Leseprobe

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Leseprobe
MARK
TWAIN
Herausgegeben und
übersetzt von
Alexander Pechmann
mare
Mark Twain
Post aus Hawaii
Herausgegeben und übersetzt von
Alexander Pechmann
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Mark Twain, Post aus Hawaii
OT: Letters from Hawaii
Aus dem Amerikanischen übersetzt
und herausgegeben von Alexander Pechmann
ca. 368 Seiten, gebunden,
mit Schutzumschlag und Lesebändchen
€ 24,– [D] / € 24,70 [A] / sFr. 41,50
ISBN 978-3-86648-130-5
Erscheint im März
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Vorbemerkung
Von
Alexander Pechmann
»Ich habe mich stets danach gesehnt,
für immer auf einem jener Berge
auf den Sandwich-Inseln zu leben,
die das Meer überragen.«
Mark Twain, 26. Oktober 1881
ls Samuel Langhorne Clemens im März des Jahres 1866
im Auftrag der kalifornischen Tageszeitung Daily Union
aus Sacramento nach Hawaii auf brach, war sein Pseudonym Mark Twain noch weitgehend unbekannt. In den Jahren zuvor hatte er bereits in Nevada und San Francisco als
Reporter gearbeitet und sowohl durch sozialkritische Texte
als auch durch humorvolle Geschichten und groteske Späße
erstes Aufsehen erregt. In San Francisco hatte er viel Zeit damit verbracht, Theaterkritiken zu schreiben, Gerichtsverhandlungen zu verfolgen und über die allabendlichen Schlägereien
zwischen Iren und Chinesen zu berichten. Jene Artikel aber,
die Mark Twain besonders am Herzen lagen und offen die
Korruption der lokalen Politiker, den Amtsmissbrauch der Beamten und die Brutalität der Polizei geißelten, konnte er in der
Stadt, in der er lebte und arbeitete, nicht veröffentlichen – sie
erschienen in Virginia City, Nevada, in Form eines täglichen
»Briefes aus San Francisco«.
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Mark Twains erste Erzählung Der berühmte Springfrosch von
Calaveras war 1865 in einer New Yorker Zeitung erschienen
und hatte ihm in Literatenkreisen einige Reputation verschafft,
doch was er wirklich wollte, war ein Erfolg, den man in Dollar messen konnte. Eine Zeit lang plante er, gemeinsam mit
dem Humoristen Bret Harte ein Buch mit Geschichten und
Anekdoten zusammenzustellen. Dann wieder ließ er von der
Presse verbreiten, er arbeite an einem Werk über ein vollkommen neues, sensationelles Thema, über das bislang niemand
geschrieben habe. Um was es sich dabei handelte, wusste nur
der Autor. Beide Projekte verliefen im Sande, während Mark
Twain seine wachsende Unzufriedenheit mit sich und der Welt
in Bars und Spelunken betäubte und manche Nacht wegen
Trunkenheit im Gefängnis verbringen musste.
1866 schließlich bekam er die Chance, auf die er lange gewartet hatte. Er sollte zusammen mit zweiundfünfzig ausgewählten Gästen und einer Blaskapelle an der Jungfernfahrt des
Dampfers Ajax nach Honolulu teilnehmen. Da er keinen Ersatzmann für seine Korrespondentenstelle in San Francisco
finden konnte, musste er schweren Herzens absagen. Am
5. März 1866 entschied er sich spontan, doch noch an Bord der
Ajax zu gehen, die inzwischen regelmäßig zwischen San Francisco und den Sandwich-Inseln verkehrte. Es war ihm gelungen, das Interesse der Herausgeber der in Sacramento erscheinenden Union an seiner Arbeit zu wecken, und das Geld, das
die Zeitung ihm für fünfundzwanzig bis dreißig Reisebriefe
aus Hawaii anbot, entsprach ungefähr dem, was er verdient
hätte, wenn er zu Hause geblieben wäre.
Die Reise bedeutete für Mark Twain jedoch viel mehr als
eine Flucht vor dem tristen Alltag in San Francisco. Seine
Post aus Hawaii begründete seinen Ruf als ebenso genauer wie
humorvoller und origineller Berichterstatter. Sie ebnete den
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Weg für weitere, überaus erfolgreiche Reisebücher – Die Arglosen im Ausland, das auf einer vergleichbaren Artikelserie über
eine Reise ins Heilige Land basierte, Durch Dick und Dünn, in
dem neben Erlebnissen in Nevada und Kalifornien die Abenteuer auf Hawaii noch einmal in stark gekürzter Form verarbeitet wurden, sowie Bummel durch Europa und Reise um die
Welt. Im Unterschied zu den späteren, bekannteren Werken
ist Post aus Hawaii nicht von Samuel Clemens’ stets auf Anstand bedachter Frau Olivia überarbeitet und geglättet worden. Auch der später sehr starke Einfluss des vom Sozialismus faszinierten Freundes William Dean Howells fehlt in diesen Texten. Sie stammen von einem Autor, der erst begonnen
hat, seine Stimme, seine Sprache und seine Weltanschauung
zu finden und der im Königreich von Hawaii reichhaltiges
Material findet, um daran seine Sinne zu schärfen und seine
Feder zu spitzen.
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Sacramento Daily Union
16. April 1866
An Bord des Dampfers Ajax,
Honolulu (Hawaii-Inseln), 18. März 1866
Über das Klima
Wir kamen heute Mittag hier an, und während ich eine gute
Stunde verplauderte, besetzten die anderen Passagiere alle verfügbaren Unterkünfte in Honolulu. Also muss ich heute Nacht
auf dem Schiff bleiben. In der Einzelkabine ist es sehr warm,
es kommt keine Luft durch die Luken. So habe ich mich den
Anforderungen meiner Notlage entsprechend gekleidet. Eine
Beschreibung dieses Gewandes ist nicht erforderlich. Ich erlaube mir jedoch die Feststellung, dass ich das wichtigste Utensil bei »Ward’s« erworben habe.
Abends schwirren hier jede Menge Moskitos umher. Sie
sind ziemlich lästig. Doch ist es für mich überaus befriedigend
zu wissen, dass die zwei Millionen, auf denen ich mich vor einer Minute niederließ, niemals wieder summen werden.
Die Seefahrtsausrüstung
Ich fasse die ersten vier oder fünf Tage meines Logbuchs dieser Reise in ein paar Sätzen zusammen.
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Wir verließen San Francisco nachmittags um vier, allesamt
auf die eine oder andere Weise erfüllt – einige waren erfüllt
von zärtlichem Bedauern, die Lieben daheim zurücklassen zu
müssen, andere waren erfüllt von zunehmender Vorfreude auf
eine angenehme Reise und einen belebenden Tapetenwechsel, wieder andere waren erfüllt von Plänen, Handelsbeziehungen zu knüpfen und größere Profite einzustreichen. Die übrigen waren lediglich von Whiskey erfüllt. Alle außer Brown.
