Kaya-Geschichte von Simone Bauer

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Kaya-Geschichte von Simone Bauer
Wie im Bilderbuch?
Tief in ihre Gedanken versunken, betrachtete Kaya das Bild. Sie war nicht besonders eitel –
wie auch, mit ihren dünnen Haarfransen? Aber Fotos angucken, das tat sie schon gerne. Sie
mochte es, sich Erinnerungen wieder in ihrem Kopf lebendig zu rufen.
Und speziell dieses Bild war gerade ihr Anker. Hier, in ihrem Meer aus Alltag – das
Restaurant ihrer Eltern, wie immer gut besucht. Sie hatte so viel erlebt in den letzten Jahren,
dass ihr ohnehin manchmal schwindelig wurde. Doch vor allem, seit sie und Chris zusammen
waren, war es wichtig, sich mal wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Revue
passieren zu lassen, zu sortieren … gut, manch andere täten das bestimmt nicht, während sie
gerade das Essen von Vater Harry austragen mussten.
Es war ja nicht das erste Mal, dass sie und Chris getrennt voneinander waren. Gerade im
Sommer hatte sie im Nobelort Kitzbühel einen Ferienjob beim „Stanglwirt“ bestritten. Da
hatte sie zwar nur für den schönen Chris geschwärmt, aber hart war es trotzdem gewesen!
Und jetzt, wo sie offiziell zusammen waren, fiel es ihr noch schwerer, nicht fast täglich in
seiner Nähe sein zu können. Was sie in Südafrika alles erlebt hatten, verband schließlich noch
mehr, als gemeinsam „Keinohrhasen“ mit Knabberzeug und Softdrink zu gucken! Doch Chris
war weiterhin auf Abenteuerreise und so musste sie es sich alleine mit Weihnachtstee, der
noch übrig geblieben war, gemütlich machen, und sich ihre Solozeit vertreiben mit ihren
Schularbeiten, ihren Besuche im Stall und ihren Aufgaben im elterlichen Betrieb.
Im Lokal „Zum Landsknecht“ hing im kleinen Eingangsbereich neben den Garderobenhaken
ein Schnappschuss von ihr und Sir Whitefoot. Genau wie die Urkunden ihrer Eltern war
dieses Bild in Gold gefasst und penibel gerade ausgerichtet.
Als Kaya Schritte hinter sich hörte, war sie sich fast sicher, dass es ihre Mutter Karin war, um
sie zu schelten, dass sie mal wieder träumte.
Doch stattdessen hörte sie eine Männerstimme: „Oh. Mein. Gott. Genau danach suche ich!“
Nach dem Goldrahmen? Unglaublich. Kaya drehte sich vage um und das Gesicht des Mannes
– er war kaum größer als sie – flog zwischen dem Bild und ihr hin und her.
„Das bist … du?“ Sofort bildete er mit seinen Händen ein Quadrant, durch das er Kaya
anblickte. Auf seinem schütteren Haupthaar zitterte eine Brille mit blauen Gläsern.
Die 16jährige starrte ihn verblüfft an: „Äh, ja?“
„Bist du Model?“, fragte er so begeistert, als hätte er gerade den Jackpot gewonnen.
„Nun …“, Kaya drehte sich unauffällig um, ob vielleicht nicht doch Heidi Klum hinter ihr
stand. Doch der Napoleon ließ nicht locker: „Schauspielerin? Tänzerin?“
„Ich bin Schülerin und reite manchmal auf Turnieren!“ Kaya lachte – was ihrem Gegenüber
noch mehr zu beeindrucken schien. Mit stolz geschwollener Brust erklärte er nun: „Ich bin
Fotograf!“
„Toll.“ Kaya nickte langsam. Und was wollte er vor ihr? Angeben konnte er sich sparen!
„Ich suche gerade noch ein Mädchen für meinen Bildband über Pferde, das im Frühsommer
beim Thienemann Verlag erscheinen soll!“ Er rieb sich tatsächlich die Hände.
Ein Pferdebuch? Bei einem so großen Verlag? „Wow. Das werde ich mir kaufen.“
„Nein, du bekommst es natürlich geschenkt! Wenn du dich ablichten lässt“, Zwergnase
grinste.
Kaya drückte ihre Hand gegen ihre Brust: „Ich? Wirklich?“
„Mein voller Ernst. Du und dein bezauberndes Pony! Wir sind ohnehin gerade in der Gegend,
um Fotos zu machen. Lass uns einen Termin für eine Session vereinbaren! Am besten am
Wochenende. Du wirst natürlich bezahlt. Oh, und wir haben ganz großartige Outfits –
traumhafte Flatterkleider … ich bin übrigens der Jürgen!“, er hielt ihr die Hand entgegen. Das
Mädchen schüttelte sie überrumpelt: „Kaya.“
„Was für ein Name! Bezaubernd wie die Trägerin!“ In der Brusttasche seines hellblauen
Hemdes suchte er nach seiner Visitenkarte: „Schreib mir eine E-Mail, wenn du darüber
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geschlafen hast, ja? Dann schicke ich dir das Exposé und alle weiteren Details. Du kannst
mich ebenso jederzeit anrufen … oder du schickst mir deine Handynummer, wie du möchtest!
Überlege es dir – nur nicht zu lange!“
„Das werde ich“, Kaya starrte auf die Visitenkarte.
Sie? Als Fotomodel in einem Bildband? Natürlich hatte sie Bilder wie das an der Wand des
Restaurants und sie wurde bei Turnieren abgelichtet … aber doch nicht in opulenten Kleidern!
Aber warum eigentlich nicht? Es würde sicher eine gute Ablenkung sein. Zumal ja auch die
Schule wieder begonnen hatte und das versetzte Kaya nicht unbedingt in freudige Erregung.
Sie konnte es mit einem Mal kaum erwarten, ihren Freundinnen bei Chips und Cola auf dem
Heuboden davon zu erzählen!
In der Nacht war an Schlaf nicht zu denken: Kaya starrte in die Dunkelheit vor ihrem Fenster,
ihr eigenes Zimmer selbst nur von einem Lämpchen erleuchtet. Wobei, so dunkel war es nicht
– der Schnee sorgte für etwas Licht und vor allem für Freude bei Kaya. Es war so schön, den
flaumigen Flocken beim Fallen zuzusehen.
