Kreisaus. Fast 25 Jahre nach diesen Ereignissen, nach der Wiederentdeckung Kreisaus 1989, stellt sich die Frage, welche Botschaft dieser ungewöhnliche Ort für uns als Bürger/innen in Europa und der Welt heute bereit hält, wie wir heute sein Erbe lesen und uns davon anregen lassen. Worin liegt die Besonderheit Kreisaus? Das sind in keinem Fall leichte Fragen. Vielleicht gerade deshalb, da sich in Kreisau verschiedene Erfahrungen von Polen und Deutschen begegnen, die zu persönlich sind, als dass wir sie mit angemessener Wertschätzung und Offenheit uns gegenseitig und anderen Europäern erzählen könnten. In Kreisau traf sich in den Jahren 1942-43 die Widerstandsgruppe um Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg, die über ein Deutschland in Europa nach der von ihnen als notwendig angesehenen Niederlage im Krieg nach dachten. Sie zahlten für ihre widerständische Haltung den höchsten Preis und verloren ihr Leben. Dennoch wirkte ihr Vorbild nach und inspirierte einzelne Deutsche und Polen zum Handeln, die sich der Rhetorik des Kalten Krieges verweigerten und sich der vorgeblich schicksalhaften jahrhundertealten Feindschaft zwischen Polen und Deutschen widersetzten. Bemühungen von unten, die oft kaum bemerkbar waren, wurden in dem Moment sichtbar, als der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, der genau zu dieser Gruppe von Polen gehörte, und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl während der Kreisauer Versöhnungsmesse am 12. November 1989 den Friedensgruß austauschten. 8 • Kreisau/Krzyżowa – ein Ort des deutsch-polnischen Dialogs... Heute können wir sagen, dass die internationale Initiative um den Breslauer Klub der Katholischen Intelligenz (KIK) in dieser Umbruchszeit den Geist des Ortes und der Stunde richtig eingeschätzt hat: Sie gründete die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung als Träger der Internationalen Jugendbegegnungsstätte, der Gedenkstätte und der Europäischen Akademie in Kreisau. Das Leitbild der Stiftung formuliert: „Kreisau ist ein Ort der Begegnung und des Dialogs, der von der Vielfalt der Menschen, die dort zusammentreffen, von ihren Ideen und Aktivitäten lebt. Wir setzen uns für ein friedliches und von gegenseitiger Wertschätzung geprägtes Zusammenleben der Völker, Gesellschaftsgruppen und einzelner Menschen in Europa ein.” Trotz dieses Anspruchs und der gemeinsamen deutsch-polnischen Gründungsgeschichte kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Polen und Deutsche immer noch mit unterschiedlichen Motiven diesen Ort besuchen. Für die einen ist Kreisau der Treffpunkt des „Kreisauer Kreises“ in den Jahren 1942/43, für die anderen der Ort der Versöhnungsmesse 1989 und der „Rückkehr Polens nach Europa“. Für die jüngere Generation ist Kreisau vor allem ein Begegnungszentrum, wo sie spannende Seminare, internationale Sommerfreizeiten oder ihren ersten deutsch-polnischen Schüleraustausch erlebt haben. Die Regierungen Polens und Deutschlands haben in ihrem Programm der Zusammenarbeit vom 21. Juni 2011 aus Anlaß des Jahrestags der Unterzeichnung der Nachbarschaftsvertäge 1991 über die Stiftung Kreisau folgendes festgehalten: „Das Engagement der Stiftung Kreisau ist wichtig für die deutsch-polnischen Beziehungen, wobei sich beide Seiten insbesondere für den Erhalt und die Entwicklung der Stiftung Kreisau und der von ihr getragenen internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau einsetzen.“ In den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen im November 2012 wurde diese Einschätzung bekräftigt durch die Unterzeichnung eines Abkommens über die finanzielle Förderung der Begegnungsstätte über einen Zeitraum von 5 Jahren. Es stellt sich die Frage, worin genau die „Wichtigkeit für die deutsch-polnischen Beziehungen“ besteht, welche symbolische und bildungspolitische Bedeutung der Ort als internationale Jugend- und Erwachsenenbildungseinrichtung fast 25 Jahre nach der Versöhnungsgeste der beiden Regierungschefs Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl vom 12. November 1989 entwickelt hat, in der Zukunft entwickeln kann und soll. Wie kann das geistige Erbe des „Kreisauer Kreises“ mit den Erfahrungen der zivilgesellschaftlichen Initiativen, die während des Kalten Krieges für einen Dialog in beiden deutschen Gesellschaften mit Polen eingetreten sind, verbunden werden? Wie lassen sich die Motive und das Erfahrungswissen der Akteure 9 aus dieser Zeit an junge Menschen vermitteln, wie sie für die Herausforderungen unserer Zeit sensibilisiert werden? Zu den genannten Fragen melden sich in dem vorliegenden Band Vertreter/innen der Generation zu Wort, die selbst bereits Benefizienten der neuen Qualität in den deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989 und der Möglichkeiten des Dialogs, die in Kreisau seit den 1990er Jahren bestehen, sind. Die Autoren teilen die Überzeugung, dass es sich lohnt, ein gemeinsames Narrativ zu formulieren und einen Weg zu finden, dafür die verschiedenen deutschen, die polnischen und deutsch-polnischen Elemente der Geschichte Kreisaus miteinander zu verbinden. Wir freuen uns, dass wir darüber hinaus Janusz Reiter, Professer Krzysztof Ruchniewicz und Professor Peter Steinbach gewinnen konnten, ihre Texte bei zu steuern. Die Direktorin des Büros für internationalen Dialog in der Kanzlei des Premierministers der Republik Polen, Frau Iwona Kozłowska und der Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Breslau Dr. Gottfried Zeitz haben jeweils ein Grußwort verfasst. Im Juni 2013 trafen sich die Autoren und Mitglieder der Gedenkstätten- und Akademiekommission der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung in Kreisau, um ihre Texte vor zu stellen und zu diskutieren. Ihr Anliegen ist die wissenschaftliche Analyse der bisherigen Rezeption des Kreisauer Erbes, der Errungenschaften und der Defizite. Die vorliegende Publikation dokumentiert den Diskussionstand für ein integriertes Narrativ von Kreisau als wichtigem deutsch-polnischen Erinnerungsort für Versöhnung und Widerstehen in Europa. Partner des Projektes unter dem Titel „Wissenschaftliche Bestandsaufnahme zum Narrativ von Kreisau/Krzyzowa in Polen und Deutschland“, das dankenswerterweise von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung in Frankfurt/ Oder gefördert wurde, sind das Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław, das Institut für Germanistik der Universität Warschau, die Gedenkstätte der Stiftung Kreisau und die Forschungsstelle Widerstand an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Wir danken Prof. Krzysztof Ruchniewicz und Prof. Klaus Ziemer für ihre kritischen Hinweise zu dieser Publikation. Wir wünschen eine anregende Lektüre und hoffen auf eine Fortsetzung der Diskussion. Kreisau/Warschau 2013 Annemarie Franke und Waldemar Czachur Gottfried Zeitz Kreisau/Krzyżowa– ein gemeinsames europäisches Vorhaben Kreisau/Krzyżowa als Internationale Jugendbegegnungsstätte und Gedenkstätte für den Widerstand gegen Diktaturen ist ein Symbol für die deutsch-polnische Aussöhnung und zugleich ein Ort der Begegnung von vornehmlich jungen Menschen aus ganz Europa. Es war die Erinnerung an den Widerstand des „Kreisauer Kreises“, die Menschen in Deutschland und Polen in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusammen geführt hat, um diesen ehedem deutschen Ort, der seit 1945 zu Polen gehört, wieder zu beleben und sein geistiges Erbe für den Dialog der Gesellschaften und die Vereinigung Europas wirksam werden zu lassen. Die Geschichte und das politische Denken des „Kreisauer Kreises“ war für die Gründer der Stiftung Kreisau Fundament für den deutsch-polnischen Dialog und eine gemeinsame Zukunftsgestaltung. Es ist auch heute wegweisend für die Auseinandersetzung mit Fragen des Politischen, dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, Bürger und Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt, Kirche und Staat, Bildung und Kultur, Nation und Europa. Peter Steinbach benennt das Vermächtnis des „Kreisauer Kreises“ in seinem Text für diesen Band treffend als „das Ringen um eine menschenwürdige Neuordnung, um Zivilität als Grundlage von politischer Zivilisation“. Freya von Moltke, die gemeinsam mit ihrem Mann Helmuth James den Schritt in den Widerstand gegangen ist und Gastgeberin für die Tagungen des „Kreisauer Kreises“ war, wird oft zitiert: „Wie gut, dass Kreisau in Polen liegt, dadurch kann es gleich europäisch wirken.“ Was sie damit sagt, gilt für die Qualität der Begegnungen und des Dialogs in Kreisau: Kreisau ist ein deutscher Erinnerungsort, doch indem er in Polen liegt, konfrontiert er sowohl Deutsche wie Polen mit der Geschichte des Anderen, einer Geschichte, die oft unbekannt ist und zu Fragen und Antwortversuchen geradezu herausfordert. Dass dieser Dialog überhaupt möglich geworden ist, haben wir vor allem jenen Polen zu verdanken, die bereit waren, das „andere Deutschland“ wahr zu nehmen 12 • Kreisau/Krzyżowa – ein gemeinsames europäisches Vorhaben trotz der Erfahrung fast jeder Familie, während des Krieges und der deutschen Besatzung Opfer von Verfolgung, Verlust und Vernichtung geworden zu sein. Dieses Wagnis verlangte unter den Bedingungen der kommunistischen Herrschaft und der Teilung Europas großen Mut, ein Ausdruck von Opposition. Besonders verdienstvoll war die Veröffentlichung der Schriften von Dietrich Bonhoeffer und seiner Biographie durch Anna Morawska Ende der 60er Jahre. Viele Autoren dieses Bandes beziehen sich auf die einschneidende Wirkung dieser Arbeit durch die Befassung mit Personen des deutschen Widerstands, den Dilemmata der Opposition in der eigenen Kirche und im eigenen Land gegen ein totalitäres Regime. Der erste Ministerpräsident des freien Polen seit Ende des 2. Weltkrieges, Tadeusz Mazowiecki, war von der Lektüre dieser Bonhoeffer-Biographie tief bewegt. Auch unter diesem Eindruck hat er im Vorfeld des Staatsbesuchs von Helmut Kohl den Vorschlag Mieczyslaw Pszons, seines Bevollmächtigten für die deutsch-polnischen Verhandlungen, die geplante Messe unter Beteiligung der deutschen Minderheit vom St. Annaberg nach Kreisau/Krzyżowa zu verlegen, dankbar angenommen. Diese Begegnung der beiden Regierungschefs am 12. November 1989 vor der Kulisse des verfallenen Gutshofes zählt zu den Sternstunden der Geschichte der deutsch-polnischen Annäherung, der Versöhnung und der Verständigung nach 1945, Sternstunde, obgleich lediglich ein Zufall, dass die Messe hier nach der Unterbrechung der Polen-Reise des Bundeskanzlers stattfand - am 9. November 1989 war die Berliner Mauer gefallen. Die Texte in diesem Buch beleuchten, warum diese historische Versöhnungsmesse gerade in Kreisau stattgefunden hat, zugleich zeigen sie auch die Unterschiedlichkeit ihrer Perzeptionen in Polen und Deutschland, und verdeutlichen wie wenig bisher der „Friedensgruß in Kreisau“ zu einem gemeinsamen Symbol des europäischen Einigungsprozesses geworden ist. Dies scheint mir das wesentliche Anliegen der Herausgeber und Autoren zu sein: Das Jahr 1989 in Kreisau in Verbindung von bürgerschaftlicher Initiative zur Gründung einer internationalen Begegnungs- und Gedenkstätte im Erinnern an den „Kreisauer Kreis“ auf der einen Seite und der Versöhnungsmesse als staatspolitischem Ereignis auf der anderen in seiner europäischen Tragweite deutlich zu machen. Kreisau/Krzyżowa mit seinen demokratischen und europäischen Traditionen, bezogen auf den Widerstand des „Kreisauer Kreises“ wie die Wiederentdeckung des historischen Ortes in den 1980er Jahren, eignet sich wie kaum eine andere Stelle für Reflexionen über die europäischen Fragen 25 Jahre nach der Gottfried Zeitz • 13 weltgeschichtlichen Wende. Kreisau ist somit eine Stätte, Geschichte lebendig zu bewahren, indem sie neue, die Gegenwart prägende Erfahrungen schafft. Die außergewöhnliche, historisch-politische Beschaffenheit Kreisaus und die daraus erwachsenden Verpflichtungen haben die Regierungen beider Länder von Anfang an erkannt und sich Kreisau als gemeinsames europäisches Vorhaben zu Eigen gemacht. Seine tatkräftige Förderung in jedweder Hinsicht erfreut sich daher mit vollem Recht in der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit eines privilegierten Ranges. Ich wünsche diesem wertvollen Buch zahlreiche Leser und hoffe, dass Kreisau viele neue Freunde gewinnt. Dr. Gottfried Zeitz, Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Breslau Iwona Kozłowska „Mehr Europa” – Kreisau als Ort des deutsch-polnischen Dialogs und seine Bedeutung für Europa Nachdenken über Kreisau bedeutet zugleich Nachdenken über die deutsch-polnischen Beziehungen und über Europa. Nachdenken darüber, was uns verbindet, was uns einander näher bringt, was uns inspiriert, was uns verpflichtet, aber auch, was uns noch trennt. Begegnungen in Kreisau tragen dazu bei, von Innen, aber auch von Außen auf die bilateralen Beziehungen zu blicken. Heute ist es selbstverständlich, dass die europäische Dimension die politischen Debatten kennzeichnet. In den deutsch-polnischen Beziehungen haben wir die bilaterale Ebene bereits dadurch überschritten, dass wir fragen, was dieser jeweilige Aspekt für Polen, für Deutschland und für Gesamteuropa bedeutet. Heute haben Polen und Deutschland in den bilateralen Beziehungen einen Reifegrad erreicht, der es uns erlaubt, uns gemeinsam für andere, neue Richtungen einzusetzen. Die deutsch-polnische Partnerschaft in Europa beginnt sich der Tatsache zu stellen, dass Polen und Deutsche zur gleichen Zeit über dieselben Probleme und ihre Lösung nachdenken. Die langjährige Ungleichzeitigkeit unserer jeweils eigenen Debatten ist eingeholt worden von der Gleichzeitigkeit der europäischen Debatte. Europa stellt für uns eine gemeinsame Herausforderung und Aufgabe dar, verbunden unter anderem mit vergleichbaren Problemen wie der Arbeitslosigkeit, der ökonomischen sowie demografischen Entwicklung. Die polnische EU-Ratspräsidentschaft förderte die Gleichzeitigkeit der europäischen Debatte. Polen hat als Partner im europäischen Dialog an Bedeutung gewonnen. Die EURatspräsidentschaft stellte den ersten Prüfstein hinsichtlich der neuen europäischen Reife und der neuen Rolle Polens dar. In den letzten Jahren entwickelte sich eine gute deutsch-polnische Zusammenarbeit, die mit der Bereitschaft verbunden war, die Diskrepanzen zu überwinden und gemeinsame Projekte zu entwerfen, die für Gesamteuropa relevant sind. Diese erlangte Reife in der bilateralen Zusammenarbeit ermöglicht auch, andere Haltungen und Ansichten des Partners zu akzeptieren. 16 • „Mehr Europa“ – Kreisau als Ort des deutsch-polnischen Dialogs... Im Jahr 1989 hat die Geschichte unerwartet zwei Orte miteinander verbunden: den Gutshof von Kreisau und die Berliner Mauer. Der Fall der Berliner Mauer und die Versöhnungsmesse in Kreisau bedeuteten ein neues Kapitel in der Geschichte Europas und der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Heute stellen beide Ereignisse Synonyme für den Prozess der europäischen Einigung dar. In den Beziehungen zwischen unseren Ländern folgte eine Beschleunigung, die sogar die größten Skeptiker überraschte. Das Bedürfnis nach Freiheit und Offenheit, der Aufbau eines Kontinents ohne Mauern und Barrieren verbindet unsere Gesellschaften durch neue Beziehungen, Beziehungen der Freundschaft und Solidarität. Der Impuls, den die „Solidarność” und später die Welle der friedlichen Revolutionen sowie der Umbruch für Mittel- und Osteuropa ausgelöst hat, ermöglichte es, partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen und eine enge Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland zu entwickeln. Die Krönung dieses großen, historischen Prozesses stellte die Erweiterung der Europäischen Union dar. Die Versöhnungsmesse in Kreisau, die 50 Jahre nach dem Angriff Hitlerdeutschlands auf Polen und den tragischen Jahren der deutschen Besatzung und des Holocausts stattfand, nahmen viele als Wendepunkt dieses Millenniums wahr. Und dennoch wissen wir zu wenig über die Bedeutung dieses Ereignisses, erinnern nicht ausreichend daran und unterschätzen seine symbolische Dimension, die als positive Kraft für beide Länder und ihre Gesellschaften wichtige Folgen hatte. Aus der heutigen Perspektive können wir zu recht sagen, dass sich ohne die Versöhnungsmesse in Kreisau keine Europäische Union in dieser Gestalt – mit einer aktiven Mitgliedschaft ostmitteleuropäischer Länder – entwickelt hätte und wir können sagen, dass die Ereignisse jenes 12. November 1989 in Kreisau von wahrhaft europäischer Relevanz waren. Dieses Ereignis galt als Vorbote für die Entwicklung eines neuen friedlichen Europas und einer neuen Epoche. Durch die Versöhnungsmesse wurde Kreisau als Erinnerungsort, verbunden mit der Familie von Moltke, in die neuere Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen und Europas eingeschrieben. Das Erbe der Versöhnungsmesse prädestiniert Kreisau dazu, neue Aufgaben umzusetzen und eine neue Rolle hinsichtlich der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen zu übernehmen – als ein Ort des Lernens, der Begegnung und des internationalen Dialogs. Ein Augenblick ist innezuhalten und darüber nachzudenken, was es heute für uns, Polen wie Deutsche, bedeutet: Kreisau, die Erinnerung an den „Kreisauer Kreis“ und das Erbe der Versöhnungsmesse. In welche Richtung entwickelt sich die Erinnerung an diesen Ort und die damit verbundenen Ereignissen, wie lässt sich die Botschaft Kreisaus für Frieden und Freiheit in Europa ausfüllen? Das Iwona Kozłowska • 17 ist um so wertvoller, da sich aktuell europäische Politiker, Denker und Philosophen mit genau dieser Frage nach der Zukunft der europäischen Integration und der Gestalt Europas sowie seiner Rolle und seines Platzes in der Welt intensiv beschäftigen. Europa und seine Zukunft beschäftigen uns heute in einem viel größeren Umfang, als noch vor ein paar Jahren. In diesen Reflexionsprozess sind nicht nur Politiker, sondern auch die Vertreter der Bürgergesellschaft eingebunden. Europa interessiert uns heute alle, und dies nicht nur in Bezug auf nationale Interessen. Es betrifft uns alle. In politischen Deklarationen sind sehr oft Appelle zu finden, die „mehr Europa” einfordern. „Mehr Europa” stellt auch eine Herausforderung für Kreisau dar, das neue Perspektiven entwickeln sollte zur Wahrnehmung des gemeinsamen kulturellen Erbes, aber auch der deutsch-polnischen Beziehungen, des Versöhnungsprozesses, der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit und der deutsch-polnischen Partnerschaft. „Mehr Europa” sollte dazu inspirieren, neue Wege der Annäherung und Normalisierung in den gegenseitigen Kontakten zu entwerfen. Vor allem über diese Herausforderungen sollten wir heute intensiv diskutieren, damit wir uns gegenseitig inspirieren können, gemeinsam über die weitere Entwicklung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit zu reflektieren. Kreisau ist ein Ort des deutsch-polnischen Dialogs, der für Gesamteuropa von Bedeutung ist. Uns verbindet doch sehr viel - das europäische kulturelle und weltanschauliche Erbe, die Freiheitstraditionen. Es verbinden uns Herausforderungen, denen die Welt und Europa sich gegenwärtig stellen müssen, die gemeinsame Sorge zur die Sicherheit und Zukunft unseres Kontinents sowie das Streben nach friedlicher Koexistenz multinationaler Gesellschaften. Wir besitzen Parallelen hinsichtlich unserer Philosophie, Wirtschaft und unseres Währungssystems, und wir haben vergleichbare Lösungsansätze für die Krise, in der sich die EU derzeit befindet. Wir teilen die Vision eines wirtschaftlich und politisch starken Europas. Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen sind seit dem 1. Mai 2004 nicht mehr nur eine nationale Angelegenheit, sie fungieren auch als Gradmesser für die Kohärenz und das Vertrauen in die gesamte europäische Gemeinschaft. An den Ergebnissen und der Entwicklung unserer Zusammenarbeit sind daher auch andere interessiert. Immer öfter nehmen wir wahr, dass die deutsch-polnische Nachbarschaft sich weniger mit sich selbst beschäftigt, als vielmehr damit, was sich um uns herum entwickelt, dass Initiativen und Projekte aufblühen, an denen polnische und deutsche Politiker wie Experten beteiligt sind. Diese Zusammenarbeit sollte auch in Kreisau aufkeimen und von dort weiter ausstrahlen. 18 • „Mehr Europa“ – Kreisau als Ort des deutsch-polnischen Dialogs... Daher sollte es für Kreisau heute und morgen vor allem eine Aufgabe sein, „Europa in die Tat umzusetzen” - Europa als ein Projekt des Friedens, der Versöhnung, der Freiheit und der Demokratie. Dies stellt ein europäisches Gut dar und kennzeichnet die gegenwärtige Matrize Europas, die auf viele Gründer zurückgeht. Indem die Kirche die polnische und deutsche Nation aufforderte, gemeinsam an der Europäischen Einigung mitzuwirken und seine christliche Identität zu stärken, blieb sie nicht passiv gegenüber den Herausforderungen der gegenwärtigen Welt und ihrer Entwicklung sowie gegenüber dem Streben der europäischen Nationen eine eigene Identität und historische Erinnerung zu bewahren. Das Wort der Bischöfe im Jahr 1965, dass „Polen und Deutsche schon nie mehr ihren Geist und ihre materielle Kraft gegeneinander richten dürfen“ ist ein sehr richtungsweisender Auftrag für die Zukunft. Kreisau liefert heute eine sehr gute Möglichkeit, unter Berücksichtigung der Vergangenheit über die Zukunft zu sprechen und rekurrierend auf die historische Erinnerung eine Zukunftsvision zu entwickeln. Es ist ein Ort, an dem zwei Narrative – das deutsche und das polnische - sowie zwei gemeinsame Erinnerungen zusammenlaufen. Es ist ein Ort unterschiedlicher Erinnerungen, der sich jeder Versuchung zur Vereinheitlichung der Erinnerung entzieht. Hierin liegt der besondere Wert und das große Potenzial dieses Ortes begründet, aber auch die Herausforderung. Uns verbindet viel, aber kann uns in Zukunft auch die Erinnerung an die Vergangenheit verbinden? Paradoxerweise wird es immer wichtiger, je mehr Zeit uns von den dramatischen Kapiteln der Geschichte trennt, was und in welcher Sprache wir der jungen Generation von der Vergangenheit erzählen. Polen und Deutsche sollten hierüber vor allem an einem Ort wie Kreisau sprechen, wo der gemeinsame Weg nach Europa begonnen wurde. „Mehr Europa” – das bedeutet ein größeres Gewicht Osteuropas in den deutsch-polnischen Projekten, die in Kreisau realisiert werden. Obwohl die Teilung Europas in Ost und West von der Teilung in Nord und Süd verdeckt wird, bleibt dies für die deutsch-polnischen Beziehungen weiterhin ein Bezugspunkt, der auch in der Außenpolitik relevant ist. Es lohnt sich daran zu erinnern, dass im Jahr 1989 die Regierungschefs Polens und Deutschlands in einer gemeinsamen Erklärung konstatierten, dass „die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen eine wesentliche Bedeutung für den Frieden, die Sicherheit und Stabilität in Europa sowie für die positive Entwicklung der gesamten Ost-West-Beziehungen besitzt.” Das, was Kanzler Helmut Kohl und Premier Tadeusz Mazowiecki ausdrückten, wird heute in der politischen Sprache als „Östliche Partnerschaft” bezeichnet. In diesem Kontext ist es notwendig, in Osteuropa Initiativen und Projekte Iwona Kozłowska • 19 unter Beteiligung der Bürger zu entwickeln. Auch in dieser Hinsicht verfügt Kreisau über ein außerordentlich großes Potenzial. Denn es stellt einen Ort dar, an dem sich Ost- und Westeuropa „lernen“ lässt, an dem die Geschichte gegenseitig erzählt und Erfahrungen ausgetauscht werden können. Kreisau sollte als ein Ort fungieren, der neue Impulse liefert, neue Brücken nach Osteuropa – sowohl in bilateraler, als auch europäischer Dimension – aufbaut. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, dass sich dieser geografische Raum zu einem Ort der Freiheit und Demokratie, der Stabilität und Zusammenarbeit entwickelt. Der ehemalige Präsident Aleksander Kwaśniewski sagte in seiner 2005 gehaltenen Rede in Berlin: „Noch vor einigen Jahren schien es, als würde die polnische und deutsche Hand, die in Richtung Ukraine ausgestreckt wurde, an die hervorragende Botschaft anknüpfen, die Premier Mazowiecki und Kanzler Kohl während der Messe in Kreisau im Jahr 1989 verkündeten. Als wäre es die Weitergabe des Impulses der Versöhnung und der Einladung zum Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses nach Osten”. Seitdem hat sich viel verändert; die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen haben sich gewandelt. Die Ziele bleiben demgegenüber immer noch die gleichen. Daher sollten sich Polen und Deutschland weiterhin für die Intensivierung der Kontakte mit der Ukraine einsetzen. Die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung könnte sich aus der deutsch-polnischen Erfahrung heraus und in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen aktiv in diesen Prozess einbringen, die Zivilgesellschaft in der Ukraine zu stärken. Der Jugendaustausch erscheint hierbei ein wesentlicher Schlüssel für den Erfolg zu sein. „Mehr Europa” – das heißt für Kreisau das Eintreten für den Gedanken der europäischen Integration und gemeinsame europäische Werte. Die Finanzkrise sollte nicht dazu führen, dass wir unsere Aufgabe vernachlässigen, für die europäische Integration und das europäische Erbe zu werben. Es stellt keine positive Entwicklung dar, wenn die Länder der Europäischen Union in Egozentrismus verfallen. Die Kenntnisse über die Entstehungsgeschichte der Europäischen Union, die als Verkörperung des Friedens, der Freiheit, der Demokratie, der Toleranz und des Wohlstands gilt, nehmen ab. Die europäische Gemeinschaft hat sich als Antwort auf die tragischen Folgen, die sich in der Nachkriegszeit aus der Teilung des Kontinents entwickelten, heraus gebildet. Dieser historische Kontext der europäischen Integration ist der Jugend schwer zu vermitteln, für die der Frieden in Europa eine Selbstverständlichkeit darstellt. Wir wissen immer mehr über die Institutionen der EU, über die Regulierungsmechanismen der europäischen Strukturen. Es steigt das Fachwissen über das Thema Europapolitik. Immer stärker jedoch verblasst die Wahrnehmung der Europäischen Union als Wächterin und Unterstützerin gemeinsamer Werte. 20 • „Mehr Europa“ – Kreisau als Ort des deutsch-polnischen Dialogs... Es ist besonders wichtig, dass Kreisau heute zu einer intergenerationellen und interkulturellen Diskussion über die Zukunft Europas und der deutsch-polnischen Nachbarschaft einlädt und für junge Menschen die Möglichkeit bietet, ihre Haltung zu Europa und der Welt vor dem Hintergrund der gemeinsamen polnischen wie deutschen Erfahrungen heraus zu bilden. Zur Verfügung steht uns darüber hinaus das Weimarer Dreieck. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir dieses Potenzial effektiver nutzen sollten, um allgemein über unsere östlichen Nachbarschaften nachzudenken. Das Weimarer Dreieck kann nicht nur eine politische, geometrische Figur sein, sie sollte auch als wirkliche Plattform der Zusammenarbeit und des partnerschaftlichen Dialogs fungieren, um so zu einem zusätzlichen Mehrwert in der europäischen Politik zu werden. Dies ist heute in Europa in gleichem Maße notwendig wie im Jahr 1991. Der durch das Weimarer Dreieck abgesteckte Weg sollte auch über Kreisau führen. „Mehr Europa” - das bedeutet, die Erinnerung an die Vergangenheit für die Zukunft zu stärken; die historische Erinnerung und die Erinnerung an die Bedeutung der Versöhnung für die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu bewahren. Die historische Erinnerung besitzt bis heute in den deutsch-polnischen Beziehungen eine sehr wichtige Bedeutung. Die Geschichte prägt, ob wir es wollen oder nicht auf verschiedene Weise das gesellschaftspolitische Leben. Weiterhin stellt sie für Politiker, Experten und Persönlichkeiten aus Kultur, Kunst und Film einen Referenzpunkt dar. Wichtig ist, dass polnische und deutsche Schüler/innen den Kern des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses verstehen und seine Bedeutung für die Beziehungen zwischen zwei ehemals verfeindeten Ländern einzuschätzen lernen. Kreisau ist ein wichtiger Lernort für die Jugend, der zahlreich von polnischen wie deutschen Schulen aufgesucht wird. Es ist unsere gemeinsame Pflicht, für das Bildungsangebot dieses Ortes Sorge zu tragen. Daher sollte auch die Vermittlung von historischem Wissen in Kreisau eine zentrale Rolle in den pädagogischen Aktivitäten und Angeboten einnehmen. Vor allem gegenüber der Jugend und den zukünftigen Generationen sind wir verpflichtet, die Erinnerungskultur sorgfältig zu pflegen, solche Überlieferungen und historische Narrative aufzubauen, die dazu beitragen, den Sinn und das Wesen des Versöhnungsprozesses und in gleicher Weise des europäischen Integrationsprozesses zu verstehen. Der Stiftung Kreisau kommt in dieser Hinsicht eine wichtige Bedeutung zu. Kreisau vermittelt Geschichte und zeigt auf, wie über Geschichte gesprochen werden kann, auch über die schwierigen Themen; Kreisau zeigt, wie und welche Konsequenzen aus der Geschichte, gerade auch aus ihren tragischen Lektionen, gezogen werden können. Es lässt Iwona Kozłowska • 21 sich keine Zukunft aufbauen, ohne die Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren. Die entscheidende Frage in dieser Hinsicht ist, wie diese Erinnerung gepflegt werden kann und wozu sie dienen soll. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang Jahrestage, die einerseits eine gesellschaftspolitische moralische Aufgabe sind, andererseits aber auch eine Chance darstellen, ein eigenes Narrativ zu begründen. Der Jahrestag der Versöhnungsmesse 2014 kann dazu beitragen, weitere tiefgreifende Betrachtungen über das Wesen des Versöhnungsprozesses in den gegenwärtigen internationalen Beziehungen zu reflektieren. Das Modell der deutsch-polnischen Versöhnung, einer Versöhnung zweier durch den Antagonismus des Krieges und seiner Folgen entzweiten Nationen, ist für Experten aus anderen Ländern interessant. Es wäre lohnenswert, Kreisau für den internationalen Dialog zu öffnen, indem es auf die Rolle von zwischenstaatlichen Versöhnungsprozessen und ihre gegenwärtige Bedeutung im globalen Kontext verweist. Die deutsch-polnische Versöhnung stellt einen Beweis dafür dar, dass die richtig verstandene Geschichte eine große, inspirierende Kraft hat. Diese lässt sich nicht verlieren, denn wie Karl Dedecius zu sagen pflegte: Das Werk der Versöhnung stellt eine permanente Herausforderung dar, immer bedroht und niemals abgeschlossen. Polen und Deutschland wurden zu wichtigen Partnern, zu Nachbarn, die eng zusammenarbeiten. Wie es Prof. Wladyslaw Bartoszewski oft in seinen Reden ausgeführt hat, trug die Diskussion über die Geschichte dazu bei, ausgehend von den schwierigen Erfahrungen einen Weg der Annäherung zu suchen. Die Versöhnungsmesse stellt heute für Polen und Deutsche ein außergewöhnlich wichtiges Symbol dar. Symbole haben die Eigenschaft, dass sie nicht wandelbar sind, dass sie statisch sind und immer wieder aufs Neue entschlüsselt werden wollen. Brauchen wir also noch Symbole...? Ohne Zweifel ja. Symbole sind die Fortsetzung der Vergangenheit und lenken uns in die Zukunft, sie erinnern daran, dass wir nicht vergessen dürfen. Kreisau stellt ein solches Symbol dar. Die polnische und die deutsche Regierung unterstützen dieses Symbol, um die Erinnerung zu bewahren und durch Erinnerung zu bilden. Die Erklärung der polnischen und der deutschen Regierung vom November 2012 stellt sozusagen eine Erneuerung in der Verpflichtung beider Seiten dar, das hohe Gut der Versöhnungsmesse und die historische Bedeutung Kreisaus als Ort der Erinnerung und der Versöhnung zwischen den Gesellschaften der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland zu würdigen. 22 • „Mehr Europa“ – Kreisau als Ort des deutsch-polnischen Dialogs... Es ist zudem darauf zu achten, dass Kreisau nicht in Vergessenheit gerät. Wir brauchen einen Ort wie Kreisau - der so lebendig ist, voller Gedanken, innovativer Aktivitäten und kreativer Ideen. Wir brauchen ihn auch in Zukunft, um einen Dialog über die Vergangenheit, und über die Zukunft führen zu können. Iwona Kozłowska, stellvertretende Direktorin des Büros für internationalen Dialog in der Kanzlei des Premierministers der Republik Polen Übersetzung aus dem Polnischen: Kirsten Gerland Die deutsch-polnische Versöhnung und das vereinigte Europa Kreisau/Krzyżowa wurde mit dem Bild der Umarmung Tadeusz Mazowieckis und Helmut Kohls beim Friedensgruß während der Messe vom 12. November 1989 zu einer der Ikonen der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Die Gründung der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung wurde erst möglich dank der politischen Veränderungen des Jahres 1989 in Europa und dem Fall des Eisernen Vorhangs. Während die ersten beiden Beiträge dieses Abschnitts die Ereignisse des Jahres 1989 fokussiert auf den Ort Kreisau/Krzyżowa beleuchten, beschäftigen sich die weiteren Texte mit der Analyse, wie die europäische Dimension der deutsch-polnischen Verständigung an diesem Ort greifbar werden kann und als Potenzial für die weitere Vertiefung der europäischen Integration von Gesellschaft und Politik genutzt werden könnte. Annemarie Franke Kreisau/Krzyżowa wieder entdeckt – was sollte in Kreisau aus polnischer und deutscher Perspektive 1989/90 entstehen? Die Stiftung Kreisau ist seit ihrer Gründung 1990 Eigentümerin des historischen Gutskomplexes mit Schloss und Berghaus in Kreisau/Krzyżowa und betreibt als größtes ihrer Projekte eine „Internationale Jugendbegegnungsstätte“, außerdem eine Gedenkstätte für den Widerstand gegen die Diktaturen, eine Europäische Akademie und ein internationales Konferenzzentrum. Prägend für die öffentliche Wahrnehmung der „Initiation“ der späteren Internationalen Jugendbegegnungsstätte der Stiftung Kreisau war die historische Begegnung zwischen Premierminister Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl am 12. November 1989. Diese Bilder gingen in den Fernsehnachrichten in die Welt, zumindest aber in die deutschen und polnischen Haushalte. Aus Sicht der Gründer/innen der späteren Stiftung Kreisau war die „Initiation“ allerdings ein früherer Aus Sicht der Gründer/ Moment: eine Tagung unter dem Titel „Christ in der innen der späteren Gesellschaft“ vom 2.–4. Juni 1989, organisiert vom Stiftung Kreisau war die Klub der Katholischen Intelligenz (KIK) in Breslau und „Initiation“ allerdings der Aktion Sühnezeichen/DDR. Es war ein Zufall, aber ein früherer Moment: sehr bedeutungsvoll für den weiteren Verlauf der Ineine Tagung unter itiative, dass dieses Treffen zeitgleich mit den ersten dem Titel „Christ in halb-freien Wahlen in Polen am 4. Juni 1989 statt fand. der Gesellschaft“ Die Frage, was in Kreisau aus polnischer und deutvom 2.