Brown hatte ein paar Erdnüsse zu Mittag gegessen, weswegen
man ihm schlecht nachsagen kann, er sei lediglich von Whiskey erfüllt gewesen, ohne die Grenzen des Wahrheitsgemäßen
schändlich zu überschreiten.
Unsere kleine Gruppe von Passagieren wurde von den weinend am Kai zurückbleibenden Freunden so hingebungsvoll
verabschiedet wie eine Schar frommer Pilger. Die mir zugeteilte Reiseausrüstung begann mit einem Matrosenanzug, einer
Kiste Wein, einer kleinen Auswahl gesundheitsfördernder Liköre und Brandy, einigen Zigarrenschachteln, einem Päckchen
Zündhölzer, einer schönen Zahnbürste und einem Stück Seife
und endete mit einem Paar Socken. (N. B.: Die Seife gab ich
Brown, der hineinbiss, dann den Kopf schüttelte und meinte,
im Allgemeinen schätze er das Verkosten exotischer ausländischer Gerichte, um deren Eigenarten kennenzulernen, doch
damit könne er nichts anfangen – woraufhin er sie über Bord
warf.) Diese Ausstattung ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich
unsere Freunde um jeden von uns kümmerten. Drei unserer
Passagiere, alte Kapitäne und Walfänger – Kapitän Cuttle, Kapitän Phelps und Kapitän Fitch (alle Namen fiktiv) –, hatten
acht Gallonen1 Whiskey erstanden, und ihre Freunde schick1 Eine Gallone: ca. 3,8 Liter. »Kapitän Cuttle« ist eine Figur in Charles Dickens’
Roman Dombey and Son, den Twain besonders schätzte.
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ten ihnen noch elf Gallonen dazu. (N. B.: Wegen Gegenwind
und rauer See erwies sich dieser Vorrat als unzureichend. Die
neunzehn Gallonen hätten für die voraussichtlich achttägige
Überfahrt genügt, aber nicht für ganze zehn Tage. Die Walfänger waren heute Morgen alle trocken und unglücklich.)
Segel setzen
Kummer, Sorgen und Geschäfte blieben hinter uns in der
Stadt zurück, während wir sachte die Hügel umrundeten und
Haus um Haus, Straße um Straße außer Sicht gerieten, bis wir
durch das Golden Gate hinaus- und auf den landlosen Horizont zusegelten. Es war ein angenehm windiger Nachmittag,
und das merkwürdige, ungekannte Gefühl, von aller Arbeit und
Verantwortung enthoben zu sein, überwältigte mich so sehr,
dass ich das Sturmdeck erklomm, um Platz genug zu haben, es
zu genießen. Ich setzte mich auf eine Bank und ergötzte mich
friedlich an jener Tätigkeit, die für den aufgeklärten Christen
einen wahren Luxus darstellt – das Beobachten anderer Leute
bei der Arbeit. Kapitän Godfrey ließ die Segel setzen und trieb
die Männer hurtig voran. Bei ihm geschah alles im Handumdrehen, und seine Befehle zeichneten sich durch eine treffende Wortwahl aus, die meine Bewunderung weckte. Er rief:
»Hauptluke zu. Festmachen! Marssegelklüver anluven! Festmachen! Besanspierenfall aufgeien! Festmachen! Marssegelgaffel nach Backbord! Festmachen! Macht flott, ihr Landratten! Speigatt an Lee reffen! Festmachen! Mr. Baxter, um ungefähr vier Glasen während der Hundewache kommt Sturm
auf.2 Bis dahin muss alles tipptopp in Ordnung sein. Festmachen!«
Das Schiff schlingerte fürchterlich. Ich stand daher auf und
wollte zum Kapitän hinübergehen, um ihn zu fragen, ob es
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nicht ratsam wäre, es zur Abwechslung ein wenig »festzumachen«, doch kam ich nicht weit und fiel auf die Nase. Ich nahm
lieber wieder meinen Sitzplatz ein. Zwanzig Minuten später
beobachtete ich aufmerksam, wie der Kapitän sich nach Backbord lehnte, wenn das Schiff nach Steuerbord rollte, und nach
Steuerbord, wenn es nach Backbord kippte. Ich erhob mich,
um ein wenig zu üben. Es kam nicht viel dabei heraus, aber
nach einigen ungewöhnlichen Manövern prallte ich gegen den
Großmast. Der Zusammenstoß fügte dem Mast keinen sichtbaren Schaden zu, doch wenn es ein Backsteingebäude gewesen wäre, dann hätte die Geschichte ganz anders ausgehen
können. Ich ging einigermaßen entmutigt unter Deck.
Einige Auswirkungen des heftigen Seegangs
Ich entdeckte zweiundzwanzig Passagiere, die sich über die
Reling beugten, sich übergaben, »Oh, mein Gott!« riefen und
sich erneut übergaben. Brown war auch da. Stets freundlich
und zuvorkommend, ging er von einem zum anderen und
sagte: »Gut so – gut so – immer raus damit, reinigt den Magen, bis er blitzblank ist. Man fühlt sich gleich viel besser und
stinkt nicht mehr so erbärmlich.«
Das stürmische Wetter hielt mehrere Tage und Nächte an,
und das Schiff rollte und stampfte heftig. Mit Ausnahme von
sechs bis acht Passagieren nahmen alle ihre Mahlzeiten nur in
ihren Betten zu sich und schlossen sich die ganze Zeit über in
ihren Kabinen ein. Die Salons und Decks wirkten verlassen
2 Jede Wache dauert vier Stunden oder acht Glasen. Die Hundewache (auch
Mittelwache oder Rattenwache) dauert von Mitternacht bis vier Uhr früh.
Befehle wie »Speigatt an Lee reffen« wurden von Twain aus verschiedenen
seemännischen Begriffen beliebig zusammengesetzt und dienen hier lediglich
zur Illustration der Unverständlichkeit der Seemannssprache.
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und einsam. Doch nach und nach gesundeten die unglücklichen Seekranken, bis unsere Dinnergesellschaft wieder fünfzehn bis zwanzig Personen umfasste.