Es wäre nur wesentlich schöner, wäre Chris bei ihr. Mit ihm Plätzchen essen, Ausritte
machen, Schneeflocken mit der Zunge aufzufangen … das war gerade nicht bei Chris an der
Tagesordnung. Sie bewunderte, was er für Daktari tat, also für das Camp, für das er als
Volunteer Tiere aufpäppelte, und als sie vor Ort gewesen war, hätte sie schon alleine für die
Umgebung ihr ganzes Leben in Deutschland aufgegeben.
Ihre Freundin Minka hatte dazu aber bei ihrem Wiedersehen nur den Finger gehoben: „Glaub
ja nicht, dass du jetzt nicht mehr dein eigener Mensch bist, nur, weil du Chris hast! Bleib bitte
so frei wie der Wind, Kaya. Anders kennen wir dich nämlich nicht!“
Und Minka hatte natürlich recht. Aber das war alles ein bisschen schwierig, wenn der Freund,
den man seit Jahren über alles liebte, am anderen Ende der Weltkugel saß.
Vielleicht wurde Kaya jetzt berühmt? Noch beliebter als Sänger Lin Aston? Von Sir
Whitefoot würde man sogar Kuscheltiere produzieren und womöglich gar Kosmetikprodukte
mit ihrer beider Gesichter drauf?
Verträumt ließ sie sich in ihr Kissen fallen. Ein Auftrag würde den nächsten jagen und prompt
hatte sie genug Geld, Chris noch ein zweites Mal zu besuchen. Sie würde mit ihm zusammen
heimfliegen, sich die absurdesten Filme im Boardprogramm reinziehen, und dann gemeinsam
über das schlechte Flugzeugessen herziehen.
Es war nicht der Gedanke über das Berühmtsein, über dem sie einschlief, sondern natürlich
über dem mentalen Bild von ihr in einer Umarmung mit Chris, lächelnd küssend, nicht mehr
getrennt von einem riesigen Meer. Ihrem tatsächlichen großen Wunsch.
„Ich finde das nicht so toll“, Chris Waldmann zog eine Schnute.
„Aber warum denn nicht?“, fragte Kaya die Kamera ihres Computerbildschirms, als sie am
nächsten Abend endlich die Gelegenheit hatte, mit Chris einen Videochat abzuhalten. Zum
Glück war der Zeitunterschied nicht so schlimm, dafür das Internet stets wackelig.
„Weil dich dann ganz, ganz viele fremde Leute angucken können. Immer und überall.“
Empörung spiegelte sich in seiner Stimme.
„Das können sie doch genauso in der Fußgängerzone“, Kaya runzelte die Stirn. „Bist du etwa
eifersüchtig?“
„Ich? Ach. Nein, ich weiß, dass du mir total verfallen bist“, der 18jährige wog seine
Augenbrauen auf und ab. Kaya prustete los vor Lachen. Doch insgeheim war sie vor allem
froh, dass Chris ähnlich vom Kobold Eifersucht gebissen worden war wie sie.
Vor allem, wenn man ihre Komplexe bedachte, die Kaya ohnehin schon hatte. Wenn man
aufwuchs mit einer großen Schwester wie Alexa, die alle guten Attribute von der Mutter
geerbt hatte, konnte man nicht anders, als sich ständig als hässliches Entlein in der Familie zu
sehen. Und Kaya hatte doch die Frauen in Chris‘ Umgebung gesehen! Sexy Kurven,
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wahnsinniges Haar, große Augen … Stichwort: die äußerst bildhübschen und äußerst
langbeinigen Australierin Jeanette!
Sie vertraute ihm, aber wenn er doch plötzlich erkannte, wie viel hübscher diese Mädels
waren, konnte sie ja auch schlecht etwas dagegen von Deutschland aus tun! Dass man sie für
einen Bildband in Betracht zog, war also mehr als nur schmeichelhaft.
Gleichwohl glaubte sie bestimmt daran, dass jemand, der den anderen während einer Zeit im
Ausland betrog, egal, ob im Ausland oder daheim, die andere Person nie geliebt hatte. Doch
in ihrem Kopf konnte sie sich alle schlimmen Fiaskos gleichzeitig ausmalen und sich selbst so
sehr aufrühren, dass sie gar nicht mehr wusste, woran sie glaubte.
„Ich denk an dich“, gab Kaya bekannt, als Chris zwanzig Minuten später auflegen musste.
Zum Glück hatte dieses sterile, weil keine Berührung möglichmachende Videochatten bald
ein Ende – zumindest behauptete Chris, seine Zeit in Johannesburg nicht unnötig verlängern
zu wollen.
„Ich auch an dich“, Chris lächelte. Kaya konnte sich nicht verkneifen, einen Luftkuss in die
Kamera zu pusten, den Chris auffing. Kaum war der Bildschirm dunkel, schloss Kaya das
Programm und schrieb Jürgen eine E-Mail.
„Unsere Kleine in einem Bildband!“, Harald lächelte stolz.
Kaya fragte sich, warum Chris nicht mit so einer Zufriedenheit hatte reagieren können.
Vielleicht kam das noch von früher, als sie ihn bei Turnieren geschlagen hatte? War er gar
beleidigt, weil ihn niemand beim Füttern der Tiere fotografierte? Doch Kaya verdrängte das
schnell. Er freute sich sicher irgendwo unter seiner Eifersucht.
Karin, die für ihre 43 Jahre immer noch aussah wie eine leicht ältere Schwester von Kaya,
strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht: „Ja, geht das so einfach, in deinem Alter?“
„Na, eben nicht! Deswegen müsst ihr ja dieses Dokument unterzeichnen!“, Kaya schob es
ihrer Mutter abermals zu, die das Stück Papier zur Seite geschoben hatte, um eine
Salatschüssel zu positionieren.
„Ich würde das ja nicht machen“, gab Alexa bekannt und rümpfte die Nase. „Die behaupten,
einen weiß wie ästhetischen Bildband zu machen, aber am Ende verlangen sie dann, dass man
ihnen fünfzig Stück für je fünfzig Euro abnimmt!“
Am liebsten hätte Kaya spitz gefragt, ob sie damit schon Erfahrung gemacht hätte, aber sie
verbiss sich diese Tonart.