–4. Juni 1989, scher Perspektive entstehen sollte, trifft eigentlich organisiert vom Klub der nur zu, wenn man nach der politischen VerhandKatholischen Intelligenz lungsposition auf der Ebene der Diplomatie und der (KIK) in Breslau und der jeweiligen Regierungen fragt. Für die internationale Aktion Sühnezeichen/ Bürgerinitiative, die sich auf besagter Konferenz traf, DDR. um sich historisch zu bilden und über die Zukunft des verfallenen Hofkomplexes in Krzyżowa/Kreisau zu be- • Annemarie Franke • 25 raten, trifft diese Frage nach polnischen und deutschen Zielvorstellungen für die spätere Begegnungsstätte nicht zu: Zum einen zählten auch Niederländer und Amerikaner zu der Gruppe, zum anderen verliefen die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Konzeption, der Ziele und der Umsetzung nicht auf der Linie deutsch-polnisch oder West-Ost, sondern je nach Erfahrungen und Motivation, sich für das Projekt „Kreisau“ zu engagieren. Insofern muss man diese beiden Ebenen trennen – deutsch-polnische politische Diplomatie einerseits, europäisches zivilgesellschaftliches Projekt andererseits – und zugleich bedenken, dass gerade im Falle der Gründung der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung und der von ihr getragenen „Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau“ diese beiden Ebenen auf besondere Weise zusammentreffen. Nur dank dieses Zusammentreffens von Zivilgesellschaft und großer Politik im europäischen Jahr 1989 – mit allen Konsequenzen für die Entwicklung der Strukturen der deutsch-polnischen Zusammenarbeit – konnte der Gutskomplex in Kreisau nach über 40 Jahren „LPG-Wirtschaft“ für seine neue Funktion als Gedenk- und Begegnungsstätte restauriert und umgebaut werden. Ebene der Zivilgesellschaft Zu den Teilnehmer/innen der Tagung vom 2.–4. Juni 1989 zählten auf polnischer Seite Mitglieder und Freunde des Klubs der Katholischen Intelligenz sowie Wissenschaftler und Studenten, die sich mit Fragen des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus (Anti-Hitler-Opposition im polnischen Sprachgebrauch) beschäftigten. Auf deutscher Seite waren es sowohl Menschen aus der DDR, der BRD und aus West-Berlin – alle hatten auf ihre Art vorher entweder Kontakte nach Polen gehabt – über Aktion Sühnezeichen West und Ost, die Partnerschaft Dortmund-Wrocław und im Falle der DDR über das Anna-Morawska-Seminar – oder aber einen Bezug zum „Kreisauer Kreis“ bzw. zu Eugen Rosenstock-Huessy. Genau über das Interesse an diesem Rechtsphilosophen und Soziologen, der vor seiner Emigration in die USA 1933 an der Breslauer Universität gelehrt hatte und als „Ur-Vater“ des „Kreisauer Kreises“ gelten kann, kamen Niederländer, aber auch viele Deutsche zu der Tagung. Was sollte aus Sicht dieser sehr gemischten Gruppe in Kreisau entstehen? Die Antwort auf diese Frage war Gegenstand vieler Folgetagungen, Arbeitsgruppen- und Beiratssitzungen und späterer Gremienund Kommissionsarbeit. Bestimmte Eckpunkte standen aber von Anfang an fest: Es ging um einen Ort des Dialogs, um die Überwindung der europäischen Teilung durch Kommunikation verschiedener sozialer Gruppen und Berufe, Menschen unterschiedlichen Alters und Nationalität, aller Konfessionen und 26 • Kreisau/Krzyżowa wieder entdeckt... Bekenntnisse. Es ging auch um ganz konkrete „Aufbauhilfe“ – Rettung des verfallenen Schlosses, Sanierung der Gebäude, Arbeitsplätze für Dorf und Region, kulturell-gesellschaftliche Basisarbeit. Es ging nicht um deutsch-polnische Versöhnung oder deutsch-polnischen Jugendaustausch im engeren Sinne – beides wurde von den beteiligten Personen und den hinter ihnen stehenden Vereinigungen schon lange praktiziert. Am Ende der Tagung unterzeichneten die Teilnehmer/innen einen Aufruf, den sie an das polnische Außenministerium adressierten. Sie appellierten an die Regierung, in den deutsch-polnischen Verhandlungen die Pläne ihrer Initiative mit zu berücksichtigen: „Mit Genugtuung begrüßen wir, dass Kreisau/Wojewodschaft Wałbrzych in die Regierungsverhandlungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland einbezogen wurde. Die Teilnehmer der Tagung erörterten die Möglichkeit, 1) in Kreisau eine internationale Begegnungsstätte für die junge Generation Europas sowie 2) ein Museum des europäischen Widerstandes gegen Hitlerdeutschland zu schaffen. Ohne auf diese Weise den laufenden Verhandlungen zwischen den Regierungen vorgreifen zu wollen, möchten wir um Ihre Aufmerksamkeit für diese Anliegen bitten.“ 1 Ebene der Regierungen In der „Gemeinsamen Erklärung“, die Premier Mazowiecki und Bundeskanzler Kohl als Ergebnis der dem Polen-Besuch des Kanzlers vorangegangenen Regierungsverhandlungen am 14. November 1989 unterzeichneten, wurde zum Thema „Kreisau“ vermerkt, die polnische Seite erkläre ihre Bereitschaft, am Schloss/Berghaus Kreisau könne eine Gedenktafel an den deutschen Widerstand angebracht werden. Diese Frage war im Vorfeld des Kanzler-Besuches, genau genommen seit Ende der 1970er Jahre, Gegenstand deutsch-polnischer Regierungskonsultationen gewesen. Darüber hinaus erklärte Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 16. November 1989 zu den Ergebnissen seiner Reise nach Polen: „In Kreisau sind sich Deutsche und Polen neu begegnet. So haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich noch an Ort und Stelle vereinbart, das frühere Gutshaus der Grafen von Moltke zu einer internationalen Begegnungsstätte auszubauen, bei der die Chance besteht, Archiv der Stiftung Kreisau, FK B II-14 Memoranda 1989 – Unterzeichner des Briefes: Prof. Karol Jonca, Ryszard Pollak, Krzysztof Ruchniewicz, Piotr Karasek, Janusz Witt, Prof. Ger van Roon (NL), W. Ph. Leenman (NL), Prof. Andreas Möckel (BRD), Frances B. Huessy (USA), Günter Särchen (DDR), Prof. Wolfgang Ullmann (Berlin-DDR), Jochen Köhler (Berlin-BRD), Mark Huessy (USA) (nicht alle Konferenzteilnehmer/innen haben unterschrieben). 1 Annemarie Franke • 27 dass die Jugend Europas und vor allem die Jugend Polens und Deutschlands zusammenkommen.“2 Auch diese Idee war schon früher von deutscher Seite, etwa in den Beratungen des „Deutsch-Polnischen Forums“ eingebracht worden. Die Äußerung Kohls wurde politisch bestimmend für alle weiteren Schritte der bundesdeutschen Ministerien, die sich beim Thema Kreisau auf den Jugendaustausch und deutsch-polnische Verständigung fokussierten. Das Auswärtige Amt war bestens informiert über die Bemühungen des Breslauer KIK, Schloss und Hof in Kreisau zu erwerben, sah aber zunächst eine Kooperation mit dem KIK als eine von vielen möglichen Optionen an, um die politische Vorgabe des Bundeskanzlers umzusetzen. Ausschlaggebend wurde die Eigentumsfrage – der KIK erwies sich als der politisch zuverlässige Partner, um das Hofgut vom polnischen Staat zu erwerben. Um in der vorgegebenen Kürze auf die Frage zu antworten, was wollte die deutsche Seite für Kreisau/Krzyżowa: den historischen Ort deutscher Geschichte in Schlesien vor dem baulichen Verfall retten, mit einer Gedenktafel an den „Kreisauer Kreis“ und Helmuth James von Moltke erinnern und den mündlichen Kohl-Mazowiecki-Beschluss umsetzen. Dabei spielte das Motiv eine Rolle, die Erfahrungen im deutsch-französischen Jugendaustausch auf das deutsch-polnische Verhältnis zu übertragen. Auf polnischer Seite verhielt sich das etwas anders. Tadeusz Mazowiecki war spätestens seit August 1989 über die Initiative seiner Freunde des Klubs der Katholischen Intelligenz informiert und kannte viele der Mitwirkenden, wie die Familie Czapliński und Dr. Ewa Unger aus Breslau, Günter Särchen und Ludwig Mehlhorn aus der DDR oder August-Wilhelm Heckt aus Dortmund persönlich. Er selbst hatte im Streit um den Ort der Messe, die eine Begegnung Helmut Kohls mit der deutschen Minderheit ermöglichen sollte, kurzfristig den Hof des Kreisauer Gutes eingebracht3. Die Kanzlei des Premierministers begleitete zwar in den Folgemonaten den Entstehungsprozess der „Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung“ formal-rechtlich, delegierte aber darüber hinaus die organisatorische und konzeptionelle Arbeit an den KIK, ohne sich daran weiter beteiligen zu wollen. Insofern muss man für die Regierungsebene sagen, es gab ein gemeinsames Interesse, das Schloss in Kreisau/Krzyżowa vor dem Verfall zu retten und an dem symbolischen Ort der Tagungen des „Kreisauer Kreises“ eine Vgl. Plenarprotokoll 11/176 der Sitzung des Bundestags vom 16.11.1989, S. 13 331, http://dipbt. bundestag.de/doc/btp/11/11176.pdf 3 Hinter dieser Idee stand sein Berater Mieczyslaw Pszon, aber offiziell übermittelte den Vorschlag Tadeusz Mazowiecki im Gespräch mit Helmut Kohl. Vgl. Włodzimierz Kalicki, Ostatni jeniec wielkiej wojny: Polacy i Niemcy po 1945 roku, Warszawa 2002. 2 28 • Kreisau/Krzyżowa wieder entdeckt... internationale Begegnungsstätte einzurichten. Zur Frage der Struktur der zu schaffenden Einrichtung und der Konzeption der Bildungsarbeit gab es aber nur auf deutscher Regierungsseite Vorgaben, während die polnische Regierung mit Annahme der Satzung und gerichtlichen Eintragung der Stiftung ihre Vorgaben auf die gesetzlichen Bestimmungen beschränkte. Auf der Ebene der deutsch-polnischen Diplomatie gab es in den Jahren 1989–1990 zwei heikle Fragen: die Abwicklung des Verkaufs des Hofkomplexes an den Klub der Katholischen Intelligenz (bzw. wie verhindern, dass dieser Kauf möglicherweise scheitern könnte) und zum anderen die Verhandlung des Notenwechsels der beiden Außenminister vom Juli/August 1990 zur Frage der Finanzierung der Sanierung und des Betriebs der Jugendbegegnungsstätte. Die europäische Dimension Das Einzigartige an dem Projekt „Kreisau/Krzyżowa“ besteht darin, dass hier von Anfang an Deutsche und Polen gemeinsam etwas gestalten wollten, was nicht nur ihnen selbst, ihren bilateralen Beziehungen dienen sollte, sondern einen gemeinsamen Beitrag zum Prozess der europäischen Einigung, zur Überwindung der Teilung Europas nach Ende des Kalten Krieges leisten sollte. Das gilt für die Ebene der Regierungen wie der Zivilgesellschaft. Für die Stiftung Kreisau bedeutete das konkret: Einbeziehung der östlichen Nachbarn Polens in die Programme und Gremien, Einladung von Teilnehmer/ innen aus anderen westeuropäischen Ländern, ein Gesprächsforum für Fragen der europäischen Politik, der sozialen Herausforderungen, Umweltfragen und Regionalentwicklung, außerschulische Bildung für junge Europäer – alles Fragen, die über das deutsch-polnische Verhältnis hinausgingen, aber von Polen und Deutschen gemeinsam entwickelt und beraten werden sollten. Auf der Ebene der Regierungen stand das bilaterale Verhältnis im Vordergrund. Gerade seitens der Regierung Kohl wurde das Modell einer Jugendbegegnungsstätte nach deutschem Vorbild und mit der Zielgruppe Deutsche und Polen gewünscht. Der Jugendaustausch sollte ähnlich wie es im deutschfranzösischen Verhältnis seit 1963 verfolgt wurde, die Beziehungen zwischen den Gesellschaften auf eine neue Grundlage stellen: statt Stereotypen und Belastungen der Vergangenheit, Kennenlernen der Lebensrealitäten und gemeinsame Zukunftsgestaltung. Für die polnische Regierung hatte der Wiederaufbau des Hofkomplexes in Kreisau mit der Planung einer Jugendbegegnungsstätte vor allem symbolische Bedeutung. Er stand für einen Epochenwandel in den Beziehungen zu Deutschland nach Ende der „Ordnung von Jalta“. Der Verlauf der 2+4-Verhandlungen und schließlich der Grenzvertrag von 1990 erfüllten die politischen Ziele der Annemarie Franke • 29 Regierung Mazowiecki, die bei der Messe auf dem Kreisauer Gutshof Gegenstand von symbolischen Gesten und politischen Reden gewesen waren. Hinzu kamen wirtschaftspolitische Aspekte: Polen war hoch verschuldet und benötigte für die erfolgreiche Die europäische Umsetzung der demokratischen und markwirtschaftlichen Reformen die finanzielle Unterstützung Dimension des Projektes Deutschlands. Die Gegenleistung war ein Entgegen- „Kreisau“ war Polen wie kommen bei vergleichbaren Initiativen wie der Reno- Deutschen gleichermaßen ein Anliegen. „Europa“ vierung von Kreisau: Pragmatismus im Dienste der und „Zukunft“ sind Verständigung. die Elemente eines Sowohl auf der Ebene der Zivilgesellschaft wie der integrierten deutschRegierungen ging es um ein zukunftsorientiertes Propolnischen Narrativs zur jekt in der festen Überzeugung, einen Beitrag für eine Geschichte Kreisaus/ neue Friedensordnung in Europa zu leisten. Die euroKrzyżowas. päische Dimension des Projektes „Kreisau“ war Polen wie Deutschen gleichermaßen ein Anliegen. „Europa“ und „Zukunft“ sind die Elemente eines integrierten deutsch-polnischen Narrativs zur Geschichte Kreisaus/Krzyżowas. Die Herausforderung besteht darin, diese Begriffe immer wieder aufs Neue zu definieren und zu klären, welche Aufgaben sich angesichts der Analyse der geistigen und politischen Situation Europas heute für die Zukunft stellen und welchen Beitrag Polen und Deutsche gemeinsam leisten können. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Begegnungsstätte in Kreisau vielen Menschen und Gruppen Raum und Inspiration für diese Reflexion und die Entwicklung konkreter Formen der Zusammenarbeit gegeben. • Bibliografie: Franke, Annemarie, Die Konferenz „Christ in der Gesellschaft“ vom 2.–4. Juni 1989 in Wrocław und Krzyżowa, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte KZG/CCH 24, 2011. „Für ein neues Europa. Wie entstand die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung“, hg. vom Verein der Freunde Kreisaus, Wrocław 1997 (2. Auflage 2002). Polska wobec zjednoczenia Niemiec 1989–1991. Dokumenty dyplomatyczne, hrsg. von Włodzimierz Borodziej, Zusammenarbeit Dominik Pick, Warszawa 2006. Annemarie Franke Historikerin, Doktorandin am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław mit einer Arbeit zur Entstehungsgeschichte der Stiftung Kreisau im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen 1989–1998; Leiterin der Gedenkstätte und Vorstandsmitglied der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung 2002–2012, seit August 2013 Kulturreferentin für Schlesien am Schlesischen Museum zu Görlitz. E-mail: [email protected] Monika Szurlej Wie kam es zur Versöhnungsmesse in Kreisau? Das Jahr 1989 zeichnete sich durch epochal zu nennende Ereignisse in vielen europäischen Ländern aus. Jedes von ihnen war das Ergebnis eines Prozesses und kann dennoch als ein konkretes Datum dargestellt werden. Wenn man Deutschland und Polen in den Blick nimmt, drängen sich zwei Daten fast automatisch auf: Für Polen ist es der 4. Juni, für Deutschland der 9. November. Beide Tage wurden nicht nur für ihre Länder zu einem Wendedatum, sie wirkten sich zugleich auf die wechselseitigen Beziehungen aus und ermöglichten den Beginn einer neuen Ära in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. In dem niederschlesischen Dorf Kreisau wurden mit der symbolischen Versöhnungsgeste während der Messe am 12. November 1989 ihre Folgen sichtbar. Der Weg zur Organisation der Messe war lang und kompliziert. Die Tatsache an sich, dass es genau an dem Ort zur Begegnung der zwei Regierungschefs kam, muss man als Auswirkung sowohl der Bemühungen ansehen, diesem Ort sein Gedächtnis wiederzugeben als auch des Willens, ein „neues Kapitel“ in den Beziehungen zu öffnen. Die Versöhnungsmesse in Kreisau war die symbolische Krönung eines Versöhnungsprozesses zwischen Deutschen und Polen, der dank des Engagements von gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen möglich geworden war. Diese hatten sich seit vielen Jahren dafür eingesetzt, die deutsch-polnischen Beziehungen auf ein Fundament des gegenseitigen Verstehens zu bauen. Bevor sich 1989 das mediale Interesse an dem Ort entzündete, wo die Messe stattfinden sollte, war Kreisau eines von Hunderten vergleichbarer Dörfer in Niederschlesien. Die Schloss- und Gutsgebäude waren nach dem Krieg in eine PGR (staatlicher Landwirtschaftsbetrieb) umgewandelt worden, um die herum sich das gesamte Dorfleben konzentrierte. Die Bewohner hatten kein tieferes Interesse an der Geschichte des Ortes, sondern betrachteten ihn als Arbeitsund Wohnort. Abgesehen davon war es auch nicht „ihre Geschichte“. Das Bewusstsein um die Bedeutung Kreisaus beschränkte sich meistens auf die Information, dass hier „irgendein Graf“ gelebt habe. Das Interesse, das Touristen aus Deutschland an dem früheren Gut der Familie von Moltke bekundeten, führte eher zu Beunruhigungen. Glücklicherweise gab es jemanden, der den Bewoh- Monika Szurlej • 31 nern Kreisaus die Motivation dieser deutschen Besucher zu erklären vermochte. Diese Person war Bolesław Kałuża, Pfarrer der katholischen St. Anna Gemeinde in Gräditz/Grodziszcze, zu der auch Kreisau/Krzyżowa gehörte. Er selbst war in Oberschlesien geboren, kannte die Probleme der deutsch-polnischen Beziehungen und interessierte sich für die Geschichte des Ortes. Schon lange bevor es zur Organisation der größten Messe in der Geschichte der Gemeinde kam, baute er Brücken zwischen den Bewohnern und den Besuchern des Dorfes und vermittelte die Vorkriegsgeschichte Kreisaus, seiner Bewohner und der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“. Im Juni 1989 kam eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern sowie Interessierten nach Kreisau, verbunden durch die Idee, hier eine Gedenkstätte für den Widerstand gegen den Totalitarismus zu gründen. Das Engagement und die Konsequenz dieser Menschen führten zur Herausbildung einer unabhängigen Gruppe, die gemeinsam an die Regierungen appellierte und zur Rettung des früheren Gutes des Grafen von Moltke in Kreisau aufrief. In ihren Plänen für die Zukunft Kreisaus fand sich neben der Rückbesinnung auf die Geschichte der Familie von Moltke und der Widerstandstätigkeit des „Kreisauer Kreises“ auch die Gründung einer Begegnungsstätte für junge Menschen. Der genannte Besuch in Kreisau war ein Programmpunkt der Konferenz „Christ in der Gesellschaft“ (vgl. Beitrag Annemarie Franke in diesem Heft) gewesen. Dieser gewann symbolischen Charakter auch dadurch, dass er genau am Tag der ersten halbfreien Wahlen in Polen statt fand, die für das Land einen wichtigen Reformprozess einleiteten. Die Wahl Tadeusz Mazowieckis zum ersten nicht kommunistischen Ministerpräsidenten, der außerdem seit vielen Jahren im deutsch-polnischen Verständigungsprozess engagiert war, trug unzweifelhaft dazu bei, den Weg für Gespräche zu ebnen. Am Tag der Wahlen kam es zu einem weiteren epochalen Ereignis, dass Einfluss auf die spätere Versöhnungsmesse nehmen sollte. Auf dem St. Annaberg wurde zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges eine Messe in deutscher Sprache gefeiert. Die Liturgie in deutscher Sprache war bis dahin in Oberschlesien ein grundsätzliches Problem gewesen. Während vor dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Herkunft der Bevölkerung dieses Gebietes die Messe in Polnisch und Deutsch gehalten wurde, war die deutschsprachige Liturgie nach dem Krieg verboten worden, um den polnischen Charakter Oberschlesiens zu unterstreichen. Die Wiedereinführung zweisprachiger Messen bedeutete die Anerkennung der deutschen Minderheit und war später der Grund für die Einladung des deutschen Bundeskanzlers zur Teilnahme an einer deutschsprachigen Heiligen Messe während seiner PolenReise. Anfangs wurde in dieser Einladung nichts Unangemessenes gesehen. 32 • Zur Vorgeschichte der Versöhnungsmesse in Kreisau Schon im Jahr 1983 wies Johannes Paul II während seiner Pilgerreise nach Polen darauf hin, jeder Bewohner dieser Erde solle die Möglichkeit haben, in seiner Muttersprache („in der Sprache seiner Väter“) zu beten. Als die endgültige Entscheidung über den Termin des Polen-Besuchs des Kanzlers getroffen wurde, schlug der Oppelner Bischof Alfons Nossol ihm die Teilnahme an der Messe am St. Annaberg vor. Im Laufe der Vorbereitungen zur Reise des Bundeskanzlers nach Polen wurden die zentralen Fragen besprochen, die im Interesse beider Länder standen. Eine davon war die schon erwähnte Anerkennung der deutschen Minderheit in Schlesien. Offen waren auch die Fragen der offiziellen Anerkennung der Westgrenze Polens, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Rückzahlung des sog. Jumbo-Kredites aus den 1970er Jahren. Ein wichtiges Thema während der Verhandlungen war auch die Pflege der Kriegsgräber. Schon im Januar 1989 wurde auch die Problematik der Ausweitung des Jugendaustauschs zwischen Polen und Deutschland angesprochen. Bei den Gesprächen Kanzler Kohls mit Ministerpräsident Mieczysław Rakowski in Bonn tauchte auch die Frage der Einrichtung einer Gedenktafel in Kreisau auf. Für die Vorbereitung des Kanzler-Besuches waren neben den Außenministern Krzysztof Skubiszewski und Hans-Dietrich Genscher die nach dem Januar-Besuch einberufenen Bevollmächtigten der polnischen und westdeutschen Regierungen verantwortlich: Mieczysław Pszon und Horst Teltschik. Je näher der Termin der Polen-Reise kam, desto intensiver waren die gegenseitigen Kontakte. Es wurden bereits die letzten Details abgestimmt, als Ende Oktober die polnische Seite erklärte, ein Besuch des Kanzlers auf dem St. Annaberg sei nicht erwünscht, da dieser Programmpunkt aufgrund der Symbolik des Ortes, wo sich während der schlesischen Aufstände Kämpfe zwischen Deutschen und Polen abgespielt hatten, zu Kontroversen führen könne. Es wurde also eine Alternative gesucht, sowohl für die Feier der Messe, als auch für das Treffen des Kanzlers mit der deutschen Minderheit. Dank der Tatsache, dass das Thema Kreisau schon lange sowohl der polnischen Regierung als auch den politisch-gesellschaftlichen Kreisen Premierminister Mazowieckis bekannt war, fiel im Verlauf der Gespräche der Vorschlag „Kreisau“. Von dieser Wahl erhoffte man sich, dass der Ort mit seiner Geschichte eine bedeutende Rolle für die schwierigen Gespräche über die Vergangenheit spielen und dem Aufbau von guten Beziehungen in der Zukunft dienen könne. Die Versöhnungsmesse aus lokaler Perspektive Die Vorbereitungen zur Messe und zum Besuch des Bundeskanzlers in Polen spielten sich blitzartig ab. Am 2. November kam der Kanzlerberater Horst Monika Szurlej • 33 Teltschik nach Warschau. An diesem Tag nahm Pfarrer Kałuża einen Anruf aus der Kurie in Breslau entgegen mit der Auskunft, er möge mit der Ankunft einer wichtigen Regierungsdelegation rechnen. Wie er sich selbst erinnerte, kamen ihm damals schon Vorahnungen, es könnte sich um ein Ereignis in Verbindung mit dem Besuch des Kanzlers handeln. Das Thema Kreisau war in den deutschpolnischen Regierungsverhandlungen schon lange vor dem geplanten Besuch des Bundeskanzlers in Polen angesprochen worden. Da die angekündigte Delegation sich verspätete, ging Pfarrer Kałuża seinen Aufgaben nach, wozu an diesem zweiten Tag im November die Feier der Allerseelen-Messe im nahe gelegenen Boleścin zählte. Auf dem Weg dorthin kam ihm eine Kolonne mit Regierungsfahrzeugen entgegen, die nach der Landung des Hubschraubers aus Warschau in Breslau bereits in Begleitung des Wojewoden mit Alarmsignal über die Straße auf dem Weg nach Kreisau raste. Später stellte sich heraus, dass die Delegation eine Ortsbesichtigung des Platzes vornahm, der als Alternative zum St. Annaberg bestimmt worden war. Dennoch war noch am Morgen nach dieser Ortsbesichtigung nichts sicher. Sogar der Besuch Pfarrer Kałużas beim Metropoliten Kardinal Henryk Gulbinowicz gab keine Antwort auf die Frage, ob diese außergewöhnliche Messe in Kreisau stattfinden würde. Erst am 4. November, als Kanzlerberater Horst Teltschik persönlich in Kreisau erschienen war, bestätigten sich die Vermutungen. Nach genauer Inspektion des Geländes fiel die Entscheidung, die Vorbereitungen für die Messe aufzunehmen. Da die Kirche in Kreisau sich als zu klein herausstellte und man mit einem großen Teilnehmerkreis für die Feierlichkeiten rechnete, wurde entschieden, dass die Messe auf dem Hof vor dem Schloss stattfinden solle. Die Gruppe von Menschen, die sich bereits für die Gründung einer Begegnungs- und Gedenkstätte für den Kampf mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts in Kreisau engagierte, nahm die Information über die Entscheidung der Regierungs- und Kirchengremien begeistert entgegen. Es waren Personen, die in Verbindung mit dem Breslauer Klub der Katholischen Intelligenz (KIK) standen, aber ebenso „Freunde Kreisaus“ aus Deutschland, den Niederlanden und den USA. Während in Kreisau seit zwei Tagen fieberhafte Vorbereitungen für die Messe liefen, fand am 6. November 1989 ein weiteres Telefongespräch zwischen Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki statt. Zum erneuten Mal erklärte Kohl seine Zufriedenheit, dass Kardinal Gulbinowicz sich einverstanden erklärt habe, eine Messe im niederschlesischen Kreisau unter dem Vorsitz des Oppelner Bischofs Alfons Nossol zu feiern. Mehr wurde bei diesem 34 • Zur Vorgeschichte der Versöhnungsmesse in Kreisau Gespräch zum Thema Messe nicht gesagt. Man rechnete damit, dass die Kirchen ihre Aufgabe bei der Vorbereitung der Feierlichkeit erfüllen. Deutlich wichtiger und dringlicher schien die Abstimmung der letzten Details der „Gemeinsamen Erklärung“, also des Dokuments, das die Fragen der deutsch-polnischen Zusammenarbeit regeln würde und am letzten Tag des Besuchs unterschrieben werden sollte. Die Entscheidung war gefallen, dass Bischof Nossol die Messe feiern würde, die Rolle des Gastgebers vor Ort jedoch sollte Pfarrer Bolesław Kałuża übernehmen. Dank seiner Erinnerungen, die er in der von ihm herausgegebenen „Gemeindezeitung“ zeitnah aufgeschrieben hatte, kann man den Umfang an Vorbereitungen zu diesem großen Ereignis rekonstruieren. Der Ablauf der Messe musste mit der Bischofskurie in Oppeln abgestimmt werden, denn von dort stammte der Bischof Nossol. Pfarrer Kałuża sollte zusammen mit Bischof Tadeusz Rybak, Vertreter der Breslauer Diözese, die Messe konzelebrieren, außerdem waren Prälat Paul Bocklet und Adalbert Kurzeja, Benediktinerpater aus Maria Laach, eingeladen. Nicht vergessen werden darf das riesige logistische Unterfangen, in so kurzer Zeit eine Veranstaltung zu organisieren, an der mehrere Tausend Personen teilnehmen sollten. Die Gebäude waren in so schlechtem Zustand, dass sie wenigstens provisorisch gesichert werden mussten. Für die Vorbereitungsarbeiten wurde das Militär eingesetzt. Mit großem Engagement brachten sich die Verantwortlichen des KIK ein, insbesondere Michał Czapliński. Die „Leitzentrale“ für die Koordination der Vorbereitungen befand sich im Pfarrhaus von Pfarrer Kałuża. Um die Geschichte des „Kreisauer Kreises“ den Besuchern der Messe näher zu bringen, wurde eine historische Ausstellung in der St. Michael-Kirche in Kreisau vorbereitet. Die Nachricht über die Absage der Messe auf dem St. Annaberg bewegte die deutsche Minderheit. Sie wollte nicht auf die Möglichkeit verzichten, die der Kanzlerbesuch schuf, ihre Präsenz in Polen zu manifestieren. Deshalb überwogen unter den Teilnehmer/innen der Messe Gäste aus Oberschlesien. Organisierte Gruppen wurden mit Reisebussen nach Kreisau gefahren. Sie hatten Transparente bei sich – das wohl berühmteste trug den Satz „Helmut, du bist auch unser Kanzler!“ und entstand im Haus von Richard Urban aus dem oberschlesischen Jamielnica/Himmelwitz. Die übrigen Teilnehmer/innen kamen überwiegend aus Schweidnitz/Świdnica und Umgebung, es waren sowohl Bewohner/innen als auch Mitglieder der Solidarność dabei. Die Dominanz der Transparente mit Aufschriften in deutscher Sprache war so sichtbar, dass Bischof Nossol zu Beginn der Messe darum bat, die Transparente einzurollen, denn man sei schließlich zu einem geistlichen Treffen zusammengekommen. Monika Szurlej • 35 Nach der feierlichen Begrüßung Ministerpräsident Mazowieckis und Bundeskanzler Kohls sowie der versammelten Gäste wurde ein für diesen Anlass vorbereitetes Gebet gesprochen. Darin gab es Bezüge zur Vergangenheit, darunter zum Zweiten Weltkrieg, sicherlich der schwierigste Moment in der Geschichte der beiden Völker. In der Predigt rief Bischof Nossol in Erinnerung, die Gabe der Vergebung könne ein Akt von Heroismus sein, den man aber aufnehmen müsse, um ein neues Kapitel in den wechselseitigen Beziehungen aufzuschlagen. Er rief den Brief der polnischen Bischöfe von 1965 in Erinnerung. Natürlich schlug er auch einen Bogen zu Helmuth James von Moltke und den Werten, die für den „Kreisauer Kreis“ wegweisend waren. Nach der Predigt folgten die Fürbitten, die gemeinsam von Vertreter/innen der Evangelischen und Katholischen Kirche verlesen wurden. Erinnert wurde an die Millionen Opfer des Nationalsozialismus, die durch eine Politik der Verachtung und des Hasses gegenüber den Menschen ums Leben gekommen waren. Erwähnt wurden auch jene, die in Folge von Besatzung, Flucht und Vertreibung umgekommen waren. In den Fürbitten wurde auf die Mitglieder des „Kreisauer Kreises“ verwiesen als Opfer, die es gewagt hatten, sich dem verbrecherischen Regime entgegenzustellen und dafür den höchsten Preis gezahlt hatten. Es wurde auch dafür gebetet, die Teilung in Ost und West zu beenden, die Unterschiede zu überwinden und nach Versöhnung und Frieden zu streben. Nach dem eucharistischen Hochgebet „Versöhnung“ wurde der Friedensgruß ausgetauscht. Nicht ohne Grund wurde die große Chance erkannt, die sich aufgrund dieses Ereignisses für Kreisau ergab. Das Interesse, dass der gewählte Ort für diese besondere Messe hervorrief, Die symbolische erlaubte es, die Haltungen der früheren Bewohner Umarmung – als Kreisaus während des Nationalsozialismus und das christliche Geste des Erbe des „Kreisauer Kreises“ bekannt zu machen. Friedensgrußes – war Bisher war diese Geschichte nur sehr engen wissenzugleich eine symbolische schaftlichen Kreisen vertraut gewesen. Die Vorbereitungen zur Messe wurden noch nicht Krönung der langjährigen Bemühungen auf dem einmal unterbrochen, als die Ereignisse in Berlin am Weg beider Völker zur 9. November den Kanzler zur Rückkehr nach DeutschVersöhnung. land zwangen. Noch in Polen hatte er verkündet, er kehre zurück und nehme an der Messe teil, was die Bedeutung unterstreicht, die diesem Element der Reise zugeschrieben wurde. In den weiteren Gebeten während der Messe wurde Bezug genommen auf das gegenseitige Vergeben und Versöhnen. Es wurde für Frieden gebetet, und die • 36 • Zur Vorgeschichte der Versöhnungsmesse in Kreisau Hoffnung auf eine Zusammenarbeit in der Zukunft ausgesprochen. Die symbolische Umarmung – als christliche Geste des Friedensgrußes – war zugleich eine symbolische Krönung der langjährigen Bemühungen auf dem Weg beider Völker zur Versöhnung. Bibliografie: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Dokumente zur Deutschlandpolitik, München 1998. Kalicki Włodzimierz, Ostatni jeniec wielkiej wojny. Polacy i Niemcy po 1945 roku, Warszawa 2002. Nossol Alfons, Nowe Betlejem, in: Marek Aureliusz Pędziwol, 20 rozmów na 20-lecie. 