An den Tischen waren Rahmen oder »Geländer« befestigt,
damit die Teller nicht herunterrutschten, was zuweilen trotzdem geschah. Ein gelegentliches starkes Schlingern beförderte
ein gutes Dutzend in den Abgrund und ließ die Dinnergäste
hinterhertauchen. Brown hegte einen tiefen Groll gegen die
Tischrahmen und meinte, niemand habe ihm je beigebracht,
»aus Backformen zu essen«. Bei Suppen waren die Geländer
nutzlos. Der Suppenteller musste in der Hand gehalten und
behutsam mal in die eine, mal in die andere Richtung geneigt
werden, damit sich die Flüssigkeit dem Schaukeln des Schiffes anpassen konnte. Die Stühle waren nicht am Boden befestigt, und es war ein lustiger Anblick, wenn eine Reihe von
Gentlemen rückwärts zum Schott rutschte, ihre Suppenteller in Brusthöhe festhielt und sich ganz darauf konzentrierte,
nichts von dem Inhalt zu verschütten. Mit der Flut rutschten sie zurück zu den Tischen und segelten mit der Ebbe erneut von dannen. Es war unmöglich, ein Glas Wasser abzustellen. Die aufmerksamen Stewards brachten dem unablässig
quasselnden Brown ein Glas nach dem anderen, doch er bemerkte es immer zu spät, um deutlich zu machen, dass er genug
hatte: »Frank, bringen Sie mir kein Wasser mehr. Ich muss es
in einem Zug austrinken, um es nicht zu verschütten, und ich
hatte schon mehr als genug.« Dennoch winkte ihm alle paar
Minuten ein Passagier von gegenüber zu und rief: »Ihr Wasser, Mr. Brown! Ihr Wasser! Achten Sie auf Ihr Wasser!« Und
siehe, der arme Brown musste erkennen, dass man sein Glas
erneut ersetzt hatte und dass es sich schon bedenklich leewärts
neigte. Sogleich packte er es und trank es aus. Nach einer Viertelstunde hatte Brown immer noch nichts gegessen, weil er
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unablässig von diesen Wasserlieferungen unterbrochen wurde.
Der Steward Frank brachte ein frisches Glas Wasser und sagte:
»Hätten Sie gern etwas Beefsteak, Mr. Brown?« – »Nehmen
Sie das Wasser und fahren Sie zur Hölle! Beefsteak! Nein! Ich
habe in fünfzehn Minuten elf Gallonen Wasser getrunken. In
meinem Bauch gibt’s nicht mal genug Platz für das Lendensteak einer Sandfliege!«
Tagebuch
Beim Blättern in meinem Logbuch entdecke ich folgende
Einträge:
Mittwoch, 7. März – San Francisco um vier Uhr nachmittags
verlassen; stürmische Nacht.
Donnerstag – immer noch schlechtes Wetter. Fast alle Passagiere krank; nur ein halbes Dutzend von dreißig beim Frühstück.
Freitag – die ganze Nacht über starker Wind. Abends
schwere See, schwarzer Himmel.
Samstag – das gleiche Wetter, nur schlechter.
Ihren »Stillen Ozean« können Sie sich an den Hut stecken,
Mr. Balboa3, und sich meinetwegen draufsetzen. Ihr Ruf in
Kalifornien ist einzig und allein durch die Tatsache gerettet
worden, dass wir nach diesen vier Tagen halbwegs gutes Reisewetter hatten. Andernfalls hätte ich Ihnen in diesem Brief dermaßen die Leviten gelesen, dass Ihnen die alten morschen
Knochen im Sarg geklappert hätten. Schamloser spanischer
Schwindler!
3 Vasco Núñez de Balboa (1475–1519) erblickte am 25. September 1513 von einem
Berggipfel aus als erster Europäer den »Stillen« oder »Pazifischen Ozean«.
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Sacramento Daily Union
17. April 1866
Honolulu, 19. März 1866
Die Reise der Ajax wird fortgesetzt –
Die alte Nordwester-Dünung
Am Sonntag nach unserer Abfahrt hatten wir schönes Wetter und kaum Wind, doch gab es einen starken Seegang, und
das Schiff rollte ziemlich heftig. Als ich nachfragte, erfuhr ich,
dass dies von der »alten Nordwester-Dünung« herrühre, die
einiges mit unseren Broadway-Gecken gemein hat, indem sie
sich ordentlich auf bläht und wer weiß wie stürmisch tut, dabei rührt sich in Wahrheit kaum ein Lüftchen. Die alte Nordwester-Dünung, die von dem vorherrschenden Wind der Gegend erzeugt wird, ist in diesen Meeren ständig präsent, sie
zieht auf ihrer ewigen Reise Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, über die Weiten des Pazifiks und türmt ihre Wellen
auf, gleich, ob es stürmt oder windstill ist. Der Wind und die
Dünung werden kurz vor dem Äquator schwächer. Ein anderer Wind und eine andere Dünung kommen aus der Gegenrichtung rund um Kap Hoorn und flauen ebenfalls kurz vor
dem Äquator ab. So bleibt ein windstiller, wellenloser Gürtel um die Mitte der Erdkugel, der den Äquator ebenso deutlich kennzeichnet wie die dünne schwarze Linie auf der Karte.
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Schiffe treiben wochenlang untätig auf der spiegelglatten See
unter der brennenden Tropensonne, ohne dass ein Windhauch
die schlaffen Segel füllt oder den schwitzenden und grässlich
fluchenden Matrosen Luft zufächelt.
Zum Teufel mit Balboa, dem Entdecker
Unser Leben lang haben wir vom »Stillen Ozean« gehört, vom
»sturmlosen Pazifik«, von der »ruhigen und erbaulichen Überfahrt zu den Sandwich-Inseln«4 und von den »stetig wehenden
Passatwinden«, die unveränderlich seien und nie »umschlagen«; als Kinder haben wir gelesen, wie dieser eingebildete
alte Esel Balboa von einer hohen Klippe aus auf eine weite
See herabblickt, die ruhig und friedlich wie ein Fischteich daliegt, wie er vor Entzücken einen Freudentanz aufführt – was
Spanier bekanntlich bei jeder Gelegenheit tun –, wie er ein
paar Worte in seiner Muttersprache brüllt, die Fahne seiner
Nation schwenkt und seine großartige Entdeckung »Pazifik«
nennt. So hat er eine Lüge in die Welt gesetzt, die Generationen von Schülern in die Irre führte und führen wird, solange
der alte Ozean existiert. Wenn ich damals dabei gewesen wäre,
mit meinem heutigen Wissensstand, dann hätte ich zu diesem Balboa gesagt: »Also, wenn Sie sich dann ausreichend zur
Schau gestellt haben auf diesem bemerkenswerten Felsen und
mit Tanzen fertig sind, dann packen Sie lieber Ihre Siebensachen und machen, dass Sie fortkommen, denn Sie waren etwas voreilig, als Sie diesem schlafenden Knaben einen Mädchennamen gaben, ohne sich zuvor nach seinem Geschlecht
zu erkundigen.«
Dieser Balboa wäre der Wahrheit wohl nähergekommen,
4 Sandwich Islands ist die frühere Bezeichnung der Hawaii-Inseln.
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wenn er den Ozean »Vier-Monats-Pazifik« getauft hätte. Ich
habe erfahren, dass in den Sommermonaten durchaus gutes
Wetter, ruhige See und eine stete Brise vorherrschen. Zusätzlich gibt es am Frühlingsende und zu Herbstbeginn einen Monat und ein paar Tage schönes Wetter. Während der übrigen
sieben oder acht Monate des Jahres kann man mit recht großer Wahrscheinlichkeit mit Gegenwinden und Rückenwinden rechnen und mit Winden von achtern und Winden von
ein paar Strich über achteraus und Winden, die senkrecht von
unten nach oben wehen, und wieder anderen Winden, die so
schnurgerade von oben nach unten blasen, dass der VorbesanLeesegel-Klüverbaum ein Loch in sie hineinbohrt, so glatt wie
ein Teleskop. Und die See rollt, springt, wogt und brandet unter dem Schiff, dass es abwechselnd hoch- und hinunter-, hinund hergeworfen wird, wenn diese Sturmwinde wehen. Wenn
sie abflauen, kommt die alte Nordwester-Dünung heran und
bezieht Posten und hält Wache und bringt die Meereswogen
wieder auf Trab, bis die Winde sich ausgeruht haben und in
der Lage sind, neuen Ärger zu stiften.