Manchmal war es wirklich schwer, eine vier Jahre ältere Schwester wie Alexa zu haben. Vor
allem, wenn man bedachte, wie Chris vor drei Jahren noch scheinbar auf sie abgefahren war!
Früher war sie dennoch mehr ein Vorbild gewesen. Inzwischen fühlten sich aber schon
Trostreaktionen von ihr an wie kleine Teufelchenheugabeln.
„Ach, Quatsch, Alexa, ich kenne diesen Namen!“
Auf Karin richteten sich nun drei verwirrte Augenpaare.
„Dieser Fotograf hat ein wirklich toll illustriertes Modebuch heraus gebraucht! Mit vielen
schönen Wallekleider! Und der Verlag ist sowieso absoluter Kult, ihr habt früher viele Bücher
aus diesem Haus gelesen!“ Karin spiegelte die Verwirrung ihrer Familie – weil diese Jürgens
Buch offensichtlich nicht kannten. So wurde also das Bücherregal im Wohnzimmer beachtet
… nämlich gar nicht.
„Mama, du schwärmst ja richtig“, meinte Kaya erstaunt. Harald schluckte: „Du willst aber
kein solches Wallekleid, oder?“
„Quark, das wäre doch sehr unpraktisch!“ Karin hielt sich die Hände gegen die Wangen, um
sich wieder abzukühlen. „Jedenfalls habe ich eine Dokumentation über ihn gesehen! Jürgen
und sein Team sind absolut seriös!“
„Wenn er sonst Modebilder macht, hoffe ich, dass er Ahnung von Pferden hat“, murmelte
Kaya kleinlaut.
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„Na, dafür bist ja du jetzt am Start!“, grinste Harald und schob sich eine Gabel voller Nudeln
in den Mund, „Ich hoffe nur, dass du dich nicht erkältest!“
„Eine Indianerin kennt keinen Schmerz!“, winkte Karin ab, bevor Kaya etwas sagen konnte.
Sie wirkte richtig aufgeregt.
„Also soll ich es machen?“ Kaya fragte das genau rechtzeitig, als ihre Mutter nach ihrem
Kugelschreiber fasste, um ihre Einwilligung zur Verschriftlichung zu bringen. Die Rechte
waren schnell geprüft – es war ein einwandfreies Standartformular.
„Äh, hast du nicht gerade gesagt, du willst es unbedingt machen?“ Alexa zog die
Augenbrauen hoch. Wie lange konnte sich das Gespräch denn noch um ihre Schwester
drehen, sie wollte unbedingt noch in die Runde werfen, ob sie einen Zuschuss für die neuen
Turnschuhe bekam, die sie wollte.
„Du hast gesagt, sie soll es nicht machen“, korrigierte Harald seine Tochter mampfend.
„Wie auch immer“, Kaya schluckte, „Ein wenig unsicher bin mir schon. Ich war noch nie vor
einer professionellen Linse und wenn Mama sagt, dass er so tierisch gut ist, habe ich noch
mehr Selbstzweifel!“
„Selbstzweifel?“, fragte ihre Mutter besorgt. „Kaya, du darfst dich nicht wegen so etwas fertig
machen! Wenn das eine Wochenende dir so viel Bauchweh bereitet, dann sag ihm doch ab –
noch ist nichts unterschrieben. Und selbst wenn! Du musst glücklich sein mit deinen
Entscheidungen.“
Kaya nickte schnell: „Ich weiß. Und es klingt ja nach Spaß und ich fühle mich sehr
geschmeichelt! Ich weiß nur eben nicht, ob ich das kann. Vor einer Kamera stehen, mit dem
Pony …“
Karin strich Kaya eine Strähne aus dem Gesicht. „Du kannst alles, Kaya.“
Kaya lächelte: „Danke. Danke euch allen!“
„Klar doch“, Harald grinste, „Wir sind dein Fanclub!“
Während er sich noch den Mund abwischte und Karin unterschrieb, wartete Alexa eine
Anstandssekunde, bis sie sagte: „So, aber jetzt zu meinen Turnschuhen!“
Der Einzige, der noch nichts von seinem Glück wusste, war Sir Whitefoot. Also erzählte Kaya
ihm von den Plänen beim Striegeln in der Stallgasse. Er schnaubte zustimmend.
„Na, ein bisschen mehr freuen könntest du dich schon“, Kaya knuffte das Pony
freundschaftlich.
Aber nach dem er sein Einverständnis gegeben hatte, war es an der Zeit, Jürgen selbst zu
informieren! Also suchte Kaya nach ihrem Handy.
„Oh, eine Nachricht von Chris!“ Und schon schlug ihr Herz schneller. Würde sich das je
ändern?
„Ich bin ein guter Praktikant und mache Überstunden! Wird heute leider nichts mit
Videochat!“ Der traurige Smiley traf Kaya mitten in die Brust. Theatralisch taumelte sie
gegen die Tür der nächsten Box. Das Holz, aus dem diese bestand, war zum Glück nicht
besonders hart, sondern etwas in die Jahre gekommen.
Sir Whitefoot guckte sie mitleidig an.
Und auf ihr an ihn verfasstes Herz kam: Nichts. Gähnende Leere.
„Denk nicht, ich wäre übertrieben melodramatisch … aber … es ist nicht das erste Mal, dass
er mir absagt“, flüsterte Kaya. Es tat schon immer gut, Sir Whitefoot einzuweihen, wie sie
fühlte. Sie fasste sich, legte das Handy weg und wieder den Striegel in ihre Hand. Das
Putzgerät war ihr Vorwand, noch näher als nötig an ihr Pony zu treten. Sie saugte den
beruhigenden Pferdegeruch auf.
„Hoffentlich arbeitet er wirklich länger und hat kein Date.“ Sir Whitefoots Mitleid riss nicht
ab. Vor allem, weil Kaya einen Flashback auf eine gewisse brasilianische Reiterin hatte …
„Ja, ich weiß, dass er mir das nie antun würde. Aber …“
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Plötzlich war es Jürgen, der von selbst bei Kaya anrief. Die junge Frau ließ vor Schreck ihren
Striegel fallen. Natürlich war ihr erster Gedanke, dass es doch Chris war, der plötzlich kein
guter Praktikant mehr sein wollte.