20 Jahre Kreisau im Gespräch. Krzyżowa-Świdnica 2009. Ogiolda Krzysztof, Zyzik Krzysztof, Arcybiskup Nossol. Radość jednania, Opole 2012. (deutsche Ausgabe: Alfons Nossol. Glück in der Liebe – Rückblick auf mein Leben, St. Ottilien 2010. Pięciak Wojciech, Polacy i Niemcy pół wieku później. Księga pamiątkowa dla Mieczysława Pszona, Kraków 1996. Szurlej Monika, Malecha Jan, 12.11.1989 – Kurze Geschichte der Versöhnungsmesse in Kreisau, Kreisau 2009. Monika Szurlej Seit 2010 Doktorandin an der Pädagogischen Universität in Krakau, Fakultät für Neuere Geschichte Polens, von 2006–2009 Mitarbeiterin der Gedenkstätte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung. E-Mail: [email protected] Waldemar Czachur, Ryszarda Formuszewicz Kreisau/Krzyżowa – über die Notwendigkeit, das Symbol der deutsch-polnischen Versöhnung wiederherzustellen In der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen überwiegen nicht gerade Ereignisse, die Aussöhnung und freundschaftliche Nachbarschaft symbolisieren. Es fehlen eher die Bilder, die bezogen auf die jüngere Geschichte positive Emotionen sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Gesellschaft hervorrufen könnten. Eine seltene Ausnahme ist die Messe vom 12. November 1989 im niederschlesischen Kreisau, die als „Versöhnungsmesse“ in die Geschichte eingegangen ist. Auf Einladung von Bischof Alfons Nossol gaben sich Tadeusz Mazowiecki und Helmuth Kohl während der Liturgie das „Zeichen des Friedens“. Das Foto des ersten demokratisch gewählten polnischen Ministerpräsidenten in der Umarmung des bundesdeutschen Kanzlers ging um die ganze Welt und steht für einen Paradigmenwechsel in den deutsch-polnischen Beziehungen. Es zeugte von der Risikobereitschaft Tadeusz Mazowieckis, Ministerpräsident mit oppositionellem Hintergrund, der das Verhältnis zu den Deutschen verändern wollte, obwohl in der polnischen Gesellschaft damals immer noch Angst und Misstrauen herrschten. Das Foto aus Kreisau dokumentierte zugleich die bahnbrechende Begegnung zwischen dem wiedergeborenen demokratischen Polen und einem Deutschland, das sich gerade auf dem Weg der Wiedervereinigung befand. Beide Staaten wurden zu den Nutznießern des politischen Umbruchs in Europa. Die Neudefinition der nachbarschaftlichen Beziehungen öffnete den Weg zur Überwindung der Spaltung zwischen Osten und Westen des Kontinents. Erosion und Konkurrenz Es schien, als ob Kreisau, das 1989 sowohl einen Ziel- als auch Ausgangspunkt in den deutsch-polnischen Beziehungen darstellte, ein beständiges Symbol der Aussöhnung und Aufhebung von Teilungen in Europa bleiben würde. Heute stellen wir allerdings fest, dass Kreisau diese Funktion nicht mehr erfüllt, sondern 38 • Kreisau/Krzyżowa – über die Notwendigkeit... ein Prozess der Schwächung und Verdrängung der Versöhnungsmesse als Erinnerungsort eingesetzt hat. Viele Faktoren wirkten sich darauf aus, dass Kreisau als Symbol langsam an Bedeutung verlor. Zuallererst war die Versöhnungsmesse, trotz ihres symbolischen Potenzials, kein Katalysator für wirkliche Veränderungen, sie diente nicht als realer Bezugspunkt für weitere politische Aktivitäten, sie war ein wichtiges Element, aber nur eines von vielen, die den Paradigmenwechsel in den deutschpolnischen Beziehungen bestimmten. Sicherlich war die Inkonsequenz in der Haltung des Bundeskanzlers, sein späteres Feilschen um die Grenze, bei der Perzeption dieses Ereignisses ausschlaggebend. Obwohl die polnischen Oppositionellen Kreisau als Ort der Messe akzeptierten, waren sie sich nicht bewusst, welche potenziellen Folgen es haben könnte, so entschlossen den Erwartungen eines der wichtigsten europäischen Akteure entgegenzukommen – in der Hoffnung, darauf folge eine sofortige wie auch zukünftige deutsche Unterstützung. Entscheidend war vielleicht der Umstand, dass der polnische Staat, der sich mit dem schmerzhaften ProDie Erinnerungen der zess der Systemtransformation auseinandersetzen Organisatoren der Messe musste, wichtigere Probleme hatte, als ein Narrativ zeigen deutlich, dass es zu gestalten, das die Beziehungen zu dem mächtigen die deutsche Seite war, Nachbarn bestimmen würde. Die Erinnerungen der die das Konzept und Organisatoren der Messe zeigen deutlich, dass es die das Bewusstsein dafür deutsche Seite war, die das Konzept und das Bewussthatte, wie notwendig sein dafür hatte, wie notwendig die Schaffung eines die Schaffung eines aussagekräftigen Bildes war. Für die Polen dagegen aussagekräftigen hatte diese Frage damals keine Priorität. Später gab es Bildes war. in Polen keine gute Idee, wie das Symbol Kreisau mit seinem komplexen Erbe in das gerade entstehende historische Narrativ eingefügt oder wie es popularisiert werden könnte. Dieser Kasus veranschaulicht ein breiteres Phänomen der fehlenden Kontinuität im polnischen Denken über die Funktion und den Inhalt von Symbolen in der Außenpolitik. In Deutschland wiederum wurde die Bedeutung der Kreisauer Messe von Anfang an durch den Kontext der Wiedervereinigung geschwächt, weil der zeitgleiche Mauerfall und seine Folgen reich an Bildern waren, die sich in das Gedächtnis der deutschen Gesellschaft einprägten. Parallel wurde allmählich der Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Ghetto Denkmal zu der dominierenden Ikone der Aussöhnung im politischen Diskurs, in den populären online-Medien wie Google oder Wikipedia, sogar in den Schulbüchern. In diesem Kontext scheint von Bedeutung zu sein, dass der • Waldemar Czachur, Ryszarda Formuszewicz • 39 Kniefall eine rituale Geste war, die zwar eine religiöse Referenz enthielt, aber losgelöst von religiösem Leben eine eigene Sprache hatte. Der Friedensgruß in Kreisau war streng genommen liturgisch und kirchlich, was heute seine Verbreitung in der medialen und politischen Kommunikation im Grunde verhindert. Ohne die außergewöhnliche Bedeutung der Geste der Buße von Kanzler Brandt und ihren festen Platz in der gemeinsamen Geschichte in Frage stellen zu wollen, darf man doch bezweifeln, warum gerade diese Geste in synthetischer Form den Kern des Wandels wiedergeben soll, der sich in den Beziehungen zwischen Deutschen und Polen seit Ende des Zweiten Weltkrieges vollzogen hat. Ein Symbol der Aussöhnung sollte doch eine Erklärung beider Seiten beinhalten, die sich mit der Bereitschaft zur Mitgestaltung dieses Prozesses verbindet. Das Foto vom Kniefall aus Warschau reduziert jedoch Polen – aus historisch bedingter Notwendigkeit – auf die Rolle eines Statisten: auf die Rolle eines passiven und innerhalb der politischen Eliten unwilligen Empfängers, oder sogar nur eines Zeugen der großen Geste des deutschen Bundeskanzlers. Der Friedensgruß von Kreisau steht dagegen symbolisch in Kontinuität zur Botschaft des Briefes der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe von 1965 mit der Betonung der Notwendigkeit eines Wandels auf beiden Seiten. Ein anderer Grund für die Schwächung des Symbols der Versöhnungsmesse sind die Schwierigkeiten des Zentrums in Kreisau, die gewissermaßen eine Folge der Komplexität der symbolischen Inhalte dieses Ortes sind. Die Anpassung an die deutsche Tradition stellte sich als schwierig heraus und nachdem diese Bemühungen eingestellt wurden, führte das paradoxerweise zur Hervorhebung vor allem des deutschen ErKreisau sollte doch vor bes und nicht des gemeinsamen, Deutsche und Polen verbindenden Erbes. Was beide Länder gemeinsam allem daran erinnern, dass haben und was sich in Kreisau manifestiert, ist der sich die Einheit Europas Mut, ein politisches Risiko einzugehen, um nach dem nicht auf den westlichen Teil des Kontinents demokratischen Umbruch in Europa Bedingungen für beschränken darf. neue Verhältnisse schaffen zu können. Während sich die Deutschen – aus verständlichen Gründen – für den einzigartigen Tagungsort der Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus einsetzten, war das Interesse daran in Polen gering. Folglich war die Stiftung Kreisau nicht imstande, die ganze Last der Symbolik des Ortes zu tragen. Heute ist Kreisau eine Begegnungsstätte für Jugendliche aus ganz Europa. Die Informationen, die sie den Besuchern anzubieten hat, sind nicht ausreichend und unverständlich. Die Deutschen fahren nach Kreisau und erwarten eine Begegnung mit dem eigenen historischen Erbe, während die Polen meistens • 40 • Kreisau/Krzyżowa – über die Notwendigkeit... den Ort mit der Versöhnungsmesse verbinden. Das, was verbindet, ist jedoch nur gering und wenig überzeugend herausgestellt. Es ist nicht gelungen, aus dem Nebeneinander von Symbolen ein schlüssiges Narrativ zu schaffen, das sowohl für Deutschland und Polen als auch für ganz Europa wichtig wäre. Das Nachdenken darüber, was den Kern des Widerstandes und der Opposition in einem totalitären oder autokratischen Staat ausmacht, was Freiheit und Würde des Menschen bedeutet, welchen Wert Demokratie hat, wie Aussöhnung eine lebendige Zusammenarbeit bedingt, das sind doch Themen, die den Rahmen der bilateralen Beziehungen überschreiten. Kreisau sollte doch vor allem daran erinnern, dass sich die Einheit Europas nicht auf den westlichen Teil des Kontinents beschränken darf. Die Bedingungen für den Erfolg des symbolischen Potenzials Kreisaus Kreisau hat die Chance, ein beständiges Element des kollektiven Gedächtnisses in Polen zu werden, aber nur als eine Ikone der deutsch-polnischen Aussöhnung und vor allem in ihrer europäischen Dimension. Im deutsch-polnischen Dialog ist es unabdingbar ein Symbol zu bewahren, das ständig an das Wesen und die Bedeutung der Annäherung dieser beiden durch die Geschichte entzweiten Nachbarn erinnert. Insbesondere jedoch beruhte die Weitsicht der damaligen Entscheidung Tadeusz Mazowieckis in Kreisau darauf, klar zu benennen, mit was für einem Deutschland Polen Europa gemeinsam erschaffen möchte und wie ein solches Europa aussehen sollte. Mit der neuen Öffnung in den gegenseitigen Beziehungen zwischen freien und souveränen Staaten war unter anderem die Erwartung verbunden, dass die historischen Erfahrungen Mittel- und Osteuropas aufgewertet und ihr Platz in der europäischen Gemeinschaft anerkannt würden, ohne dieses Europa auf den karolingischen Kern zu begrenzen. Diese Botschaft des Symbols von Kreisau verwischte sich später beim polnischen Nachdenken über die Politik gegenüber Deutschland. Diese wiederherzustellen sollte zum wichtigen Ziel der konzeptionellen Gestaltung des Ortes werden. Das Gemeinsame hervorheben Über die Tragfähigkeit des neuen Narrativs für Kreisau wird die Bereitschaft entscheiden, die grundlegenden Unterschiede in der deutschen und polnischen Perspektive zu berücksichtigen. Im symbolischen Inhalt dieses Ortes sind Elemente der deutschen und der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte zu erkennen. Es fehlt aber die eigenständige polnische Komponente. Darüber hinaus Waldemar Czachur, Ryszarda Formuszewicz • 41 spielt die deutsche Vergangenheit Kreisaus in der historischen Erinnerung der deutschen Gesellschaft eine viel größere Rolle, als die gemeinsamen deutschpolnischen Erfahrungen. Dies hat maßgebliche Konsequenzen. Vor allem würde es daher aus deutscher Perspektive ausreichen, die Geschichte des Ortes bezogen auf den Kreisauer Kreis und die Familie von Moltke zu erzählen und einige Elemente hinzuzufügen, die aus politischen, gesellschaftlichen sowie vor allem bildungspolitischen Gründen für erforderlich gehalten werden. Aus der polnischen Perspektive greift ein solches Narrativ entschieden zu kurz. Die Besonderheit des Ortes sollte als Ausgangspunkt dienen, um ein umfassenderes Narrativ mit europäischer Dimension darzustellen. Die einzige Lösung ist also, die gemeinsame Erfahrung ins Zentrum einer neuen Konzeption zu stellen und sie auf eine Art hervorzuheben, die in allen Dimensionen, auch in der räumlichen Anordnung Kreisaus überzeugt. Die Achse des zukünftigen Narrativs sollte deshalb im größeren Maße von dem Jahr 1989 als von den 1940er Jahren her bestimmt werden. Aufwerten und Verselbstständigen Aus der polnischen Perspektive entsteht leicht der Eindruck, in Deutschland werde die Aussöhnung mit dem Nachbarn im Osten gerne wie eine Ableitung der deutsch-französischen Aussöhnung behandelt. Sie dient eher als die Bestätigung des Musters und der Übertragbarkeit von Lösungen. Das verstärkt die Tendenz, die Beziehungen zu Polen auf einer niedrigeren Stufe zu unterhalten, was wiederum erschwert, diesen Beziehungen einen eigenständigen Wert zu verleihen. Wenn auch in der Anfangszeit die Erkenntnisse aus den deutschfranzösischen Erfahrungen Früchte getragen haben, so birgt diese Abhängigkeit auf längere Sicht das Risiko, das Nachahmen als Muster zu festigen. Folglich entsteht das Bild einer „Business Class“-Aussöhnung – mit Frankreich – und einer „Economy Class“-Aussöhnung im Falle Polens. Die aktive Vermarktung des Symbols Kreisau in den bilateralen und internationalen Kontakten würde dieses Missverhältnis in der Perzeption ausgleichen. Politiker, Selbstverwaltungsvertreter und andere Akteure internationaler Beziehungen sollten für die Notwendigkeit sensibilisiert werden, auf Kreisau als ein Symbol der deutschpolnischen Aussöhnung und Bestandteil des Prozesses der europäischen Integration zurückzugreifen. Dabei kann man sich der einfachsten Mittel bedienen, um die Szene aus der Versöhnungsmesse in das kollektive Gedächtnis zu rufen; zum Beispiel könnte im November 2014, zum 25. Jahrestag, das historische Foto auf der Innenseite der Fahrkarten in den Zügen des Berlin-WarschauExpress platziert werden. 42 • Kreisau/Krzyżowa – über die Notwendigkeit... Ganzheitlich betrachten Es wäre wünschenswert, eine ganzheitliche Strategie der public diplomacy im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen unter Berücksichtigung der bisher nicht genutzten Symbolik Kreisaus zu schaffen. Eine solche Strategie sollte mit den vorhandenen Instrumenten verbunden und in die offizielle Kommunikation über die bilateralen und die europäischen Beziehungen integriert werden. Die konzeptionelle Entwicklung der deutsch-polnischen Kontakte könnte durch die Einführung eines Stipendienprogramms für Experten in Kreisau gefördert werden. Dies sollte im Rahmen der Zusammenarbeit verschiedener Ressorts und der ihnen unterstellten Institutionen geschehen. Die erneute Wertschätzung der symbolischen Bedeutung Kreisaus bringt uns letztendlich zu der Überlegung, welche Funktion Kreisau heute erfüllen soll. Die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung verrichtet fundierte, wenig mediale Basisarbeit: Es ist ein lebendiger Ort der Begegnung und des europäischen Dialogs. Die regionale Dimension dieser Arbeit sollte ebenfalls anerkannt werden: das beste Beispiel dafür ist das Niederschlesische Forum für Politik und Wirtschaft. Das reicht allerdings nicht, um die Sichtbarkeit Kreisaus als Erinnerungsort der deutsch-polnischen Aussöhnung in seiner europäischen Dimension wiederherzustellen. Mittel- und Osteuropa erzählen Man sollte erwägen, die gegenwärtige Lücke im Narrativ über den politischen Wandel in Mittel- und Osteuropa zu füllen. Es gibt noch niemanden, der es gewagt hätte, umfassend darzustellen, wie die Initiativen einzelner Bürger nach der Überschreitung der kritischen Masse einen dauerhaften gesellschaftlichen und politischen Wechsel hervorrufen können. Die Kontakte zwischen Deutschen und Polen eignen sich ausgezeichnet dafür, weil die deutsch-polnische Aussöhnung vor allem ein Ergebnis bürgerschaftlichen Engagements ist. Der Charakter dieser Bewegung von unten entschied doch über die Glaubwürdigkeit des Prozesses und machte ihn immun gegen die Erschütterungen in den politischen Beziehungen. Genau auf der Ebene der Zivilgesellschaft entstanden neue Voraussetzungen für die Kommunikation: Das Kennenlernen und gegenseitige Interesse führten mit der Zeit zu vertrauensvollen Beziehungen, aber auch zum kritischen Blick auf sich selbst und die anderen. Der Paradigmenwechsel in der Politik Polens gegenüber Deutschland wurde konzeptionell von der demokratischen Opposition vorbereitet. Es gibt sowohl in Polen als auch in Deutschland keine Einrichtung, die durch Forschung, Ausstellungen, Publikationen oder Bildungsprogramme umfassend an die Vielschichtigkeit der Zusammenarbeit zwi- Waldemar Czachur, Ryszarda Formuszewicz • 43 schen diesen Ländern erinnern würde. Es gibt keine Einrichtung, die im Rahmen der Möglichkeiten ausführlich das beeindruckende Spektrum der gesellschaftlichen Initiativen dokumentieren würde, die eigentlich nur noch in der lokalen, milieuspezifischen oder regionalen Erinnerung präsent sind. Kreisau könnte den Besuchern konkrete Personen vorstellen, die sich – unabhängig von Ausbildung, ausgeübten Beruf oder ihres Status – nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern aus Überzeugung und Bedürfnis engagierten und Kontakte initiierten. Dabei könnte man zeigen, auf welche Art und Weise die einzelnen Gruppen der Oppositionsbewegung in Mittel- und Osteuropa sich gegenseitig inspirierten und motivierten. In Kreisau könnte dadurch ein Fundus an Vorbildern und guten Praktiken im Bereich der Aussöhnung und des Aufbaus der Zivilgesellschaft entstehen, den Staaten nutzen könnten, die einen solchen Weg erst einschlagen. Vielleicht könnte man auch die Räumlichkeiten der Einrichtung für die kürzlich auf polnische Initiative entstandene europäische Stiftung für Demokratie zu einem symbolischen Preis zur Verfügung stellen. Ein Element des Demokratisierungsprozesses ist doch neben den inneren politischen, gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Veränderungen die Verständigung mit den Nachbarn. Ein solches Nachdenken über Kreisau hat bereits eingesetzt, die Konzeption sollte dennoch so weiter entwickelt werden, dass alle dort enthaltenen Elemente des gemeinsamen europäischen Erbes integriert werden. Das wäre eine Chance für Polen, vergangene Versäumnisse nachzuholen und dadurch die Chancen zu vergrößern, die Symbolik Kreisaus für den Aufbau sowohl der polnischen Kommunikation gegenüber Deutschland, als auch des gemeinsamen Narrativs gegenüber Europa zu nutzen. Wenn wir Europa als einen Kontinent der Aussöhnung definieren, der nach politischer Einheit strebt, dann sollte auf seiner kognitiven Karte Kreisau nicht fehlen. Bibliografie: Jaskułowski Tytus, Gil Karoline, Zwanzig Jahre danach. Gespräche über den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag, Wrocław 2011. Jonca Karol, Denken mit Moltke. Gedanken über Kreisau und Krzyżowa, Kreisau 2006. Kerski Basil, Die Rolle nichtstaatlicher Akteure in den deutsch-polnischen Beziehungen vor 1990, Berlin 1999. Pamięć o Pojednaniu w Krzyżowej w 1989 r. – wspólne wyzwanie Polaków i Niemców, Gliwice/ Opole 2010. Pędziwol Marek Aureliusz, 20 rozmów na 20-lecie. 20 Jahre Kreisau im Gespräch, Krzyżowa/ Świdnica 2009. Szurlej Monika, Malecha Jan, 12.11.1989 – Kurze Geschichte der Versöhnungsmesse in Kreisau, Kreisau 2009. 44 • Kreisau/Krzyżowa – über die Notwendigkeit... Wigura Karolina, Wina narodów. Przebaczanie jako strategia prowadzenia polityki, Gdańsk/Warszawa 2011. Zaborski Marcin, Współczesne pomniki i miejsca pamięci w polskiej i niemieckiej kulturze politycznej, Toruń 2011. Ryszarda Formuszewicz Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Polnischen Institut für Internationale Beziehungen, Studium der allgemeinen und vergleichenden Rechtswissenschaften, Forschungsschwerpunkte: deutsche Außen- und Europapolitik, deutsch-polnische Beziehungen. E-Mail: [email protected] Dr. habil. Waldemar Czachur Deutschlandforscher, Linguist, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die deutsch-polnischen Beziehungen; von 2008 bis 2011 Mitglied des Rates der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, seit 2010 Mitglied der Gedenkstätten- und Akademiekommission in Kreisau. E-Mail: [email protected] Burkhard Olschowsky, Robert Żurek Kreisau als Ort der Erinnerung an den deutsch-polnischen gesellschaftlichen Dialog in der Zeit vor 1989 sowie an die Versöhnungsmesse vom November 1989 Mit diesem Beitrag wird versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Kreisau – mit dem Erbe des „Kreisauer Kreises“ und der Versöhnungsmesse – zu einem deutsch-polnischen sowie europäischen Erinnerungsort und Ort einer vertieften Reflexion über den Kern des gesellschaftlichen Dialogs werden kann. Heute ist alles, was sich „europäisch“ nennen kann gewissermaßen in Mode. Es wäre auch nichts Schlimmes dabei, wenn diese Mode nicht mit dem inflationären, nicht immer begründeten Gebrauch der Termini „Europa“ und „europäisch“ verbunden wäre. Wenn bilaterale oder trilaterale Initiativen und Projekte als „europäisch“ bezeichnet werden, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bezugnahme auf den europäischen Charakter nicht unbedingt das Profil solcher Aktivitäten wiedergibt, sondern der Steigerung des Ansehens und Images dient. Droht uns eine derartige Aneignung des „europäischen Charakters“ auch in Kreisau? Das glauben wir nicht: Das Erbe des „Kreisauer Kreises“, der einzigen deutschen Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, die intensiv über die Zukunft Europas reflektiert und moderne, konstruktive Lösungen im Geiste der Einheit des Kontinents vorgeschlagen hat, berechtigt die Kreisauer Stiftung allemal, solche „europäischen“ Ansprüche zu erheben. In noch höherem Maße berechtigen sie dazu der deutsch-polnische gesellschaftliche Dialog in den Jahren vor 1989 und die Versöhnungsmesse vom November 1989. Diese Messe war zweifellos ein Ereignis von europäischer Bedeutung, weil sie den symbolischen und krönenden Abschluss eines langen deutsch-polnischen Aussöhnungsprozesses darstellte, der eine Schlüsselrolle für Europa spielte. Ohne die deutsch-französische Aussöhnung gäbe es keine Europäi- 46 • Kreisau/Krzyżowa als Erinnerungsort... sche Union, und ohne die deutsch-polnische Aussöhnung gäbe es keine Europäische Union der inzwischen 28 Staaten, die fast den ganzen Kontinent umfasst. Deswegen ist die Kreisauer Versöhnungsmesse wahrlich ein wesentliches Element in der Geschichte Europas, was in Polen oder Deutschland, geschweige denn in anderen Ländern Europas kaum jemand weiß. In Deutschland wird die Bedeutung des deutsch-polnischen Aussöhnungsprozesses unterschätzt. Unter anderem wegen des grundsätzlich fehlenden Interesses für Osteuropa wird er als ein dem deutsch-französischen Aussöhnungsprozess nachgeordneter betrachtet, als seine weniger wichtige, weniger interessante Kopie. Doch Ohne die deutscher war nicht zweitrangig: Dieser Prozess kam – anders französische Aussöhnung als der deutsch-französische – nach weitaus dramatigäbe es keine Europäische scheren historischen Ereignissen sowie unter äußerst Union, und ohne die ungünstigen politischen Bedingungen zustande. deutsch-polnische Die deutsch-französische Aussöhnung wurde als Aussöhnung gäbe es keine Projekt der Eliten angestoßen und begleitet von zwei Europäische Union der Gesellschaften auf Augenhöhe und einer durchlässiinzwischen 28 Staaten, gen Grenze. Derart günstige Umstände blieben den die fast den ganzen Akteuren der deutsch-polnischen Versöhnung vorKontinent umfasst. enthalten. Die Kontakte nach Polen besaßen auch deshalb einen anderen Charakter, da die DDR – als eigentlicher Nachbar Polens – mit ihrer Gesellschaft, aber auch ihren Machthabern stets involviert war. Aus diesem Grund nahm er andere Formen an, zeichnete sich durch eine andere Dynamik aus, wurde von anderen Akteuren getragen und verlangte von seinen Gründern sowie Mitgliedern viel mehr Entschlossenheit, Ideenreichtum und Mut als der Aussöhnungsprozess zwischen den Deutschen und den Franzosen. Polen kennen die Fakten über den deutsch-polnischen Aussöhnungsprozess etwas besser als die Deutschen, aber auch ihr Wissen ist eher oberflächlich, wesentliche Aspekte, die gerade im Fall von Kreisau sichtbar werden, bleiben unreflektiert. Wir könnten sicherlich bei dem Bild bleiben, das sich uns ins Gedächtnis eingeprägt hat, als sich Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl umarmen, wir können uns aber auch die Frage stellen, warum diese für die deutsch-polnischen Beziehungen und für die Zukunft Europas so wichtige Geste gerade in Kreisau, während einer religiösen Feier, stattgefunden hat. Die Antwort auf diese Frage ist unserer Meinung nach wesentlich für die Identität Kreisaus und für seine Bedeutung auf der europäischen Karte der Erinnerungsorte. • Robert Żurek, Burkhard Olschowsky • 47 Die Versöhnungsmesse ist einigen Zufällen zu verdanken. Allerdings könnte man auch eine andere These wagen, dass sie nämlich gleichzeitig eine logische Konsequenz dessen war, wer und auf welche Art und Weise den deutsch-polnischen Aussöhnungsprozess gestaltete. Das Fundament für diese Versöhnung schufen nämlich die Zivilgesellschaften in Polen und in beiden deutschen Staaten, maßgeblich unter dem Dach der katholischen und evangelischen Kirche. Die frühen Versöhnungsinitiativen fanden in der ersten Hälfte der 1960er Jahre statt, als organisierte Gruppen westdeutscher und – was noch wichtiger war – ostdeutscher Katholiken Polen zu besuchen begannen, um Kontakte mit polnischen Glaubensbrüdern zu knüpfen. Bald schlossen sich die Leitungen beider Kirchen dem Dialog an (die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Briefwechsel der katholischen Bischöfe von 1965), was die Bemühungen von unten für die Versöhnung gewissermaßen legitimierte. Diese Aktivitäten wurden gegen den Willen der politischen Machthaber in Polen und der DDR unternommen, aber auch ohne die Unterstützung seitens der politischen Eliten der Bundesrepublik, zum Teil sogar von ihnen kritisiert. Wir möchten noch einmal betonen: Es war die Zivilgesellschaft – unter extrem schwierigen politischen Bedingungen –, die den deutsch-polnischen Aussöhnungsprozess initiierte und in Bewegung setzte; die politischen Eliten folgten erst nach Jahren diesen Impulsen (die diplomatischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland wurden 1972 aufgenommen). Die deutschen Pioniere der deutsch-polnischen Versöhnung waren oft Menschen, die sich in ihrem Leben die Vertreter der deutschen Opposition gegen den Nationalsozialismus zum Vorbild nahmen. Bei den Treffen mit polnischen Partnern oder Freunden erzählten sie über diese Persönlichkeiten und über die von ihnen ausgehende Inspiration. Auf diese Weise steckten sie viele polnische Partner mit der Faszination für die deutsche Widerstandsbewegung aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges an. Das beste Beispiel dafür ist das Buch „Chrześcijanin w Trzeciej Rzeszy“ (deutsch: Ein Christ im Dritten Reich) der katholischen Publizistin Anna Morawska, das schon 1970 in Polen veröffentlicht und schnell zum Bestseller in Kreisen der antikommunistischen Opposition wurde. Dieses Buch wäre mit Sicherheit nicht entstanden, wenn es die Anregungen nicht gegeben hätte, die ihr die Kontakte und Diskussionen mit den Deutschen brachten, vor allem mit den Mitgliedern der Aktion Sühnezeichen und den Vertretern beider Evangelischen Akademien in Berlin, wie die Autorin damals betonte.1 Anna Morawska, Dietrich Bonhoeffer. Ein Christ im Dritten Reich, Münster 2011, S. 2. 1 48 • Kreisau/Krzyżowa als Erinnerungsort... So wurden die Mitglieder des Kreises um die ZNAK-Bewegung, die Zeitung „Tygodnik Powszechny“ und die Klubs der Katholischen Intelligenz, darunter der spätere Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und seine Berater, schon früh mit der deutschen Widerstandsbewegung konfrontiert. Insbesondere der Teil dieser Bewegung, der sich von christlichen Motiven leiten ließ, gab ihnen einen Anstoß zu einer eigenen Haltung gegenüber dem kommunistischen Regime. Daran erinnerten später unter anderem Tadeusz Mazowiecki und Adam Michnik sowie Stefan Niesiołowski, der überdies in den 1980er Jahren eine Reihe von Artikeln veröffentlichte, die sich mit den einzelnen Personen und Gruppen des deutschen Widerstandes befassten. Später besann er sich dessen, wie groß das Interesse der polnischen antikommunistischen Kreise an der deutschen Opposition gegen Hitler war und an wie vielen Treffen und Diskussionen zu diesem Thema er selbst teilnahm.2 Unter all den deutschen Untergrundgruppen- und Organisationen spielte der „Kreisauer Kreis“ – im Bewusstsein polnischer katholischer und oppositioneller Eliten – eine wesentliche Rolle; nicht nur, weil seine Mitglieder ehrenhaft und mutig waren, oder weil viele von ihnen aus religiösen Gründen handelten und propolnisch gesinnt waren. Wichtig war auch die Tatsache, dass der Kreis eine sehr differenzierte Gruppe war, die Vertreter verschiedener Milieus und Weltanschauungen versammelte. Eine ähnliche Philosophie war die Grundlage für den Erfolg der oppositionellen Gruppen in der Volksrepublik Polen, wie beispielsweise des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und später der Solidarność. Von der Faszination für den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus war es nicht mehr weit bis zur Entdeckung Kreisaus als einen wichtigen Ort auf der Karte der deutsch-polnischen Aussöhnung und zugleich zur gemeinsamen Identität polnischer und ostdeutscher Oppositioneller sowie ihrer westdeutschen Freunde. Kreisau wurde also nicht zufällig 1989 gesucht und gefunden, als fieberhaft nach dem bestmöglichen Ort für das Treffen zwischen dem ersten nicht kommunistischen Ministerpräsidenten Polens und dem Bundeskanzler Ausschau gehalten wurde. Kreisau wurde gefunden, weil sein Erbe für viele deutsche, aber auch polnische Akteure des gemeinsamen Dialogs wichtig war. Um es nochmals zu betonen: Die Versöhnungsmesse war die Krönung der Jahrzehnte lang andauernden gesellschaftlichen Bemühungen für die deutschpolnische Versöhnung. Bemühungen, die sich aus religiösen Motiven stärkten Stefan Niesiołowski:, Niemieccy przeciwnicy Hitlera, Łódź 1995, S. 11f. 2 Robert Żurek, Burkhard Olschowsky • 49 und häufig unter dem Dach der Kirche erfolgten. Es ist kein Zufall, dass kurz vor der Messe, am 1. September 1989, die wichtigsten Vertreter der polnischen und deutschen Katholiken eine gemeinsame Erklärung „Für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in Europa“ unterzeichnet haben, die im deutsch-polnischen Dialog einen bedeutsamen Schritt nach vorne darstellte. Und kurz nach der Mes- Die Versöhnungsmesse war die Krönung se, im Januar 1990, unterzeichnete eine Gruppe von der Jahrzehnte Polen und Deutschen aus der DDR eine andere wichlang andauernden tige Erklärung „Für Selbstbestimmung und Demogesellschaftlichen kratie. Gemeinsame Erklärung von Polen und DeutBemühungen für die schen aus der DDR“, die von den – seit Jahren an der deutsch-polnische deutsch-polnischen Versöhnung beteiligten – polniVersöhnung. schen und ostdeutschen kirchlichen Kreisen vorbereitet wurde.3 Wenn wir die Liste der Unterzeichner beider Erklärungen sowie die Liste der „Entdecker“ Kreisaus vom Juni 1989 mit den Namen dieser Personen vergleichen, die an der Organisation der Versöhnungsmesse mitgewirkt haben, werden wir feststellen, dass wir es in vielen Fällen mit denselben Leuten zu tun haben. Demzufolge schreibt sich die Versöhnungsmesse sowohl inhaltlich als auch chronologisch sowie personell in den – von der Zivilgesellschaft realisierten – deutsch-polnischen Aussöhnungsprozess ein. Vereinfachend könnte man sagen, das Treffen zwischen Mazowiecki und Kohl sei nicht nur ein Treffen zwischen einem Vertreter des freien Polens und einem Vertreter des freien Teils Deutschlands, sondern auch ein Treffen zwischen der Zivilgesellschaft und der Berufspolitik gewesen; wobei beide Protagonisten nach Regeln handelten, die in ihren eigenen Welten entstanden. Mazowiecki agierte idealistisch; er brach mit der langjährigen kommunistischen Politik der Nicht-Anerkennung einer deutschen Minderheit in Polen und entschied sich für die Versöhnungsgeste, obwohl Kohl die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ablehnte; er schreckte nicht vor dem hohen Preis zurück, den er vielleicht für diese Haltung zu zahlen haben würde. Kohl dagegen verzichtete zwar auf die wenig umsichtige Idee, an der Schwelle zur neuen Wirklichkeit in Polen sich mit der deutschen Minderheit am Annaberg zu treffen, ein durch deutsch-polnische Konflikte belasteter Ort. Darüber hinaus, entgegen der Furcht der polnischen Seite, kehrte er in einem Schlüsselmoment der deutschen Geschichte, im Moment des Mauerfalls als historischem Umbruch, nach 27 bewegten, in • Beide Dokumente wurden unter anderem 1994 in einer deutschen Sonderausgabe der Monatszeitschrift „Więź“ veröffentlicht. 3 50 • Kreisau/Krzyżowa als Erinnerungsort... Deutschland verbrachten Stunden, nach Polen zurück. Kohl war jedoch nicht bereit, so viel zu riskieren wie Mazowiecki. Er vollzog die Versöhnungsgeste, schwieg aber in Sachen Grenze. Er wies auch die 26 CDU-Parlamentarier nicht zurecht, die kurz danach Deutschland dazu aufriefen, die Oder-Neiße-Grenze nicht anzuerkennen. Demzufolge nutzte Kohl die historische Chance nur zum Teil. Wieder einmal in der Nachkriegsgeschichte fehlte es einem Vertreter der westdeutschen Politik an Mut und Entschlossenheit, um entschieden und eindeutig die deutsch-polnische Nachbarschaft von der Vergangenheitslast zu trennen. Doch mindestens teilweise wagte es Kohl, sich von den Ereignissen anspornen zu lassen und nutzte die Möglichkeiten, die von der deutschen und der polnischen Zivilgesellschaft geschaffen wurden. Und das ist schließlich die aktuelle Botschaft der Versöhnungsmesse für Polen, Deutschland und Europa: Die Initiativen von unten schaffen Raum für konstruktives Handeln für die Politik, spornen sie an und erzwingen teilweise manche Aktivitäten. Die Folgen solcher Zusammenhänge können sehr weit reichend sein. Dies ist eine sehr wichtige Feststellung. Die Kreisauer Versöhnungsmesse ist ein Zeichen für die Bewältigung des „Fatalismus der Feindschaft“, der das Fundament des geeinten Europas bildete. Gleichzeitig ist sie ein Zeugnis dafür, dass die Wende größtenteils normalen Menschen zu verdanken ist. Der deutsch-polnische AussöhnungsDie Zivilgesellschaft, der prozess, den lange Zeit kleine, aber fest entschlosseMut, gegen den Strom zu ne Gruppen getragen haben, zeigt uns den Sinn und schwimmen, Solidarität die Wirksamkeit der Aktivitäten von Zivilgesellschafund Versöhnung sind ten. Ohne sie gäbe es keine Europäische Union und zentrale Begriffe, ohne die das ist die zweite Botschaft der Versöhnungsmesse. das europäische Projekt Polnische und deutsche Oppositionelle, die Freunwenige Chancen auf de im „Kreisauer Kreis“ und diejenigen, die später geErfolg hat. gen den Kommunismus in Polen und der DDR kämpften, hatten verstanden, dass Freiheit und Einheit in Europa nur gemeinsam, also solidarisch erkämpft werden kann. Um solidarisch zu handeln, müssen gesellschaftliche, weltanschauliche und vor allem nationale Spaltungen überwunden werden. Demnach war die Aussöhnung in den Augen der Oppositionellen nicht nur ein Schlüssel zur neuen Qualität in den deutschpolnischen Beziehungen, sondern auch zur politischen Freiheit dieser Völker Europas, die sich unter der kommunistischen Herrschaft befanden. Die Zivilgesellschaft, der Mut, gegen den Strom zu schwimmen, Solidarität und Versöhnung sind zentrale Begriffe, ohne die das europäische Projekt wenige Chancen auf Erfolg hat. Kreisau eignet sich hervorragend dazu, darüber nachzudenken. • Robert Żurek, Burkhard Olschowsky • 51 Wen und wie sollte man nach Kreisau einladen? Wie diese Idee verwirklichen? Wir sind uns dessen bewusst, dass wir an dieser Stelle konkrete Vorschläge anbieten sollten. Wir werden allerdings bei einer allgemeinen Anmerkung bleiben: Notwendig wäre es, ein attraktives Programmangebot, hauptsächlich für Schüler und Studenten zu erarbeiten, wie auch die oben angeführten Bemerkungen in einer Ausstellung zu beleuchten. Eine solche Ausstellung sollte für die, die nach Kreisau kommen, eine Möglichkeit schaffen, die außergewöhnliche Geschichte dieses Ortes und seiner Bedeutung für die deutsch-polnischen Beziehungen kennenzulernen. Detaillierte Vorschläge verlangen mehr Arbeit, Überlegungen und Diskussionen. Es würde sich lohnen, sich die Mühe zu machen. Zusammenfassend wollen wir folgende Punkte aufzeigen, wobei wir versuchen werden, Empfehlungen zu formulieren: • Der deutsch-polnische Aussöhnungsprozess spielte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Schlüsselrolle für Europa. • Ein wesentliches Merkmal dieses Prozesses war die führende Rolle der Zivilgesellschaft. • Die propolnischen Forderungen des „Kreisauer Kreises“ können als ein wesentlicher Ausgangspunkt für den deutsch-polnischen Aussöhnungsprozesses betrachtet werden. • Die Kreisauer Versöhnungsmesse stellte den krönenden Abschluss dieses Prozesses dar, und die Versöhnungsgeste gerade an diesem Ort, während des christlichen Gottesdienstes, war die Folge des Charakters und Verlaufs des Aussöhnungsprozesses. • Dieser Prozess, dessen symbolischer Anfang und symbolisches Ende in Kreisau stattfand, hat nicht an Aktualität verloren, weil er uns die Bedeutung der deutsch-polnischen Versöhnung für das heutige Europa veranschaulicht, zugleich lehrt er uns, wie wichtig Zivilcourage und Initiativen von unten sind. • Die Versöhnung sollte auch deshalb hervorgehoben und als Grundlage für die Einheit Europas stets neu vermittelt werden, da ihre Ergebnisse schnell untergraben werden können und Vertrauen verspielt werden kann. Ein Beispiel sind die Schuldzuweisungen, die Polen trügen die Verantwortung für die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch Auffassungen, wonach Versöhnung naiv sei und nur bloße Interessenpolitik zwischen Polen und Deutschland zähle. • Es lohnt sich, darüber möglichst allen zu erzählen und Kreisau ist dafür besonders geeignet. 52 • Kreisau/Krzyżowa als Erinnerungsort... Bibliografie: Morawska Anna, Chrześcijanin w Trzeciej Rzeszy, Warszawa 1970. (deutsche Ausgabe: Morawska Anna, Dietrich Bonhoeffer. Ein Christ im Dritten Reich, Münster 2011) Niesiołowski Stefan, Niemieccy przeciwnicy Hitlera, Łódź 1995. Olschowsky Burkhard, Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen in den Jahren 1980–1989, Osnabrück 2005. Żurek Robert, Zwischen Nationalismus und Versöhnung. Die Kirchen und die deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1956, Köln 2005. Dr. Burkhard Olschowsky Seit Mai 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; seit November 2010 in Warschau für das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität tätig; verbunden mit Kreisau über die Zusammenarbeit bei den jährlichen Ost-Westeuropäischen Gedenkstättenseminaren. E-Mail: [email protected] Dr. Robert Żurek Historiker und Theologe, seit Herst 2013 Direktor der Breslauer Abteilung des Instituts für nationales Gedenken; bis 2012 stellvertretender Direktor des Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin; vielfache Teilnahme an Seminaren und Workshops in Kreisau als Referent und Gast. E-Mail: [email protected] Andrea Genest Deutsche Perspektiven auf den historischen Ort Kreisau Die symbolischen Schichten Kreisaus Der Erinnerungsort Kreisau/Krzyżowa steht vor allem für einen Ort der wechselvollen deutschen Geschichte – den Ruhesitz des Generalfeldmarschalls Helmuth Graf von Moltkes sowie den Lebensmittelpunkt Helmuth James Graf und Freya Gräfin von Moltkes, Mitglieder der Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus „Kreisauer Kreis“. Im Jahr 1989 geriet das Gut Kreisau auch als zeitgenössischer und zukunftsträchtiger Ort in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Juni des Jahres fand in Wrocław eine Tagung des Klubs der Katholischen Intelligenz und der Aktion Sühnezeichen Ost statt, die Annemarie Franke in ihrem Beitrag in diesem Band als eine „Initiation“ der späteren Stiftung Kreisau bezeichnet.1 Im gleichen Jahr begegneten sich die beiden Regierungschefs Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl in Kreisau, um gemeinsam an einer Versöhnungsmesse teilzunehmen. Kreisau war in Deutschland nie ein einheitlich gelesener Ort. Für die unterschiedlichen Akteure, die 1989 begannen, sich dort zu engagieren, standen durchaus unterschiedliche Ansätze im Mittelpunkt, die hier leicht idealtypisch zusammengefasst werden sollen: Der „Kreisauer Kreis“ war zu einem wichtigen und signifikanten Bestandteil einer vor allem westdeutschen Debatte über den Gehalt und die Bedeutung des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geworden. Spät zu gesellschaftlicher Anerkennung gekommen, dokumentiert dieser vor allem die Minderheitenpositionen von Resistenz, Widerstand und Opposition, von Eigenverantwortung und Rechtsgefühl. Im Gegensatz zu den Widerstandsbewegungen in anderen Ländern war der Widerstand in Deutschland in erster Linie nicht militärisch organisiert. Indem er sich gegen das Regime richtete, richtete er sich implizit auch gegen die Meinungen Vgl. Beitrag von Annemarie Franke auf den Seiten 24-29. 