Kurzum: Der Pazifik ist sieben oder acht Monate im Jahr
rau – nicht stürmisch, man verstehe mich nicht falsch – ihn als
»stürmisch« zu bezeichnen, wäre nicht gerechtfertigt, aber er ist
wechselhaft und unwirtlich und eben sehr rau. Hätte also dieser Balboa-Constrictor einen Namen erfunden, der etwas mit
»wild« oder »ungezähmt« zu tun hätte, dann wäre eine klare
Mehrheit von zwei Monaten im Jahr auf seiner Seite gewesen.
(…)
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Sacramento Daily Union
19. April 1866
Honolulu, März 1866
Noch ein paar Worte über unsere Ankunft
Am Morgen des 18. März kamen zwei Inseln dieses Archipels, Oahu und Molokai (sprich O-uaa-hu und Mollo-kie), in
Sicht, und wir tauschten die dunkelblauen Gewässer des offenen Meeres gegen das leuchtende Blau der »lotbaren Tiefen«.
Die dicken, hässlichen Vögel (angeblich eine Art Albatros), die
uns auf unermüdlichen Schwingen während der ganzen Überfahrt hierher begleitet hatten, verließen uns, und an ihrer Stelle
glitt gelegentlich ein Fliegender Fisch über die Wellen. Oahu
erhob sich steil, felsig, kahl, schwarz und trostlos über der See,
und in der Ferne lag Molokai wie ein freundlicher Buckelwal
auf dem Wasser.5
Die Flagge von Hawaii
Als wir das Vorgebirge des Diamond Head6 umschifften (wobei wir als ersten sichtbaren Beweis, dass wir die Tropen er5 Die Nordküste Molokais diente ab 1866 als Verbannungsort für Leprakranke.
6 Gipfel eines erloschenen Vulkans bei Waikiki (Oahu), benannt nach Kris-
tallen, die Seeleute 1825 dort gefunden und für Diamanten gehalten hatten.
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reicht hatten, einen Kokospalmenhain entdeckten), hissten
wir das Sternenbanner an der Besangaffel und die hawaiische
Flagge am Fockmast. Letztere spiegelt deutlich die politischen Verhältnisse auf den Inseln wider. Sie ist teils französisch, teils englisch, teils amerikanisch und insgesamt doch hawaiisch. Die Gösch zeigt statt unserer Sterne den Union Jack;
der Rest der Flagge (waagerechte Streifen) sieht amerikanisch
aus, hat aber zusätzlich zu unseren roten und weißen Streifen
noch blaue französische. Die Flagge wurde von den ausländischen Botschaften entworfen und mit der Regierung von Hawaii abgesprochen. Die acht Streifen beziehen sich auf die acht
bewohnten Inseln. Die übrigen vier sind kahle Felsen, die nicht
besiedelt werden können.
Überlegungen
Als wir in Sichtweite kamen, schossen wir einen Salut, und
ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von Honolulu erschien,
um den Dampfer zu begrüßen. Es war Sonntagmorgen zur
Messe, und wir fuhren zur Musik von sechs verschiedenen
Kirchenglocken durch die schmale Einfahrt in den Hafen ein.
Das heitere Glockenläuten erklang nah und fern, über Hügel und Täler, die noch vor fünfzig Jahren von nackten, wilden,
grausamen Barbaren bevölkert waren. Sechs christliche Kirchen – keine fünf Meilen von einem heidnischen Tempel entfernt, wo im letzten Jahrhundert noch den abscheulichen Götzen täglich Menschenopfer dargebracht wurden! Wir waren in
Schussweite einer Inselgruppe, deren wütende Ureinwohner
vor siebenundachtzig Jahren den armen Kapitän Cook7 in die
7 James Cook (1728–1779) erreichte als erster Europäer die Inseln von Hawaii,
wo er am 14. Februar 1779 bei einem Kampf mit Eingeborenen getötet wurde.
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Enge getrieben und ermordet hatten – und siehe, ihre Nachkommen gehen in die Kirche. Erstaunlich, was die Missionare
geleistet haben!
Die Menschenmenge an der Pier
Bis wir uns unter der Führung des Lotsen McIntyre langsam
zum Kai vorgearbeitet hatten, hatte sich eine bunt gemischte
Menschenmenge von vier- oder fünfhundert Personen versammelt: Chinesen in ihrer Landestracht, Ausländer und Eingeborene aus den oberen Gesellschaftsschichten, »Halbweiße«
in Kutschen, gekleidet nach der Sommermode Sacramentos.
Andere Eingeborene waren zu Fuß gekommen, einige trugen
die weggeworfenen Kleidungsstücke der Weißen, manche hatten einen zerbeulten Hut auf dem Kopf, eine alte, zerschlissene Weste und sonst nichts außer einem unnötig knapp bemessenen Lendenschurz zwischen den Beinen. Die Eingeborenenfrauen trugen alle das gleiche Gewand – ein leuchtend
gefärbtes Wickelkleid von der Größe eines Ballons und mit
langen Ärmeln. Dieses Gewand wird vorne und hinten über
beide Schultern gewickelt und fällt in großzügigen Falten bis
zu den Füßen – selten wird darunter ein Hemd getragen –,
und es passt wie ein Zirkuszelt auf den Zeltpfosten. Diese
Wickelkleider waren leuchtend gelb, hellrot, gelegentlich tiefschwarz oder strahlend weiß, aber leuchtende, um nicht zu sagen, »blendende« Farben waren die Regel. Die Frauen trugen
kleine Hüte wie die Damen in unseren Städten, und einige der
jüngeren hatten schöne Gesichter, prachtvolle schwarze Augen
und volles, langes schwarzes Haar, das manchmal in einem
»Netz« hochgesteckt war. Einige dieser dunklen, lebkuchenfarbenen Schönheiten waren zu Fuß – meist barfuß, möchte
ich hinzufügen –, die anderen zu Pferde, rittlings. Sie reiten
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immer auf diese Art, nie im Damensitz, und sie werden wissen, wie es am besten ist, weil es angeblich keine geschickteren
Reiterinnen auf der Welt gibt. Der Rest der Menge bestand
hauptsächlich aus halb nackten kleinen Eingeborenenknaben
und -mädchen. Alle plapperten in der melodiösen, zusammengewürfelten Sprache der Südseebewohner, aber was sie plapperten, wird mir immer ein Rätsel bleiben.