„Hallo Frau Kaya! Ich wollte nur kurz nachfragen, ob meine E-Mail gut angekommen ist?
Gerade shooten wir einen schwarzen, feurigen Andalusier – genau das Gegenteil von deinem
Pony! Und bei diesem Wetter sowieso ein fabelhafter Kontrast!“ Ein wenig rauschte es in der
Leitung, als stünde er gerade auf einem Berg.
Tat er vermutlich auch, einen unbeschreiblichen Ausblick im Hintergrund, ein noch
unbeschreiblicheres Model vor der Kamera …
„Oh, und deswegen soll ich die E-Mail vergessen?“ Kayas Stimmung sank noch mehr. Erst
die Absage von Chris, jetzt eine von Jürgen?
„Was? Nicht doch! Darum genau geht es mir letztlich – alle Arten von Landschaften, Pferde,
Models, Kleidern … verschiedene Themen! Umso mehr interessiert mich, ob du eine Antwort
für mich hast?“
Puh, das klang schon besser. „Ja! Also, ja – die Antwort ist ja!“
Kaya grinste wie bescheuert, aber das sah er zum Glück nicht: „Meine Mutter hat gestern
Abend unterschrieben und Sir Whitefoot wäre ebenfalls sehr gerne dabei!“
„Na, wunderbar! Dann hoffe ich, du gönnst dir heute Abend etwas Schönheitsschlaf – morgen
geht es früh los! Alle Details mailt dir meine Assistentin Inga, okay?“, rief Jürgen begeistert.
„Okay!“ Kaya legte auf und streckte Sir Whitefoot ihre Hand hin: „High Five!“
Das Pony guckte sie nur müde an und schnaubte.
Kaya umarmte ihn wieder besser gelaunt: „Das zählt auch!“
Nach ihrem Ausritt wälzte Kaya statt Schulbücher ihre Sammlung Pferdemagazine. Die
Hausaufgaben waren vorm Wochenende glücklicherweise gemäßigt angefallen und waren
schnell erledigt gewesen. Dem Bücherregal im Wohnzimmer hatte sie ebenso einen Besuch
abgestattet und sich Jürgens Bildband ausgeliehen.
Karin hatte recht gehabt, wie immer – seine Bilder waren wunderschön. Manchmal streckten
sie sich über zwei Seiten mit zahlreichen Details und den schönsten Farben. Jürgen hatte
wirklich ein Auge – warum er das ausgerechnet für Kaya hatte, war ihr nicht klar, aber es
freute sie natürlich.
Sie versuchte, das Mädchen mit dem wehenden Haar nachzustellen, das Regenschirmhaltend
auf einer Klippe stand und ein blaues Taftkleid präsentierte. Dieser sehnsüchtige
Gesichtsausdruck nach der Luft, den Wolken … ein Augenaufschlag wie der Himmel selbst!
Kayas Augenaufschlag hingegen sah aus, als wäre ihr eine kleine Fruchtfliege gegen die
Wimpern geflogen. Sie seufzte.
Danach stand sie vor dem Spiegel, sich eine Pferdezeitschrift neben das Gesicht haltend, und
ahmte das Lächeln des Models nach.
Erfolglos.
„Kaya, du kannst nicht mal eine Zahnpasta verkaufen, geschweige denn high fashion!“,
machte Kaya sich selbst fertig. Und auch, wenn es bei diesem Projekt um die Pferde gehen
sollte, so sollte das Beiwerk doch auch etwas ausdrücken. Etwas mehr als völlige Verwirrung.
Ihr wurde klar, dass das keine Karriere für sie war.
Kaya wünschte, sie könnte Chris nach seiner Meinung fragen. Für einen Moment überlegte
sie, ihm nicht nur Scans von Jürgens Werken zu schicken, sondern gleichfalls dämliche Fotos
von ihren kläglichen Imitationen.
Doch dieser hatte ein Päuschen am Abend genutzt, um ihr eine E-Mail zu schreiben. Er spiele
schon länger mit dem Gedanken, seine Zeit im Wildpark zu verlängern. Lob bekäme er von
allen Seiten und vor allem die verwaisten Kindern wären ihm so ans Herz gewachsen – und er
ihnen! -, dass er sich gar nicht vorstellen könne, sie alleine zu lassen.
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Schön, dass er dieses Gedankenspiel nie mit ihr geteilt hatte! Kaya hatte wirklich gedacht, sie
hätten eine ehrliche, erwachsene Beziehung, in der man sich alles sagte …
Natürlich blockierte sie das! Wie denn auch nicht? Und es beschäftigte sie seit der
Nachrichtenankunft ununterbrochen.
Kaya ließ die Zeitschrift sinken und sich selbst aufs Bett. Sie dachte daran zurück, wie Chris
und sie sich erstmals angenähert hatten, als sie das Fohlen Amicello bei seinem Weg in die
Welt geholfen hatten … war ihm das denn gar nichts mehr wert? All diese Erinnerungen, vor
allem ihre gemeinsame Zeit in Afrika, als sie ihre Beziehung besiegelten …
Und schon begannen die dicksten Krokodiltränen, die ihre Drüse zu bieten hatten, ihre
Wangen hinunter zu rollen.
In diesem Moment riss Alexa, ohne zu klopfen, die Tür auf: „Hey! Was sagst du zu meinen
neuen Turnschuhen?“
Das Protzen verging ihr allerdings sofort, als sie merkte, dass Kaya weinte.
„Oh nein, nicht schon wieder“, Alexa hatte doch gerade erst Tränen trocknen müssen, als
Kaya erfahren hatte, dass Chris für drei Monate nach Afrika gehen wollte! Andererseits war
ihr natürlich klar, wie schwer es war, wenn der feste Freund zum Brieffreund mutierte. Auf
den weichen Sohlen ihrer schönen, neuen Turnschuhen kam sie schnell auf Kaya zu, um sich
neben sie aufs Bett zu setzen.
„Chris will vielleicht im Camp bleiben und ich kann nicht posen!“, heulte Kaya.