1 54 • Deutsche Perspektiven auf den historischen Ort Kreisau der Mehrheit der deutschen Gesellschaft. Dies erschwerte nach dem Krieg die gesellschaftliche Anerkennung des Widerstandes. Mit Blick auf die Uneindeutigkeiten der Biografien vieler Widerstandsangehöriger zielt ein wesentlicher Fokus der Widerstandsforschung auf die Frage nach der Entstehung individueller Selbstbehauptung. KreiMit Blick auf die sau steht hier für einen der Orte, an dem sich AngeUneindeutighörige des Widerstandes über die Möglichkeiten ihres keiten der Handelns ausgetauscht haben. Ansatzpunkte der Biografien vieler heutigen Auseinandersetzung mit dem Widerstand Widerstandsangehöriger des „Kreisauer Kreises“ sind unter anderem dessen zielt ein wesentlicher Planungen für ein demokratisches und in europäische Fokus der Strukturen eingebettetes Nachkriegsdeutschland soWiderstandsforschung wie seine Analysen der nationalsozialistischen Verauf die Frage nach der brechen – Beispiele des Erkennens von Unrecht und Entstehung individueller der Suche nach individuellen Handlungsoptionen. Selbstbehauptung. Auch für unterschiedliche Gruppen in der DDR wurde Kreisau zu einem Ort, an dem mindestens zwei Ansatzpunkte zusammengedacht werden konnten: Zum einen war die eingehende Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ein Versuch, die staatlich verordnete Völkerfreundschaft sowie die, wie Simone Barck es formulierte, „Inszenierung und Ritualisierung des Antifaschismus als zentralem Gründungsmythos und Teil des gesellschaftlichen Lebens in der DDR“2 mit Inhalten zu füllen. Als leere Pathosformel empfunden, schien diese keine adäquate Antwort auf die spürbaren Folgen der nationalsozialistischen Verbrechen im Ausland zu sein. Spätestens mit der Gründung der Aktion Sühnezeichen um Persönlichkeiten wie Lothar Kreyssig und Günther Särchen im Jahr 1958 war der Notwendigkeit Ausdruck verliehen worden, den Menschen in den von Deutschland während des Zweiten Weltkrieges angegriffenen und besetzten Ländern Europas durch persönliche Haltung zu begegnen. Doch Polen wurde für die sich in den 1980er Jahren langsam entwickelnden oppositionellen Netzwerke in der DDR in gewisser Weise auch zu einem Vorbild. Lag im Westen der ökonomisch starke Staat, lebten im östlichen Nachbarland Menschen, denen es immer besser gelang, sich Freiräume in einem vorgestanzten und oktroyierten Gesellschaftsmodell zu schaffen. Gruppen, Zeitschriften, Formen der Eigenständigkeit, die sich in Teilen fast zu einer Parallelgesellschaft • Simone Barck, „Grundfrage: Antifaschistischer Widerstand“. Zur Widerstandsrezeption in der DDR bis 1970, in: Utopie Kreativ, H. 118, August 2000, S. 786–796, hier S. 786. 2 Andrea Genest • 55 innerhalb der Volksrepublik Polen entwickelten, wurden in der DDR mit Interesse verfolgt und bisweilen kopiert. Und schließlich weckte die Geschichte Kreisaus auch das Interesse in polnischen Kreisen: Der Kreisauer Kreis traf nicht unbedingt die in Polen gängige Definition von Widerstand. Da aber bis auf den Anschlag vom 20. Juli 1944 und die Schriften Dietrich Bonhoeffers wenig aus dem deutschen Widerstand in Polen bekannt war, bildete der Kreisauer Kreis eine Erweiterung des Horizonts. In Schlesien gelegen, stellte die Beschäftigung mit Kreisau auch eine Beschäftigung mit der Geschichte der polnischen Westgebiete dar. Während des Kommunismus hatte die staatliche Geschichtsdoktrin Schlesien in die polnische Geschichte zu integrieren versucht. Diskontinuitäten und deutsche Spuren wurden nivelliert oder bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Eine Beschäftigung mit den „weißen Flecken“ der eigenen Geschichte, den nicht zugelassenen Facetten, kann ebenfalls als Form der Selbstbehauptung verstanden werden. Für Polen wie Deutsche bedeutete die Aneignung der Geschichte des Nachbarn einen Weg in ein gemeinsames Europa – jenseits jeweiliger Nationalismen.3 Diese drei unterschiedlichen Perspektiven umreißen die Hintergründe der ersten Kreisau-Konferenz 1989 in Breslau, aus der nach den politischen Umbrüchen 1989 das Projekt einer Begegnungsstätte in Kreisau erwuchs. Debatten um das Narrativ des „Neuen Kreisau“ Vor diesem Hintergrund entstand in den 1990er Jahren die ständige Ausstellung der Stiftung Kreisau, die seitdem im dortigen Schloss gezeigt wird. Sie trägt dem Entstehungskontext der Stiftung Kreisau während der frühen Transformationsjahre und den Fragen nach einer gemeinsamen Zukunft in Europa Rechnung. Aber eine Ausstellung ist auch immer Ausdruck einer zeitgenössischen Diskussion auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes. Die als Begegnungsstätte renovierte Gutsanlage in Kreisau ragte lange Zeit etwas fremd aus ihrer Umgebung hervor. Das Projekt Kreisau steht für Inhalte, die sich kaum mit einem Satz vermitteln lassen und bis heute einiger, auch kultureller Übersetzungsarbeit bedürfen. Es versucht, den unterschiedlichen Erwartungen an den Ort Kreisau auf einer diskursiven Ebene gerecht zu werden. Diskursiv, da hier Inhalte miteinander verhandelt werden, die unterschiedlichen historischen Zusammenhängen entspringen und über keinen unmittelbaren Zusammenhang verfügen müssen. Zugleich stehen die in Kreisau vermittelten Für ein neues Europa oder wie entstand die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, hg. vom Verein der Freunde Kreisaus, Wrocław 2002 (1. Auflage 1997). 3 56 • Deutsche Perspektiven auf den historischen Ort Kreisau Inhalte aber für wesentliche historische Traditions- und Erinnerungsbestände in Polen und Deutschland, die bereits im eigenen Land zu langanhaltenden Diskussionen führten. Ihr Zusammentreffen in Kreisau bietet die Chance, historische Hintergründe sowie historiografische und geschichtspolitische Debatten zu verstehen, die das Nachbarland prägten und prägen. Die derzeitige Dauerausstellung „In der Wahrheit leben“ der Autoren Ludwig Mehlhorn und Katarzyna Madoń-Mitzner zeigt Beispiele oppositioneller und widerständiger Tätigkeit im nationalsozialistischen Deutschland sowie in den kommunistischen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten. Der eigentliche Ansatz der Ausstellung zielt nicht auf eine Nivellierung der Systemunterschiede und die Gründe und Ausmaße der Verfolgung, wie ihr bisweilen vorgeworfen wird. Er zielt auf den Einzelnen, auf das Erkennen von Handlungsspielräumen, auf das Schaffen von „Inseln freien Die Erinnerung an Denkens“ und der „Suche nach Alternativen zum den Völkermord an Status quo“.4 Ludwig Mehlhorn selbst stellte sich den Juden und die in der Einleitung zum Ausstellungskatalog die FraVernichtungspolitik des ge, ob sich im Handeln von Widerstand und OppoNationalsozialismus in sition über die politischen und ideologischen Grenzen Europa ist spätestens hinweg Gemeinsamkeiten feststellen ließen – und mit den 1990er Jahren bejahte dies. Allerdings bejahte er dies auf der Ebene zu einem elementaren der Werte und Erwartungen – der individuellen HalBestandteil der tungen, des Anspruchs an den Menschen als hanpolitischen Kultur in delndes Subjekt. Er beantwortet dies nicht auf einer Deutschland geworden. realhistorischen Ebene – und hier scheint der wenig ausgesprochene Kern einer Debatte zu liegen, die sich derzeit mehr in Vorwürfen denn in Aushandlungsprozessen begriffen sieht. Er bezieht dies nicht auf die Verfolgungsgründe, den ideologischen Gehalt oder die unmittelbaren Gefahrensituationen, denen Menschen ausgesetzt waren. Die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus in Europa ist spätestens mit den 1990er Jahren zu einem elementaren Bestandteil der politischen Kultur in Deutschland geworden. Die Sorge im In- und Ausland, Deutschland könne diese Verantwortung schnell wieder loswerden wollen, spiegelt sich in immer wieder neu entflammenden Debatten. In Erinnerung gerufen sei an dieser Stelle die Diskussion um die Initiative im Europäischen Parlament, den 23. August in Mahnung an den • Ludwig Mehlhorn, In der Wahrheit leben. Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, in: Ders., In der Wahrheit Leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, S. 10-17, hier S. 11. 4 Andrea Genest • 57 Hitler-Stalin-Pakt zum europäischen Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime zu erklären. Die Frage, wie das eine getan werden kann, ohne das andere lassen zu müssen – wie die Verbrechen des Nationalsozialismus gegenwärtig bleiben können, ohne von Unrecht und Terror im Stalinismus zu schweigen, wie über Opposition im Staatssozialismus gesprochen werden kann, ohne in eine Anerkennungs- und Abwehrfalle zu fallen, dies ist vor allem auf dem Hintergrund erinnerungspolitisch durchaus gewollter Kontroversen noch nicht beantwortet. Aber auch die Darstellung der Geschichte Kreisaus vor Ort führte bisweilen zu Irritationen. 30 Kilometer vom ehemaligen Konzentrationslager Groß-Rosen entfernt scheint der Bezug für manche Besucherinnen und Besucher zu den in unmittelbarer Nähe begangenen Verbrechen zu schwach und die demokratietheoretischen Aspekte des Kreisauer Kreises zu stark betont zu sein.5 Unter anderem angeregt durch solche Einwände wird auch für die bisherige Dauerausstellung immer wieder darüber nachgedacht, ob sie einer stärker historischdifferenzierten Einordnung bedarf. Dies könnte den Hinweis auf das ehemalige KZ Groß Rosen bzw. die Frage, ob die dortigen Verbrechen Einfluss auf die Debatten des Kreisauer Kreises hatten, mit einbeziehen. Die Thematik von Opposition und Widerstand bot sich in den 1990er Jahren an – wollte man doch dem Ort gerecht werden und zugleich der Reflexion Raum geben, wie es zu den politischen Umstürzen 1989 kommen konnte. Widerstandsgeschichte gerät aber auch immer wieder in den Verdacht, für identifikationsstiftende Aussagen herangezogen zu werden. Auflehnung gegen Freiheitsbeschränkung wird dabei als Ausdruck starken Charakters und nationaler Selbstbestimmung gelesen. Dagegen wendet der wissenschaftliche Leiter der Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Peter Steinbach ein, Widerstandsgeschichte eigne sich streng betrachtet nur wenig zur organisierten und noch weniger zur organisatorischen Identitätsstiftung partikularer Gruppen, denn in letzter Konsequenz sei dieser Ausdruck einer heute unmenschlich anmutenden Einsamkeit.6 Diese Lesart widersetzt sich jeglicher Heroisierung. Vielmehr kann sie helfen, sich immer wieder die Differenz und die Distanz zur Vergangenheit zu vergegenwärtigen und sie nicht mit Verweis auf spätere positive Entwicklungen in ihrer Drastik abschwächen zu wollen. Vgl. Barbara Distel, Zwischen Fakten und Legenden. Erinnerung an KZ-Verbrechen in Niederschlesien. in: Dachauer Hefte Nr. 24, Dachau 2008, S. 95-102. hier S.102. 6 Vgl. Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn u. a. 2001, S. 468. 5 58 • Deutsche Perspektiven auf den historischen Ort Kreisau Überlegungen für ein neues Narrativ Dies führt in den letzten Punkt dieser Überlegungen – Narrative verändern sich. In der bisherigen, zwanzigjährigen Arbeit der Stiftung Kreisau haben sich neue Schwerpunkte herausgebildet, die es gilt, in einer erweiterten Ausstellung anzusprechen. Kreisau wird heute als Bestandteil einer langjährigen deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte verstanden, in die Erfahrungen der ostmitteleuropäischen Oppositionsbewegungen eingehen. Es steht darüber hinaus für die Geschichte Schlesiens, deutsch geprägt, aber heute unbestrittener Teil Polens, und es ist weiterhin der Ort, an dem Menschen die Spuren des Kreisauer Kreises suchen als einer wichtigen Gruppe des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Deutschland. Diese drei Linien kreuzen sich in der Geschichte Kreisaus. Sie können heute gar nicht anders als in einer europäischen Perspektive betrachtet werden, jedoch ohne sich im Allgemeinen zu verlieren. Das Gelände des ehemaligen Gutes Kreisau bietet die Chance, vom Ort selbst auszugehen und ihn in seinen unterschiedlichen Zeitschichten zu lesen. Diese Spuren sollten in den Kontext europäischer Zeitgeschichte und der deutschpolnischen Annäherungen gesetzt werden. So bemerkenswert das Projekt Kreisau ist, so stabil die Beziehungen – die Diskursivität, die bis heute in den gemeinsamen Themen steckt, soll auch weiterhin erhalten bleiben. Eine gemeinsame Geschichte bedeutet nicht, dass sie immer gleichermaßen und gemeinsam gesehen wird. Die Wahrnehmung von Differenzen ist damit Teil des Narrativs. Bibliografie: Genest Andrea, „Dafür gibt es für unsere Verhältnisse beschämend viele freie Blätter.“ Polen im Spiegel des DDR-Samisdat der achtziger Jahre. in: Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, hrsg. von Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag, Berlin 2008. Kreisau/Krzyżowa: Geschichts- und Zukunftswerkstatt für Europa, hrsg. von der Kreisau-Initiative Berlin, München 2009. Mehlhorn Ludwig, In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Begleitbuch zur Ausstellung, Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, Kreisau 2012. Steinbach Peter, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn u. a. 2001. Dr. Andrea Genest Politikwissenschaftlerin, Koordinatorin der Projektgruppe „Im Westen angekommen? Die Integration von DDR-Zuwanderern als historischer Prozess“ an der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde/Stiftung Berliner Mauer, stellvertretende Vorsitzende der Gedenkstätten- und Akademie-Kommission der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, Mitbegründerin der Ost-westeuropäischen Gedenkstättenseminare in Kreisau. E-mail: [email protected] Pierre-Frédéric Weber Frankreich – Deutschland – Polen: Verständigung jenseits von Bilateralität Das Problem der Versöhnung ist im religiösen Kontext, dem es entstammt, eng mit dem Prozess des Verzeihens verbunden. In der jüdischen Tradition soll das Versöhnungsritual dazu dienen, dem reuigen Sünder die Rückkehr in die Gemeinschaft zu ermöglichen; dieses kollektive Moment ist stärker ausgeprägt als im Christentum, das vor allem in seiner katholischen Version im Laufe der Jahrhunderte unter anderem mit der Beichte eine personalisierte Form des Vergebens institutionalisiert hat. Letzteres schließt allerdings die Übertragung auf die kollektive Ebene nicht aus. Immerhin begann die zwischenstaatliche deutsch-französische Verständigung mit der Kontaktaufnahme zwischen zwei christlich geprägten Personen und Staatsmännern – dem General Charles de Gaulle und Konrad Adenauer –, deren friedlicher Dialog schließlich in einer gemeinsamen Messe seinen religiösen und symbolischen Höhepunkt erreichte. In Reims schlossen der französische Präsident und der erste deutsche Bundeskanzler am 8. Juli 1962 einen persönlichen Frieden miteinander, beide jedoch stellvertretend für die jeweilige Gesellschaft, die sie repräsentierten. Verbunden war die Zeremonie mit einem entsprechenden performativen Diskurs, der ausdrücklich von Versöhnung zwischen den beiden Völkern sprach. Reims wurde somit erneut zu einem Erinnerungsort, der – diesmal positive – religiöse Momente aufwies, nachdem die Stadt im französisch-preußischen Krieg von 1870, noch stärker aber im Ersten Weltkrieg Kriegszerstörungen erlebt und den nicht unberechtigten Ruf einer Märtyrerstadt erlangt hatte. Insofern spielte die religiöse Begegnung in Reims die Rolle eines Rituals, das eine Sakralisierung des politischen Handelns beinhaltete, zugleich aber als Resakralisierung durch Krieg und Verbrechen „entweihter“ Wechselbeziehungen zu verstehen war. Erst dieser Versöhnungsakt mit dem großen Nachbarn und einstigen „Erbfeind“ Frankreich leistete außerdem in der Wahrnehmung des Letzteren die wahre Resubjektivierung der Deutschen als Akteure, nachdem die Verrohung der internationalen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg und die na- 60 • Deutsch-französische und deutsch-polnische Beziehungen... tionalsozialistischen Verbrechen sie undifferenziert zur Bedrohung und Gefahr gemacht hatten. Im deutsch-polnischen Verhältnis dauerte dieser Prozess nicht zuletzt aufgrund von innen- und blockpolitischen Verzögerungseffekten länger. Trotzdem fand sich der Geist der persönlichen und stellvertretenden Versöhnung in der Messe in Kreisau vom 12. November 1989 wieder. Auch hier führte eine kirchliche Zeremonie zwei Regierungschefs zusammen, die zwecks Annäherung beider von ihnen repräsentierter Völker gemeinsam einem Versöhnungsgottesdienst beiwohnten. Auch in dem Fall wurde die Wahl des Ortes nicht dem Zufall überlassen: Kreisau sollte als ehemaliges Gut der Familie von Moltke, deren Mitglieder im Widerstand gegen Hitler aktiv gewesen waren, als Zeichen für andere deutsch-polnische Beziehungen, ja als Sühnezeichen fungieren. Indem der sich in Gesten und Diskursen ausdrückende Normwandel in erster Linie die Ebene der gegenseitigen Perzeptionen betrifft, lässt er allerdings einen anderen wesentlichen Bereich nicht unberührt – den der Gefühle. Der emotionale Gehalt ist weder in Konfliktgemeinschaften noch in Friedensprozessen zu unterschätzen, er spielt in Politik und Religion, vor allem im Rahmen der Versöhnung, eine bedeutende Rolle. Die Tatsache, dass sowohl politische als auch religiöse, gesellschaftlich sinnstiftende Projekte in der Vergangenheit manchmal dazu verleitet haben, Emotionen negativ zu instrumentalisieren bzw. diese zwecks zerstörerischer Aktionen den Argumenten der Vernunft vorzuziehen, sollte dabei das emotionale Moment nicht grundsätzlich disqualifizieren; Versöhnung als manchmal es lässt sich nämlich auch mit Gewinn anwenden. langwieriger Weg, der im Versöhnung als manchmal langwieriger Weg, der Idealfall von Feindschaft im Idealfall von Feindschaft zu Freundschaft führt, ist zu Freundschaft führt, sehr wohl mit einer Umkehrung negativer Emotionen ist sehr wohl mit einer verbunden. Mit Reims und Kreisau/Krzyżowa setzten Umkehrung negativer maßgebende Entscheidungsträger auf einen solchen Emotionen verbunden. emotionalen Wandel. Es galt natürlich nicht so sehr, Hass in Liebe, sondern vor allem vergangene Angst und Misstrauen in Vertrauen zu wandeln, durch die Überwindung des „Fatalismus der Feindschaft“1, als Grundlage für eine wiedergewonnene Stabilität im Verhältnis zueinander. Im deutsch-polnischen Beziehungskomplex war bereits Bundeskanzler Willy Brandts berühmter Kniefall in Warschau (1970) ein lebendiges Zeichen für den emotionalen Wandel in der Bundesrepublik gewesen. • Stanisław Stomma, Czy fatalizm wrogości? Refleksje o stosunkach polsko-niemieckich 1871– 1933, Kraków 1980. 1 Pierre-Frédéric Weber • 61 Brandt übernahm damals die Rolle des ehrlichen Reumütigen, der den Wandel nicht nur mitdachte sondern auch mitfühlte. Dadurch bewirkte er wiederum bei seinen polnischen Adressaten einen langsamen emotionalen Wandel – zwar nicht in der Parteiführung, doch bei vielen anonymen Bürgern, für die das Bild des knienden Deutschen die Möglichkeit positiv aufgeladener Beziehungen barg. Wie aber wurde für eine tatsächliche zivilgesellschaftliche Annäherung auf der Ebene der kollektiven Gefühle gesorgt? Da die emotionale Perzeption des Anderen in den internationalen Beziehungen eng mit dem allgemeinen Mental Mapping der Akteure und den damit assoziierten Bildern verbunden ist, musste daran gearbeitet werden, das Heterostereotyp des gefährlichen Deutschen zu delegitimieren. Dies geschah in erster Linie durch die zunehmende Aufnahme von organisierten Kontakten und Austauschprogrammen für die Jugendlichen beider Länder; diesem Zwecke sollte – nicht zufällig – eine der wichtigsten, durch den Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 gegründeten Einrichtungen, nämlich das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW/OFAJ) dienen. Die Reisen und Auslandsaufenthalte von jungen Franzosen in der Bundesrepublik sowie jungen Westdeutschen in Frankreich sollten dazu beitragen, durch einen Wandel der gegenseitigen Wahrnehmung auch entsprechend positive Emotionen zu wecken (abgesehen sogar von deutsch-französischen Eheschließungen!), die eine tief greifende Veränderung der Gefühlskultur in Bezug auf den Nachbarn herbeiführen würden. Der dabei tatsächlich verbuchte Erfolg lieferte ein Beispiel, das im deutsch-polnischen Prozess wieder aufgegriffen wurde: Am 1.Januar 1993 nahm das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW/PNWM) ausdrücklich in Anlehnung an die deutsch-französischen Erfahrungen seine Tätigkeit auf. Im Versuche, Annäherung zu ermöglichen, wurde allerdings nicht stets auf dieselben Träger oder Motive zurückgegriffen. Der Erinnerungsort, an den in Kreisau/Krzyżowa im Rahmen des deutsch-polnischen Versöhnungsprozesses angeknüpft wurde, nämlich der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg, spielte im deutsch-französischen Dialog eine eher geringe – zweit-, wenn nicht gar drittrangige Rolle. Ein ausschlaggebendes Erklärungsmoment findet sich bestimmt in der allgemeinen französischen Erinnerungskultur und Gedenkökonomie in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Rolle Frankreichs. Der in der Tat wichtige Beitrag der Résistance zur Befreiung des französischen Territoriums wurde nach dem Krieg im Verhältnis zum noch wesentlicheren militärischen Einsatz der Alliierten überbewertet und sakralisiert, was als Mittel zur Legitimation des Gaullismus nach innen und nach außen dienen sollte. De Gaulle war der Begründer der vom französischen Historiker Henry Rousso als 62 • Deutsch-französische und deutsch-polnische Beziehungen... „Resistenzialismus“ (Résistancialisme) bezeichneten Meistererzählung zur Rolle Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Unwiderlegbar ist, dass dieser Gründungsmythos der Nachkriegszeit dazu beitragen konnte, die zerrissene Nation wieder zusammen zu schweißen. Das schwierige Verhältnis Frankreichs zum eigenen Widerstand – seinem Ausmaß, seinen Akteuren, seinen Grenzen – sowie zu seinem Gegenpart, der Collaboration, mag dazu beigetragen haben, den Blick auf den deutschen Widerstand zu versperren. Wenn, dann wurde letzterer am heroischen Beispiel der Geschwister Scholl rezipiert, allerdings erst verstärkt in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren. Auf offizieller Ebene blieb der Bezug eher bescheiden. Umso bemerkenswerter erscheint deshalb der offizielle Besuch des französischen Ministerpräsidenten Jean-Marc Ayrault im Museum der Weiße Rose Stiftung e.V. am 6. April Im deutsch2013 während seines Aufenthalts in München, wo er französischen Fall anlässlich des siebzigsten Jahrestages der Hinrichwirkte die gemeinsame tung der Geschwister Scholl und weiterer Mitglieder Zugehörigkeit zum der Widerstandsgruppe deren Beitrag zum Kampf westlichen Lager, gegen den Nationalsozialismus zu würdigen wusste. die demokratische Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass im Konvergenz sowie Versuch, beide Annäherungsgeschichten zu vergleidie Zusammenarbeit chen, der politische und wirtschaftliche Kontext der in der Europäischen jeweiligen Wechselbeziehungen stets mitgedacht werGemeinschaft stark den sollte. Er war es natürlich, der die ausschlaggebenbindend; die deutschden Rahmenbedingungen lieferte: Im deutsch-franpolnischen Schritte zösischen Fall wirkte die gemeinsame Zugehörigkeit wiederum verlangten zum westlichen Lager, die demokratische Konvergenz die Inkaufnahme sowie die Zusammenarbeit in der Europäischen Genicht unwesentlicher Hindernisse, die durch die meinschaft stark bindend; die deutsch-polnischen Konstellation des Kalten Schritte wiederum verlangten die Inkaufnahme nicht unwesentlicher Hindernisse, die durch die KonstellaKrieges aufgezwungen tion des Kalten Krieges aufgezwungen wurden. Dies wurden. spielte gerade 1989 eine große Rolle: Die Mechanismen der gut eingespielten deutsch-französischen Zusammenarbeit halfen, vorläufig wieder aufflammende Ängste angesichts des deutschen Neuvereinigungsprozesses zu lindern. Im deutsch-polnischen Fall ging es Polen aber nicht zuletzt darum, die Nachkriegszeit mit Verzug abzuschließen – territorial und sicherheitspolitisch. Erst dann konnte eine ehrliche Annäherung ins Auge gefasst werden. Trotz der Unterschiede in Ausgangsposition und Chronologie weisen der deutsch-französische und der deutsch-polnische Versöhnungsprozess unwi- • Pierre-Frédéric Weber • 63 derlegbare Berührungspunkte in der Herangehensweise auf, vor allem was die säkularisierte Religiosität und Emotionalität in der Annäherung anbelangt. Die Konstruktion eines anderen Deutschlandbildes verfolgte in Polen und in Frankreich manchmal andere Wege, indem nicht immer auf dieselben Motive aus der Vergangenheit Bezug genommen wurde. Im Rahmen des gemeinsamen europäischen Projektes im Allgemeinen und der deutsch-französisch-polnischen Kooperation im Besonderen ließe sich das Modell des Weimarer Dreiecks vielleicht in Richtung einer verstärkten Vermittlung beider Verständigungserfahrungen ausbauen. Zwar könnten – und sollten – dabei die Unterschiede nicht aufgehoben werden, doch zumindest wäre durch einen trilateralen politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Austausch ein Stück Arbeit in Richtung einer angehenden Integration der vielseitigen und mitunter kollidierenden Erinnerungskulturen in Europa geleistet. „Weimarisierung“ lässt sich aber auch im breiten Sinne verstehen, nämlich als Multilateralisierung, die eine Ausdehnung auf außereuropäische Friedensförderung nicht ausschließen würde. Als stark symbolischer Ort für Zivilcourage und Völkerverständigung kann Kreisau jenseits des schlicht deutsch-polnischen Rahmens und dennoch weiterhin im Sinne Helmuth James von Moltkes „gegen einen Geist der Enge, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten“2 wirken. Bibliografie: Assmann Aleida, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. Celemajer Danielle, The Sins of the Nation and the Ritual of Apologies, Cambridge/New York 2009. Reddy William R., The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge/ New York 2001. Rousso Henry, Le syndrome de Vichy, Paris 1987. Weber Pierre-Frédéric, „Deutsch-französische ‚Versöhnung’ vs. deutsch-polnische ‚Normalisierung’. Vergleichbarkeit der Grenzen/ Grenzen der Vergleichbarkeit“, in: Trudne sąsiedztwo. Z dziejów relacji polsko-niemieckich w XX i początkach XXI wieku, hrsg. von Katarzyna JedynakiewiczMróz, Wrocław 2011. Dr. Pierre-Frédéric Weber Gastprofessor am Lehrstuhl für romanische Philologie der Universität Stettin, beschäftigt sich mit der Geschichte der internationalen Beziehungen, insbesondere der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und Mittel- und Osteuropa nach 1945. E-Mail: [email protected] Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya 1939–1945, hrsg. von Beate Ruhm von Oppen, München 1991, S. 50. 2 Gregor Feindt Welches Europa in Kreisau? Europavorstellungen im Umfeld der Stiftung Kreisau Europa ist in Kreisau in unterschiedlicher Form überall präsent. Nicht nur im Namen der Stiftung für europäische Verständigung und der Satzung der Stiftung, sondern auch in konkreten Projekten oder in der Form einer Europaflagge, die früher in der Cafeteria hing, bildet Europa einen elementaren Bestandteil der Bildungs- und Begegnungsarbeit und des Alltags in Kreisau. Was aber bedeutet Europa in dieser abstrakten und praktischen Vorstellungswelt? Auf welche konkreten Ausprägungen des zumeist offenen Europabegriffes bezieht sich die Stiftung Kreisau mit ihren Mitarbeitern und Gremien, beziehen sich Freiwilligendienstleistende oder Gäste der Stiftung, wenn sie in Kreisau von Europa sprechen. Der folgende Beitrag will dieser Frage in einer kurzen Bestandsaufnahme Kreisauer Vorstellungen von Europa nachgehen, um daraus Perspektiven und Ansprüche an ein Kreisauer Europa zu entwickeln. Kreisau als Stiftung und Denkwerkstatt entstand 1989 während des Zusammenbruchs der staatsozialistischen Regime und mitten in einer neuen Euphorie für die europäische Einigung. Nachdem seit Mitte der 1980er Jahre mit der Mitteleuropa-Debatte auch im Westen ein erneutes Bewusstsein für die Teilung des Kontinents aufgekommen war, schien dieses Mitteleuropa im Zuge der friedlichen Revolutionen nach Europa „zurückzukehren“. Die Ideengeber und Begründer der Stiftung Kreisau lehnten die Asymmetrie dieses Narratives und die dahinter liegende Vorstellung eines Kulturgefälles deutlich ab und betonten, ein zukünftiges Europa könne nur aus gleichberechtigten Partnern bestehen. Am deutlichsten wurde dies in der inhaltlichen Ausrichtung der entstehenden Begegnungsstätte, ihrer historischen Rückbezüge und ihrer ersten Dauerausstellung. Am symbolträchtigen Ort des Kreisauer Kreises und so im Zeichen des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus bezog Kreisau Opposition und Dissidenz in den sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas Gregor Feindt • 65 nach 1945 mit ein. Jugendliche und Erwachsene sollten sich an diesem Ort begegnen und aus der Anschauung dieser „handelnden Denker“ für Demokratie und Toleranz lernen. Dabei ist die gemeinsame und vergleichende Beschäftigung mit Widerstand und Opposition in Ost und West nicht einer bloßen Vorstellung von Gleichberechtigung geschuldet oder der Tatsache, dass Kreisau seit 1945 Krzyżowa heißt und sich in Polen befindet. Sie entstammt vielmehr der Überzeugung, dass „[i]n der Person des osteuropäischen Dissidenten […] dem Westeuropäer seine eigene Vergangenheit [des Widerstands gegen Totalitarismus, G.F.] entgegen“1 trat. Umgekehrt fanden auch die polnischen Gründer Elementares und Zukunftsweisendes im Denken des Kreisauer Kreises. In den Anfangsjahren der Stiftung war es Polen und Deutschen in Kreisau bewusst, dass der Aufbau eines gemeinsamen Europas, das über das institutionalisierte Projekt der EWG hinausgeht und die Transformationsstaaten in Mittel- und Osteuropa einbezieht, langandauernd und schwierig werden würde. Gerade die deutschen Stiftungsgründer hofften, dass Kreisau für die Menschen aus den Ländern des vormaligen Ostblock „in Anrechnung ihres Beitrages zur europäischen Widerstandstradition eine Ebenbürtigkeit mit dem Westen durch die kommenden, langen Jahre des Aufbaus eines gemeinsamen Europas verkörpern“2 könne und das Projekt Kreisau auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zum neu wachsenden Europa leisten werde. An Widerstand und Opposition gegen Totalitarismen in Ost und West zu erinnern, erneuerte so – um die Worte eines Konzeptpapiers des Kreisauer Kreises aufzugreifen – „einen gemeinsamen europäischen Ethos“,3 der die Differenz von Ost und West überwindet. Diese Inspiration manifestierte sich in der Gründung der Stiftung Kreisau, im Wiederaufbau des Gutshofes zu einer Begegnungsstätte und in der Arbeit für Freiheit und Demokratie in sozialer Verantwortung. Dieses Handeln war in der Anschauung oppositioneller Vorbilder wie Helmuth James von Moltke oder des ukrainischen Dissidenten Petro Hryhorenko ein Stephan Steinlein, Kreisau oder die Mitte Europas, überarbeiteter Text eines Vortrags, gehalten am 15.11.1991 vor der Deutsch-Polnischen Gesellschaft in Oldenburg (Kopie im Archiv der Stiftung Kreisau). 2 Mark Huessy, Europavorstellungen, Überlegungen vom 23. Juli 1991, überarbeitet 2004, E-Mail an den Verfasser vom 21.06.2013. 3 Das Europäische Verfassungsproblem, in: Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, hrsg. von Roman Bleistein, Frankfurt am Main 1987, S. 260-269, hier S. 260f. 1 66 • Welches Europa in Kreisau? ... „Akt der Selbstbefreiung“,4 der bis heute als Impuls und Begründung zivilgesellschaftlichen Handelns verstanden werden kann. Die Leitbegriffe dieses „gemeinsamen europäischen Ethos“ blieben bewusst offen und wurden von den Gründungsakteuren der Stiftung auf unterschiedliche Weise, christlich oder humanistisch, motiviert. Diese Universalisierung einer ethischen Grundlage integrierte Menschen guten Willens und ordnete Unterschiede den gemeinsamen Zielen von Demokratie, Freiheit und gleichberechtigter Teilhabe an Europa unter. Schon der Kreisauer Kreis hatte einen solchen Zusammenschluss für ein zukünftiges, ethisch fundiertes Europa angemahnt und kann selbst als Beispiel dafür dienen. Der Kooperationsgedanke und seine argumentative Diese Kreisauer Universalität bilden so einen eigenen Wert, nämlich Vorstellung von einen fundamentalen Kompromiss unterschiedlicher Europa folgt auch hier geistesgeschichtlicher Traditionen und Weltanschaueinem wertegeleiteten ungen, der in einem gemeinsamen und gleichberechVerständnis und tigten Europa konkret wird. vermittelt den In die alltägliche Kreisauer Arbeit übersetzt fokusJugendlichen nicht primär sierte sich dies aufgrund der Entstehungsgeschichte ein Europa, das schon ist, der Bildung- und Begegnungsstätte und der geograsondern ein Europa das fischen Lage Kreisaus auf die Versöhnung zwischen werden kann, an dem sie Deutschen und Polen. Oft kommen in Jugendbegegteilhaben und in das sie nungen und anderen Bildungsmaßnahmen Teilnehsich einbringen können. mende aus weiteren Ländern hinzu, dennoch bleibt der deutsch-polnische Austausch die alltägliche Basis der Jugendbegegnungsstätte. Viele dieser unterschiedlichen Veranstaltungen beschäftigen sich ganz konkret mit Europa und vermitteln zum Beispiel den „Kindern Europas“5 die Bedeutung von Menschenrechten und die problematische Menschenrechtslage in einigen Teilen der Welt. Diese Kreisauer Vorstellung von Europa folgt auch hier einem wertegeleiteten Verständnis und vermittelt den Jugendlichen nicht primär ein Europa, das schon ist, sondern ein Europa das werden kann, an dem sie teilhaben und in das sie sich einbringen können. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Integration von jungen Menschen aus den östlichen Nachbarländern Polens, zwischenzeitlich besonders intensiv • Ludwig Mehlhorn, In der Wahrheit leben. Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, in: Ders., In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, S. 10-17, hier S. 13. 5 So der Titel der Veranstaltung „Wir die Kinder Europas“, vgl. http://dzieci.krzyzowa.pl (04.08.2013). 