Der König
Kapitän Fitch sagte: »Da ist der König! Der da in der offenen
Kutsche. Ich kann ihn schon von Weitem erkennen.«
Ich hatte noch nie zuvor einen König gesehen und holte
natürlich sofort mein Notizbuch hervor, um Folgendes aufzuschreiben: »Groß, schlank, dunkel; Vollbart; grüner Gehrock
mit breiten Goldbändern an Revers und Kragen; Zylinderhut
mit Goldband; das königliche Gewand sieht doch eher wie
eine Livree aus; der Mann ist dünner, als ich ihn mir vorgestellt habe.«
Kaum hatte ich alles notiert, bemerkte Kapitän Fitch, dass
er den falschen König erspäht hatte – oder eher, dass er den
Kutscher des Königs oder eines anderen Edelmannes für den
König gehalten hatte. Der König war gar nicht anwesend. Das
enttäuschte mich sehr. Später erfuhr ich, dass der gemütliche und leichtlebige König Kamehameha V.8 (sprich Ka-meiah-mei-ah) am Vortag auf einer Tonne am Kai gesessen und
geangelt hatte. Doch das konnte mich nicht über den Verlust
meines Königs hinwegtrösten.
8 Kamehameha V. (1830–1872) regierte von 1863 bis zu seinem Tod.
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Honolulu
Die Stadt Honolulu (die angeblich zwischen zwölftausend
und fünfzehntausend Einwohner hat) liegt auf einer flachen
Ebene. Die Straßen sind zwanzig bis dreißig Fuß breit, fest
und eben wie ein Fußboden, meistens geradlinig und manchmal gewunden wie ein Korkenzieher. Die Häuser haben ein
bis zwei Stockwerke, sie sind aus Holz, Stroh, Lehm und einer
glanzlosen, cremefarbenen Mischung aus Kieseln, Muschelkalk und Korallen gebaut, die zu länglichen, rechteckigen Blöcken geschnitten und mit Zement zusammengefügt werden.
Es sind jedoch keine Backsteinhäuser. Um viele der Wohnhäuser sind große Vorhöfe oder vielmehr Vorgärten angelegt, die
mit hellgrünem Gras so hoch bewachsen sind, dass die Füße
darin verschwinden. Sie werden durch Hunderte schöner Blumenarten und blühende Sträucher geschmückt und von edlen
Tamarinden beschattet. Hier sieht man die »Königinblume«
mit ihren duftenden Blüten und die »Schirmmagnolie«9 und
viele andere, die ich hier nicht aufzählen kann. Ich rieche lieber Honolulu in der Abenddämmerung als den alten Gerichtssaal in San Francisco.
Beinahe ein König
Ich hatte mich seit San Francisco nicht rasiert – seit zehn Tagen. Sobald ich an Land war, suchte ich nach dem gestreiften
Pfosten eines Barbiers und hatte rasch einen gefunden. Seit
jeher hatte ich den Wunsch, König zu sein. Der Traum wird
wohl nicht in Erfüllung gehen. Doch eine große Genugtuung
9 Die Königinblume oder »Pride of India« ist ein tropischer Laubbaum;
die Schirmmagnolie oder »Umbrella tree« ist eine aus Japan eingeführte
immergrüne Baumart.
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bleibt mir: Wenn mein Traum sich auch nicht erfüllt, so bin
ich ihm doch sehr nahe gekommen – denn ich wurde vom königlichen Barbier rasiert.
Landratten auf Seemannsbeinen
An Land umherzuspazieren war anfangs sehr gewöhnungsbedürftig. Der feste Boden hatte keinen Schwung, und ich vermisste das Heben und Senken des Schiffsdecks. Es ist sehr
verwirrend, sich unbewusst einem erwarteten Schlingern der
Welt entgegenzustemmen, um festzustellen, dass die Welt
nicht so schlingert, wie sie es eigentlich sollte. Und noch etwas fehlte – irgendetwas, das vorher noch dagewesen war – ein
Mangel, den ich nicht benennen konnte – ein unangenehmes
Vakuum irgendwie – ein Gefühl der Leere. Doch bald fand
ich heraus, was es war. Es war das dumpfe Brausen der an
die Bordwand schlagenden Wellen, das knatternde Segel, die
dröhnende Schiffsschraube, der knarrende Schiffsrumpf – Geräusche, an die ich mich so sehr gewöhnt hatte, dass ich sie
gar nicht mehr wahrnahm, bis die tiefe Sonntagsruhe an Land
mir vage bewusst machte, dass irgendein vertrautes Etwas verschwunden war. Das Gehen auf festem Boden mit Beinen, die
sich an das Nachgeben des Decks unter den Füßen gewöhnt
hatten, machte Brown landkrank, und er ging zu Bett und ließ
mich allein durch diese seltsame Stadt in den Tropen wandern.
Neue Eindrücke und starke Kontraste
Je länger ich durch die Stadt spazierte, desto besser gefiel sie
mir. Jeder Schritt offenbarte einen neuen Kontrast – enthüllte
etwas Ungewöhnliches. Statt der großen erdfarbenen Backsteinhäuser San Franciscos sah ich hübsche weiße Landhäu-
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ser mit grünen Fensterläden. Statt der billardtischgroßen, von
Eisengittern begrenzten Rasenstückchen hatten diese Häuser üppige Gärten von der Größe des Portsmouth Square10, in
denen reichlich grünes Gras wuchs und die von hohen Bäumen beschattet wurden, durch deren dichtes Laub kaum Sonnenlicht drang. Anstelle der üblichen infernalischen Geranie,
die verstaubt und kraftlos auf dem Wellblechdach von Hinterhofhäuschen oder an Schlafzimmerfenstern vor sich hin
siecht, sah ich prachtvolle Blumenbeete und Sträucher, frisch
wie eine Waldwiese nach dem Regen und in den strahlendsten Farben blühend. Statt der schrecklich traurigen Weiden
und der unangenehm stacheligen Dornbüsche jener lächerlichen Karikatur der Natur, die sie »South Park«11 nennen, sah
ich groß gewachsene, ausladende Waldbäume mit merkwürdigen Namen und noch merkwürdigerem Aussehen, die mächtige Schatten wie Gewitterwolken werfen und ganz für sich
allein stehen können, ohne dass man sie an dünnen grünen
Pfosten festbindet. Anstelle jener abscheulichen, langweiligen, dummen, immergleichen Goldfische, die in ihren Goldfischgläsern herumzappeln und durch die optische Vergrößerung und Verkleinerung ihres durchsichtigen Gefängnisses
alle möglichen Stadien der Deformation durchlaufen, sah ich
Katzen – Kater und Kätzinnen, langschwänzige Katzen, kurzschwänzige Katzen, blinde Katzen, einäugige Katzen, schielende Katzen, Katzen mit Silberblick, graue Katzen, schwarze
10 Ursprünglich die Plaza der mexikanischen Siedlung Yerba Buena. Am 9. Juli
1846, nach dem Ausbruch des Kriegs gegen Mexiko, besetzte Kapitän John
B. Montgomery von der U. S. S. Portsmouth die Ortschaft, die ein Jahr später
in San Francisco umbenannt wurde. In den 1860er-Jahren begannen sich
rund um den Platz chinesische Einwanderer anzusiedeln. Heute bildet der
Portsmouth Square den Mittelpunkt von San Franciscos Chinatown.