„Für wie lange?“, fragte Alexa sichtlich leicht besorgt. „Also, nicht, wie lange du schon nicht
posen kannst. Das kann ich mir schon selbst denken. Wie lange er noch wegbleiben will.“
„Das weiß ich nicht. Aber wenn es ihm weiter so gut gefällt, kommt er vielleicht nie wieder
zurück!“, übertrieb Kaya.
„Erzähl‘ nicht so etwas Albernes. Er hat hier ebenso seine Verpflichtungen und er wird nicht
kurzerhand auswandern“, Alexa machte eine wegwerfende Handbewegung.
Kaya heulte auf: „Du nennst mich eine Verpflichtung!“
„Nein! Wobei, doch. Ihn hält hier sehr viel, in erster Linie du. Aber gleichzeitig muss er für
sich selbst noch ein paar Sachen aus seiner Auslandserfahrung gewinnen.“ Alexa zuckte ein
wenig hilflos mit den Schultern. Ihre schönen Haare schwappten dabei zu allen Seiten und
verströmten einen Duft, der Kaya sehr beruhigte. Dennoch – die Tränen liefen noch immer
und kein Ende war in Sicht.
„Ich verstehe Chris ja, dass er länger dort bleiben will!“ Kaya schluchzte, überwältigt von
ihren eigenen Gefühlen. „Ich hab es ja selbst gesehen – die vielfältige Tierwelt, die du hier
natürlich nicht hast, die weißen Sandstrände mit ihren geheimnisvollen Buchten, unberührte
Wälder … das ist halt schöner als hier!“
„Ja, ja, ich weiß, dass du dort warst, ich hab deine Bilder gesehen“, Alexa verdrehte die
Augen, „Kaya, du und sein Praktikumsort sind zwei verschiedene Paar neuer Turnschuhe!
Beides ist großartig, aber anders zu beurteilen. Auch, wenn er gerade sein Praktikum vorzieht,
so heißt es doch nicht gleich, dass er dich weniger liebt! Andererseits, wenn du denkst, dass
eure Beziehung darunter leiden wird, dann musst du es klipp und klar sagen! Und dich
notfalls von ihm trennen!“
„Das könnte ich nie!“, jammerte Kaya und boxte frustriert in ihr Kissen.
„Dann musst du das aushalten. Eine gute Beziehung – eine gute Liebe! – verkraftet so eine
Distanz!“, erklärte Alexa, „So einfach ist das! Wenn du ihn jetzt unterstützt, wird er dich in
einer schweren Zeit unterstützen!“
„Aber er unterstützt mich gerade ganz und gar nicht“, schmollte Kaya hinter ihrem
körpereigenen Wasserfall.
„Weil es keine schwere oder herausfordernde Zeit ist. Es sind gerade mal zwei Tage, die du
für Jürgen arbeitest. Und es ist das leichteste auf der Welt, was du da tust“, Alexa musste fast
lachen ob Kayas Problemchen.
„Leicht? Ich finde es gerade sehr schwer“, knurrte Kaya, wütend auf ihr Posing.
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„Fühl dich einfach wohl in deinem Körper. Spiel mit deinen Gesichtszügen!“ Alexa begann
zur Verdeutlichung ihr Haar zu werfen, umwerfend zu lächeln.
„Bei dir sieht das alles so natürlich aus!“ Kaya wischte sich über die nassen Augen.
„Weil ich natürlich bin! Wenn du nicht authentisch bist, kauft dir niemand ab, was du
darstellen willst. Also sei locker und hab keine Angst.“ Alexa zwinkerte.
Sie stand auf: „Und im Zweifel guckst du nachdenklich – das kommt immer gut! Eigentlich
kannst du mit keiner Emotion etwas verkehrt machen. Traurig ist auch super. Und als Model
sogar gelangweilt!“
„Danke, Alexa!“ Kaya schniefte ein letztes Mal. „Wirklich!“
„Kein Problem.“ Alexa überlegte kurz. „Und denk dran: Jürgen sieht etwas Besonderes in dir.
So wie Chris, nur anders. Ich seh‘ eine Schwester ... so dich jeder, wie er nur kann. Du musst
jedoch dich sehen, Kaya.“
„Du kannst das schon so gut wie Mama“, Kaya war ganz erstaunt, welche geheimen Talente –
und welche Weisheit! – Alexa verbarg.
„Ich habe eben ein gutes Vorbild“, Alexa lachte. „Und schöne Schuhe!“
„Sehr schön!“, lobte nun Kaya und brachte damit Alexas Strahleaugen noch mehr zum
Leuchten.
„Danke! Und jetzt ruh‘ dich aus!“, verordnete ihre große Schwester.
„Ich werde mich lieber noch etwas vorbereiten!“, erklärte Kaya mit einem Fleiß, den sie nur
beim Reiten, aber meistens nicht bei ihren Schularbeiten hatte – und Jürgens Rat zum
Schönheitsschlaf komplett vergessend. Zwei Wecker hatte sie sogar schon gestellt!
„Viel Erfolg“, Alexa lächelte und schwebte auf ihren neuen Turnschuhen von dannen.
Kaya wandte sich noch einmal ihrem Recherchematerial zu, doch mit einem Mal war sie
müde. Durch ihre Tränen fühlte sie sich leer und einsam und so zog sie in einem letzten,
wachen Akt ihre Decken über sich zusammen.
In ihr Bett gekuschelt, träumte sie von ihrem Kater, der abwechselnd auf den Pferden Castello
und Steiner ritt, während Chris seine Koffer neben der afrikanischen Pferdewiese auftürmte.
Bereit, nach Hause zu kommen.
Am nächsten Morgen klingelten beide Wecker Kaya unwiderruflich wach – und in ihrem
Kopf eine Weile weiter. Sie war so müde, dass sie auf dem Weg zum Reitstall sogar eine
Flasche Cola köpfte.
Jürgen war mit seiner Kolonne heute genau dort stationiert, um es für Kaya und vor allem ihr
Pony leichter zu machen. Das war deswegen möglich, weil er seinem Tross einen Kleinbus
und ein Wohnmobil gemietet hatte. Das Wohnmobil fungierte primär als rollende
Kleiderkammer mit Make-Up-Spiegel, gefahren von Jürgens quirliger Assistentin Inga, die
sich sonst um die richtigen Lichtverhältnisse kümmern sollte und die Technik im Griff haben
musste.