4 Gregor Feindt • 67 aus der Ukraine, für die Kreisau im Kontext der EU-Osterweiterung und der Euphorie der orangenen Revolution zu Beginn der 2000er Jahre ein Tor zum bereits zusammengewachsenen Europa darstellte. Die Konzentration auf die deutschpolnischen Beziehungen und die gleichzeitige Integration osteuropäischer Zivilgesellschaften prägt den Rahmen, in dem heute in Kreisau Europa gedacht wird. Zudem kommen jedes Jahr – beispielsweise im Rahmen des künstlerischen Sommers, eines großen Sommerprogramms für junge, kreative Leute – Gäste nach Kreisau, die sich selbst als Europäer verstehen, deren Heimatländer im Westen Europas aber nicht als Teil Europas wahrgenommen werden. Dieser Fokus auf das östliche Europa und sein direkter Bezug auf traditionelle und oftmals nicht hinterfragte Europabilder im westlichen Europa ist für Kreisau Anspruch und Chance zugleich. Im Selbstverständnis der Stiftung ist Kreisau ein europäischer Ort. Für ein weiteres Handeln bietet diese Europäizität Möglichkeiten, die eigene Arbeit in einen größeren Kontext zu stellen und so eine Relevanz zu gewinnen, die über den kleinen Ort in Niederschlesien hinausgeht. Dieses Kreisauer Europa lässt sich aber weder institutionalisieren noch verstetigen, sondern muss ein Prozess der Begegnung und Verständigung sein, der die Werte oppositioneller Denker als Inspiration für ein werdendes Europa begreift. Diese Vision von Kreisau will und kann seine eigenen Europa kann nicht geografisch basiert sein oder sich Vorstellungen von auf wirtschaftliche Überlegungen beschränken. Diese Vision von Europa muss offen sein für alle, die Euro- Europa so an seine Gäste weitergeben, es kann päer sein wollen, die seine universellen Werte teilen sie verwirren, und es und sich für diese in zivilgesellschaftlichem Handeln kann sie bestärken in engagieren. der Überzeugung, dass In verschiedenen Überlegungen aus der GrünEuropa seine Bürger dungsphase der Stiftung Kreisau kommt der Anbraucht, um Europa zu spruch zum Ausdruck, in Kreisau praktische Arbeit werden. mit geistiger Arbeit zu verbinden. Diese Herausforderung, mehr als ein Ort der Begegnung und der Bildung zu sein, muss auch die Kreisauer Beschäftigung mit Europa anleiten. Denn vieles, was in Kreisau Europa sein kann, ist nur implizit europäisch und macht seine Relevanz für Europa nicht explizit. Wenn Kreisau also in der politischen Bildung eine Denkwerkstatt für Europa ist, bieten längere Gastaufenthalte von Wissenschaftlern, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Künstlern eine Möglichkeit, die Idee Kreisaus und seine Vorstellung von Europa weiterzudenken und zu intensivieren. Im Konkreten profitiert davon die Stiftung selbst. In einem • 68 • Welches Europa in Kreisau? ... übertragenen Sinne und auf lange Sicht ist es das Europa der Bürger selbst, das von solchen Orten des Denkens profitieren kann. Für Kreisau als Ort eines solchen Europas bedeutet dies auch ein offenes Europa kreativ und wirkmächtig zu transportieren. In der Zeit einer offenkundigen Krise des europäischen Bewusstseins und bei einer anhaltenden Logik der Exklusion in weiten Teilen Europas kann Kreisau verwirren und Vertrautes infrage stellen, um ein zu gestaltendes Europa zu erhellen und zu konkretisieren: Nur wer die geografischen, kulturellen und wertegeleiteten Grenzen seines Europas beständig hinterfragt, kann eine reflektierte Auffassung von Europa vertreten. Kreisau will und kann seine eigenen Vorstellungen von Europa so an seine Gäste weitergeben, es kann sie verwirren, und es kann sie bestärken in der Überzeugung, dass Europa seine Bürger braucht, um Europa zu werden. Bibliografie: Behrends Jan C., Jan Józef Lipskis europäischer Traum. Zur Geschichtskultur in Polen, Russland und Deutschland nach 1989, in: Themenportal Europäische Geschichte (2007), http://www. europa.clio-online.de/Portals/_Europa/documents/B2007/E_Behrends_Lipski.pdf (19.05.2009). Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, hrsg. von Bleistein Roman, Frankfurt am Main 1987. Europa im Ostblock. Vorstellungen und Diskurse (1945–1991), hrsg. von Domnitz Christian / Faraldo José M. / Paulina Gulińska-Jurgiel, Köln 2008. Dr. Gregor Feindt Historiker, Promotion an der Universität Bonn, 2003/2004 Freiwilliger in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Kreisau und seit 2007 Mitglied der Gedenkstätten- und Akademiekommission der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung. E-Mail: [email protected] Der „Kreisauer Kreis” aus polnischer und deutscher Perspektive Der „Kreisauer Kreis” und Helmuth James von Moltke, Besitzer des Gutes Kreisau und Gastgeber der drei Treffen des Kreises im dazu gehörigen „Berghaus” in den Jahren 1942-43, gehören unweigerlich zum Kreisauer Narrativ. In diesem Kapitel stellen wir Texte vor, die aus deutscher und polnischer Perspektive den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung des „Kreisauer Kreises” behandeln und dabei auf seine Spezifik, seine Bedeutung und Rezeption in Deutschland und Polen eingehen. Ergänzend drucken wir hier die Ansprache von Janusz Reiter ab, die er am 20. Juli 2012 in Berlin während der Gedenkfeierlichkeiten im Bendlerblock zum 68. Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944 gehalten hat. Janusz Reiter Der deutsche Widerstand aus polnischer Perspektive1 Es ist der schwierigste Redeauftrag, den ich je angenommen habe. Und doch bin ich dankbar für ihn. Ich betrachte ihn als ein Zeichen, dass das deutschpolnische Verhältnis reif dafür ist, auch über dieses schwierige, komplexe Thema miteinander zu sprechen. Es ist eins von den Themen, von denen Völker oft glauben, sie seien so „intim“, dass sie deshalb Fremden, Ausländern, unzugänglich seien. Und es kommt möglicherweise noch die Sorge hinzu, andere könnten sich mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte Sie mögen sich fragen, schwer tun. Ja, ich will gar nicht leugnen: Ich habe mich warum ich mich – wie diesem Thema nur vorsichtig zögernd angenähert viele in Polen – mit diesem und vielleicht auch deshalb konnte ich meine Distanz Thema schwer getan überwinden, weil ich das Glück hatte, Menschen zu habe. Die einfachste begegnen, für die der deutsche Widerstand ein Teil und ehrlichste Antwort ihrer Familiengeschichte ist wie für meinen Freund lautet: Weil sich auch Jan von Haeften. Und auch mein anderer Freund Fritz viele, vielleicht die Stern, der hier vor zwei Jahren gesprochen hat, hat mir meisten Angehörigen Mut gemacht, mich diesem Thema zu stellen. der deutschen Sie mögen sich fragen, warum ich mich – wie viele Widerstandsgruppen in Polen – mit diesem Thema schwer getan habe. Die mit Polen schwer getan einfachste und ehrlichste Antwort lautet: Weil sich haben. auch viele, vielleicht die meisten Angehörigen der deutschen Widerstandsgruppen mit Polen schwer getan haben. Die Frage, die ich mir stellen musste, war, ob ich dies zum wichtigsten Maßstab meiner Einschätzung der Männer und Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus erklären kann. • Die Rede wurde am 20. Juli 2012 anlässlich des 68. Jahrestages des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 bei den Feierlichkeiten im Bendlerblock in Berlin gehalten. 1 Janusz Reiter • 71 Nein, das wäre verkürzt und ungerecht. Nicht nur, weil es doch rühmliche Ausnahmen gab. Wenn ich erkenne, dass die Menschen des deutschen Widerstandes, ob Einzeltäter wie der Tischler Georg Elser oder die Gruppe Weiße Rose, der Kreisauer Kreis und die Rote Kapelle, die kirchliche Opposition und selbstverständlich die am Umsturzversuch des 20. Juli 1944 Beteiligten, Respekt verdienen, dann nicht etwa, weil sie schon immer auf der richtigen Seite gestanden hatten und makellos waren, sondern weil sie den Mut hatten, dem Unrechtsregime zu widerstehen. Und ich denke hier auch an Menschen, die eigentlich nicht zum organisierten Widerstand gehörten, die aber wie Berthold Beitz einfach den Anstand hatten, tapfer zu handeln und Menschenleben retteten, in seinem Falle viele polnische Juden und polnische Christen. Wenn wir heute die Widerstandsangehörigen würdigen, dann also nicht, weil sie schon immer recht hatten, sondern weil sie sich entschlossen, gegen den übermächtigen Strom ihrer Zeit zu gehen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Wie viele zogen die Konsequenz, Wissen sei nicht genug, es müsste etwas getan werden? Wer sie zog, war zur Einsamkeit im eigenen Volk verurteilt. Das ist der Preis, den die meisten Gegner von Diktaturen zahlen müssen. Und diese Gegner des „Dritten Reiches“ hatten es mit einer besonders „erfolgreichen“, erschreckend populären Diktatur zu tun, die auch ihre Niederlagen dafür zu nutzen wusste, die Bevölkerung auf ihrer Seite zu halten. Ihr Widerspruch blieb zunächst politisch folgenlos, er war aber niemals sinnlos. Auch in der polnischen Geschichte gibt es gescheiterte oder gar hoffnungslose Auflehnungen, die doch in dem nationalen Gedächtnis gepflegt werden. Effizienz ist eben nicht Ihr Widerspruch blieb das höchste Kriterium der Beurteilung von menschzunächst politisch lichem Handeln. folgenlos, er war aber Wir wissen heute, dass die Mitverschworenen niemals sinnlos. selbst Zweifel hatten, ob ihre Tat Erfolg haben würde. Die meisten verstanden, dass sie politisch kaum noch etwas bewegen konnten. Dafür war es zu spät. Manche, wie Helmuth James Graf von Moltke und Dietrich Bonhoeffer, waren seit Langem zutiefst überzeugt, erst eine Niederlage Deutschlands würde seine innere Befreiung und Erneuerung möglich machen. Es war auch zu spät, um die Ehre Deutschlands zu retten. Die war bereits verloren. Die heldenhafte Tat einer kleinen Gruppe von Menschen konnte Deutschland nicht von der Schande der nationalsozialistischen Verbrechen reinigen. Diese Chance bot sich erst später, Jahre nach dem Ende des Krieges, nach dem Zusammenbruch Deutschlands. • 72 • Der deutsche Widerstand aus polnischer Perspektive Erst dann konnte der gescheiterte Widerstand seine tiefe Bedeutung offenbaren: als eine Quelle moralischer Legitimation des neuen, demokratischen Deutschlands. Erst dann trug er dazu bei, dass Deutschland sich wandeln konnte, ein besseres Land, eine bessere Gesellschaft wurde und auch seine Ehre wiedererlangte. Vielen Angehörigen des militärischen Widerstandes wurde vorgeworfen, ihnen habe die Tatkraft gefehlt, sie seien zögernd und entscheidungsunfähig gewesen. Preußische Offiziere waren eben in der Regel keine talentierten Verschwörer. Umso eindrucksvoller sind der Gewissensernst und die Charakterstärke dieser Männer und auch der Frauen, die hinter ihnen standen. Das Schicksal Ewald Heinrich von Kleists, der sich bereit erklärte, sein Leben zu opfern, und seines Vaters Ewald von Kleist-Schmenzin, der sein Leben tatsächlich opferte, ist von geradezu biblischer Dramatik. Es wirft die Frage auf: Aus welcher Tradition schöpften diese Männer die Kraft zu solchen Entschlüssen? Bei den deutschen Oppositionellen ist das ganze Spektrum von politischen und weltanschaulichen Standpunkten vorhanden. Sie waren Kinder ihrer Zeit, auch wenn manche, wie von Moltke, der Zeit voraus waren. Das Weltbild vieler, vor allem der KonservaBei den deutschen tiven und der militärischen Widerstandskämpfer, Oppositionellen ist erscheint uns heute fremd, unverständlich oder gar das ganze Spektrum schockierend. Keine perfekten Helden, ganz gewiss. von politischen und Oft Menschen voller Widersprüche, so wie ihre Epoweltanschaulichen che insgesamt voller Widersprüche war. Standpunkten vorhanden. Wie geht man mit solchen historischen Figuren Sie waren Kinder ihrer um? Verdienen antisemitische Judenretter, auch solZeit, auch wenn manche, che gab es im besetzten Europa, unseren Respekt? wie von Moltke, der Zeit Ja, sie verdienen eine kritische Würdigung. Mündige voraus waren. Bürger brauchen keine Angst davor zu haben, sich mit wichtigen Figuren ihrer Geschichte kritisch auseinander zu setzen, anstatt diese nur aus der Distanz zu bewundern. In Zeiten der totalitären, diktatorischen Herrschaft entsprechen menschliche Schicksale nur selten dem Schönheitsideal gotischer Kathedralen. Jeder, der in einer Diktatur gelebt hat, weiß das. Für die Angehörigen des deutschen Widerstandes galt das auch. So ist es bekannt, dass viele unter ihnen unfähig waren, sich von den traditionellen antisemitischen Vorurteilen zu lösen. Die meisten Angehörigen des Widerstandes standen auch in der preußisch-wilhelminischen Tradition der Verachtung gegenüber Polen und anderen slawischen Völkern. Mit Unverständnis und Befremden liest man heute die oft zitierte Passage aus einem Brief von Stauffenbergs an seine Frau aus Polen im September 1939: „Die Bevölkerung • Janusz Reiter • 73 ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun“.2 Über die gleiche Zeit des Polenfeldzuges schreibt Joachim Fest: „Die Vorgänge in Polen gehören zur Geschichte des Widerstandes, weil sie die Bedeutung einfacher moralischer Maßstäbe sichtbar machten und erkennen ließen, ob sie schwerer wogen als die traditionellen Begriffe, von denen die soldatische Welt eng umstellt war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt jedenfalls verfiel das Recht auf Irrtum über den Charakter des Regimes [...] Womöglich noch wichtiger war, dass der Widerspruch gegen das Regime seither nicht mehr allein mit Hitlers außenpolitischem Vabanquespiel und seiner Inkaufnahme übergroßer militärischer Risiken begründet werden konnte, sondern ein elementares moralisches Motiv besaß“.3 Steht das, was Fest schreibt, nicht in einem krassen Widerspruch zu Stauffenbergs Brief? Ja, aber das ist genau einer der Widersprüche, auf die wir immer wieder stoßen, wenn wir uns mit dem deutschen Widerstand, insbesondere dem militärischen, auseinandersetzen. Die Ablehnung des Verbrechens schloss die Verachtung für die Opfer des Verbrechens nicht aus. Und mehr noch, die Stimme des Gewissens wurde meistens schnell zum Schweigen gebracht. Die Faszination des militärischen Erfolgs erwies sich als stärker. Der September 1939 markiert den militärischen Triumph und den Beginn der moralischen Niederlage der Wehrmacht. Das Phänomen des deutschen Widerstandes hat viele Menschen in Polen schon sehr früh fasziniert. Bereits 1965 schrieben die katholischen Bischöfe in ihrem Brief an die deutschen Amtsbrüder, eine der mutigsten Versöhnungsgesten in der neueren Geschichte Europas, folgende Worte: „Wir wissen sehr wohl, wie ganz große Teile der deutschen Bevölkerung jahrelang unter übermenschlichem, nationalsozialistischem Gewissensdruck standen, wir kennen die furchtbaren inneren Nöte, denen seinerzeit rechtschaffene und verantwortungsvolle deutsche Bischöfe ausgesetzt waren, um nur die Namen Kardinal von Faulhaber, von Galen, von Preysing zu erwähnen. Wir wissen um die Märtyrer der Weißen Rose, der Widerstandskämpfer des 20. Juli, wir wissen, dass viele Laien und Priester ihr Leben opferten […]. Tausende von Deutschen teilten als Christen und Kommunisten […] das Los unserer polnischen Bürger“.4 Heinrich August Winkler, Der Lange Weg nach Westen, 2. Bd., S.103. Joachim Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994. 4 Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965: http://enominepatris.com/deutschtum/geschichte/hirtenbrief.html 2 3 74 • Der deutsche Widerstand aus polnischer Perspektive Fünf Jahre später erschien das Buch von Anna Morawska „Christ im Dritten Reich“ über Dietrich Bonhoeffer, in dem die Autorin nicht nur den großen Theologen porträtierte, sondern das Ringen und die Dilemmata der deutschen Hitlergegner analysierte. Das Buch wurde zu einer Schlüssellektüre für die kritischen katholischen InIm Mittelpunkt des tellektuellen. Tadeusz Mazowiecki, 1989 der erste Interesses der polnischen Ministerpräsident des demokratischen Polen, schrieb Intellektuellen stand eine ausführliche, enthusiastische Rezension. immer der Einzelne in der Was die deutsche Hitler-Opposition in Polen nach totalitären Diktatur mit 1945 interessant machte, war nicht ihre politische seinen Gewissensnöten, Rolle im engeren Sinne. Der Vergleich mit dem polseiner ethischen nischen Untergrundstaat hatte wenig Sinn, dieser Verantwortung. war gut organisiert und in der Bevölkerung tief verankert. Im Mittelpunkt des Interesses der polnischen Intellektuellen stand immer der Einzelne in der totalitären Diktatur mit seinen Gewissensnöten, seiner ethischen Verantwortung. So einmalig die Situation im Dritten Reich war, den oppositionellen Intellektuellen in dem damaligen Polen war diese Art von moralischen Problemen wohl vertraut. Und da viele von ihnen engagierte Christen waren, galt ihr besonderes Interesse den Christen in Deutschland, unter denen Dietrich Bonhoeffer die faszinierendste Gestalt war. Das entscheidend Neue an den Aufsätzen von Morawska, Mazowiecki und auch Niesiołowski waren nicht die Darstellungen der historischen Erkenntnisse, sondern das Deutungsmuster. „Die Frage“, so schrieb Mazowiecki 1971, „warum das Christentum im Deutschland des Dritten Reiches versagte, könnte man mit einer scheinbar einfachen und teilweise wahren, wenn auch unvollständigen Erklärung beantworten: Dieses Christentum teilte das Schicksal mit der Realität, in der es wurzelte. Es geht hier aber nicht nur darum, warum es politisch, sondern auch, warum es moralisch versagte, warum das Christentum und seine Kirchen kein ausreichendes moralisches Gegengewicht darstellten“. Und er fährt fort: „Es ist dies eine Gewissensfrage für die Christen in Deutschland und für die Christen überhaupt“.5 Mazowiecki, so wie Morawska, lehnte damit das traditionelle und damals offizielle Deutungsmuster ab, der Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen sei ein „typisches Produkt der deutschen Geschichte“, das woanders unmöglich sei und deshalb für andere keine Konsequenzen habe. • 5 Tadeusz Mazowiecki, Nauczył się wierzyć wśród tęgich razów, in: Ders., Druga twarz Europy [Zitatübersetzung: Janusz Reiter], Warszawa 1990, S. 15. Janusz Reiter • 75 Dabei wussten sie sehr wohl, dass Polen in dem Denken der deutschen Opposition im Dritten Reich keinen wichtigen Platz einnahm. Nur wenige, wie der Sozialdemokrat Theodor Haubach oder der Zentrumspolitiker Paulus van Husen erkannten, dass die Verständigung mit Polen ein notwendiger Teil einer Neuorientierung Deutschlands war. Es kam kaum zu Begegnungen der deutschen Hitlergegner mit Vertretern des polnischen Widerstandes. Die letzteren waren auch nicht gewillt, den Kontakt zum deutschen Widerstand zu suchen. Solche Versuche bargen das Risiko in sich, das Vertrauen der westlichen Alliierten aufs Spiel zu setzen und dadurch noch stärker unter Stalins Druck zu geraten. Die Nachricht von dem Attentat in der Wolfsschanze hat trotzdem großes Aufsehen in Warschau erregt. Die Führung des polnischen Untergrundstaates war gerade dabei, die Entscheidung über einen militärischen Aufstand vorzubereiten. Das Attentat, auch wenn es misslang, wurde als ein Zeichen dafür interpretiert, Deutschland sei geschwächt. Das steigerte, wenn es stimmte, die Erfolgsaussichten des Aufstands. Manche sahen schon Parallelen zum Ersten Weltkrieg, der für Polen mit der Entwaffnung der in Warschau stationierten deutschen Truppen im Herbst 1918 zu Ende ging. Doch die Parallele war falsch. Am 1. August 1944 brach der Aufstand aus. Hitler-Deutschland hatte trotz der Nervosität nach dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 genug Kraft, den Aufstand niederzuschlagen, etwa 150.000 Menschen umzubringen, und die Stadt in eine gespenstische Ruine zu verwandeln. Der Historiker Włodzimierz Borodziej schrieb vor einigen Jahren einen Aufsatz, in dem er als ein Gedankenexperiment versuchte, nachzuzeichnen, wie die Geschichte weiter verlaufen wäre, wenn das Attentat auf Hitler erfolgreich geendet hätte. In seiner fiktiven Geschichte Europas nach dem 20. Juli setzt sich der Warschauer Aufstand durch, aber Polen wird ein geteiltes Land. In seinem westlichen Teil, dessen Grenze die Weichsel ist, entsteht ein demokratischer Staat, der an der Integration Europas zusammen mit Deutschland teilnimmt. Sein östlicher Teil gerät unter sowjetischen Einfluss und wird von Kommunisten regiert. Erst in den späten 1980er Jahren kommt es dort und in den anderen sowjetisch kontrollierten osteuropäischen Ländern zu einer friedlichen Revolution, die auch einer Wiedervereinigung Polens den Weg ebnet. Wir können nicht wissen, welche Richtung die Geschichte genommen hätte, wenn das Attentat am 20. Juli 1944 gelungen wäre. Der Wert solcher Gedankenexperimente liegt darin, sich bewusst zu machen, dass es keinen historischen Determinismus gibt. Wenn man bedenkt, wo Deutsche und Polen in ihrem Verhältnis vor nicht so vielen Jahrzehnten standen und wo wir heute sind, dann sieht man einen Epochenwechsel. 76 • Der deutsche Widerstand aus polnischer Perspektive Im November 1989 fand dieser Epochenwechsel einen symbolischen Höhepunkt in Kreisau. Die Versöhnungsmesse mit Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Kohl fand nicht zufällig in Kreisau statt. Das Erbe der Kreisauer wurde als eine Quelle von Inspiration für das neue deutsche-polnische Verhältnis anerkannt. Kreisau ist übrigens nicht der einzige Ort des deutschen Widerstandes, der heute in Polen liegt. Auch die Wolfsschanze gehört dazu und nicht zuletzt Steinort, das ehemalige Schloss der Grafen von Lehndorff, über die Antje Vollmer in ihrem Buch „Doppelleben“ so einfühlsam schreibt. Wie gehen wir mit diesem Erbe um? Diese Frage gilt nicht nur den Orten des Widerstandes. Sie ist im Grunde genommen eine Frage nach der Stellung der Geschichte im deutsch-polnischen Verhältnis. Wir empfinden oft verständlicherweise Freude darüber, dass wir uns von der erdrückenden Last der Geschichte lösen konnten. Doch Geschichtslosigkeit ist genauso gefährlich wie Geschichtsbesessenheit. Manches deutet darauf hin, dass Geschichtsbilder in unserem immer mehr verunsicherten Europa an Bedeutung gewinnen, weil sie Menschen Orientierung bieten. Nur, wie erfüllen sie diese Funktion, wenn es immer weniger unter uns gibt, die die prägenden Kapitel der Geschichte als erlebte Geschichte kennen? Macht der zeitliche Abstand Geschichtsbilder objektiver oder manipulierbarer? Die osteuropäische Der verstorbene amerikanische Historiker Tony Geschichte ist im Judt macht in seinem letzten Buch auf das Probgewissen Sinne ein weißer lem konkurrierender historischer Wahrheiten in der Fleck im europäischen deutschen öffentlichen Diskussion aufmerksam, und Geschichtsbewusstsein. fragt nach den Konsequenzen einer „Normalisierung“ Das gilt, trotz der Geschichte in Deutschland. Und Timothy Snyumfangreicher der, dessen Buch „Bloodlands“ eine der wichtigsten historischer Literatur Publikationen zur europäischen Geschichte im 20. zum Thema, auch für Jahrhundert ist, fragt in seinem Gespräch mit Judt, Deutschland. welche Stellung die Geschichte Osteuropas im europäischen Geschichtsbild haben wird. Und er warnt: „Das Fehlen der osteuropäischen Geschichte kann auch außerhalb Osteuropas ein Problem werden. Ohne eine klare Darstellung dessen, was dort geschah, können die Deutschen in die nationale Geschichte zurückrutschen oder in die Geschichte einer natio-nalen Opferrolle.“6 Die osteuropäische Geschichte ist im gewissen Sinne ein weißer Fleck im europäischen Geschichtsbewusstsein. Das gilt, trotz umfangreicher historischer • Tony Judt, Timothy Snyder, Nachdenken über das 20. Jahrhundert, München 2013. 6 Janusz Reiter • 77 Literatur zum Thema, auch für Deutschland. Wenn wir ein vertrauensvolles, verlässliches Verhältnis zwischen Deutschland und Polen wollen, müssen wir unsere Geschichte gegenseitig verstehen und respektieren. Und ich bin hier, um zu bezeugen, dass ich trotz aller kritischen Distanz zu einem Teil des Gedankenguts des Widerstandes, diesem für das Selbstverständnis Deutschlands so wichtigen Kapitel der Geschichte Respekt erweise. Ich bin aber auch überzeugt, dass Deutschland die Kenntnis und das Verständnis der Erfahrung Mittel- und Osteuropas unter Hitler und Stalin braucht. Nicht zuletzt, weil diese Erfahrung auch aufs Engste verknüpft ist mit der deutschen Geschichte. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen sowie den anderen mittel- und osteuropäischen Völkern ist heute frei von der früheren Ambivalenz. Deutschland ist über einen langen Weg im Westen angekommen. Deutschland hat die Tradition der Sonderwege abgelegt. Auch Polen ist nach so vielen fehlgeschlagenen Versuchen endlich im Westen angekommen. Beide Länder akzeptieren ihren Platz in Europa, haben keine rivalisierenden Ambitionen. Im Sommer 1944, als das Attentat in der Wolfsschanze misslang und der Warschauer Aufstand niedergeschlagen wurde, haben selbst diese Tragödien beide Völker nicht verbinden können. Solche nationalen Traumata sind etwas sehr Intimes. Deshalb bin ich so dankbar dafür, dass Sie mich eingeladen haben, an diesem Tag mit Ihnen zusammen zu sein. Ich verstehe und teile Ihre Trauer, und ich hoffe, dass auch Sie meine, unsere Trauer insbesondere um die Opfer des Warschauer Aufstandes teilen. Wenn das heute möglich ist, sehe ich darin ein Zeichen der Hoffnung für die Zukunft. Bibliografie: Borodziej Włodzimierz, A co by było, gdyby Polacy wygrali powstanie warszawskie w 1944 roku, in: Gdyby... Całkiem inna historia Polski, Warszawa 2008. Fest Joachim, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994. Morawska Anna, Chrześcijanin w Trzeciej Rzeszy, Warszawa 1970. (deutsche Ausgabe: Morawska Anna, Dietrich Bonhoeffer. Ein Christ im Dritten Reich, Münster 2011) Mazowiecki Tadeusz, Nauczył się wierzyć wśród tęgich razów, in: Ders., Druga twarz Europy, Warszawa, S. 9-28. Judt Tony, Snyder Timothy, Nachdenken über das 20. Jahrhundert, München 2013. Snyder Timothy, Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011. Vollmer Antje, Doppelleben, Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop, Eichborn 2010. Janusz Reiter Diplomat, Experte für internationale Beziehungen, Publizist. Er war polnischer Botschafter in Deutschland (1990–1995) und den USA (2005–2007) und gründete 1996 das Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau, ein unabhängiger think tank für Außen- und Sicherheitspolitik. e-mail: [email protected] Peter Steinbach Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen – mehr als abweichendes Verhalten Eine der wichtigsten deutschen Widerstandsgruppen, als deren geistiges und politisches Zentrum Kreisau gilt, hat die Vorstellungen deutscher Regimegegner von der deutschen und europäischen Neuordnung nachhaltig beeinflusst und stellt den vielleicht bedeutendsten Beitrag der deutschen Geschichte zum Widerstands- und Menschenrechtsdenken dar. Sie hat sich seit Sommer 1940 um den Freundeskreis von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg gebildet und lässt wie in einem Brennspiegel ein Grundproblem des 20. Jahrhunderts sichtbar werden. Denn es geht nicht nur um Konturen der Neuordnung, sondern auch um die politisch-ethische Fundierung des Gemeinwesens und die politische Moral ihrer Bürger. Im Zentrum der Überlegungen und Diskussionen steht die Frage, wie sich die Autonomie des Individuums im Spannungsverhältnis von Im Zentrum der Staat, Wirtschaft, Kultur und Kirche bewahren lässt. Überlegungen und Dabei geht es in der Auseinandersetzung mit dem Diskussionen steht NS-Staat immer auch um die Grundlagen menschlidie Frage, wie sich chen Verhaltens in einem feindlichen, rechtswidrigen, die Autonomie des menschenverachtenden System. Individuums im Wie aber, so ist seitdem immer wieder zu klären, Spannungsverhältnis wie lassen sich die Distanzierung von Individuen und von Staat, Wirtschaft, Gruppen Gleichgesinnter von den Sog- und ZeitströKultur und Kirche mungen, von Zeitgeist und „Zeitpolyp“ erreichen? Wie bewahren lässt. schafft sich der einzelne Mensch in den mit Gleichgesinnten geführten Diskussionen die notwendige Grundlage vertrauensvoll geführter Auseinandersetzungen? Wie nimmt man Sogströmungen der Zeit wahr und praktiziert Handlungsweisen, die totalitären Systemen nicht nur eine Grenze weisen, sondern auch Alternativen entwickeln? Die Diskussionen zeigen ein Ringen um Positionen, die in der Zukunft wirksam wurden. Es ging um das Danach und zugleich um die Bewältigung der Gegen- • Peter Steinbach • 79 wart, um menschliche Bewährung und Fundierung einer Grundlage neuen Zusammenlebens. In den Diskussionen ging es, wie das Ende der meisten Mitglieder dieses oppositionellen Kreises ethisch anspruchsvoller und moralisch unbedingt Handelnder zeigt, um existentielle Bedrohungen, um Leben und Tod, um alles. Deshalb ist „Kreisau“ schließlich seit den 1980er Jahren zu einem Ort grundsätzlichen Nachdenkens, zu einem Erinnerungs- und Gedenkort geworden – über die Ziele und Zwecke des Staates und Europas, um Formen und Inhalte menschlichen Zusammenlebens in einem Spannungsverhältnis, dass durch die gegensätzlichen Pole Staat und Individuum, Wirtschaft und Kultur, Kirche und Bildung bestimmt wird. Zugleich geht es um Europa, denn die Grenzen von Nationalstaaten, Konfessionen, sozialen Schichtungen und Parteigrenzen werden bewusst ausgelotet und überschritten. Kreisau, das ist ein Hauptort europäischer Geschichte, der Polen und Deutschland verbindet und so Ausdruck eines neuen politischen Nachbarschaftsverhältnisses ist, das ebenbürtig neben dem zweiten politischen Wunder der Nachkriegszeit steht: der Neugestaltung des deutsch-französischen Verhältnisses. Im Folgenden versuche ich, den europäischen Gedächtnis- und Erinnerungsort „Kreisau“, der eine der wichtigsten Verbindungsglieder zwischen Polen und Deutschland darstellt, in seiner Bedeutung für eine in die Zukunft tragende grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Widerstand zu verstehen. Dabei geht es nicht nur darum, Ziele und Grenzen des Staates zu bestimmen, sondern im Nachdenken über politische Grenzsituationen, die Diktaturen darstellen, das Ringen um eine menschenwürdige Neuordnung, um Zivilität als Grundlage von politischer Zivilisation, spürbar zu machen. Diktatur und Demokratie: Kennzeichen des Jahrhunderts Lässt sich das 20. Jahrhundert nicht als ein immer wieder unternommener Versuch deuten, mit diktatorischen Mitteln und inneren Feindschaftserklärungen neue Gesellschaften zu schaffen? Zeichnet es sich nicht durch den Willen Mächtiger aus, Traditionen zu zerstören, Wahrnehmungen zu verändern, politische Maßstäbe abzuschaffen, um im Zuge einer diktatorisch gelenkten angeblichen Revolution eine „neue Gesellschaft“ zu erzeugen? Deren Voraussetzung ist ein „neuer Mensch“, das Produkt manipulierender Erziehung gegen Tradition und Geschichte. Dient deshalb, so muss weiter gefragt werden, etwa die Erziehung in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht zunehmend weniger der Bildung, „richtet“ sie statt dessen nicht immer vor allem Menschen „ab“: für den Staat und dessen angebliche Zukunft, für das Volk, das Reich, die sozialistische Gesellschaft, den Markt und die Herrschaftssicherung? Verfolgt Erziehung schließlich 80 • Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen – mehr als abweichendes Verhalten nicht ganz offen das Ziel, neue Werte durchzusetzen, die rückblickend oft nur als eine „Maskerade des Bösen“ (Dietrich Bonhoeffer) erscheinen? Der Versuch, mit diktatorischen Mitteln und inneren Feindschaftserklärungen neue Gesellschaften zu schaffen, steht in einer Kontinuität der Ausgrenzung, Entrechtung, Diffamierung und Verfolgung, die viele Herrschaftsordnungen charakterisieren. Der aus vergangenen Jahrhunderten bekannte „innere“, auf innenpolitische Gegner gerichtete Kampfkurs steigert sich in Diktaturen zum Verfolgungsexzess, denn Diktatoren müssen die Massen ständig in Bewegung halten, die Menschen mobilisieren, indem sie ihre Wachsamkeit gegen Feinde fordern. Politische Hypothek deutscher Geschichte: Der „innere Kampfkurs“ Hier wird deutlich, dass der „innere Kampfkurs“, der sich in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit wachsender Intensität und immer wieder gegen innere Gegner gerichtet hatte, in enger Verbindung mit dem 19. Jahrhundert steht. Bismarck, ein Repräsentant des 19. Jahrhunderts, hatte die Technik des „inneren Kampfkurses“ hoch entwickelt. Immer wieder hatte er neue Staats- und Reichsfeinde benannt und das Deutsche Reich politisch durch die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen integriert: gegen ultramontane Katholiken, gegen die Linksliberalen, gegen internationale Sozialdemokraten, die „Reichsfeinde“ schlechthin, gegen Welfen, Dänen, Polen, französisch sprechende Elsässer und Lothringer, schließlich gegen die deutschen Juden. Immer hat sich das politische Selbstverständnis der Deutschen gegen andere gerichtet, wurde die deutsche Gesellschaft dadurch integriert, dass sie von gouvernementaler Seite aufgefordert wurde, Stellung zu ihren Parolen zu beziehen, ohne in der Regierung ein Instrument ziviler Gesellschaft zur Selbstregierung durch die staatliche Administration zu sehen. Wenn eine Gesellschaft immer wieder durch Regierungsparolen mobilisiert werden kann, liefert sie sich denjenigen aus, die sie regieren. Konflikte werden dann inszeniert, um die Massen zu bewegen und hinter die politische Führung zu scharen. Bald geht es nicht mehr um Führung, sondern um Verführung, denn die Mobilisierung und geistige Lähmung ist das wichtigste Ziel derjenigen, die ihre Macht nicht infrage stellen lassen wollen. Dabei hilft ihnen die Verwandlung von Konflikten in Kontroversen, die mit Schlagwörtern ausgetragen werden. Die Realität – eine Herausforderung Schlagwörter grenzen dann aus und verblenden. Sie verkleiden überkommene Maßstäbe, maskieren sie. Gelungene politische Maskeraden führen in den Mas- Peter Steinbach • 81 senwahn, in die Bereitschaft, dem zu folgen, der zur Verwirrung der Urteilsgründe und zur Zerstörung des Urteilsvermögens beigetragen hat. Blinde Nachfolgebereitschaft macht Zeitgenossen nicht selten wehrlos, widerstandslos, feige. Nur im Märchen ist diese Verblendung harmlos, so harmlos wie in Christian Andersens Märchen von des Königs neuen Kleidern. In der Wirklichkeit geht es bei der Kritik an Herrschern bald um Leben und Tod. Im Märchen wird der König betrogen und zum Gespött seiner Untertanen. Das ist nicht furchterregend, nicht einmal moralisch empörend. Denn die Dummheit der Herrschaft soll bestraft werden, und sei es durch Lächerlichkeit. Wie die Geschichte Andersens letztlich ausgeht, wissen wir nicht, und schon gar nicht können wir angeben, wie der König auf seine Entlarvung reagiert. Was macht er mit seinen feigen und deshalb falschen Beratern, was mit den angeblichen Feinwebern und Schneidern, was mit den Menschen auf der Straße, was mit dem Kind? Die Erzählung aus der Feder von Christian Andersen zeigt: Blindheit ist eine Folge von Eitelkeit und Dummheit. Der wirklichkeitsfremde Herrscher wirkt lächerlich; er amüsiert die Nachlebenden und verstärkt ein Gefühl ihrer Überlegenheit: Unser Jahrhundert zeigt jedoch: Nur im Märchen ist der Untertan kein Unterworfener. Ein aufmüpfiger Witz zur falschen Zeit, vor Denunzianten, eine aufrichtige Äußerung vor Ohren, denen man nicht vertrauen kann, war nur in unserem Jahrhundert lebensgefährlich, nicht selten tödlich. Unterhaltsam ist die Geschichte, die Andersen überliefert, keineswegs. Die Beklemmung des Lesers wächst mit der zunehmenden Verblendung der Untertanen. Sie übernehmen die Ansichten derjenigen, die den König angeblich bekleiden, folgen den Scharlatanen, fragen nicht, orientieren sich an den Fehlurteilen ihrer Nächsten. Suggestiv bringen die Scharlatane selbst diejenigen auf ihre Seite, die es besser wissen müssen, Minister, Ratgeber, hohe Herren. Diese bewegen sich im Dunstkreis des Herrschers und streben nach Vorteilen, vor allem, um Karriere zu machen und das Erreichte zu behaupten. Je höher die Position, desto stärker die Selbstlähmung durch Ausschaltung der Vernunft, durch Selbstblendung. Ein Kind ist es schließlich, das die Selbstlähmung zerstört und den Blick für die Wirklichkeit freimacht. Das ist kein Zufall. Denn ein Kind steht nicht im Zentrum der Macht. Es denkt nicht an seine Karriere und ist deshalb unabhängig, frei, spontan, furchtlos. Nicht aus dem Zentrum der Macht erfolgt die Befreiung von verblendeten Herrschern, sondern dort, wo man sich deren Zwängen und Versprechungen zu entziehen weiß: außerhalb des Sperrkreises, unten. 