11 Der Park in San Francisco wurde 1855 von dem Engländer George Gordon
nach dem Vorbild der Londoner Privatparks gegründet.
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Katzen, weiße Katzen, sandfarbene Katzen, gestreifte Katzen,
gescheckte Katzen, zahme Katzen, wilde Katzen, angesengte
Katzen, einzelne Katzen, Katzengruppen, Katzentrupps, Katzenkompanien, Katzenregimenter, Katzenarmeen, Katzenheerscharen, Millionen von Katzen, und jede Einzelne von ihnen war gepflegt, dick, faul und im tiefsten Schlaf. Statt der
üblen Kerle und Schläger, die an den Straßenecken Passanten
anstarren und anpöbeln, sah ich langhaarige, mahagonifarbene
Sandwich-Insel-Jungfern, die von ihren schattigen Plätzen an
Eckhäusern aus träge beobachteten, was sich auf der Straße
abspielte. Anstatt mich über diese elenden Pflastersteine zu
ärgern, flanierte ich auf einem festen Straßenbelag, der aus Korallen bestand, die am Meeresgrund von jenem ebenso sonderbaren wie beharrlichen Tierchen gleichen Namens fabriziert werden, überzogen von einer dünnen Schicht aus Schlacke und Lava, die vor Urzeiten aus den Höllenschlünden jenes
Kraters ausgespien worden war, der nun tot, kalt und harmlos
in der Ferne aufragte. Statt vollgestopfter und überfüllter Straßenbahnwagen traf ich dunkelhäutige Insulanerinnen, die frei
wie der Wind auf flinken Pferden vorbeihuschten, sodass ihre
grellbunten Schärpen wie Banner hinter ihnen her flatterten.
Statt des vereinten Gestanks von Sacramento Street, Chinatown und den Schlachthäusern der Brannon Street inhalierte
ich den balsamischen Odem aus Jasminblüten, Oleander und
Königinblume. Statt voller Hast im Gedränge und lärmenden
Durcheinander von San Francisco wandelte ich in einer Sommerstille, die so friedlich war wie die Abenddämmerung im
Garten Eden. Anstelle unserer vertrauten Sandhügel, die die
ruhige Bucht umsäumen, sah ich auf der einen Seite in greif barer Nähe eine Kette aus hohen und steilen Bergen, die in frisches Grün gekleidet und von tiefen, schattigen, schluchtartigen Tälern zerklüftet waren – und vor mir erstreckte sich das
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grandiose Panorama des Ozeans: ein strahlendes, durchscheinendes Grün nahe der Küste, gesäumt und begrenzt von einer
langen weißen Linie aus schäumender Gischt, die gegen die
Klippen brandet. Weiter draußen das mit »weißen Mützen«
gesprenkelte tief blaue Wasser der Tiefsee und ganz hinten am
Horizont ein einsames weißes Segel –
An dieser Stelle äußerte ein gewisser Brown, der nichts Besseres zu tun hatte, als mir beim Schreiben über die Schulter
zu schauen: »Ja, und es ist heiß. Na, so heiß auch wieder nicht
(nur 28 Grad Celsius im Schatten)! Machen Sie schon; wo Sie
einmal damit angefangen haben, müssen Sie auch alles schreiben. Schreiben Sie: ›Und es gibt jede Menge Hundertfüßer,
Küchenschaben, Flöhe, Eidechsen, rote Ameisen, Skorpione,
Spinnen, Moskitos und Missionare.‹ – Verdammt will ich sein,
wenn ich es zwei Monate lang hier aushalte – und wenn ich der
große König Muckamuck von Wahu wäre und einen Harem
voll Hyänen hätte!« (»Wahini« – sprich Weihienie – scheint
gleichermaßen »Gattin«, »Frau« und »Dame von zweifelhaftem Ruf« zu bedeuten.12 Ich habe es diesem Brown mehrmals
erklärt, dass es »Wahini« heißt, nicht »Hyäne«. Er sagt: »Einerlei. Für einige von ihnen ist es auf jeden Fall der richtige
Name.«)
»Aber Mr. Brown, das sind doch Nebensächlichkeiten«, antwortete ich.
»Nebensächlichkeiten? Pah! Lassen Sie sich nur von einem
dieser Skorpione zwicken, und sagen Sie mir, wie Ihnen das
gefällt! Mrs. Jones hat sich kürzlich das Gesicht mit einem
Schwamm gewaschen, als sie plötzlich ein Kneifen in der
Wange spürte. Sie ließ den Schwamm fallen, und ein eineinhalb Zoll großer Skorpion hüpfte heraus! Sie sprang auf und
12 »Wahine« bedeutet im Hawaiischen schlicht »Frau«.
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tanzte zweieinhalb Stunden lang kreischend den Hochlandtanz der Schotten! Bei günstigem Wind hätte man ihren
Schrei von Luwau bis Hullahulla hören können! Drei Tage
lang hat sie ihre Wange mit Brandy und Salz betupft, doch ihr
Bäckchen schwoll an, bis es so dick war wie Ihre beiden Fäuste
zusammen. Und wollen Sie wissen, warum ich letzte Nacht
plötzlich aus dem Bett gehüpft bin? Es war nur ein Hundertfüßer – nichts weiter als ein Hundertfüßer mit zweiundvierzig Beinen auf jeder Seite, von denen jedes einzelne so glühend
heiß war, dass es ein Loch in eine Kuhhaut hätte brennen können. Wussten Sie, dass eins dieser Viecher Miss Boon am Fuß
erwischt hat, als sie einmal ausritt? Es hatte sich im Steigbügel versteckt, klammerte sich um ihren Fuß und schlug seine
Fangzähne durch den Schuh in ihre Ferse. Sie ließ aus tiefster
Seele einen gewaltigen Schrei ertönen und fiel in Ohnmacht.