Kaya konnte vor Müdigkeit kaum aus den Augen herausgucken, doch Inga war bei ihrer
Vorstellung schon aufgedreht wie ein Duracellhäschen. Sie hatte feuerrote Locken und
unzählige Sommersprossen, die zu ihrem dunkelblauen Kleid mit Polkapünktchen passten.
Wenn Kaya sich so das Mädchen betrachtete, das kleiner war als sie und kaum älter, hätte sie
ihr den kostbaren Wohnwagen wohl nicht anvertraut.
Jürgen steuerte den Kleinbus von Shootingort zu Shootingort. Abwechselnd saß auch Mikako
hinterm Steuer. Die zierliche Asiatin, deren Haar zu einem kurzen, messerscharfen Bob
geschnitten war, wurde meistens „Miki“ gerufen und war alles andere als zerbrechlich. Ihr
hätte Kaya jederzeit zehn Wohnwägen anvertraut. Sie trug einen gemütlichen Sweater, wie
Kaya es beim Reiten auch tat, dazu einen großen Schal mit Sternchenmuster.
Mikako war die Stylistin, die Kaya nicht nur am Morgen herrichten sollte, sondern auch für
den Rest der beiden Tage auf Schritt und Tritt dabei war, sofern möglich, um die Stoffbahnen
richtig auszurichten und jegliche Make-Up-Krümel sofort zu beseitigen.
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Bei aller Müdigkeit und der Aufregung darüber, Jürgens nettes Team kennenzulernen, so lag
doch bereits ein Schatten über dem Tag, der ein sonniger im Januar werden sollte.
Denn heute Morgen hatte Chris sich plötzlich gemeldet, dass er sich extra den Vormittag
freigeschaufelt hatte zum Reden!
War das denn zu fassen? Noch vor wenigen Stunden hätte Kaya alles stehen und liegen
gelassen, um ihre Gedankenwelt mit Chris zu teilen, doch sie war nicht nur gewillt, das Beste
aus den Shootingtagen zu machen, sondern vor allem, nicht für Chris alles stehen und liegen
zu lassen, nur, weil es ihm auf einmal in dem Kram passte. Ja, er war der mit der deutlich
anspruchsvolleren Arbeit – vor allem jeden Tag -, aber auch sie hatte Dinge zu tun.
Gleichzeitig vermisste sie ihn unter all diesem Trotz. Sie sagte sich jedoch, dass sie stark sein
musste. Denn bislang hatte er schon seit längerer Zeit kein einziges Mal adressiert, ob er sie
genauso überhaupt vermisste.
Sie sprach sich gut zu, obwohl ihr schon wieder zum Heulen zu Mute war – „Kaya, sei
erwachsen!“
Das Mädchen beschloss, diese Tage wie ein Profi zu meistern. Ein Profi ohne Liebeskummer
oder Beziehungsängsten! Immerhin bekam sie ja sogar Geld dafür. Nicht besonders viel – und
sie hatte schon zuvor eigenes Geld verdient -, aber schleifen lassen durfte sie ihre Aufgabe
heute trotzdem nicht.
Und weinen durfte sie jetzt sowieso nicht mehr, sobald Miki Hand anlegte.
Währenddessen stapfte Jürgen schon durchs Unterholz, um seine Kamera einzustellen. Kaya
hatte zwar vermutet, dass Inga ihm folgte, egal, ob er sie brauchte oder nicht, stattdessen saß
sie neben ihr im Wohnwagen. Während Miki Kaya schminkte, schminkte Inga sich selbst.
Gut, hier war es natürlich wärmer aus draußen.
„Und du bist eine von denen, die reiten können, ja?“, plauderte Inga drauf los, sich die Lippen
mit glossigem Zeug vollschmierend.
Kaya nickte. Sie konnte Inga dabei nicht ansehen, weil sie Angst hatte, Mikako würde ihr
gleich das Auge mit ihrem Kajalstift ausstechen.
„Dressur oder Englisch?“, wollte Inga wissen. Kaya hätte gerne eine Augenbraue gehoben,
konnte aber nicht: „Wie meinst du das?“
„Na, von den Reitarten! Machst du das mit diesen ‚patterns‘?“, fragte Inga, beschließend, dass
ihre Lippen genug glänzten.
„Dressur ist Englisch. Das andere ist Western“, meinte Kaya langsam, sich daran gewöhnend,
Miki so nah vor ihrem Gesicht zu haben.
„Ah! Das, was Cora Schumacher macht, also!“, rief Inga erfreut aus.
„Was heißt eigentlich ‚Mikako‘?“, wollte Kaya stattdessen von ihrer Visagistin wissen, Ingas
Einwürfe ignorierend. Immerhin war das Corinna Schumacher, aber sie gönnte Inga ihr
scheinbares Erfolgserlebnis.
„Kind des Neumondes“, erklärte Mikako, „Ich hab aber keine Ahnung, wann ich geboren
wurde.“
Sie lachte mit vorgehaltener Hand, dann streckte sie diese nach einem Töpfchen Lidschatten
aus. Die Japanerin fragte im Gegenzug: „Was heißt ‚Kaya‘?“
„Kriegerin“, erläuterte Kaya, fast ein wenig stolz.
„Oh, das ist ja cool!“, staunte Inga, „Inga ist germanisch für Göttin!“
„Schön“, sprach Kaya ihr aufmunternd zu, als Miki ebenfalls dazu übergegangen war, die
Rothaarige zu ignorieren. Allerdings musste die sich ohnehin auf ihre Schminkpinsel
konzentrieren. Während dieser um Kayas Augen schwang, meinte Miki: „Stark wie eine
Kriegerin solltest du bei den Temperaturen sowieso sein!“
„Warum shootet ihr auch im Winter?“, gab Kaya frech zurück.
„Du, wir haben in jeder Jahreszeit bislang geshootet. Und ebenso jede Art von Pferd und
Model! Diese Vielfalt ist Jürgen wahnsinnig wichtig“, erklärte Miki – und nicht Inga. Wäre
das nicht Ingas Job gewesen, sie aufzuklären?
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Andererseits hatte Miki als Designerin vieler Kleider durchaus am Konzept mitgearbeitet.