82 • Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen – mehr als abweichendes Verhalten Das Jahrhundert der Diktatoren – ein Jahrhundert des Widerstandes Das gilt auch im 20. Jahrhundert, das wie kein anderes durch Diktaturen geprägt worden ist. Dennoch ist dies nicht die ganze Aussage. Denn wir dürfen uns nicht noch nachträglich in den Bann der diktatorischen Herrscher begeben. Ebenso bestimmend sind im 20. Jahrhundert jene, die den Herrschern standhalten und sich nicht den Blick auf die Realität, auf das, was ist, verstellen lassen. Sie haben einen wachen Blick für das, was sich ereignet. Sie schauen nicht weg, sondern genau hin. Sie haben die Fähigkeit, sich zu empören. Deshalb entscheidet sich ihr Leben durch ihre Aufrichtigkeit. Sie reden sich nichts ein, machen sich nichts vor, beruhigen sich nicht – kennzeichnend ist ihr Mut zum Widerspruch. Dies ist die Voraussetzung für weitere Fragen: Was soll sein? Was kann ich tun? Woran kann ich mich orientieren angesichts kollektiver Verblendung, wenn nicht an mir, an der Stimme in mir, an meinem Gewissen? Trägt das denn wirklich, und trägt es mich, ganz allein, in der Einsamkeit, die nicht einmal die Deckung kennt? Dieses Fehlen jeglicher Deckung macht den Regimegegner zum einsam Handelnden, zu dem Individuum, das jenseits von „Masse und Macht“ steht und sich nur auf einen kleinen Kreis Vertrauter verlassen kann und will, und zuweilen nicht einmal das. Widerstand gegen die Ausschaltung des Kritikvermögens Die Gegenspieler der Eigensinnigen und Widerständigen, die Diktatoren, fürchten nichts so sehr wie eigenständige Urteilsbildung. Deshalb schalten sie das Kritikvermögen aus. Sie hämmern ihren Zeitgenossen ihre Parolen ein: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ – „Der Jude ist unser Unglück“ – „Der Slawe ist ein Untermensch“. Sie beschwören die Homogenität, nicht die Pluralität: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Und sie bemühen die Geschichte, konstruieren ihren Sinn, machen die Vergangenheit zur Ideologie, zum Politikum, setzen Politik an die Stelle der Moral, des Glaubens, der Gewissensbindung. So verschieben sie die Maßstäbe, verbiegen die Koordinaten der politischen Moral, und die Neigung zum Selbstbetrug tut ein Übriges. Lebenslügen mutieren zu unauflöslichen Gespinsten, private Orte werden zum Ziel des Rückzugs in Nischen, weniger zu Zufluchtsorten als zu Ausflüchten, wie die betrügerische Formel von der „sauberen Wehrmacht“ als einem Ort der inneren Emigration; wie der angebliche „Befehlsnotstand“, die angeblich allgegenwärtige Gestapo und ihr Terror, die Erklärung persönlicher Gefühllosigkeit als Rücksicht auf die eigene Familie. Peter Steinbach • 83 Angesichts der Neigung der „moralisch Anspruchslosen“, wie Theodor Heuss sie Anfang der 1950er Jahre bezeichnete, also jener Genügsamen, die es immer gab und die in der Regel diktatorische Systeme überleben, haben es die Widerständigen schwer. In der Regel scheitern sie historisch. Sie können das Blatt nicht wenden. Kein Diktator unseres Jahrhunderts wird durch ein Attentat ausgeschaltet. Das maskierte Böse triumphiert – durch Gewalt. Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Henning von Tresckow kommen im nationalsozialistischen Deutschland nicht an ihr Ziel. Aus dem Anschlag gehen Hitler und Himmler gestärkt hervor. Viele Deutsche sehen die Vorsehung wirken, weil Hitler unversehrt einen Anschlag überlebt, der andere Menschen tötet, wie fünf Jahre zuvor beim Anschlag von Johann Georg Elser, eines Schreiners aus dem Württembergischen. Er hatte im Münchener Bürgerbräukeller, wo Hitler zu seinen alten Kämpfern spricht, jene Tat gewagt, die fast zum Ziel führte. Vielleicht stärken Anschläge immer wieder Diktatoren. Jedenfalls ist der stärkste Mann am 21. Juli 1944 Heinrich Himmler, denn er wird zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt. Er führt den Hitlergruß in der Wehrmacht ein, als erste Reaktion auf den Anschlag vom 20. Juli 1944 mehr als ein Symbol. Die Unterwerfung des Militärs unter die Partei des Rassen- und Weltanschauungskrieges ist nun endgültig vollzogen – nun stehen selbst die meisten derjenigen, die es besser wussten und weiterhin wissen, zur Fahne, die das Hakenkreuz trägt, nicht selten bis über den 9. Mai 1945 hinaus. Dies haben sich die Regimegegner nicht vorstellen können, so sehr ihnen bewusst war, was sie riskierten, so deutlich sie sahen, dass ein Scheitern möglich war. Sie wussten: Nicht die Uniform legitimierte sie, sondern ihr Gewissen – Instanz der letzten, der unbedingten Freiheit. Es blieb das Gefühl, das Richtige getan zu haben, weil man es tun musste, und die Genugtuung, den Peinigern die Wahrheit in das Gesicht zu sagen, vor den Schranken des Gerichtes: „Ich dachte an die vielen Morde ...“ So stellen sie auf ihre Weise die Öffentlichkeit her, welche die totalen Herrscher fürchten. Sie vertrauen darauf, dass sich Menschen anders verhalten, wenn sie die Wahrheit kennen, und ihre Probleme – und Widrigkeiten in der Wirklichkeit – diskutieren. Um sie zu überzeugen, schreiben sie Flugblätter und Wandparolen, verbreiten handschriftlich vervielfältigte Karten oder versenden, wie die Mitglieder der „Weißen Rose“, tausendfach Flugblätter. Sie setzen auf Überzeugung, auf Vernunft, auf Empörungsfähigkeit der Zeitgenossen – und in dieser Hinsicht bewahrten sie sich ein Grundvertrauen in den Anderen, das dem Misstrauen gegenüber Herrschenden entsprach. Dass sie diese Grundüberzeugung täuschte, dass sie auch dann allein blieben, wenn sie den anderen die 84 • Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen – mehr als abweichendes Verhalten Wahrheit sagten, sich vielleicht sogar gerade dadurch isolierten, das war ihre eigentliche Tragödie. Verachtet zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung und Hinrichtung, ereignet sich erst nach dem Ende des bekämpften diktatorischen Systems ein Wandel, erinnern sich die Nachlebenden an die, die unter entwürdigenden Bedingungen den Anspruch auf die Zukunft artikulierten, die über das Ende diktatorischer Regime hinaus denken konnten, noch auf dem Schafott. „Freiheit“ – das war das letzte Wort von Hans Scholl. Anerkennung des Widerstandes nach dem Ende der Diktaturen Die Einbeziehung der Erinnerung an den Widerstand gegen Diktaturen braucht in postdiktatorischen Gesellschaften allerdings Zeit. Denn bestimmend bleiben die Angepassten, die keinerlei Interesse haben können, vor aller Welt einzugestehen, dass es zur Anpassung eine Alternative gab. Dass es Zeitgenossen gab, die sich der Realität weder anpassten noch ihr unterwarfen, sondern genau hinschauten. Die historisch gescheiterten Widersetzlichen können nachdiktatorische Verhältnisse erst posthum, in der Erinnerung der Nachlebenden, durch deren Gedenken, beeinflussen. Denn geehrt wurden Regimegegner erst später, durch Straßennamen, Denkmäler, Briefmarken, Gedenkstätten. Auch diese Entwicklung verläuft unter schwierigsten Bedingungen, denn die Mitläufer, die Angepassten erklären den Nachlebenden zunächst ihre Sicht der Diktaturgeschichte in der Weise, die ihr Fehlverhalten erklärt. Allein der Zug durch die Generationen verschafft die Spielräume neuer Deutungen und Zugänge. In der Die entscheidende Regel können die Gegner diktatorischer Systeme erst Frage bleibt allerdings über den Tod hinaus einen Rest der Eigenständigkeit angesichts der des Menschen wahren, der im 20. Jahrhundert wie ungebrochenen niemals zuvor totalitären Tendenzen ausgesetzt war. Neigung zur Anpassung, Damit wird aber auch deutlich, dass dieses Jahrzum Wegschauen, hundert nicht nur durch große Zerstörer geprägt zum Schweigen: worden ist. Ebenso prägend waren jene, die denen Wie erklärt sich die standhielten, welche das Böse maskierten, wie BonEmpörungsfähigkeit des hoeffer sagte, als der Menschen, die das Böse durch Widerständigen? ihre Widerständigkeit demaskierten. Sie orientierten sich dabei an Traditionen und Werten, Handlungsmustern und Vorstellungen, denen ihre Gegenspieler bei ihrem Versuch, eine neue Gesellschaft zu schaffen, den Kampf angesagt hatten. • Peter Steinbach • 85 Die entscheidende Frage bleibt allerdings angesichts der ungebrochenen Neigung zur Anpassung, zum Wegschauen, zum Schweigen: Wie erklärt sich die Empörungsfähigkeit des Widerständigen? Woher nimmt der Regimegegner die Kraft, seinen Weg zu gehen, sich nicht zu beklagen? Er lebt nicht ohne Bindung, im Gegenteil. Denn er verpflichtet sich auf Maßstäbe, auf Grundsätze der Wahrhaftigkeit, auf Eindeutigkeit als Voraussetzung des Mutes, der in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart in eine Einsamkeit führt, die als der richtige, der angemessene, als der einzig mögliche Ort erscheint. Deshalb noch einmal: In der Regel unterliegen diese Widerständigen ihren Gegnern nur äußerlich – in der Realität eines Zwangs- und Unterdrückungsstaates. Innerlich bleiben sie ungebrochen, beugen sich so wenig, wie sie sich beklagen, sondern sie richten alle Energien darauf, einen Weg bis an das Ende zu gehen, den sie in freier Entscheidung gewählt haben. Immer wieder finden sich ähnliche Formulierungen der Erklärung und Rechtfertigung, der konsequenten Verweigerung bis zur letzten Stunde. Dies macht die Mächtigen machtlos, denn die Voraussetzung ihrer Herrschaft sind Furcht und Angst. Sie können sich nur behaupten, wenn sie ein von jeder Gesetzlichkeit befreites, ein entregeltes, sich keinem Gesetz und keinem Recht unterwerfendes System errichten. Entregelung des Staates ist ein Kennzeichen der Diktaturen unseres Jahrhunderts. Sie reißt den Schutzzaun ein, den Gesetze im Rechtsstaat bieten und bricht der Willkür Bahn, durch die ständige Politisierung des Alltags, durch Ausgrenzung, Diffamierung und Entehrung der Anständigen. In ihrem Widerspruch, der in ihrer Gegenwart verhallt und erst nach der Befreiung von totalitären Systemen Widerhall findet, können Menschen nachdiktatorische Verhältnisse nicht selten beeinflussen und so einen Rest der Eigenständigkeit des Einzelnen wahren, der totalitären Tendenzen ausgesetzt ist, die alles, und keineswegs nur Staat und Gesellschaft, sondern auch die Weltsicht und die Weltanschauung, das Denken und Hoffen, beeinflussen wollen. Ausblick Nirgendwo sonst lässt sich dies so eindrucksvoll spüren und herausarbeiten wie in Kreisau, dem Ort, an dem in einer die Nachkriegsordnung Europas und deren Grundlagen antizipierenden Weise über das „Danach“ nicht nur nachgedacht und diskutiert, sondern unter Lebensgefahr im Sinne der Prinzipien einer menschenwürdigen Ordnung gehandelt wurde. Das Berghaus in Kreisau wurde so 1942/43 zum geistigen Zentrum europäischen Staatsdenkens in einer Zeit, in der nationalsozialistische Vernichtungsstrategien geradezu als „Ersatzkriegsziel“ der NS-Führung realisiert wurden und Europa zerfiel. 86 • Widerstehen im Jahrhundert der Diktaturen – mehr als abweichendes Verhalten Auch im Zeitalter des Kalten Krieges bewahrte der Ort seine Bedeutung. So wird Kreisau seit den 1980er Jahren zu einem wichtigen Ort der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und damit auch der Zukunftsgestaltung eines Europas, das die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einem Fundament der Neuordnung macht. Er kann Polen und Deutschland verbinden und zugleich einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung einer europäischen Identität leisten. Bibliografie: Arendt Hannah, Organisierte Schuld, in: Dies., Die verborgene Tradition: Acht Essays, Frankfurt am Main 1976. Bonhoeffer Dietrich, Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 1998. Demandt Alexander, Das Attentat in der Geschichte, Frankfurt am Main 1999. Fischer Karsten, „Systemzeit“ und Weltgeschichte: zum Motiv der Epochenwende in der NS-Ideologie, in: Karsten Fischer, Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende, Frankfurt am Main 1999. Steinbach Peter, Die totalitäre Weltanschauungsdiktatur des 20. Jahrhunderts als Ausdruck „Politischer Religion“ und als Bezugspunkt des antitotalitären Widerstands, in: Kirchliche Zeitgeschichte 12, 1999. Steinbach Peter, Diktaturerfahrung und Widerstand, in: Klaus-Dietmar Henke, Widerstand und Opposition in der DDR, Köln 1999. Prof. Dr. Peter Steinbach Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Mannheim, Leiter der Forschungsstelle Widerstand der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, wissenschaftlicher Berater des Ausstellungsteils über den „Kreisauer Kreis“ in der ständigen Ausstellung „In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition im 20. Jahrhundert“ im Kreisauer Schloss. E-Mail: [email protected] Krzysztof Ruchniewicz Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Rezeption in Polen Zwei Hauptorte des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der Grenzen des polnischen Staates wieder: die Wolfsschanze in der Nähe von Rastenburg (heute Kętrzyn) beim Dorf Görlitz (Gierłoż) in Ostpreußen, Ort des Attentats auf Hitler, und Kreisau (heute Krzyżowa) bei Schweidnitz (Świdnica), Treffpunkt der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“. Übrigens war das Bewusstsein der polnischen Gesellschaft dafür, dass es diesen zweiten Ort gab, über Jahrzehnte kaum vorhanden und beschränkte sich fast nur auf einen Kreis von Fachleuten, die sich mit dieser Problematik befassten. Wie wurde also der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Polen dargestellt? Welche Rolle wurde dieser Übermittlung zugeschrieben? Welche neuen Tendenzen ließen sich nach 1989 beobachten? Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus war anfangs kein Gegenstand eigenständiger Forschung polnischer Historiker. Die Gelegenheit sich dazu zu äußern, ergab sich jedoch nach Erscheinen von Publikationen in Westdeutschland, die dann in den polnischen wissenschaftlichen Zeitschriften rezensiert wurden. Den Rezensenten sind solche Veröffentlichungen wie Fabian von Schlabrendorffs „Offiziere gegen Hitler“, „Die deutsche Opposition gegen Hitler“ von Hans Rothfels oder Gerhard Ritters „Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung“ aufgefallen. Diese Bücher dienten allerdings vor allem als Ausgangspunkt für propagandistische Überlegungen, die für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg so charakteristisch waren. Der deutsche Widerstand, der den konservativen Kreisen entstammte, wurde als „unentschlossen“ und „hamletartig“ beschrieben. Das Attentat vom 20. Juli 1944 wurde als Putsch bezeichnet, dessen Ausführende Militärangehörige und keine Antifaschisten waren. Folglich konnte er nicht als Ausdruck der Widerstandsbewegung, sondern als ein Ergebnis taktischer Machenschaften behandelt werden. Dem Putsch von Stauffenbergs und seiner Gruppe wurde der gesamtdeutsche 88 • Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Rezeption in Polen Charakter abgesprochen, nur seine inneren Zusammenhänge wurden unterstrichen: Er habe aus den Streitigkeiten innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung resultiert. Den westdeutschen Autoren wurden mehrmals Vergangenheitsfälschung und Mythenbildung vorgeworfen. Diese Motive werden auch in späteren polnischen Meinungen zu diesem Thema oft vorkommen. Während sich in den 1950er und 1960er Jahren das Interesse am Widerstand im Dritten Reich darauf beschränkte, linke Organisationen vorzustellen und ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus zu betonen, so wurden in den 1970er und 1980er Jahren auch konservative Gruppen in größerem Umfang berücksichtigt. Es tauchten die ersten Anzeichen für eine kritische Herangehensweise an die frühere Art, In der polnischen diese Problematik aufzugreifen, auf. Trotz der Diskushistorischen Literatur sion zwischen den polnischen und (west)deutschen setzte sich die Benutzung Historikern wurde keine Einigung über die Termini der Begriffe Widerstand erzielt, die zu verwenden waren. In der polnischen und Opposition historischen Literatur setzte sich die Benutzung der durch; vermieden Begriffe Widerstand und Opposition durch; vermiewurde dagegen die den wurde dagegen die Verwendung des Begriffes Verwendung des Begriffes Widerstandsbewegung, weil dieser eine bedeutende Widerstandsbewegung, und organisierte Form des gesellschaftlichen Widerweil dieser eine standes (wie zum Beispiel den polnischen Unterbedeutende und grund während des Zweiten Weltkrieges) nahe legte. organisierte Form des Die Forschungen des Breslauer Rechtshistorikers Kagesellschaftlichen rol Jonca zur Opposition gegen das NS-Regime, vor Widerstandes (wie zum Beispiel den polnischen allem zum „Kreisauer Kreis“, hatten Pioniercharakter. Untergrund während des Sie entstanden in einer neuen Phase der deutschpolnischen Beziehungen. Nach der Unterzeichnung Zweiten Weltkrieges) des Warschauer Vertrages im Jahre 1970 konnnahe legte. ten sich polnische Historiker freier zu Deutschland äußern, auch zu dem deutschen Widerstand. Darüber hinaus zeichnete sich die Möglichkeit ab, Kontakte mit deutschen Historikern zu knüpfen. Ein interessantes Forum für solch einen Dialog bildete zu dieser Zeit die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission. Im Juni 1977 fand in Łańcut eine deutsch-polnische Schulbuchkonferenz statt, die sich mit dem deutschen und polnischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg befasste. Die Materialien dieser Konferenz sind bis heute lesenswert! In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde mit einer Erweiterung des Forschungsinteresses begonnen – dabei wurden die Formen des Widerstandes eingehender untersucht. Beispielhaft ist dabei das Buch von • Krzysztof Ruchniewicz • 89 Henryk Olszewski, das den Formen des Widerstandes unter den deutschen Hochschullehrern während der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet ist. Ende der 1980er Jahre wurden Studien zu verschiedenen Aspekten der Geschichte des deutschen Widerstandes veröffentlicht, herausgegeben von Professor Jonca. In den 1970er Jahren erschienen die ersten Übersetzungen der Arbeiten deutscher Historiker zum Thema, jedoch waren es anfangs nur Publikationen von DDR-Historikern. Quellenstudien zum Thema deutscher Widerstand waren eine Seltenheit. Die politische Wende in Polen 1989 bewirkte eine Zunahme des Interesses am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Dazu trug ohne Zweifel der Wegfall aller politischen Hindernisse bei, die bislang eine ungehinderte Forschungsarbeit in diesem Bereich erschwerten. Hilfreich war überdies die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, der unter anderem die Errichtung einer Begegnungsstätte für deutsche und polnische Jugendliche in Kreisau vorsah, dort, wo sich eine der wichtigsten Widerstandsgruppen gegen Hitler zu Gesprächen getroffen hatte. Seit Anfang der 1990er Jahre wurden in Polen Ausstellungen über den deutschen Widerstand organisiert, die von deutschen Autoren vorbereitet wurden. Veröffentlicht wurden ebenfalls polnische Fassungen der Kataloge zu diesen Ausstellungen.1 Es ist unbestritten, dass die Veröffentlichung einer Gesamtdarstellung des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus für Historiker in Polen ein Forschungsdesiderat bleibt; eine solche Zusammenfassung würde sowohl die Ergebnisse der deutschen Historiografie als auch polnische wissenschaftliche Überlegungen zu diesem Thema enthalten. Der deutsche Widerstand zog nicht nur die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich. In den Diskussionen und Auseinandersetzungen zur Haltung der Deutschen gegenüber dem Nationalsozialismus, dem Sein oder Nicht-Sein der Kollektivschuld, traten einige „Gerechte“ in Erscheinung. In den letzten Jahren konnte sogar ein erhebliches Interesse mancher Kreise der polnischen Gesellschaft, hauptsächlich Intellektueller, an dieser Problematik beobachtet werden. Die ersten Anzeichen dafür konnten schon Mitte der 1960er Jahre wahrgenommen werden. Der berühmte Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder von 1965 enthält einen interessanten Absatz zum deutschen Widerstand. „Wir wissen sehr wohl“, schrieben die polnischen Bischöfe, „wie ganz große Teile der deutschen Bevölkerung jahrelang unter übermensch Vgl. Niemiecki ruch oporu 1933–1945. Wystawa informacyjno-dokumentacyjna o niemieckim ruchu oporu, Stuttgart 1990; Artyści kontra Hitler. Prześladowania, emigracja, opór, Bonn 1991. 1 90 • Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Rezeption in Polen lichem nationalsozialistischem Gewissensdruck standen, wir kennen die furchtbaren inneren Nöte, denen seinerzeit rechtschaffene und verantwortungsvolle deutsche Bischöfe ausgesetzt waren, um nur die Namen Kardinal von Faulhaber, von Galen, von Preysing zu erwähnen. Wir wissen um die Märtyrer der Weißen Rose, die Widerstandskämpfer des 20. Juli, wir wissen, dass viele Laien und Priester ihr Leben opferten (Lichtenberg, Metzger, Klausener und viele andere). Tausende von Deutschen teilten als Christen und Kommunisten in den Konzentrationslagern das Los unserer polnischen Brüder ...“2 Für einen Teil der polnischen Katholiken, die den Klubs der katholischen Intelligenz angehörten, wurde die Bezugnahme der polnischen Bischöfe auf das Schicksal der Vertreter des deutschen Widerstandes ein Ansporn dazu, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Eine der Hauptvertreterinnen dieser Kreise, Anna Morawska, veröffentlichte 1969, in der Septemberausgabe der Monatszeitschrift ZNAK einen Text unter dem Titel „‘Inne Niemcy’ w Trzeciej Rzeszy“ (deutsch: Das ‚Andere Deutschland‘ im Dritten Reich). Es waren Auszüge aus ihrem Buch über Dietrich Bonhoeffer, das sie vorbereitete. Die Autorin regte eine Auseinandersetzung mit der bisher gängigen Bewertung der konservativen Widerstandsbewegung sowie der Attentäter des 20. Juli an. Sie versuchte, den polnischen Leser auf die Bedingungen aufmerksam zu machen, unter denen sie handeln mussten. Oft mussten sie gegen das eigene Volk vorgehen oder mit den seit Jahrhunderten in Deutschland verwurzelten kulturellen Traditionen brechen. „Diese Leute, die sich mit dem Gedanken trugen, den populären Führer vorsätzlich zu beseitigen, entweder als er das Vaterland von Erfolg zu Erfolg führte, oder auch als der entfesselte Krieg zum Verhängnis für das eigene Land zu werden begann, standen – und das darf man nicht vergessen – nicht vor derart einfachen Aufgaben, wie es bei einer Widerstandsbewegung in Ländern war, die sich unter feindlicher Okkupation befanden. Die Widerständler hatten die eigene Bevölkerung gegen sich. Aber auch verschiedene nationale Gründe der Staatsraison sprachen dagegen. Und dagegen war schließlich auch, so kann man sagen, die gesamte Welt der Verhaltenskultur: nämlich die zutiefst im Volk verwurzelten politischen, philosophischen und religiösen deutschen Traditionen der letzten Jahrhunderte. Die Gegner Hitlers hatten auch die ganze Zeitspanne gegen sich, in der sie selbst lebten und mit der sie sich abquälen mussten. Sodann gab es Orędzie biskupów polskich do ich niemieckich braci w chrystusowym urzędzie pasterskim, in „Tygodnik Powszechny“ vom 7.10.1989, S. 5. [Übersetzung nach „Stimmen der Weltkirche“, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Nr. 4, Bonn 1978, S. 76-88.] 2 Krzysztof Ruchniewicz • 91 auch noch für jeden einzelnen Menschen den ganz ‚eigenen Horizont‘.“3 Darüber hinaus veröffentlichte Morawska in der oben genannten Ausgabe der Zeitschrift ZNAK eine Auswahl der Briefe des Jesuiten Alfred Delp, eines Mitglieds des „Kreisauer Kreises“, aus dem Gefängnis. Auf welche Schwierigkeiten seitens der kommunistischen Machthaber sie gestoßen ist, als ihr Buch über Bonhoeffer erscheinen sollte, beweist schon die Wahl des Titels „Chrześcijanin w Trzeciej Rzeszy“ (deutsch: Ein Christ im Dritten Reich): Den Namen des Protagonisten Bonhoeffer zu verwenden, war damals unmöglich. Morawskas Buch über Bonhoeffer sowie die von ihr herausgegebene Auswahl der Schriften des evangelischen Oppositionellen stießen auf großes Interesse, so dass die ganze Auflage sehr schnell verkauft wurde. Im Kontext des Interesses an der deutschen Widerstandsbewegung sollte an die Initiative von Professor Karol Jonca erinnert werden, die Gutsanlage in Kreisau (mit dem Mausoleum des Feldmarschall Helmuth von Moltke, das sich in der Nähe befindet) vor weiterem Verfall zu bewahren. Bei der Umsetzung seiner Pläne fand Jonca einen Verbündeten, den dortigen Pfarrer Kazimierz Kuźnicki, und nach dessen Tod Pfarrer Bolesław Kałuża. Es ist damals gelungen, die Gräber der Familie von Moltke zu sichern und die noch erhaltenen Elemente der Ausstattung des Mausoleums zu retten. Die Aktivitäten Karol Joncas endeten damit noch lange nicht. Ende der 1970er Jahre lernte er seinen niederländischen Kollegen Ger van Roon kennen. Er stellte ihm das Projekt vor, in Kreisau eine polnisch-holländische ökologische Landwirtschaft zu errichten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war das Landgut der Familie von Moltke in eine PGR (Staatlicher Landwirtschaftsbetrieb) umgewandelt worden, um die bereits vorhandene Infrastruktur zu nutzen. Die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 und die damit verbundene Einschränkung der Auslandskontakte durchkreuzte die Pläne der beiden Professoren, Jonca und van Roon. Das Thema Kreisau wurde 1984 erneut aufgegriffen. Diesmal gab die Friedrich-Ebert-Stiftung den Anstoß, indem sie Pläne zur Errichtung einer Begegnungsstätte für deutsche und polnische Jugendliche entwickelte. Zwar kam es in den nächsten Monaten zu deutsch-polnischen Gesprächen darüber auf höchster Ebene, jedoch zögerte die polnische Regierung sehr lange mit ihrer Stellungnahme. Im Juni 1986 erschien schließlich ein Artikel in dem regionalen Organ der PVAP „Trybuna Wałbrzyska“ (Waldenburger Tribüne) unter dem Titel „Diese Initiative weckt Zweifel“. Den Standpunkt der polnischen Regierung stellte ihr Sprecher Jerzy Urban vor. „Die Forderung, des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu Anna Morawska, Alfred Delp, in „Znak“, Nr. 9 vom 1969, S. 1138-1153. 3 92 • Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Rezeption in Polen gedenken und einen richtigen Erinnerungsort in Kreisau entstehen zu lassen sowie die begleitende, aus der BRD stammende Argumentation, wecken ernste Zweifel.“4 Die Antwort der polnischen Regierung war also negativ. Doch das Thema wurde von der deutschen Seite nicht fallen gelassen und schließlich Anfang 1989 stimmte die polnische Regierung einer Erinnerungstafel an den „Kreisauer Kreis“ zu. Im April 1989 konterte die „Gazeta Robotnicza“, das regionale Organ der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei): „Wir haben nichts dagegen, dass der Bundestag Denkmäler in der BRD aufstellt, aber nicht in der Nähe von Świdnica.“ Einige Monate später war dieser Standpunkt angesichts der tiefen politischen Veränderungen in Polen und Deutschland nicht mehr aktuell. Die Initiative in Sachen Kreisau ergriff der Breslauer Klub der Katholischen Intelligenz (KIK), der sich seit Ende 1988 dafür interessierte. Im Juni 1989 organisierte er die erste Konferenz, bei der über die Geschichte Kreisaus und die Möglichkeiten, Moltkes und seiner Gefährten zu gedenken, diskutiert wurde. Die Bemühungen des Klubs fielen mit der demokratischen Wende in Polen sowie den Veränderungen in den deutsch-polnischen Beziehungen zusammen. Im November 1989 wurde in Kreisau ein Gedenkstein für Moltke und seine Freunde enthüllt; der Ort selbst wurde nach der Messe unter Teilnahme des deutschen Bundeskanzlers und des polnischen Ministerpräsidenten zum Symbol für die deutsch-polnische Aussöhnung. Die Mitglieder des „Kreisauer Kreises“ mit ihren demokratischen Ansichten und ihrer proeuropäischen Einstellung eigneten sich sehr gut als Schirmherren dieser Aussöhnung. Der Erfolg des Vorhabens war dank der Unterstützung seitens der bundesdeutschen Regierung sowie der neuen DDR-Regierung möglich. Das Geld, das die deutsche Regierung im Rahmen des sogenannten Jumbo-Kredits bereitstellte, ermöglichte den Wiederaufbau des zerstörten Gebäudekomplexes in Kreisau und schuf die Grundlage für die Tätigkeit der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Heute ist sie ein lebendiges Begegnungszentrum für Jugendliche aus Polen und Deutschland, aber auch aus ganz Europa. Die demokratische Wende in Polen nach 1989 brachte überdies lebhafte öffentliche Diskussionen über die neueste Geschichte mit sich. Eines der Themen war der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Den Anstoß zu den Debatten gaben die Enthüllung der Gedenktafeln an Orten, die mit den Biografien der Widerständler verbunden waren, sowie die Vorführungen deutscher Filme, die sich mit den verschiedenen Widerstandsgruppen, wie zum Beispiel der Studentengruppe „Weiße Rose“ aus München befassten. Ein Teil der Polen konnte den Marek Malinowski, Ta inicjatywa budzi wątpliwości, in „Trybuna Wałbrzyska“ vom 3.-9. 6.1986. 4 Krzysztof Ruchniewicz • 93 Charakter des deutschen Widerstandes nicht verstehen. Oft wurde vergessen, unter welchen Bedingungen die Menschen im Dritten Reich lebten. Einfache Vergleiche mit den Erfahrungen der Polen aus der Zeit der deutschen Besatzung waren unbrauchbar. Es scheint, als ob das Wissen um die Voraussetzungen und Beweggründe „der Wenigen“ immer noch eine Herausforderung sei. Gewiss muss man in der Schule und bei den im Geschichtsunterricht verwendeten Lehrbüchern anfangen. Hier kann vieles verändert werden. Nur wenige Autoren erinnern an den deutschen Widerstand, zeigen den Schülern die Umstände auf, unter denen er agieren musste, stellen die Hauptakteure vor. Wie schwierig es ist, eine Diskussion darüber in einer Schule zu führen, konnte ich mich vor einigen Jahren selbst überzeugen. Auf Anregung von Kinga Hartmann-Wóycicka, Mitarbeiterin der Sächsischen Bildungsagentur in Bautzen, entstand ein Projekt zur Vorbereitung ergänzender Unterrichtsmaterialien für den Geschichtsunterricht. Sie lud einige deutsche und polnische Historiker sowie Geschichtslehrer zur Mitarbeit ein. Während der vielen Gespräche mit den Lehrern wählten die Autoren der zukünftigen Ergänzungsmaterialien einige Themen aus, die unbedingt ausgearbeitet werden mussten. Zu diesen Themen gehörten beispielsweise die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes und seine Folgen, die Deportationen polnischer Bevölkerung in weit entfernte Gebiete der UdSSR und vieles mehr. In den polnischen Lehrbüchern wurde auch das Fehlen von Informationen zum deutschen Widerstand festgestellt. Am Beispiel der Diskussion des „Kreisauer Kreises“ über das zukünftige Europa wollten wir den polnischen Schülern das Schicksal dieser Gruppe und ihre Denkweise näher bringen. Die auf Deutsch und auf Polnisch veröffentlichten Ergänzungsmaterialien stießen auf ein großes Interesse. Leider verstanden manche Leser nicht, dass sie es mit einem ergänzenden Buch zu tun hatten. In Polen wurden den Autoren große Lücken vorgeworfen, viele äußerten ihre Unzufriedenheit, weil eigene Kapitel zum polnischen Untergrundstaat fehlten. Es war nicht unsere Absicht, das reguläre Lehrbuch zu ersetzen, sondern es ging einzig und allein darum, den Schülern in Polen und in Deutschland das gleiche Ergänzungsmaterial an die Hand zu geben, um sie zu gemeinsamen deutsch-polnischen Diskussionen zu ermuntern. Es ist zu hoffen, dass das zukünftige deutsch-polnische Geschichtslehrbuch diese Probleme beseitigt, und dass die Schüler mehr über die Geschichte des deutschen Widerstandes und der Opposition im Dritten Reich sowie über die deutsche bzw. sowjetische Besatzung in Polen erfahren werden. Große Verdienste in der Verbreitung des Wissens über die deutsche Widerstandsbewegung haben mit Sicherheit die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung sowie ihre Internationale Jugendbegegnungsstätte in Kreisau. 94 • Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Rezeption in Polen Die Stiftung organisierte von Anfang an die sogenannten Maikonferenzen, bei denen die Fragen der deutschen Widerstandsbewegung aufgegriffen wurden. Die Materialien zu den jeweiligen Konferenzen wurden später veröffentlicht und sind allgemein zugänglich. In letzter Zeit begann die Stiftung, internationale Konferenzen auszurichten, die sich mit dem Thema des Widerstandes befasste: nicht nur während der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch in den von der UdSSR dominierten Staaten Mittel- und Osteuropas. Diese Themen werden gegenwärtig breiter gefasst, im Kontext des Widerstandes der einzelnen Gesellschaften gegen den Totalitarismus. Die Spezifik der jeweiligen Formen von Widerstand und Opposition aufzuzeigen, ruft größeres Verständnis hervor und ermutigt zur Diskussion. Eine interessante Art der visuellen Vermittlung dieser Problematik ist die Dauerausstellung im Kreisauer Schloss unter dem Titel „In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition gegen die Diktaturen des 20. Jahrhunderts“. Der Katalog zu der Ausstellung ist 2012 erschienen. Schon das Durchblättern des Programmangebots der Jugendbegegnungsstätte überzeugt davon, dass zu den wichtigen Bildungsaufgaben die Verbreitung des Wissens über den deutschen Widerstand, vor allem über den „Kreisauer Kreis“, gehört. Der Einsatz der Kreisauer Begegnungsstätte für die Aussöhnung und Verständigung zwischen den Völkern wurde vielfach gewürdigt: Im Jahre 2000 wurde sie mit dem Nagelkreuz aus Coventry und im Dezember 2008 mit dem Deutsch-Polnischen Preis ausgezeichnet. Die Wende in den deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989 beeinflusste sicherlich ganz wesentlich die Herangehensweise der Polen an die Geschichte des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Ich möchte hierzu einige Vorschläge unterbreiten: Notwendig wäre es, eine populär-wissenschaftliche Geschichte des deutschen Widerstandes zu verfassen. Eine solche Publikation sollte von Anfang an die polnische Wirklichkeit berücksichtigen Notwendig wäre es, eine und mit Bedacht die polnische Widerstandsbewegung populär-wissenschaftliche und den deutschen Widerstand gegenüberstellen, Geschichte des deutschen wobei verschiedene Rahmenbedingungen des WiderWiderstandes standes gegen den Nationalsozialismus aufgezeigt zu verfassen. werden müssten. Eine solche Betrachtungsweise würde auf überzeugende Art und Weise die positiven und negativen Seiten des Widerstandes darstellen sowie auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede hinweisen. Es lohnt sich außerdem, darüber nachzudenken, Workshops für Jugendliche zu organisieren, bei denen verschiedene Formen des Widerstandes gegen die Diktaturen nicht als Geschichte, sondern als ständige • Krzysztof Ruchniewicz • 95 Herausforderung behandelt werden sollten. Die Infrastruktur in Kreisau eignet sich wunderbar dafür. Darüber hinaus ist es ja ein Ort, an dem sich nicht nur Moltke und seine Freunde getroffen haben. Viele Jahre später begannen polnische und deutsche Politiker, Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl, mit einer symbolischen Geste ein neues Kapitel in den gegenseitigen Beziehungen. Zur gleichen Zeit fiel die Mauer in Berlin, deren Fragment heute in Kreisau zu sehen ist. Auf die gemeinsamen deutsch-polnischen Traditionen des Widerstandes und der Opposition, auf den Kampf um die Freiheit und die Menschenrechte aufmerksam zu machen, könnte der nächste wichtige Ausgangspunkt für Diskussionen sowie Vergleiche bilden, auf jeden Fall aber die Sensibilisierung für die Probleme des Nachbarn (oder anderer Nachbarn in Europa) erhöhen. 