Drei Wochen lang blieb sie im Bett und setzte keinen Fuß auf
den Boden. Und warum hat Kapitän Godfrey niemals Schwierigkeiten bekommen? Na, er hat immer eine Flasche mit in Alkohol eingelegten Skorpionen und Hundertfüßern dabei, und
wenn er gebissen wird, reibt er die Stelle mit der teuflischen
Mixtur ein – oder trinkt einen Schluck davon, ich weiß nicht
mehr genau, was von beidem. Und was hat er gemacht, als er
einmal seine Flasche vergessen hatte? Er schnitt die Wunde
mit dem Messer heraus und füllte das Loch mit Arnika, dann
klemmte er sich einen Stiefelknecht zwischen die Kiefer, damit
er keine Maulsperre bekam. Ach, von wegen liebliche Landschaft! Schreiben Sie ruhig ihr rührseliges Zeug über balsamische Brisen und duftende Blüten und den ganzen Krempel,
aber dann erwähnen Sie gefälligst auch die Hundertfüßer und
die anderen Viecher, bitte schön.«
Ich sagte mit ruhiger Stimme: »Aber Mr. Brown, es ist doch
lediglich …«
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»Lediglich? Mumpitz! Sie wollen mir erzählen, es ist lediglich – lediglich …? Nun, wie immer Sie es bezeichnen wollen,
aber lediglich ist es gewiss nicht. Sehen Sie sich die entzündeten Stiche in meinem Gesicht an – auf meinen Armen – auf
meinem ganzen Körper! Moskitostiche! Von wegen lediglich!
An den Moskitostichen kommen Sie nicht vorbei. Vorletzte
Nacht habe ich mein Moskitonetz über dem Bett aufgehängt,
habe es rundherum gut befestigt, und noch vor dem Morgengrauen war ich völlig zerstochen. Letzte Nacht habe ich das
Netz wieder aufgehängt, habe mich ins Bett gelegt und diesen
starken alten Tabak geraucht, bis ich am Qualm fast erstickt
wäre und das Fenster öffnen musste, und bevor ich nur einmal
tief Luft holen konnte, waren sie schon hereingeschwärmt und
rammten ihre Stachel in mein Hemd und haben mich ausgesaugt, bis ich so trocken war wie eine Schwimmweste. Dann
versuchte ich es mit einer Baumfalle. Ich brauchte zwei Tage
für den Auf bau und schwitzte zwei Eimer voll Salzwasser und
dachte, gnade Gott dem Moskito, der in diese Falle tappt! Als
ich im Schlaf herumzappelte, verfing sich mein Fuß darin, und
jetzt ist er so platt, dass er nicht einmal mehr in einen Riesenschildkrötenpanzer hineinpasst. Jim Ayers13 hat sieben Zweizeiler über Wahu hingeschmiert, und in den letzten beiden
Versen beklagt er sich, dass er den vermaledeiten Ort verlassen muss, und jetzt kommen Sie mit Ihren sentimentalen Ergüssen! Ha – ha, was sagen Sie jetzt? Die gelbe Spinne da, die
könnte mit gestreckten Beinen mühelos über eine Untertasse
hinwegsteigen – und wenn ich nicht bei Ihnen gewesen wäre
und ihr den Spucknapf aufgesetzt hätte, wäre sie gleich unter
Ihre Decke geschlüpft – sie ist geradewegs auf Ihr Bett zugesteuert – sie hatte schon ein Auge drauf geworfen. Ziehen Sie
13 James J. Ayers, Herausgeber des Daily Hawaiian Herald.
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nur einmal an dem Faden, den sie gesponnen hat – zäh wie
Nähseide –, und schauen Sie, wie ihre Beine zu allen Seiten
unter dem Spucknapf hervorlugen. Ach, zur Hölle mit Wahu!«
Zum Glück ekelte sich Brown vor der ermordeten Spinne
und verschwand. Ich werde nicht gern beim Schreiben unterbrochen – besonders nicht von Brown, der zu den Menschen
gehört, die immer nur die unerfreuliche Seite von allem sehen,
was bei mir eher selten der Fall ist.
(…)
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20. April 1866
Honolulu, März 1866
Umgangsformen
Wenn man in Honolulu mit einem Fremden ins Gespräch
kommt und den natürlichen Wunsch verspürt, herauszufinden, auf welchem Terrain man sich bewegt und welche Art
von Mensch der andere ist, dann spricht man ihn am besten
zunächst mit »Kapitän« an. Man beobachte ihn genau, und
wenn man an seinem Gesichtsausdruck erkennt, dass man auf
der falschen Spur ist, frage man ihn, wo er predigt. Es ist so
gut wie sicher, dass er entweder Missionar oder Kapitän auf
einem Walfänger ist. Ich habe inzwischen die Bekanntschaft
von zweiundsiebzig Kapitänen und sechsundneunzig Missionaren gemacht. Die Bevölkerung besteht zur Hälfte aus Kapitänen und Geistlichen. Das dritte Viertel besteht aus gewöhnlichen Eingeborenen und ausländischen Händlern und ihren
Familien und das letzte Viertel aus leitenden Beamten der
hawaiischen Regierung. Und auf jeden von ihnen kommen ungefähr drei Katzen.
Gestern traf ich in der Vorstadt einen ernsten Fremden,
der sagte: »Guten Morgen, Hochwürden. Sie predigen in der
Steinkirche, nicht wahr?«
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»Nein, keinesfalls. Ich bin kein Priester.«
»Oh, entschuldigen Sie, Kapitän. Ich hoffe, Sie hatten eine
gute Saison. Wie viel Öl …«
»Öl? Wofür halten Sie mich? Ich bin kein Walfänger.«
»Ich bitte tausendfach um Verzeihung, Euer Exzellenz. Generaldirektor des Finanzministeriums, nicht wahr? Innenminister, habe ich recht? Kriegsminister? Oberster Kammerherr?
Kommissar des königlichen …«
»Unsinn, Mann. Ich bin kein Beamter. Ich stehe in keinerlei Verbindung zur Regierung.«
»Du meine Güte! Wer zum Teufel sind Sie? Was zum Teufel sind Sie? Wie zum Teufel sind Sie hierhergekommen, und
woher zum Henker stammen Sie?«
»Ich bin nur eine Privatperson – ein bescheidener Reisender – erst vor Kurzem aus Amerika eingetroffen.«
»Wie? Kein Missionar! Kein Walfänger! Kein Mitglied der
Regierung Seiner Majestät! Nicht einmal ein Marineminister! Oh Gott! Es ist zu schön, um wahr zu sein – ach, ich muss
träumen. Doch dann dies edle, ehrliche Gesicht – die schrägen, geistreichen Augen – der wuchtige Schädel, wie könnten
diese Lippen, wie sollten sie … Nein, reich mir die Hand, du
Heimatloser. Vergib mir die Tränen. Seit sechzehn trostlosen
Jahren habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt, und nun …«
An dieser Stelle überwältigten ihn seine Gefühle, und er fiel
in Ohnmacht. Ich bemitleidete den Armen von ganzem Herzen. Ich vergoss ein paar Tränen über ihm und gab ihm einen
Kuss für seine Mutter. Dann nahm ich das Kleingeld, das er bei
sich trug, und machte mich aus dem Staub.