„Am Anfang war es übrigens noch nicht so, dass er Models jeder Größe und jeden Alters
gewählt hat. Das war meine Idee. Jürgen hat zugestimmt, als er gemerkt hat, dass ganz viele
unserer ersten Protagonistinnen nicht reiten konnten!“, lachte Mikako, „Daher sind wir in die
Ställe gefahren und haben überall ‚gescoutet‘, also nach passenden Mädchen geguckt.“
„Ich wäre da nie im Leben drauf gekommen!“, gab Inga ihren Senf dazu.
„Als er dich getroffen hat, hat er mich danach sofort außer sich vor Freude angerufen. Und er
hat recht – du bist ein Sechser im Lotto! Ein neues, unverbrauchtes Gesicht – und erfahren mit
dem Tier, das dir auch noch gehört … er hofft, diese Verbindung zwischen euch
verdeutlichen zu können, so wie auf dem Schnappschuss, den er mit seinem Handy
fotografiert hat und mir sofort geschickt hat“, erzählte Mikako ungerührt weiter.
„Alles ging so schnell, ich kann es noch gar nicht richtig fassen …“, murmelte Kaya. Hatte sie
je Sorge gehabt, sich ohne Chris in Deutschland zu langweiligen – das tat sie gerade definitiv
nicht. Aber natürlich gleichfalls, weil er ihre emotionale Welt ebenfalls auf Trapp hielt.
Und so frisch, wie das Team meinte, war sie nun wirklich nicht. Hoffentlich merkte keiner,
dass sie geweint hatte. Zumindest sah man Mikako so eine Erkenntnis nicht an – und das
Make-Up würde nachher genug verdecken.
„Was hältst du von Acrylnägeln?“, fuhr Inga wieder dazwischen, sich eine Haarsträhne über
den Finger aufwickelnd. Ihre eigenen funkelten wie ein Christbaum.
„Äh“, Kaya hielt nicht besonders viel davon und Mikako, deren Fingernägel noch kürzer
gefeilt waren, augenscheinlich genauso nicht.
„Ich könnte dir flugs welche machen!“, eifrig griff Inga nach ihrer Handtasche.
„Aber ich habe nachher Handschuhe an!“, begann Kaya, zu protestieren.
„Du trägst eh fingerlose Handschuhe aus Seide!“, Inga machte eine wegwerfende
Handbewegung und packte gefährlich aussehende Flüssigkeiten aus. Warum sie die wohl mit
sich herumtrug?
Resolut fuhr Miki dazwischen: „So, Schluss jetzt – ich packe Kaya jetzt in Chiffon und du
suchst bitte Jürgen. Wir können dann anfangen.“
Als Kaya endlich so gut wie bereit war, wunderte sie sich, wie viele Make-Up-Schichten auf
ein Gesicht passten. Concealer, Highlighter, Make-Up, dort Puder, da Rouge … keine
Reiterin schminkte sich im echten Leben ansatzweise so! Andererseits – bei der letzten
Frauen-WM hatten einige zum auffälligen Lidschatten gegriffen, vielleicht interpretierte jeder
die Praktikabilität von Schminke beim Sport anders?
Okay, es waren ja auch ästhetische Bilder – fantasievolle Kleidung, traumhafte Landschaft,
schöne, stolze Tiere – da sollte auf den edlen Kleidern keine Schweißflecken auftauchen und
die Haare sich nicht kringeln.
Wobei Kaya vermutlich sowieso keine Möglichkeit hatte, zu schwitzen. Immerhin glitzerte
um sie herum der Schnee!
Sie starrte ihre Reflexion im beleuchteten Schminkspiegel an, während Mikako sie mit
erfahrenen Griffen umzog. Das erste Kleid war unfassbar aufwendig – aber vergaß man, wie
viel unter der Aufmachung steckte, wie viele Lagen an Stoff und Make-Up und Haarspray,
sah Kaya aus wie Cinderella. Wie die Cinderella aus dem Zeichentrickfilm. Also, verwandelt,
natürlich nicht mehr Aschenputtel selbst. Wie eine Prinzessin.
Die Schülerin staunte nicht schlecht. Hatte sie sich schon mal heimlich überlegt, wie sie zum
Abschlussball mit Chris gehen wollte – auf so etwas wäre sie in ihren kühnsten Träumen nicht
gekommen!
Also, falls sie überhaupt mit Chris gehen konnte, wenn er nicht für immer in Afrika blieb …
Kaya atmete tief durch und fokussierte sich wieder auf ihr Ziel, bevor sie zu ihrer Traurigkeit
abschweifte. Gut, dass sie mit diesem Kleid und all seinen Glitzersteinchen zunächst einmal
nicht reiten musste. Aber würde Sir Whitefoot sie überhaupt damit erkennen?
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Ein Glück, dass ihre Füße in warmen, gefütterten Reitstiefeln steckten – denn diese sah man
unter all den Röcken nicht. Später würde sie einen Fuß vielleicht auf einen Felsvorsprung
abstellen müssen – dafür zeigte ihr Mikako ein Paar scheinbar gläserner Schuhe: „Du musst
nur einen tragen, ja?“
„Kling gut“, grinste Kaya. So verlor sie vielleicht vor lauter Kälte nur an einem Fuß einen
Zeh, anstatt mehrere.
Zum Abschluss zog Mikako ihr eine dunkle, übergroße Daunenjacke an, damit sie auf dem
Weg zur Location nicht erfror: „Fertig!“
Draußen war die Sonne schon richtig schön warm und am Strahlen. Der Schnee reflektierte
sie wider und funkelte mit Kayas Kleid um die Wette.
Kaya war froh, dass der Make-Up-Wohnwagen nahe der Koppel geparkt war. So kamen ihr
nur vereinzelt Spaziergänger entgegen, die ihre Aufmachung schief ansahen. Wer wusste
schon, was da auf dem selbst Gestüt losgewesen wäre!
Nahe dem Abschnitt der Weide, wo Sir Whitefoot in seinem winterlichen Futtertrog graste,
hatte Jürgen ein abgeschiedenes Bächlein entdeckt, das genau den Feenzauber hatte, den er
suchte.