2014 werden wir den 25. Jahrestag der großen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa feiern, die mit dem „Runden Tisch“ in Polen und den Parlamentswahlen im Juni 1989 begonnen hatten. Die friedlichen Revolutionen sowie der Fall der Mauer öffneten in Mittel- und Osteuropa den Weg zur Freiheit. Das sind sehr wichtige Ereignisse, gemeinsame Erfahrungen. Sicherlich wäre es sinnvoll, die Geschichte des deutschen Widerstandes auch um diese Motive zu erweitern. Bibliografie: Geschichte verstehen – Zukunft gestalten. Die deutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1933–1949. Ergänzende Unterrichtsmaterialien für das Fach Geschichte, hrsg. von Kinga Hartmann, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl., Wrocław/Dresden 2009. Jonca Karol, Denken mit Moltke. Gedanken über Kreisau und Krzyżowa, Kreisau 2006. Kreisau/Krzyzowa: Geschichts- und Zukunftswerkstatt für Europa, hrsg. von der Kreisau-Initiative Berlin, München 2009. Ruchniewicz Krzysztof, Die Haltung Polens gegenüber dem deutschen Widerstand nach 1945 – insbesondere zum Kreisauer Kreis, in: Der 20. Juli 1944, Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, hrsg. von Gerd R. Ueberschär, Köln 1994. Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz Historiker, Professor für Zeitgeschichte am Historischen Institut der Universität Wrocław und Leiter des Willy Brandt Zentrums für Deutschland und Europa-Studien derselben Universität, Unterzeichner des Aufrufs vom Juni 1989 zur Gründung der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung sowie Mitglied ihrer Gedenkstättenkommission. E-Mail: [email protected] Marcin Miodek Der „Kreisauer Kreis“ und das Bild der deutschen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus in der polnischen Presse in den Jahren 1945–20131 Obwohl seit Ende des Zweiten Weltkrieges fast 70 Jahre vergangen sind, vermag die Temperatur der polnischen öffentlichen Debatte zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus2 immer noch sehr hoch zu sein. Das resultiert in hohem Maße aus der starken Politisierung dieser Problematik, die im Nachkriegspolen eine eigene Geschichte hat. Die Jahre 1945–1989 Eine Instrumentalisierung des Themas ist in der polnischen Presse schon seit 1945 vorzufinden: Dieses Datum bedeutete einen grundlegenden territorialen, politischen und gesellschaftlichen Wandel sowohl auf der globalen und kontinentalen Makroskala als auch auf der Mikroskala – unter anderem aus der Perspektive solcher Staaten wie Polen oder Deutschland. Es scheint, als ob diese Instrumen Die Quellengrundlage für diese Analyse ist für die Jahre 1945–1989 die regionale niederschlesische Wochenzeitung „Pionier“/ „Słowo Polskie“ (Die Namensänderung erfolgte am 1.11.1946, weiter im Text abgekürzt als „P“ und „SP“ ), die seit dem 27.08.1945 erschienen ist; für die Jahre 1989 bis zum 3. Quartal 2013 betraf die Recherche folgende Zeitungen: „Gazeta Wyborcza“, „Rzeczpospolita“, „Wprost“, „Polityka“, „Tygodnik Powszechny“, „Dziennik“, „Nasz Dziennik“, „Gazeta Polska“, „Nasza Polska“, „Myśl Polska“, „Forum“ u. a. 2 Unter dem Begriff „Widerstand“ versteht der Autor offenkundige Verstöße gegen geltende Systembereiche (z. B. rechtliche), die mit schweren Strafen geahndet werden. Zu berücksichtigen ist dabei die Wandelbarkeit dieser Bereiche abhängig vom Zeitraum und der damit verbundenen flexiblen Einordnung von Aktivitäten der Hitler-Gegner (eine andere Art von Mut verlangte somit die Verteilung antifaschistischer Flugblätter 1933 und 1943). Bei der Verwendung des Begriffs „Widerstand“ unterscheidet der Autor also die Aktivitäten von Gegnern des Nationalsozialismus, die im Rahmen des politisch-rechtlichen Systems Deutschland unternommen wurden, z. B. von den Oppositionsparteien in der ersten Hälfte der 1930er Jahre. 1 Marcin Miodek • 97 talisierung in dreifacher Weise motiviert sei: Erstens, durch die natürliche, aus den Kriegserfahrungen resulObwohl seit Ende des tierende Abneigung gegen das Deutsche als solches; Zweiten Weltkrieges zweitens, durch aktuelle sozialtechnische Bedürfnisse fast 70 Jahre vergangen der neuen, sich ausbreitenden und ihren Besitzstand sind, vermag die festigenden „Volksmacht“, die in der antideutschen Temperatur der Stimmung eine der wenigen Gemeinsamkeiten mit der Mehrheit der polnischen Bevölkerung fand3; drit- polnischen öffentlichen tens, durch die völlig andere Bewertung und andere Debatte zum deutschen Widerstand gegen den Spezifik des Widerstandes in Deutschland und in PoNationalsozialismus len, durch das im polnischen Kollektivbewusstsein chaimmer noch sehr 4 rakteristische Bild des Widerstandes , sowie das kaum hoch zu sein. vorhandene Wissen über den deutschen Widerstand. Die genannten Faktoren bewirken eine mehrgleisige Art der Darstellung des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in der offiziellen, auflagenstarken, durch die Zensur kontrollierten polnischen Presse direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die erste Gruppe (P1) bilden Texte, die in der deutschen Gesellschaft ausdrücklich einen Mangel an jedweder Form des Widerstandes feststellten, und die vor allem in den ersten Monaten nach dem Krieg erschienen5. Zu der zweiten Gruppe (P2) gehören Artikel (veröffentlicht teilweise parallel zur ersten Gruppe, teilweise aber etwas später), die zwar an Anzeichen des Widerstandes erinnerten, ihn aber der pragmatischen Rettung (P 2-1) oder Vortäuschung (P2-2) zuordneten. Das P2-1 Paradigma tauchte unter anderem in den Texten über Oberst von Stauffenberg und die Opposition unter Offizieren auf. Beschrieben wurde das Stillschweigen zum Vorgehen Hitlers bis zu dem Zeitpunkt als dieser Gruppe die nahende militärische Niederlage bewusst • Es geht u. a. um die propagandistisch aufgebaute Gemeinschaft der tragischen Erfahrungen sowie die Konsolidierung der Gesellschaft und der Regierung angesichts der immer noch als real dargestellten deutschen Bedrohung (im Laufe des Kalten Krieges unterstützt von amerikanischen und englischen „Imperialisten“). 4 Der Widerstand, der als – auch bewaffneter – Kampf um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit verstanden wird, der wiederum viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasst. Der Widerstand als Untergrundbewegung, die mit den Aktivitäten des Polnischen Untergrundstaates zusammenhängt, siehe: Nowa encyklopedia powszechna PWN, Wydawnictwo Naukowe PWN, Ausg.1, Warszawa 1998, Band 5, S. 631; Wielka encyklopedia PWN, Wydawnictwo Naukowe PWN, Ausg.1, Warszawa 2004, Band 24, S. 49. 5 E.S., Czy tylko Hitler i hitlerowcy?, „P“ 13.9.1945, S. 1. 3 98 • Der „Kreisauer Kreis” im polnischen kollektiven Bewusstsein... wurde. Das Attentat vom 20. Juli wurde als ein Versuch dargestellt in der letzten Minute das, was vom Dritten Reich übrig geblieben war, zu retten6. Einer der Texte aus der P2-2-Gruppe bezog sich auf den Namen des Offiziers und Attentäters: Es ging um den Neologismus „Stauffenbergiada“7, der ironisch schilderte, wie schnell im besetzten Deutschland die Zahl der „neugeborenen deutschen Partisanen“ wuchs, je weiter das Kriegsende entfernt war. Das schon erwähnte Paradigma zog sich außerdem mehrmals durch die Artikel über die deutsch-polnischen Kontakte in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten sowie über die alltäglichen und direkten Kontakte in den Jahren 1945–1947 hindurch. Die unrühmliche Vergangenheit der Deutschen kam sogar im Fall derjenigen zum Vorschein, die sich als Gegner Hitlers bezeichnet hatten8. Ein solches Bild der Deutschen sollte an ihre Schuld erinnern und die Polen davon abhalten, nähere Bekanntschaften mit ihnen zu schließen sowie den Artikel XIII des Potsdamer Abkommens legitimieren, der die Durchführung des „Transfers“ der deutschen Bevölkerung in die Gebiete westlich der OderNeiße-Linie festlegte9. Eine Abweichung von den vorherrschenden Regeln P1 (fehlender Widerstand) und P2 (rettend-pragmatischer P2-1 oder vorgetäuschter Widerstand P2-2) ist in Beiträgen zu finden, die einzelne Personen im Widerstand gegen Hitler zeigen. Diese Ausnahmen (die das Paradigma P3 bilden) sind im Quellenmaterial von 1945–1946 mehrere Male anzutreffen. Die Zeitung „Pionier“ / „Słowo Polskie“ erinnerte an die Haltung Thomas Manns10 und des Pastors Martin Niemöllers11, J.S., Pozostałości niemieckiej pychy. Co myśli niemiecki demokrata o stosunkach polskoniemieckich, „P“ 29.8.1945, S. 3; o. A., Spisek przeciwko Hitlerowi. Zdradzieckość i lojalność Wehrmachtu, in „P-Tygodniowy Dodatek Ilustrowany“ vom 8.9.1946, S. 3-4; Edward Osmańczyk, Przez 12 lat dzień po dniu pod okiem Hitlera przygotowywany był zamach na III rzeszę, in „SP“ vom 28.11.1946, S. 3-4. 7 E. Wilk, Szukanie ratunku w cieniu postaci Stauffenberga. Triumf Nemezis dziejowej. Oplwany kaleka – broni ‘narodu panów‘, in „SP“ vom 19.7.1948, S. 3; in diesem Text wird Stauffenberg als ein „tragischer Held“ definiert. 8 Zbigniew Janczewski, Zagadnienie niemieckie, in „P“ vom 11.9.1945, S. 2, Bildgeschichte „Z pamiętnika szabrownika“, in „Wrocławski Kurier Ilustrowany“ vom 29.1.1948, S. 6. 9 W sprawie Niemców, „P“ 5.09.1945, S. 1. 10 A.R., Co czytają dzisiaj Niemcy?“, in „P“ vom 9.4.1946, S. 3, Leszek Goliński, Wielki Niemiec o małych Niemcach, in „SP“ vom 5.11.1946, S. 3; Tomasz Mann o Niemczech powojennych, in „P“ vom 21.5.1946, S. 1. 11 o. A., Niemcy ponoszą winę za wybuch wojny, in „P“ vom 26.10.1945, S. 1. Im Fall von Martin Niemöller ist die Änderung seines Images seit 1946 zu verzeichnen, die von seiner „Zusammenarbeit“ mit den westlichen Alliierten und der, nach Ansicht der polnischen Presse, 6 Marcin Miodek • 99 außerdem erwähnte sie die aus „Antifaschisten“ zusammengesetzte deutsche Division (Strafdivision 999), die während der Kämpfe in Afrika zu den Alliierten überlief12. In dieser Zeitung erschienen ebenfalls nicht näher zu bestimmende „demokratische“13 oder „antifaschistische14 Gruppierungen. Anzufügen wäre noch, dass die untersuchten Quellen über die Schikanen gegen die Widersacher Hitlers im Nachkriegsdeutschland informierten. Im Laufe der Zeit griffen dieses Paradigma und der sich verschärfende Konflikt zwischen Ost und West ineinander, wobei das Schema überwiegend auf die westlichen Besatzungszonen angewendet wurde15. Die Entwicklung der sowjetischen Zone wiederum determinierte die Herausbildung des neuen Paradigmas (P4): der Zusammenhang von antifaschistischen Widerstand und dieser Zone und der aus ihr 1949 hervorgegangenen DDR. Ein größeres sozialtechnisches Problem war jedoch die Anpassung der Aktivitäten der deutschen Kommunisten während des Zweiten Weltkrieges an das im Ostblock geltende Paradigma der Macht der kommunistischen Widerstandsbewegung. Die propagandistische Durchsetzung des „Partisanen-Antifaschismus“ während des Zweiten Weltkriegs bezogen auf die Machteliten in der DDR kam aus offensichtlichen Gründen nicht infrage. Sogar die größte Tatsachenbeugung wäre nämlich, bei so einer bescheidenen Zahl an Widerständlern, unglaubwürdig (vereinzelte Texte in der „SP“ erinnerten allgemein an den antifaschistischen Arbeiteruntergrund und den Antifaschismus der deutschen Kommunisten16). zu großen Besorgnis um das Schicksal der Deutschen herrührte (o. A., Hitleryzm nie został wytępiony, in „P“ vom 26.3.1946,S. 2). Um ihn zu diskreditieren, wurde u. a. an seinen Einsatz als U-Boot-Fahrer im Ersten Weltkrieg erinnert. 12 O dywizji 999, in „SP“ vom 22.12.1946,S. 4 (nach „Ekspress Wieczorny“). 13 In dem früher zitierten Text E. Wilks „Szukanie ratunku w cieniu postaci Stauffenberga. (...)“ ist folgende Aussage zu finden: „[…] mit Ausnahme von demokratischen Gruppierungen, die dem Nationalsozialismus von Anfang an den bedingungslosen Kampf angesagt haben, ist der Rest des deutschen Volkes nicht erpicht darauf gewesen, Hitler loszuwerden […]“. 14 S.O., Groźba faszyzmu ciągle aktualna, in „P“ vom 18.1.1946, S. 2 (nach „Dziennik Zachodni“); J.W., Raj dla hitlerowców i renegatów we francuskiej strefie okupacyjnej, in „P“ vom 1011.3.1946, S. 2. Der Begriff „Antifaschisten“ ist mit der propagandistischen Anwendung des Begriffs „Faschisten“ verbunden, mit dem verschiedene politisch-ideologische Gegner der „Volksmacht“ bezeichnet werden – Nazis, Amerikaner, Politiker der Zweiten Republik, Mitglieder der AK (Heimatarmee), WiN (Freiheit und Unabhängigkeit) sowie NSZ (Nationale Streitkräfte). 15 o. A., Zachodnio-niemiecka policja i amerykańska żandarmeria atakują antyfaszystów, in „SP“ vom 28.11.1949,S. 2. 16 K., Fakty, które mówią za siebie, in „SP“ vom 30.3.1950, S. 1; o. A., Budowa socjalizmu stała się podstawowym zadaniem w Niemieckiej Republice Demokratycznej (…), in „SP“ vom 22.8.1952, S. 3; o. A., 35 lat nieugiętej walki z faszyzmem, in „SP“ vom 15.1.1954, S. 2; o. A., Nauka o opozycji 100 • Der „Kreisauer Kreis” im polnischen kollektiven Bewusstsein... Die „SP“ mied eigentlich die Erwähnung des Volkskomitees Freies Deutschland17, dessen sowjetische Entstehungsgeschichte in Polen eine umgekehrte sozialtechnische Auswirkung gehabt hätte. Demzufolge schien die sicherste Taktik für die Schaffung des Paradigmas vom Widerstand der deutschen Kommunisten zu sein, ihre Verfolgung in den nationalsozialistischen Lagern und Gefängnissen darzustellen18. Vor allem deswegen, weil bei dieser Gelegenheit oft die Paradigmen der Lagererfahrungen von den damaligen polnischen Machthabern, aber auch die Brüderschaft der deutschen und polnischen Arbeiterklasse in der Vergangenheit bekräftigt wurden: wie im Gedicht „An den deutschen Genossen“19, mit den charakteristischen Zeilen „Wir wurden in der gleichen Weise mit dem Draht umwickelt – daher der Kampf und unsere Freundschaft“. Eine andere Art, die deutschen Kommunisten zu legitimieren war, sich der Aktivitäten solcher „Protoantifaschisten“ wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht20 oder Ernst Thälmann21 zu besinnen. Ende der 1940er und anfang der 1950er Jahre konnte demnach eine sozialtechnische Bereinigung der untersuchten Problematik beobachtet werden. Das resultierte aus der Erstarkung der „Volksmacht“ in Polen (darunter der propagandistischen Paradigmen), der Stabilisierung der Position der DDR sowie aus der Festigung des negativen Images des „revisionistischen“, „faschistischen“ und „(neo)nationalsozialistischen“ Westdeutschlands. In den folgenden Dekaden der kommunistischen Epoche änderte sich die Art, die untersuchte Problematik darzustellen, prinzipiell nicht, obwohl eine w III Rzeszy, in „SP“ vom 11.3.1987, S. 2. Im Text von Zofia Rzeplińska „Ernst Thaelmann i jego towarzysze“ in „SP“ vom 16.4.1952, S. 2, ist sogar von der Schwäche der antifaschistischen Widerstandsbewegung die Rede. 17 o. A., Wspomnienie pośmiertne o Walterze Ulbrichcie, in „SP“ vom 3.8.1973, S. 2; Czesław Podgórski, Komitet Narodowy ‘Wolne Niemcy’, in„SP“ 13.7.1977, s.5. 18 Leon Kucharzewski, Nieprzebrane bogactwa zwożone z całej Europy gromadzono w Głuszycy na wyposażenie jaskini Hitlera, in „SP“ vom 3.4.1951, S. 6; PAP, Imponująca manifestacja siły NRD, in „SP“ vom 8.10.1964,S. 1; Odra i Nysa stały się granicą, która nie dzieli lecz łączy Polskę i NRD, przemówienie Piotra Jaroszewicza w Zielonej Górze, in „SP“ vom 6./7.7.1969, S. 2; Jesteśmy przyjaciółmi i wiernymi sojusznikami, przemówienie Ericha Honeckera na VI zjeździe PZPR, in „SP“ vom 8.12.1971, S. 4. 19 Grzegorz Timofiejew, Do towarzysza niemieckiego, in „SP“ vom 2.8.1951, S. 4. 20 o. A., W rocznicę zamordowania Róży Luksemburg, in „SP“ vom 18.1.1949, S. 2; Zofia Rzeplińska, Karol Liebknecht. W 31 rocznicę śmierci wielkiego niemieckiego rewolucjonisty, in „SP“ vom 15.1.1950, S. 3; o. A., W 35 rocznicę śmierci Róży Luksemburg i Karola Liebknechta, in „SP“ vom 15.1.1954, S. 1. 21 o. A., Aresztowani mordercy Thaelmanna, in „SP“ vom 18.10.1948, S. 2; Willi Bredel, Ernest Thaelmann, in „SP“ vom 7.10.50, S.3; Mieczysław Rakowski,’NASZ TEDDY’, in „SP“ vom 2223.8.1954, S. 3. Marcin Miodek • 101 Abkehr vom Paradigma P1 (der fehlende Widerstand) zu beobachten war. Nach dem Ende der stalinistischen Ära konnte auch eine gewisse Abschwächung der formellen Ausdrucksmittel verzeichnet werden, der Inhalt der Artikel dagegen wurde gemäß der früheren Paradigmen gestaltet: Grundsätzlich war der einzig wahre Widerstand das Handeln der Kommunisten (P4), die Aktivitäten der anderen Gruppen wiederum wurden in der Regel als ein Versuch betrachtet, das Dritte Reich zu retten (P2-1), beziehungsweise als ein völlig marginales Handeln (P3) gesehen. Als Beispiel könnten einzelne Texte über die „Weiße Rose“ dienen, die übrigens oft von der aktuellen Propaganda gegen die BRD genutzt wurden22. Ein charakteristisches Element der Texte des Paradigmas P4 ist eine geringe Anzahl an Einzelheiten23. Selbst in den mehrmals idealisierten Lebensläufen der ostdeutschen Politiker wurden allgemeine Phrasen über ihre antifaschistischen Aktivitäten in der Zeit des Dritten Reiches bevorzugt24. „Fortschrittliche Traditionen“ … des „Kreisauer Kreises“ Den oben beschriebenen Paradigmen schließt sich der 1967 veröffentlichte Text „W 23 rocznicę zamachu na Hitlera“ (Am 23. Jahrestag des Hitler-Attentats)25 an, der über ein Treffen von Studenten an der Freien Universität in Berlin berichtete. Die akademische Jugend kritisierte dabei die Mythologisierung der Gruppe um Graf von Stauffenberg, die nur „den Nationalsozialismus verbessern“ wollte (Paradigma P2-1). Eine Überraschung war dagegen das erste dem Autor bekannte Auftreten des „Kreisauer Kreises“ in „Słowo Polskie“. Die Gruppe um Graf von Moltke wurde dort als den Kommunisten ideell nahestehend dargestellt (Paradigma P4), obwohl sie einer anderen Herkunft waren. Der Artikel beinhaltete auch viele Bezüge zu der damaligen internationalen Politik. Unterstrichen o. A., Prokurator który skazał na śmierć bohaterów z ‘związku białej róży’ jest obecnie dygnitarzem w Bonn, in „SP“ vom 6-7.3.1955, S. 1; Michał Jawor, Wspomnienia ‘białej róży’, in „SP“ vom 5-7.4.1958,S. 2. 23 Bolesław Bierut, List Przewodniczącego KC PZPR do Przewodniczących SED. Zerwanie z haniebną tradycja marszu na Wschód wprowadzi Niemcy do rodziny wolnych ludów, in „SP“ vom 15.10.1949, S. 1; o. A.,’Kulturbund’ w walce o treść nowych Niemiec, in „SP“ vom 24.12.1949, S. 2; K, Fakty, które mówią za siebie, in„SP“ vom 30.3.1950, S. 1. Im Text o. A., „Imponująca manifestacja siły NRD w Berlinie“ (in „SP“ vom 8.10.1964, S. 2) wird z. B. angegeben, dass „15 Generäle der DDR-Armee während des Krieges Mitglieder der antifaschistischen Widerstandsbewegung waren, acht von ihnen kämpften in den Internationalen Brigaden in Spanien und sieben überlebten die Konzentrationslager.“ 24 o. A., Szczery nasz przyjaciel, in „SP“ vom 3.1.1955, S. 2; Wspomnienie pośmiertne o Walterze Ulbrichcie, in „SP“ vom 3.8.1973, S. 2. 25 „SP“ vom 21.7.1967, S. 2. 22 102 • Der „Kreisauer Kreis” im polnischen kollektiven Bewusstsein... wurde u. a. die Unterstützung von Moltkes dafür, Polen die Rechte an den damaligen deutschen Ostgebieten zu gewähren. Der „Kreisauer Kreis“ und seine führenden Köpfe unterliegen damit einer eindeutigen Instrumentalisierung, um die Selbstlegitimierung der Ansichten der kommunistischen Machthaber in der PRL und die Delegitimierung des politischen Systems der BRD durchzuführen. Ein Beispiel ist die in dem Text zitierte Aussage von Theodor Steltzer, einem der Mitglieder des Kreises, die Bonner Regierung habe alle fortschrittlichen Traditionen verspielt, die dem Handeln der antinationalsozialistischen Gruppe „Kreisauer Kreis“ zu Grunde gelegen hätten. Beim Thema „Kreisauer Kreis“ sollte an die Anwesenheit Eugen Gerstenmaiers in der „SP“ erinnert werden26, wenngleich er eine überwiegend sozialtechnische Funktion als Präsident des „marionettenhaften“ Bundestages und nicht als Legende der Widerstandsbewegung erfüllte (auch wenn sein Ansehen entschieden besser war als das von Konrad Adenauer, Theodor Heuss oder Kurt Schumacher). Die Jahre 1989–2013 Das Jahr 1989 brachte gewisse Veränderungen mit sich, was die Einstellung der polnischen Presse zur Frage des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Deutschland betraf. Unter dem Einfluss der Dekommunisierung verschwand das instrumentalisierte Paradigma, das die deutschen Kommunisten verherrlichte (P4), was manchmal dazu führte, dass diese Aktivitäten völlig ungerechtfertigt übergangen wurden (unabhängig von den Zielen, die den Kommunisten vorschwebten). Die politische Wende bedeutete dagegen nicht, dass von den anderen Paradigmen aus den Jahren 1945–1989 abgewichen wurde, die sich bis heute halten – in geänderten Proportionen, aus anderen Anlässen, abhängig von der politischen Orientierung der Zeitung oder des Autors. Das Paradigma des fehlenden Widerstandes (P1) wird wohl am deutlichsten in den medialen Diskussionen im Zusammenhang mit dem Interview Jarosław Kaczyńskis für „Die Welt“ vom Juli 2007 sichtbar, in dem er die Verschwörung des 20. Juli als „rachitisch“ bezeichnete27 sowie für „Wprost“ vom Januar 2008, als er sagte: „[…] in Wahrheit gab es in Deutschland keine Widerstandsbewegung, dafür aber eine fast vollständige Akzeptanz für Hitlers Handeln. Die immerhin ehrenwerte Organisation „Weiße Rose“, die für die wichtigste Er o. A., Panu Schachtowi i kompanom marzą się kolonie w Afryce, in „SP“ vom 19.8.1955, S. 2; P.L., Ludność NRF nie chce służby wojskowej, in „SP“ vom 12.7.1956, S. 2; o. A., Nowy akt bezprawia, in „SP“ vom 14.5.1964, S. 1. 27 http://www.pis.org.pl/article.php?id=8832 [17.7.2013]. 26 Marcin Miodek • 103 scheinung der deutschen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus gehalten wird, würde sicherlich in mein Arbeitszimmer reinpassen […].“28. Stefan Niesiołowski29 von der Partei Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, PO) antwortete darauf und nannte die Äußerungen des Vorsitzenden der Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) „tief unwahr, schädlich für die deutsch-polnische Aussöhnung, die gegenseitigen Beziehungen vergiftend“30. Darüber hinaus schilderte er die heldenhaften Aktivitäten von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Henning von Tresckow, Dietrich Bonhoeffer, Sophie und Hans Scholl und anderen (wobei er den hohen Preis betonte, den sie für ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus bezahlten). Er sprach von Persönlichkeiten, die nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten, wie z. B. Konrad Adenauer, Eugen Gerstenmaier, Fabian von Schlabrendorff oder Clemens August Kardinal Graf von Galen. Niesiołowski ergriff auch in der medialen Diskussion vom Juni bis Juli 2009 das Wort31, die mit der Ehrung eines anderen Widersacher Hitlers – Heinrich von Lehndorff – in Sztynort (deutsch Steinort) zusammenhing und die von den nationalkonservativen/nationalistischen Zeitungen kritisiert wurde. Obwohl die in der Diskussion über den deutschen Widerstand gefallenen Argumente nicht viel Neues brachten (das individuelle Heldentum wird dem konjunkturell motivierten rettenden Widerstand gegenüber gestellt, sowie der Polenfeindlichkeit mancher Verschwörer32), so lieferte die Polemik zwischen Stefan Niesiołowski und Wojciech Pięciak in der „Gazeta Wyborcza“ interessante Schlussfolgerungen33. Beide Texte zeigten expressis verbis eine starke Instrumentalisierung der untersuchten Problematik im polnischen Pressediskurs sowie damit verbundene Defizite. Einerseits – in der germanophoben Interpretation - wurde der Leser mit der Suche nach niedrigen Beweggründen in jeder Handlung der deutschen Hitler-Gegner und vorsätzlicher Auslassung ihrer offenkundigen Verdienste konfrontiert; andererseits mit Aussagen, die sie als Demokraten und Verschwörer geradezu idealisierten, weil sie „schon immer“ gegen den Nationalsozialismus gekämpft hätten. http://www.wprost.pl/ar/120929/Bylem-ostatnim-premierem/?pg=2 [17.7.2013]. Autor des Buches „Niemieccy przeciwnicy Hitlera“. 30 Stefan. Niesiołowski, Niemieccy przeciwnicy Hitlera, in „Gazeta Wyborcza“ vom 24.1.2008, S. 21, Niemieccy przeciwnicy Hitlera, in „Gazeta Wyborcza“ vom 26-27.7.2008, S. 25-26. 31 Stefan Niesiołowski, Nienawidzą Stauffenberga, in „Gazeta Wyborcza“ vom 20.7.2009, S. 9. 32 Waldemar Maszewski, Niemcy szukają swoich bohaterów, in„Nasz Dziennik“ vom 3.7.2009, S. 7; Stefan Niesiołowski, Nienawidzą Stauffenberga, in „Gazeta Wyborcza“ vom 20.7.2009, S. 9. 33 Wojciech Pięciak, Między potępieniem a hagiografią, in „Gazeta Wyborcza“ vom 12.8.2009, S. 15; Stefan Niesiołowski, Bohaterowie się zdarzają, in „Gazeta Wyborcza“ vom 30.8.2009, S. 22. 28 29 104 • Der „Kreisauer Kreis” im polnischen kollektiven Bewusstsein... Hinzuzufügen wäre, dass das Paradigma des fehlenden Widerstandes oft mit der Frage des deutschen „historischen Revisionismus“ (dem Versuch, von der Rolle des „Henkers“ in die des „Opfers“ zu wechseln) in Verbindung gebracht wurde. Das geschah angeblich u. a. dadurch, dass die Geschichtspolitik mithilfe großer Filmproduktionen wie „Sophie Scholl“, „Operation Walküre“ oder dem Fernsehdreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ konstruiert wurde. Die Medien schrieben u. a. über „eine Welle von Bildern, die den Eindruck machen sollte, der Widerstand sei im Dritten Reich üblich, und betreffe dessen zwei bekannte Fälle: das Stauffenberg-Attentat sowie die Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘[…]“34. Ein Beispiel für das Auftreten des Paradigmas des konjunkturellen Widerstandes P2 ist immer noch die kontroverse Gestalt von Stauffenbergs und seiner Gruppe. Von der Komplexität dieser Frage zeugen die Überlegungen Tomasz Nowaks: „Die um Stauffenberg versammelten Offiziere mit nationalkonservativen Ansichten hatten vor, Hitler zu stürzen und die militärische Niederlage Deutschlands zu verhindern. […] Es wäre jedoch ein Fehler, bei den Verschwörern nur nationale und pragmatische Beweggründe zu sehen. Zwanzig von ihnen nannten sogar als Hauptmotiv für ihr Handeln den Protest gegen die mörderische Politik der Nazis gegenüber den Juden. […] Das Attentat war eine heldenhafte Tat. Warum erfolgte es aber erst 1944 […]? Waren die Attentäter nicht vor allem an der Rettung Deutschlands vor der unvermeidlichen militärischen Niederlage interessiert?“35. Zu dem eindeutig als positiv bewerteten Paradigma des vereinzelten Widerstandes (P3) gehören u. a. Erinnerungstexte über die Geschwister Scholl / „Weiße Rose“36 oder Pastor Dietrich Bonhoeffer37. Das geht sowohl aus der Betrachtungsweise ihrer Haltung hervor (idealistisch, uneigennützig, christlich, apolitisch) als auch aus ihrer geringen Attraktivität für die erkennbar antideutschen sozialtechnischen Aktivitäten auf der polnischen politisch-medialen Bühne. Artur Dmochowski, Historia w wersji hard, in „Gazeta Polska“ vom 3.4.2013, S. 12-13. Laut des Autors überstieg die Zahl der Filme über diese Widerstandsgruppe (die sechs Leute zählte) [es geht um die „Weiße Rose“] schon die Zahl ihrer Mitglieder. 35 Tadeusz Nowak, Operacja ‘Walkiria’ – zamach na Hitlera, in „Gazeta Polska“ vom 4.2.2009, S. 22-23. 36 Adam Krzemiński, Ścięta Róża, in „Polityka“ vom 14.1.2006, S. 70-71; Anita Piotrowska, Ostatni papieros Sophie Scholl, in „Tygodnik Powszechny“ vom 22.1.2006, S. 20; Tomasz Fiałkowski, Biała Róża, in „Tygodnik Powszechny“ vom 22.1.2006, S.2 0. 37 Andrzej Grajewski, Niemiec przeciw Hitlerowi, in „Wprost“ vom 12.2.2006, S. 66-67; Tadeusz Mazowiecki, Nauczył się wierzyć wśród tęgich razów, in „Gazeta Wyborcza“ vom 18.4.2007, S. 22-24. 34 Marcin Miodek • 105 Die Versöhnungsmesse und ihr Einfluss auf das Bild des „Kreisauer Kreises“ Wie schreibt sich in dieses Bild der „Kreisauer Kreis“ ein, der – nicht zu vergessen – in den oben zitierten Texten gar nicht erscheint? Diese Gruppe gelangte im November 1989 in den medialen Hauptstrom, was selbstverständlich mit der deutsch-polnischen Versöhnungsmesse in Kreisau zusammenhing. In der Presse aus dieser Zeit sind viele, oft aber ungenaue oder falsche Informationen zu dem Kreis und von Moltke zu finden, z. B.: „Während des Zweiten Weltkrieges versammelten sich beim dortigen Aristokraten deutsche Verschwörer, die Hitler stürzen wollten“38 oder „sie nannten sich Kreisauer Kreis“39 (in diesem Text wird auch unpräzise an die Verbindung zwischen dem Kreis und Stauffenberg, Goerdeler sowie Bonhoeffer erinnert). „Słowo Polskie“ veröffentlichte eine Information über die Pläne der Politiker unter dem Aufsehen erregenden Titel: „Auf dem ehemaligen Gut von Moltkes wird der Geist der Anti-HitlerVerschwörung wieder lebendig“40; das Presseorgan des ZK der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) nannte Helmuth James „einen Teilnehmer an der antifaschistischen Widerstandsbewegung[!]“41, und das Presseorgan des KW PZPR (Woiwodschaftskomitee der PVAP) „Gazeta Robotnicza“ bezeichnete die Gruppe als „antifaschistische Verschwörung ‚Kreisauer Kreis‘“42. Nichtsdestoweniger wurde schon damals das offensichtliche Potenzial Kreisaus erkannt: „Das Treffen des Kanzlers Kohl und des Ministerpräsidenten Mazowiecki in Kreisau bedeutet, einen Bezug zum Besten aller Symbole herzustellen: Die Mitglieder des ‚Kreisauer Kreises‘ opferten ihr Leben für eine politische Ordnung, die auf demokratischen und christlichen Werten basierte. Ryszard Wojna bemerkte zu Recht, ‚Kreisaus Symbolik könne einer Wende in den deutsch-polnischen Beziehungen dienlich sein‘.“43. Es mag einen wundern, dass die Versöhnungsmesse und damit verbunden die Erinnerung an die Gruppe um Helmuth James von Moltke jahrelang den Wettstreit um Platz 1 auf den Titelseiten der polnischen Presse im November gegen den Fall der Berliner Mauer verlor. Die Messe in Kreisau wurde erst in den letzten K.L., Kohl do Krzyżowej, in „Gazeta Wyborcza“ vom 6.11.1989, S. 3. Krąg z Krzyżowej, tłum. K. Grzybowska, in „Gazeta Wyborcza“ vom 8.11.1989, S. 6. 40 E. Stelmach, in „SP“ vom 6.11.1989, S. 1-2. 41 Rudolf Hoffman, Z kanclerzem do Krzyżowej, „Trybuna Ludu“ 13.11.1989, S. 4. 42 M.W., Kanclerz Kohl odwiedzi Krzyżową koło Świdnicy, „Gazeta Robotnicza“ 6.11.1989, S. 1. 43 Adam Michnik, Nie chodzi o pomoc dla Polski, in „Gazeta Wyborcza“ vom 8.11.1989, S.1. 38 39 106 • Der „Kreisauer Kreis” im polnischen kollektiven Bewusstsein... Jahren regelmäßiger berücksichtigt, aus Anlass ihres 15.44 oder 20.45 Jahrestages (richtig scheint hier die Feststellung Antoni Dudeks46, die Bedeutung der Messe würde erst mit den Jahren anerkannt – wie die Botschaften der Bischöfe von 1965). Eine ähnliche Tendenz konnte auch in den Texten beobachtet werden, die nur von Moltke und seine Gruppe betrafen. Einige längere, inhaltlich wertvolle Texte, die sich auf das Thema des Kreises bezogen, konnte man schon in den 1990er Jahren (z. B. anlässlich der Eröffnung der Jugendbegegnungsstätte im Juni 199847) entdecken. Der überwiegende Teil solcher Artikel entstand jedoch erst vor kurzem48. Festzustellen ist, dass sie mehrheitlich sorgsam und entsprechend dem neuesten Stand der Forschungen zum Kreis und der Familie von Moltke verfasst wurden, obwohl sie nicht immer eine tiefere Analyse des politisch-sozialen Programms der Gruppe beinhalten. Genannt wurden in diesen Texten die ungewöhnliche Korrespondenz zwischen Helmuth James und seiner Frau Freya, die Verdienste im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen oder die ethisch-religiöse Dimension der Haltung von Moltkes. Eine wichtige Rolle als Wächterin der Erinnerung an die Gruppe spielte Freya von Moltke, die auch in einigen anderen Texten auftaucht49. Sie wurde sogar in einem umfangreichen Nachruf in „Gazeta Wyborcza“ als „Mitglied“ des Kreises bezeichnet50. Aneta Augustyn, Papiery ukrywała w ulu. Rozmowa z Helmuthem Casparem von Moltke,in „Gazeta Wyborcza Wrocław“ vom 8.11.2004, S. 3; Aneta Augustyn, 15 lat po, in „Gazeta Wyborcza Wrocław“ vom 6-7.11.2004, S. 3. 45 Danuta Walewska, Szampan w Luftwaffe, in „Rzeczpospolita“ vom 9.11.2009, S. A14; Michał Kokot, Gesty są ważne dla pojednania, in „Gazeta Wyborcza Wrocław“ vom 12.11.2009, S. 2; Michał Kokot, Krzyżowa jak Verdun, in „Gazeta Wyborcza“ dod. „Tygodnik z Dolnego Śląska“ vom 12.11.2009, S. 6. 46 Jarosław Stróżyk / Jarosław Kałucki, Pojednanie z Niemcami. A Rosja?, in „Rzeczpospolita“ vom 13.11.2009, S. A6. 47 Maciej Wieczorek, Czemu w Krzyżowej?, in „Gazeta Wyborcza“ vom 6-7.6.1998, S. 31; Rafał Bubnicki, Symbol porozumienia, in „Rzeczpospolita“ vom 10-11.6.1998, S. 4. 48 Maryna Czaplińska / Michał Czapliński, Krzyż Helmuta von Moltke, in „Gazeta Wyborcza“ vom 29-30.8.2009, S. 29; Ludwig Mellhorn, Lepsze życie w podłych czasach, in „Gazeta Wyborcza“ vom 6.1.2010, S. 20-21; Adam Krzemiński, Zwykła ludzka przyzwoitość, in „Gazeta Wyborcza“ vom 10-11.3.2007, S. 23-24; Adam Krzemiński, Niczego, poza życiem, nie mogą Ci odebrać, in „Polityka“ vom 23.4.2011, S.7 8-80; Adam Krzemiński, Wasi ojcowie, nasi ojcowie, in „Polityka“ vom 8.5.2013, S. 50-52. 49 Adam Krzemiński, Nasze wypędzone, in „Polityka“ vom 6.2.2010, S. 86-87; Aneta Augustyn, Kochankowie z Krzyżowej. Miłość w czasach Hitlera, in: Ale Historia, Tygodnik Historyczny Gazety Wyborczej, vom 3. September 2012, S. 10-12. 50 BM, Zmarła hrabina Freya von Moltke, członkini Kręgu z Krzyżowej, in „Gazeta Wyborcza Wrocław“ vom 5.1.2010, S. 2. 