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Sacramento Daily Union
21. April 1866
Honolulu, März 1866
Heimkehr aus dem Gefängnis
Heute Abend bin ich wahrscheinlich der empfindlichste Mann
im ganzen Königreich – insbesondere, wenn ich offiziell gebeten werde, mich zu setzen. Ich bin seit fünf Uhr am Nachmittag fünfzehn bis zwanzig Meilen geritten, und, um die Wahrheit zu sagen, die Empfindlichkeit dauert an, selbst wenn ich
mich privat setze. Ich bin einer der schlechtesten Reiter auf Erden und steige nie in den Sattel ohne die düstere Vorahnung,
dass ich zu jener letzten unerforschlichen Reise auf breche, die
jeder von uns früher oder später antreten muss, und ich kehre
nie von einem Ausritt zurück, ohne noch zwei oder drei Tage
danach an meinen Allerwertesten denken zu müssen. Dieses
so überaus vertraute, andächtige Gefühl überkam mich, als ich
mich vor fünf Minuten hier niederließ.
Heute planten wir für halb fünf am Nachmittag einen Ausflug zum Diamond-Head-Krater und zum Königlichen Kokospalmenhain. Die Gesellschaft bestand aus sechs Herren
und drei Damen. Alle brachen zum verabredeten Zeitpunkt
auf, nur ich nicht. Ich hatte zuvor das staatliche Gefängnis besucht, und die Besichtigung war so interessant, dass ich nicht
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merkte, wie die Zeit verging. Als jemand sagte, es sei zwanzig
nach fünf, wachte ich auf. Glücklicherweise traf ich Kapitän
Phillips mit seiner »Equipage« – so nennt er eine Kutsche, die
Kapitän Cook 1778 hierherbrachte, und ein Pferd, das bereits
hier gewesen sein muss, als Kapitän Cook die Insel erreichte.
Kapitän Phillips ist zu Recht stolz auf seine Fahrkünste und
die Schnelligkeit seines Pferdes, und weil er beides so gern
zur Schau stellt, möchte ich erwähnen, dass wir nur sechzehn
Minuten vom Gefängnis bis zum American Hotel benötigten –
eine Strecke, die schätzungsweise mehr als eine halbe Meile
lang ist. Doch die Fahrt war schrecklich. Die Peitschenschläge
des Kapitäns kamen so rasch und wirbelten am Pferdefell so
viel Staub auf, dass wir die Hälfte des Weges durch undurchdringlichen Nebel fuhren und uns an einem Kompass orientieren mussten, den Kapitän Fish in Händen hielt. Fish war
seit sechsundzwanzig Jahren als Walfänger unterwegs und saß
während der ganzen gefährlichen Reise so selbstsicher da, als
befände er sich auf dem Achterdeck seines eigenen Schiffs.
Ab und zu sagte er ruhig: »Ruder backbord – backbord«, und:
»Lassen Sie sie ganz ruhig laufen – ruhig«, und: »Anluven –
hart an Steuerbord!«, und er verlor dabei nie die Beherrschung
oder verriet mit seiner Stimme oder seinem Verhalten die geringste Furcht. Als wir schließlich vor Anker gingen und Kapitän Phillips auf seine Uhr blickte, sagte er: »Sechzehn Minuten – ich hab’s ja gesagt, dass sie es schafft! Das sind über
drei Meilen die Stunde!« Ich merkte, dass er ein Kompliment
erwartete, und ich sagte, ich hätte noch nie einen Blitz gesehen, der so schnell gewesen sei wie dieses Pferd. Und das hatte
ich wirklich nicht.
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Das Ross »Oahu«
Der Besitzer des American Hotel sagte, die Gesellschaft sei bereits vor fast einer Stunde aufgebrochen, doch könne er mir
eines seiner Pferde anbieten, das sie leicht einholen werde.
Ich antwortete, meinetwegen, aber ich hätte lieber ein sicheres Pferd als ein schnelles – ich hätte gern ein überaus sanftes
Pferd – ein Pferd ganz ohne Eigensinn – am besten ein lahmes. Nach fünf Minuten saß ich im Sattel und war mit meiner Ausstattung vollkommen zufrieden. Ich hatte keine Zeit,
es mit den Worten »Dies ist ein Pferd« zu beschriften, konnte
es also nicht ändern, wenn jemand es für ein Schaf hielt. Ich
war zufrieden, und das war die Hauptsache. Ich konnte erkennen, dass es genauso viele hervorstechende Eigenschaften
hatte wie jedes andere Pferd, also hängte ich meinen Hut hinter dem Sattel an eine von ihnen, wischte mir den Schweiß
vom Gesicht und trabte los. Ich nannte es nach dieser Insel
»Oahu«. Als wir an einem Tor vorbeikamen, steuerte es darauf zu. Ich hatte weder Peitsche noch Sporen und besprach in
aller Ruhe die Sache mit ihm. Das Ross ließ sich nicht durch
Argumente überzeugen, doch auf Schläge und Beschimpfungen reagierte es schließlich. Es kam rückwärts aus dem Tor
heraus und strebte einem anderen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu. Meine vorherige Methode erwies sich erneut als erfolgreich. Auf den nächsten sechshundert Metern
überquerte es vierzehnmal die Straße und erkundete dreizehn Tore, während die brennende Tropensonne drohte, mir
das Hirn wegzuschmelzen, und ich buchstäblich triefte von
Schweiß, Schmutz und Schimpfwörtern. (Ich bin auch nur ein
Mensch und war sehr verärgert. Ich werde mich das nächste
Mal besser benehmen.) Danach gab mein Ross den Torlauf auf
und wurde recht friedlich, schien aber in Gedanken versunken.
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Als ich Letzteres bemerkte, überkamen mich rasch die bösesten Vorahnungen. Ich vermutete, dass dieses heimtückische
Tier gerade irgendeinen neuen Unsinn ausheckte, irgendeine
Teufelei (kein Pferd hat je über ein Thema so gründlich nachgedacht wie dieses über rein gar nichts). Je länger ich über diesen Umstand nachgrübelte, desto unruhiger wurde ich, bis mir
die Geduld riss und ich aus dem Sattel stieg, um nachzusehen,
ob das Pferd etwas Wildes im Blick hatte – denn ich hatte gehört, dass das Auge dieses edelsten aller Haustiere überaus ausdrucksvoll sei. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich war,
als ich feststellte, dass es nur schlief. Ich weckte es und ließ es
schneller traben, doch bald kam die angeborene Böswilligkeit
seines Wesens erneut zum Vorschein. Es versuchte, über eine
fünf bis sechs Fuß hohe Steinmauer zu klettern. Ich erkannte,
dass ich diesem Pferd nur mit Gewalt beikommen würde, und
dies besser früher als später. Ich brach eine stramme Gerte von
einer Tamarinde, bei deren Anblick das Ross sofort aufgab. Es
fiel in einen krampfartigen Galopp mit drei kurzen Schritten
und einem langen, der mich abwechselnd an das Rütteln und
Schütteln eines großen Erdbebens und an das heftige Schwanken der Ajax im Sturm erinnerte.
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