44 Marcin Miodek • 107 Eine Ausnahme von dem durchweg positiven Image von Moltkes und seiner Gruppe war eine Äußerung, die nicht den Tatsachen entsprach: „[…] In den Programmen der deutschen Oppositionellen, Hitlers Gegner, ob Mitglieder des sog. Kreisauer Kreises oder der Gruppe um den Leipziger Bürgermeister Carl Goerdeler, gab es kein Wort der Verurteilung für die nationalsozialistische Anschlusspolitik oder die rücksichtlose Ausbeutung der unterworfenen Staaten und Nationen […]“51. Diese falsche Verallgemeinerung entsprang einer Argumentation, die den Gebrauch des Begriffs „Widerstandsbewegung“ für die deutschen Nazigegner negierte. Der Autor des Zitates hält – gemäß dem Paradigma P3 – einzig die Haltung einzelner Persönlichkeiten (z. B. D. Bonhoeffer, T. Mann, die Mitglieder der „Weißen Rose“ oder Otto Schimek) für lobenswert. Schlussfolgerungen Zusammenfassend muss zum Bild des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in der polnischen Presse der Nachkriegszeit ein hoher Grad an Komplexität festgestellt werden. Die Diskussion berührt sehr sensible Bereiche der kollektiven Erfahrungen und der Erinnerungskultur. Als Symbol dafür gilt beispielsweise der fehlende Konsens über die Namen, der sich in dem Gebrauch solcher Begriffe wie Opposition, Antifaschisten, Nazigegner, Verschwörung, Konspiration, Widerstand oder Widerstandsbewegung spiegelt. Die Texte (vor allem Auseinandersetzungen) veranschaulichen das ständige Syndrom des historischen Ballastes: Wie weit sollten die Fakten vorgestellt werden, damit der Text nicht als selektiv oder als Geschichtsfälschung angesehen wird? Ein zusätzliches Problem stellt die zeitgenössische Perspektive dar, die ein vollständiges Wissen aller Deutschen zum Thema Nationalsozialismus und seiner Anfänge voraussetzt. Darüber hinaus existiert ein in Polen wohl unvermeidliches, enormes Missverhältnis bei der Gegenüberstellung der Zahlen von einigen Dutzenden der bekanntesten Namen der Hitler-Gegner mit den Hunderttausenden oder sogar Millionen Polen, die sich in der Widerstandsbewegung als Mitglieder oder Mitarbeiter von AK (Heimatarmee), BCh (Bauernbataillone), NSZ (Nationale Streitkräfte), GL/AL (Volksgarde/Volksarmee) und anderen Gruppierungen engagiert haben. Der „Kreisauer Kreis“ gehört zu den Akteuren des deutschen Widerstandes, die – neben Dietrich Bonhoeffer und der „Weißen Rose“ – in Polen die wenigsten Kontroversen hervorrufen. Dazu beigetragen haben folgende Komponenten Dariusz Baliszewski, Dobrzy Niemcy. W III Rzeszy nie było żadnego ruchu oporu, in „Wprost“ vom 22.1.2006, S. 68-69. 51 108 • Der „Kreisauer Kreis” im polnischen kollektiven Bewusstsein... ihres Programms: starker Einfluss des Christentums, eindeutige Haltung zur deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg, eindeutige Forderung nach Verurteilung der Täter sowie die Hinnahme des Verlustes Schlesiens durch Deutschland. Ein weiterer Aspekt ist – wichtig insbesondere aus der Perspektive der regionalen Erinnerungskultur – die territoriale Zugehörigkeit Kreisaus zu Polen sowie die Versöhnungsmesse vom November 1989, die ein Meilenstein in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen bleibt. Dr. Marcin Miodek Germanist, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Wrocław, Autor der Monografie „Niemcy. Publiczny obraz w Pionierze Słowie Polskim 1945-1989“, erschienen in Breslau 2008, seit 2012 Mitglied des Rates und der Gedenkstätten- und Akademiekommission der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung. E-mail: [email protected] Historische und politische Bildung in Kreisau. Methoden und Herausforderungen Kreisau ist nicht nur Symbol und Erinnerungsort der deutsch-polnischen Versöhnung, sondern Begegnungs- und Bildungsstätte für jährlich mehr als 6000 Jugendliche und Erwachsene aus ganz Europa. Die tägliche Herausforderung für die Mitarbeiter/innen der Internationalen Jugendbegegnungsstätte und der Gedenkstätte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung besteht darin, den Ort mit seiner Geschichte und seiner Mission an ganz unterschiedliche Gruppen und Besucher zu vermitteln. Wie kann der Transfer vom Narrativ zur historischen und politischen Bildungsarbeit geschehen? Die Beiträge beleuchten einmal die Praxis in der Begegnungs- und Gedenkstätte und einmal die Potenziale einer neuen Methode unter dem Arbeitstitel “Werkstatt”. Dominik Kretschmann Kreisauer Narrative – Erwartungen von Besuchern und Schwierigkeiten bei der Vermittlung des Ortes Kreisau ist mit etwas über 200 Einwohnern ein kleines Dorf in Niederschlesien. Wenn im Weiteren die Rede von „Kreisau“ ist, ist in erster Linie die ehemalige Gutsanlage in Kreisau gemeint, die heute Sitz der polnischen Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung ist. Die großzügig um eine weitläufige Wiese angeordneten elf Gebäude und das etwas abseits auf einem Hügel gelegene Berghaus bieten heute 180 Betten und diverse Seminarräume, die von den Gästen der Internationalen Jugendbegegnungsstätte, der Gedenkstätte, der Europäischen Akademie und des Internationalen Konferenzzentrums genutzt werden. In diesen vier Teilbereichen entfaltet sich die Arbeit der Stiftung. Grund für die Entstehung der Begegnungs-, Bildungs- und Gedenkstätte im abgelegenen Kreisau sind zwei historische Ereignisse: 1942 und 1943 traf sich auf Einladung von Helmuth James von Moltke die Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ im Berghaus und im November 1989 fand auf dem Gelände des Gutes die deutsch-polnische Versöhnungsmesse statt, an der sowohl Premier Mazowiecki als auch Kanzler Kohl teilnahmen. Die Geschichte des Gutes Kreisau sind eigentlich mehrere miteinander verknüpfte Geschichten, beginnend mit dem Strategen der deutschen Einigungskriege Helmuth Karl Bernhard von Moltke, der 1867 das Gut käuflich erwarb. Bis 1945 blieb das Gut im Besitz der Familie von Moltke, zuletzt mit dem Gutsherren Helmuth James von Moltke, Urgroßneffe des Feldmarschalls, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Die Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Kreisau zu Krzyżowa werden und das Gut zu einem staatlichen Landwirtschaftsbetrieb. Schließlich die Geschichte der „Entdeckung“ des Ortes und seiner deutschen Vergangenheit durch den Breslauer Klub der Katholischen Intelligenz 1989 und die deutsch-polnische Versöhnungsmesse im gleichen Jahr bis hin zur Gründung der Stiftung Kreisau 1990. Dominik Kretschmann • 111 In der Satzung der Stiftung Kreisau ist als Zweck genannt „Aktivitäten zu initiieren und zu fördern, die auf ein friedliches und von gegenseitiger Toleranz geprägtes Zusammenleben der Völker, Gesellschaftsgruppen und einzelnen Menschen zielen.“1 Die Art und Weise, in der die Stiftung Kreisau historische Bildung anbieten möchte, ist in der Gedenkstättenkonzeption der Stiftung so skizziert: „Die Gedenkstätte lädt ihre Besucher zu einem entdeckenden, kritischen und gestalterischen Umgang mit Geschichte ein. Sie versucht zu vermitteln, dass Geschichte nicht nur Vergangenheit Kreisau ist ein ist, sondern in den Entscheidungen der lebenden außergewöhnlicher Generationen fortwirkt. Menschen jeder Generation stehen vor der Aufgabe, gesellschaftliche Umbrüche Gedenkort, weil es auch zu meistern. Personen, die früher Widerstand geleis- Bildungsstätte, Lernort, Konferenzzentrum ist. tet haben, waren keine Helden, sondern Menschen, Oft ist es so, dass zu die damals genau so angesprochen waren, wie wir es 2 einer Gedenkstätte eine heute und in Zukunft sind.“ eigene Bildungsstätte Die ständige Ausstellung „In der Wahrheit leben. dazugehört. In Kreisau ist Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition es von der Gewichtung im im 20. Jahrhundert“3 im Schloss folgt diesem Ansatz Alltag eher umgekehrt. und stellt die Erfahrung des „Kreisauer Kreises“ in den Kontext der Widerstandstraditionen in Europa und insbesondere der Erfahrungen in Polen 1945–1989. Der größere Teil der jährlich ca. 10.000 Besucherinnen und Besucher nähert sich dem Ort Kreisau durch eine Führung. Jedes Jahr finden zwischen 200 und 250 Führungen statt. Im Folgenden konzentriert sich dieser Text auf die Herausforderungen, die mit der Vermittlung des Ortes im Rahmen von Führungen einhergehen. Diese Herausforderungen bei der Darstellung Kreisaus haben verschiedene Ursachen: Zum einen ist es die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der handelnden Personen und der Epochen, die dabei angesprochen oder vorausgesetzt werden müssen. Zum anderen ist es die Unterschiedlichkeit der Besucher und Besuchergruppen. Schließlich geschieht die Vermittlung des Ortes mit dem Anspruch, historische Bildung multiperspektivisch zu gestalten. • http://www.krzyzowa.org.pl/index.php/de/component/jdownloads/finish/3/163 Konzeption der Gedenkstätte Kreisau vom 16.11.1997. 3 Hier als pdf: http://www.krzyzowa.org.pl/index.php/de/materialy/wystawa/30-wystawa 1 2 112 • Kreisauer Narrative – Erwartungen von Besuchern... Kreisau ist ein außergewöhnlicher Gedenkort, weil es auch Bildungsstätte, Lernort, Konferenzzentrum ist. Oft ist es so, dass zu einer Gedenkstätte eine eigene Bildungsstätte dazugehört. In Kreisau ist es von der Gewichtung im Alltag eher umgekehrt. Eine große Begegnungsstätte (ca 25.000 Seminartage im Jahr) mit Gedenkstätte. Hinzu kommt, dass die Kreisauer Gedenkstätte nicht den klassischen Vorstellungen einer Gedenkstätte im Kontext des Zweiten Weltkrieges entspricht – weder den „deutschen“, noch den „polnischen“, denn für beide Länder gilt, dass eine Gedenkstätte klassischerweise ein Ort der Verfolgung und des Leidens in der Vergangenheit ist. In Kreisau knüpft das Gedenken dagegen an einen Ort des Widerstandes gegen die Diktatur des Nationalsozialismus an. In Kreisau wurde niemand hingerichtet, gefoltert oder auch nur verhaftet. Hier ist auch ein Unterschied zwischen Polen und Deutschen zu nennen, der Einfluss auf die Rezeption Kreisaus als Ort des Widerstandes hat: Aus deutscher Sicht gehören die Jahre 1940 bis 1945, Schlüsseljahre des „Kreisauer Kreises“, in den Rahmen des Nationalsozialismus, also 1933–1945. Für Polen fügt sich derselbe Zeitraum in den Kontext des Zweiten Weltkrieges, also 1939 bis 1945. Widerstand im eigenen Land nach Jahren einer sich entwickelnden Diktatur ist aber ein anderer als Widerstand gegen den Besatzer während des Krieges. Und ein weiterer Unterschied: Wenn nach einer DarKreisau wird stellung des „Kreisauer Kreises“, seiner Entstehung, Grundschulkindern Akteure oder Handlungsformen von den Besuchern und Rentnern näher die Behandlung offen gebliebener Themen, die aus gebracht, evangelischen Sicht der Besucher unbedingt in den Kontext gehören, Pastoren auf Fortbildung eingefordert werden, so fragen die deutschen Besuund pensionierten cher nach der Haltung der Kreisauer zu den Juden, die Berufssoldaten der Polen fragen nach der Haltung der Kreisauer zu Polen. polnischen Volksarmee, Dieses unterschiedliche Nachfragen lenkt den aber auch jungen Blick auf einen weiteren, wichtigen Aspekt: Kreisau Erwachsenen aus der ist Gedenkstätte und Ort der Erinnerung an MenTürkei oder Südafrika. schen, die Widerstand gegen die Diktaturen des 20. Jahrhunderts geleistet haben, es ist aber zugleich symbolischer Ort für die deutsch-polnischen Beziehungen und die Versöhnung von Deutschen und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg – diese Themen wollen ebenso vermittelt werden. Kreisau wird Grundschulkindern und Rentnern näher gebracht, evangelischen Pastoren auf Fortbildung und pensionierten Berufssoldaten der polnischen Volksarmee, aber auch jungen Erwachsenen aus der Türkei oder Südafrika. • Dominik Kretschmann • 113 Diese Gruppen bringen je unterschiedliche Sichtweisen und unterschiedliches Hintergrundwissen mit. Nicht für alle ist der Ort Kreisau per se interessant, es gilt Anknüpfungspunkte zu finden und komplexer wird die Aufgabe, wenn in einer Gruppe Personen mit verschiedenen Wissensständen und Hintergründen zusammengefasst sind. Auf einzelne Gruppen will ich jetzt näher eingehen, und dies im Kontext von Spannungsfeldern tun, die generell für Gedenkstätten relevant sind. Dabei bediene ich mich sogenannter Werte- und Entwicklungsquadrate (nach Helwig und Schulz von Thun4, für Gedenkstätten adaptiert von Ulrich5). Es handelt sich um positive Prinzipien, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Das Urbeispiel (Fig. 1) sind Sparsamkeit und Großzügigkeit, beides Tugenden. Wenn aber die Sparsamkeit übertrieben wird, ist Geiz das Ergebnis, übertriebene Großzügigkeit führt zur Verschwendung. Wenn beide Tugenden wirken, kann ein gutes Maß erreicht werden. Sparsamkeit Großzügigkeit Gier Verschwendung Fig. 16 Ein hier näher liegendes Spannungsfeld ist das zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit (Fig. 2). Bei der Auseinandersetzung mit Kreisau stoßen wir u. a. auf den Nationalsozialismus, die Ermordung der Regimegegner, das historisch oft schwierige deutsch-polnische Verhältnis. Alles ernste Themen und in der Beschäftigung mit ihnen erwarten wir Ernsthaftigkeit. Wird diese aber zu stark betont oder eingefordert, so kann dies zu einer Dramatik und Schwere führen, gegen die Abwehrhaltungen entstehen, bei Jugendlichen ist das Ergebnis dann oft Albernheit oder unpassende Kommentare. Dies kann man vermeiden, wenn es im Laufe einer Führung auch Momente der Leichtigkeit gibt, eine Pause, einen Paul Helwig, Charakterologie, Stuttgart 1965. Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; differenzielle Psychologie der Kommunikation, Hamburg 1990. 6 Vorlage (vom Autor verändert) von „SvT-Institut“ nach http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Urbeispiel_von_Helwig.jpg 4 5 114 • Kreisauer Narrative – Erwartungen von Besuchern... Scherz. Allerdings dürfen diese Momente der Leichtigkeit nicht dominierend werden, bis ins Extrem der Oberflächlichkeit gehen. Leichtigkeit Ernsthaftigkeit Oberflächligkeit Dramatik/Schwere Fig. 2 Noch wichtiger erscheint mir das Spannungsfeld zwischen Kontroversität / Multiperspektivität einerseits und Erinnern / Gedenken andererseits (Fig. 3). Eine Konzentration auf Multiperspektivität allein kann leicht zu einer relativierenden Beliebigkeit führen. Liegt der Fokus ausschließlich beim Erinnern und Gedenken, sind wir nicht mehr ein Lernort der politischen und historischen Bildung. Fester Bestandteil vieler Begegnungen in Kreisau ist eine Lesung aus den Briefen zwischen Helmuth James von Moltke und Freya von Moltke. Diese geschieht in aller Regel im Berghaus, also am historisch mit den Briefschreibern verbundenen Ort. Die berührenden Briefe am historischen Ort in ruhiger Atmosphäre gelesen, haben eine starke emotionale Wirkung. Manche Gruppen von Jugendlichen (unabhängig aus welchem Land), deren Interesse bis dahin kaum oder nicht für die Geschichten Kreisaus zu wecken war, sind dann „ganz da“. Aber das emotionale Erinnern allein ist nicht das, was wir in Kreisau erreichen wollen, deswegen ist die Briefelesung auch nie die einzige Form der Auseinandersetzung mit dem Ort. Das Problem des Ausbalancierens zwischen Multiperspektivität und Gedenken hat aber dennoch jeder Pädagoge und Freiwillige, der Führungen macht: Wir sind im Berghaus und erinnern uns an Menschen, die in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ihr Leben riskiert, teilweise verloren haben. Dies sind für uns wichtige und beeindruckende Menschen. Gleichzeitig wollen wir keine Heiligenverehrung betreiben. Aber wenn ich die positiven Bilder breche, vom Temperament des einen und der „Zweitfrau“ des anderen erzähle, was bleibt dann in den Köpfen hängen? Die Herausforderung ist es, Gedenken und Kontroversität auszubalancieren. Das gilt in gleicher Weise für eine Führung durch die Daueraustellung im Schloss, wo den Besuchern Menschen näher gebracht werden, die im kommunistischen Teil Europas Widerstand gewagt haben und dafür mit Haftstrafen, Berufsverbot und psychiatrischer Zwangsbehandlung bestraft wurden. Dominik Kretschmann • 115 Kontroversivität / Multiperspektivität Relativierende Beliebigkeit Erinnern / Gedenken Kein Lernort / keine Information Fig. 3 Viele Menschen kommen mit bestimmten Vorstellungen nach Kreisau. Teilweise entsprechen diese Vorstellungen der Realität (Kreisau, Ort der Versöhnungsmesse; Kreisau, Ort an dem sich der „Kreisauer Kreis“ getroffen hat), teilweise stimmen sie nur zum Teil (Bundeskanzler Kohl und Premier Mazowiecki ist es zu verdanken, dass es die IJBS gibt, das Dorf Kreisau „gehörte“ den Moltkes) teilweise sind sie falsch (Claus von Stauffenberg und Dietrich Bonhoeffer waren Mitglieder des „Kreisauer Kreises“). Fast immer gibt es Aspekte Kreisaus, die den Besuchern noch unbekannt sind. Durch die Thematisierung von unbekannten Aspekten oder Widerspruch zu falschen Vorstellungen entsteht während einer Führung Irritation, und Irritation ist regelmäßig ein Wegbereiter um Neues zu lernen. Irritation in Maßen ist gewünscht, sie verhindert Langeweile und regt zum Nachdenken an. Übertrieben starke Irritation aber führt zu Verwirrung. Damit sind wir wieder bei einem Wertequadrat (Fig. 4): Die ergänzende positive Eigenschaft zur Irritation ist die Orientierung. Wobei Orientierung, ins Extrem gesteigert zu Indoktrination oder Eindimensionalität in der Darstellung werden kann. Irritation Orientierung Verwirrung / Indoktrination / Dogma Verstörung Fig. 4 Das Spannungsfeld zwischen Irritation und Orientierung ist für Kreisau vielleicht das schwierigste von den bisher genannten. Die Vielzahl der Themen (Reichsgründung, deutsch-französisches Verhältnis, Bezug der Moltkes zu Südafrika, Landwirtschaft in Schlesien, Erster Weltkrieg, Auseinandersetzung um Ober- 116 • Kreisauer Narrative – Erwartungen von Besuchern... schlesien, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Widerstand, Opposition in Ost- und Mitteleuropa nach 1945 usw.) sorgt bei vielen Besuchern bereits ohne jede Vertiefung für Irritation. Also ist Orientierung gefragt. Übertriebene Orientierung kann aber nicht nur zu Indoktrination werden, sie kann sich auch mit dem Anspruch der Multiperspektivität in die Quere kommen. Als Beispiel sei die Versöhnungsmesse am 12. November 1989 genannt. Für die meisten (erwachsenen) Besucher aus Polen ist sie das, was mit Kreisau verbunden wird. Die meisten deutschen Besucher haben nur eine schwache (Erwachsene, 40 Jahre und älter) oder keine Erinnerung (Jugendliche und junge Erwachsene) an das Ereignis. Oft findet man die Darstellung, dass sich am 12. November Kanzler Kohl und Premier Mazowiecki in Kreisau trafen und beschlossen, hier eine Begegnungsstätte ins Leben zu rufen. Dies ist ein Teil der Geschichte, der, wird er nicht ergänzt, wichtige Aspekte auslässt, insbesondere die internationale Bürgerinitiative, die seit dem 4. Juni 1989 das Projekt einer Begegnungsstätte in Kreisau verfolgte. Das problematische an der Vervollständigung der Informationen zur Versöhnungsmesse, also dem Liefern von Orientierung, ist, dass man dabei unweigerlich neue Themenstränge mit jeweils großem Irritationspotenzial öffnet. Ich möchte das hier nur in Form einer Kette von Stichworten skizzieren: Staatsbesuch Kohls in Polen, beim ersten nicht kommunistischen Premier Polens nach 1945 – erster nicht kommunistischer Premier? Solidarność, 1980er Jahre, Runder Tisch, halbfreie Wahlen am 4. Juni – Solidarność? Runder Tisch? Halbfreie Wahlen? – und was geschah parallel in der DDR? Planung des Staatsbesuches, Messe auf dem Sankt Annaberg, Problem deutsche Minderheit, Schlesische Aufstände – deutsche Minderheit in Polen? Problem? Schlesische Aufstände? – 1921, Polen nach dem Ersten Weltkrieg, Grenzfragen, ... Eine halbwegs umfassende, Orientierung vermittelnde Darstellung rund um die Versöhnungsmesse und Gründung der Stiftung Kreisau kann leicht den zeitlichen Rahmen einer Führung sprengen oder zu vertiefter Verwirrung führen. Selbstverständlich ist auch der Kontext des „Kreisauer Kreises“ geeignet, Fragen auszulösen, die – knapp beantwortet – Irritation statt Klärung bringen können. Etwa Fragen nach der mangelnden Zusammenarbeit zwischen dem „Kreisauer Kreis“ und der Gruppe um Goerdeler, nach der Ablehnung eines Attentats auf Hitler, nach den unterschiedlichen Hintergründen von Mitgliedern der Gruppe und der Bedeutung dieser Unterschiede in der damaligen Zeit. Allerdings gibt es mit dem gestalteten Gedenkraum im Berghaus ein Werkzeug, dass viele potentiell verwirrende Aspekte (etwa die Heterogenität der Gruppe) anschaulich erklären lässt. Dominik Kretschmann • 117 So ist jede Vermittlung Kreisaus mit einer Reduzierung des Stoffs verbunden. Dabei bewegen wir uns im Spannungsfeld von Kürze und Vollständigkeit. Sobald Gäste neben dem Interesse auch etwas mehr Zeit mitbringen, stehen mit Workshops zu den oben genannten Themen Module bereit, die eine vertiefte Beschäftigung möglich machen. Auch sind Arbeitshilfen auf Deutsch und Polnisch erschienen, darunter eine Broschüre über Vorgeschichte und Ablauf der Veröhnungsmesse7 und ein Begleitbuch zur Dauerausstellung8, beides jeweils in deutsch und polnisch erhältlich. Bibliografie: Helwig Paul, Charakterologie, Stuttgart 1965. http://www.krzyzowa.org.pl/index.php/de/component/jdownloads/finish/3/163 http://www.krzyzowa.org.pl/index.php/de/materialy/wystawa/30-wystawa Mehlhorn Ludwig, In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Begleitbuch zur Ausstellung, Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, Kreisau 2012. Schulz von Thun Friedemann, Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; differenzielle Psychologie der Kommunikation, Hamburg 1990. Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, hrsg. von Barbara Thimm / Gottfried Kößler / Susanne Ulrich, Frankfurt am Main 2010. Szurlej Monika, Malecha Jan, 12.11.1989 – Kurze Geschichte der Versöhnungsmesse in Kreisau, Kreisau 2009. Dominik Kretschmann Studium der Rechtswissenschaften in Deutschland und Russland, seit 2005 beruflich und privat in Polen, seit 2007 Bildungsreferent und seit 2012 Leitung der Gedenkstätte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung. E-mail: [email protected] 12.11.1989. Kurze Geschichte der Versöhnungsmesse in Kreisau, hrsg. von Monika Szurlej / Jan Malecha, Kreisau/Krzyżowa 2009. 8 Ludwig Mehlhorn, In der Wahrheit leben. Aus der Geschichte von Widerstand und Opposition in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Begleitbuch zur Ausstellung, Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, Kreisau 2012. 7 Ondřej Matějka Kreisau als eine Werkstatt Warum Werkstatt? Die Stiftung Kreisau hat zur Beratung des Stiftungsrates Programmkommissionen geschaffen, die zu den einzelnen Arbeitsbereichen der Stiftung Empfehlungen erarbeiten und die hauptamtliche Arbeit begleiten. Eines dieser Beratungsgremien ist die Gedenkstätten- und Akademiekommission. In diesem Kreis haben wir vor drei Jahren, angeregt durch einen Rückblick auf das Jubiläumsjahr 2009, uns mit dem Gedanken auseinander gesetzt, der Stiftung ein neueres und passenderes Narrativ zu geben. Dabei sind wir zwei großen Schwierigkeiten begegnet: 1.Kreisau bietet sehr viele Interpretationsansätze an und es lassen sich an diesem Ort mehrere Geschichten erzählen. Das Problem ist, dass sich diese Geschichten in Kreisau nicht nur erzählen lassen, sondern dass sie auch an verschiedenen Punkten sichtbar und unumgänglich sind. So findet man auf dem Gelände der Stiftung Kreisau unter anderem das Mausoleum des Feldmarschalls von Moltke, das „Berghaus“, verbunden mit dem „Kreisauer Kreis“, ein Stück Berliner Mauer, aber auch Kunstobjekte, die im Rahmen des alljährlichen „Künstlerischen Sommers“ geschaffen worden sind. Die Vorstellung, dass man die bisherigen Schwierigkeiten damit überwindet, ein wirkungsvolles neues Narrativ zu finden, das alle Geschichten auf einen Nenner bringt, scheint uns nach mehreren Anläufen äußerst schwierig zu sein. 2.Man sollte Kreisau durch das neue Narrativ möglichst auch weiterhin offen halten und nicht unbedingt an ein zu eng gefasstes Thema binden. Nicht nur, weil selbst im Leitbild der Stiftung eine Formulierung zu finden ist wie „Kreisau ist ein Ort des Dialogs und der Begegnung“ – also ein prinzipiell offener Ort, an dem viele Arten der Begegnung möglich sind. Dem entspricht aber zugleich der Kreisauer Alltag, wo man neben den Jugendlichen auch Vorschulkindern sowie Bundeswehroffizieren begegnen kann, die sich mit Kunst, Geschichte, Literatur usw. beschäftigen. Ungefähr 80 Prozent Ondřej Matějka • 119 der Besucher sind Deutsche oder Polen, das heißt ein Fünftel der Besucher kommen aus ganz anderen Regionen Europas und der Welt. Eine faktisch gesicherte Offenheit ist für den Ort lebenswichtig. Aus diesen Vorgaben ergab sich der Gedanke, dass man bei der „Erfindung“ eines neuen Narrativs von Kreisau einen Aspekt nicht vergessen sollte, und zwar dass Kreisau nicht nur ein Ort von konkreten Geschichten und Erzählungen ist, sondern dass es auch ein Ort ist, an dem man – besser als sonst wo – lernen kann, wie Geschichte eigentlich erzählt und damit auch „geschaffen“ wird, und wie die Geschichte zu einem Teil unseres Lebens wird; wie wir uns also zum Vergangenen eigentlich verhalten, verhalten können oder sollen. Geschichte wird in der Regel als vergangen und abgeschlossen verstanden. Jedoch in der Tat sind es wir selbst, die im Moment des Schreibens oder Erzählens von Geschichte aus der Unmenge an Einzelheiten eine Auswahl treffen, und damit unsere Version des Geschehens ans Tageslicht kommen lassen. Dabei spielt eine Rolle, was uns in unserer Zeit bewegt, inwieweit wir politisch oder persönlich motiviert sind, uns mit einem historischen Ereignis auseinanderzusetzen. Wofür stehen wir, wofür setzen wir uns ein? Was bewegt uns gerade? All das beeinflusst unsere Erzählung, weil wir in der Vergangenheit Antworten auf unsere aktuellen Fragen suchen, bewusst oder unbewusst. Zwangsläufig ist es vor allem bei den Musealisierungen der Geschichte der Fall, wo man das Vergangene in einer konkreten Erzählung – wenn auch nur vorläufig – doch etwas „abschließt“. Ein Weg, dies in Kreisau sichtbar zu machen ist es, in das neue Ausstellungskonzept eine Art von offener historischer Werkstatt einzubauen.1 In der „historischen Werkstatt“ soll in erster Linie die geplante Kreisauer Ausstellung hinterfragt und die Besucher zu einer persönlichen Reflexion der Ausstellung herausgefordert werden. Sie werden gefragt, aus welcher Perspektive die Autoren jeweils die Ereignisse und Zusammenhänge erzählen. Zugleich soll aber der Besucher aufgefordert werden, seine eigene Perspektive auf die erzählte Geschichte sowie seine individuellen oder gruppenspezifischen Werturteile zu reflektieren. Dazu wird ein entsprechend gestalteter Raum geschaffen, der diesen inneren Dialog mit der Ausstellung und ihren Themen anregt. Kreisau/Krzyżowa eignet sich besonders für solch einen Ansatz, weil gerade an diesem Ort die Auseinandersetzung mit der Geschichte Menschen aus verschiedenen Ländern Europas Ende der 1980er Jahre ermutigt hat, einen historischen Die Gedenkstätten- und Akademiekommission beschäftigte sich 2012/13 mit dem Konzept für eine neue Ausstellung auf dem Gelände der Begegnungsstätte in Kreisau (Anm. d. Red.). 1 120 • Kreisau als eine Werkstatt Ort – den Treffpunkt der Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ und den dazu gehörigen Gutshof der Familie von Moltke – zu neuem Leben zu erwecken. Ihre jeweiligen Perspektiven auf die Geschichte von Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert haben sie auf den Ort Kreisau und seine Geschichte bezogen und daraus das Vorhaben der Gründung einer internationalen Begegnungsstätte entwickelt. Mit anderen Worten, das heutige Kreisau ist eben ein Produkt solch einer „historischen Werkstatt“. Im übertragenen Sinne kann die erste KreisauKonferenz im Juni 1989 als solch eine Werkstatt betrachtet werden. Eine Akzentuierung des werkstattmäßigen Charakters liegt ganz im Sinne der Stiftung Kreisau, die diesen Zugang sozusagen in ihren „Genen“ hat. Wie könnte solch eine historische Werkstatt aussehen? Aus geschichtspädagogischer Perspektive sollten zwei Ziele verfolgt werden: 1.Der Erzählcharakter der Geschichte – wie oben schon angedeutet, soll offen- und nahegelegt werden. Aus meiner pädagogischen Erfahrung weiß ich, dass es nicht nur machbar ist, sondern für die Schüler und Studenten auch sehr attraktiv. Es kann dabei zum Beispiel zwischen persönlicher Erinnerung, kollektiver Erinnerung, Geschichte und Vergangenheit unterschieden werden. Populär ist es, wenn politisch motivierte Manipulationen in der Geschichtsschreibung analysiert und deren Einfluss auf die kollektive Erinnerung verfolgt werden. Es können aber noch andere Motivationen der Geschichtsschreibung „dekonstruiert“ werden. 2.Es soll reflektiert werden, dass man selbst ein Teil dieser Erzählung ist, und dass letztlich auch von mir selbst abhängt, wie die Geschichte weiter erzählt wird. Damit werden persönliche Meinungen und Haltungen zu allen möglichen Problemen, sei es politisch, sei es rein privat abgefragt und die Reflexion darüber angeregt. Es soll erörtert werden, mit welcher Erzählung und warum man sich selbst identifiziert. Im Idealfall sollte dann jeder für sich zu einer Klärung ermuntert werden, welche Geschichte er oder sie anhand persönlicher Anliegen eigentlich weiter erzählt haben möchte, also die Frage zu beantworten, welche Zukunft man anstrebt. Diese zwei Ziele sollten sich auch im konkreten Aufbau dieses Ausstellungsteils niederschlagen, den man sich vorläufig ebenfalls als zweistufig vorstellen kann: Ad 1. Reflexion der Ausstellung – es sollten die inhaltlichen Ziele der Ausstellung abgefragt und reflektiert werden. Falls Versöhnung zum wichtigsten Thema wird, soll eben diese zum Gegenstand der Reflexion werden bzw. je nach Bedarf auch andere Fragen. Ondřej Matějka • 121 Ad 2. Persönliche Reflexion von Kreisau – es soll vor allem nach dem persönlichen Erfahren des Ortes Kreisau gefragt werden. Es soll dabei hauptsächlich vermittelt werden, es sei jedem selbst überlassen, wie er/sie mit dieser Erfahrung umgehe; Kreisau sollte dabei als eine offene Einladung zum eigenen Denken und Handeln wahrgenommen werden. Beim Punkt 2. sollte gezielt mit den Mitteln gearbeitet werden, die in der pädagogischen Arbeit zur Geschichte Kreisaus bereits jetzt eine wichtige Rolle spielen. Man lässt die Besucher durch bewegende Geschichten aus dem Leben der Kreisauer Persönlichkeiten ansprechen, zum Beispiel durch die letzten Briefe Helmuth James von Moltkes an seine Frau vor seiner Hinrichtung, aber natürlich nicht nur dadurch. Die Präsentation konkreter Biografien und deren Geschichten wird dabei nicht als „Lebensanweisung“ verstanden. Viel eher soll ein schließlich rein privates und intimes Erlebnis vermittelt werden, durch das ein Dialog angeregt werden könnte. Diesen Dialog sollte man sich nicht als ein „normales“ ergebnisorientiertes Gespräch vorstellen, sondern als eine unvoreingenommene Suche nach Antworten auf aufgeworfene Fragen. Die klassische Frage wäre in dem Zusammenhang: „Wie würde ich an seiner/ihrer Stelle handeln?“ Eine Begegnung mit den Geschichten Kreisaus ist damit nicht nur ein „Lehrstück“ sondern letzten Endes eine durchweg persönliche aber auch maximal offene Herausforderung zum Denken und zum Handeln. Der Dialog wird und soll auch für jeden ein anderes Ergebnis haben, man kann kaum vorschreiben, was das Ergebnis dieses Dialogs sein soll. Man kann auch nicht sicherstellen, dass es überhaupt ein Ergebnis gibt. Dennoch ist dieser persönliche Dialog mit einer offenen aber dennoch sehr starken Herausforderung am Ende immer das Wichtigste, was von dem Besuch in einer Gedenkstätte zurück bleiben kann. Das übergeordnete didaktische Ziel Kreisaus sollte sein, darauf aufmerksam zu machen, dass es überhaupt so etwas wie eine persönliche Herausforderung zum Denken und Handeln geben kann, dass man darauf vorbereitet werden sollte, diese wahrzunehmen, und dass man der Verantwortung letztlich nie entgehen kann, auch entsprechend zu reagieren. Zusammenfassung Aus pädagogischer Perspektive würde dieser Teil der Ausstellung nicht zur Orientierung über die Fakten der Kreisauer Geschichte dienen, sondern zur Reflexion. In dem einfachen dreistufigen Lernmodell der politischen Bildung, wonach Informationen – Fähigkeiten – Haltungen/Wertorientierung vermittelt werden können, zielt dieser Teil auf die dritte Stufe. 122 • Kreisau als eine Werkstatt Es soll zu einer stärkeren Verknüpfung zwischen historischer und politischer Bildung kommen als es schon jetzt in Kreisau im Rahmen der laufenden pädagogischen Arbeit der Fall ist. In den Grundsätzen der politischen Bildung steht unter anderem nachdrücklich eine Unterstützung von selbstständigem kritischen Denken und eigenständigem Handeln der Studierenden. Die konkreten inhaltlichen Ziele werden dabei als ein Mittel zum Zweck verstanden. Probleme Ich kann mir vorstellen, dass vor allem seitens der Historiker diesen Erörterungen der Vorwurf einer reinen Dekonstruktion entgegengehalten werden könnte. Solch ein Vorwurf könnte natürlich ebenso seitens der breiten Öffentlichkeit laut werden, denn dieser Zugang zur Geschichte ist noch nicht verbreitet. Es müsste bei diesem Vorhaben glaubwürdig gezeigt werden, dass der Werkstatt-Aspekt von Kreisau nicht aus der Not gewachsen ist, weil man sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht sicher war, was für eine Geschichte man erzählen möchte. Die Werkstatt soll nicht künstlich, sondern natürlich wirken. Es soll der in diesem ZuFür die meisten sammenhang einzigartige Charakter Kreisaus deutGründungsväter und lich zum Ausdruck gebracht und weiter entwickelt -mütter der Stiftung wäre werden. noch Anfang Juni 1989 Schließlich soll es auch nicht darum gehen, dass das Kreisau von heute man in Kreisau bewusst gar nichts mehr erzählt. eben so eine verwegene Wir müssen uns natürlich zu einem konkreten NarVorstellung gewesen. rativ bekennen und dieses auch vermitteln. Aber die Diese faszinierende Werkstatt als ein deklariertes Element der Kreisauer Übertragung von Selbstdarstellung macht es möglich, deutlich freier zukunftsweisenden erzählen zu können. Die Werkstatt verbirgt damit kei„Funken“ darf nicht nen dekonstruktiven Ansatz, sie ist ein zukunftsorimusealisiert werden, sie entierter Ansatz. Jeder Besucher sollte sich die Frage muss weiter praktiziert stellen, ob wir heute trotz der grundsätzlichen politiund gelebt werden. schen und ökonomischen Stabilität in der westlichen Welt nicht doch vor ähnlich bahnbrechenden Ereignissen wie im Jahr 1989 stehen, oder ob unsere Gesellschaft vielleicht vor einer Radikalisierung der Verhältnisse steht, ähnlich wie in Deutschland und Europa in den 1930er Jahren? Oder ob wir für unsere Zeit und unsere Herausforderungen ganz andere Begriffe finden sollten? Von diesem Ansatz kann Kreisau auch in dem Sinne profitieren, dass die Stiftung nie alt wird. Eine Einrichtung wie Kreisau ist aus ganz bestimmten his- • Ondřej Matějka • 123 torischen Umständen hervorgegangen. Heute wäre eine ähnliche Gründung wohl undenkbar. So sehr man sich dessen immer wieder bewusst werden soll, um so weniger darf man sich davon einschränken lassen. Die Institutionen der deutsch-polnischen Verständigung, so wie sie in den letzten 20 Jahren aktuell waren, werden ihre Leistung damit aufwerten, wenn sie es immer wieder schaffen, einen Anschluss an die ganz neuen Fragen herzustellen, was diese Fragen auch sind und wie verwegen sie einem heute noch vorkommen mögen – ob man vom Ende der Diktaturen oder vom Ende des Kapitalismus oder von einer nachhaltigen Welt träumt. Für die meisten Gründungsväter und -mütter der Stiftung wäre noch Anfang Juni 1989 das Kreisau von heute eben so eine verwegene Vorstellung gewesen. Diese faszinierende Übertragung von zukunftsweisenden „Funken“ darf nicht musealisiert werden, sie muss weiter praktiziert und gelebt werden. Bibliografie: Hejdánek, Ladislav, Nepředmětnost v myšlení a ve skutečnosti, Praha 1997. Spor o smysl českých dějin 1895-1938., hrsg. von Miloš Havelka, Praha 1997. Ondřej Matějka Geschäftsführer des Vereins Antikomplex in Prag, der sich mit einer kritischen Aufarbeitung der Geschichte und mit Bildungsarbeit beschäftigt. In Kreisau ist er seit 2005 ehrenamtlich tätig als Mitglied des Stiftungsrates und als Vorsitzender der Gedenkstätten- und Akademiekommission der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung. E-Mail: [email protected]