„Hoffentlich erkennt mein Pony mich überhaupt!“, raunte Kaya Miki zu, die ihr dabei half,
ihre Röcke zu tragen. Sie schnappte sich Sir Whitefoot beim Halfter, der nur widerwillig
seinen Kopf anhob, als würde er wirklich nicht wissen, wer ihn abholte.
„Bist du bereit für einen Spaziergang zu einem Papparazzi?“, wollte Kaya wissen, den Strick
anlegend. Passenderweise war sein Zubehör eisblau, da hatte Miki ihn nicht mal neu
ausstatten müssen.
Sir Whitefoot schnaubte zustimmend, ließ aber nur widerwillig von seinem Heu ab. Sie hatte
ihn schon vor der Grundüberholung ihres Aussehens gestriegelt und glücklicherweise hatte er
in der Zeit ohne sie nichts angestellt, das ihn entstellt hätte.
„Dann gehen wir mal zur Elfenatmosphäre, mein Lieber“, Kaya tätschelte ihn. Mikako folgte
ihr, wie eine Brautjungfer, die die Schleppe der Märchenbraut trug.
Nur: Mit vielen Stativen und Scheinwerfern umringt, sah das Bächlein nicht mehr nach
natürlichem Feenzauber aus!
Sogar ein kleines Klapptischlein gab es, an dem Inga mit einem Lap Top saß. Sie wich
sichtlich zurück, als Sir Whitefoot angestampft kam. Mit seinem Kopf riss er einen Zweig
herum, der Schnee herunter spritzen ließ – erfreulicherweise nicht auf die teuren
Gerätschaften. Mikako verzog sich, um derweil Verzierungen auf Kayas Sattel zu kleben.
„Abwaschbar!“, versprach sie.
„Dein Pony sollte trinken, sich an den Quellen der Natur laben!“, begann Jürgen, seine Vision
zu erzählen. Dabei fuchtelte er so rum, dass Kaya Angst hatte, dass ihm seine Kamera aus der
Hand fallen würde. „Und du guckst …“
„… nachdenklich?“, schlug Kaya vor.
„Exakt! Kaya, du bist perfekt!“, Jürgen begann, wie wild drauflos zu knipsen, während Kaya
Sir Whitefoot zum zugefrorenen Bächlein führte. Ganz ohne Magie hatte Jürgen ein Loch
hinein gestampft, sodass das Wasser unter dem Eis sichtbar geworden war, doch das würde
man auf den meisten Motiven sowieso nicht sehen. Es ging schlussendlich nur darum, dass
Sir Whitefoot etwas zu tun hatte.
Stattdessen sah dieser interessiert in die Kamera. In dieses ständig blitzende, surrende Ding.
Kaya versuchte sich auf einen philosophischen Blick zu konzentrieren, doch es wollte nicht
gelingen, wenn Sir Whitefoot seine Nüstern in ihre Seite stieß und leise vor sich hin
brummelte. Entnervt legte Jürgen die Kamera weg: „So wird das nicht … Inga, guck in meine
Notizen, haben wir einen Plan B?“
Zerstreut fuhr er sich durch das schüttere Haar – die blaue Brille hatte er heute vor den
Augen, nicht auf dem Kopf platziert.
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Und dann begann Sir Whitefoot, aus dem Bächlein zu trinken!
Erschrocken packte Jürgen die Kamera und warf sich vor den beiden im Schnee auf die Knie.
Und Kaya wurde wirklich nachdenklich. War das wirklich der Traumberuf von so vielen
Mädchen? Warum nur?
In der zweiten Szenerie des Tages sollte dann nach der Mittagspause, in der es von Miki
selbstgemachtes, schön warmes Ramen, also quasi japanische Nudelsuppe, gab, geritten
werden. Ausgerechnet dafür musste Kaya die warmen, weichen Reitschuhe gegen ein Paar
viel zu kleiner Keilabsatzschuhe eintauschen. Ihre Zehen wurden darin regelrecht
zusammengedrückt.
„Du musst ja nicht damit gehen!“, hatte ihr Inga zugesprochen. „Sondern reiten!“
Na wunderbar. Und warum quälte sie sich mit dieser Fußhülle? Weil diese einen
Kunstfellbesatz hatten. Passend zu ihrer weißen Kunstfellmütze.
Wenigstens erlaubte ihr das geschlitzte Kleid einen guten Sitz im von Mikako dekorierten
Sattel. Das generelle Bildnis einer Schneekönigin hoch zu Ross sollte damit dargestellt
werden. Nur ihre Lippen leuchteten rot, der Rest war in Weiß mit Silberelementen gehalten.
Die ersten Bilder in der engeren Auswahl für den Bildband hatte sie bereits auf Ingas Lap Top
sehen können – und sie war sogar ausnahmsweise mit ihrem Aussehen zufrieden! Sie wusste,
wie stolz ihre Eltern und vielleicht auch Alexa sein würden und auch ihre Freundinnen
würden sich riesig freuen, wenn sie das Endergebnis sahen. Doch was würde Chris sagen?
Mehrere Möglichkeiten schossen ihr durch den Kopf, nur musste sie diesen Gedankenstrom
sofort stoppen. Reiten. In Keilabsatzschuhen.
So aufwendig geschlitzt man das Kleid für den Pferdekunstband auch hatte, Kaya war darin
nicht nur total unsicher auf ihrem Sir Whitefoot, sondern bibberte auch vor Kälte. Unter all
dem Lippenstift wurden ihre Lippen wenigstens nicht blau.
Sie ritt gerade von Jürgen weg, ihre Finger zitterten in den fingerlosen Handschuhen. Die
Hände waren Kaya schon vor der Mittagspause völlig steif gefroren gewesen und das
bisschen Seide machte es jetzt auch nicht direkt besser, auch wenn Seide ein gutes
Handschuhmaterial war. Das wusste sie noch aus Kitzbühel von den ganzen Skilehrern dort.
Jürgen hatte ihr aufgetragen, eine lange Strecke auf ihn zu galoppiert zu kommen – dann
sollte sie eine Schleife drehen und das Ganze wiederholen, bis der perfekte Schuss geglückt
war. Die Teenagerin hoffte wirklich, dass all der Kaya-Lobgesang stimmte, denn dann bekam
sie das schnell hinter die Bühne und kam somit bald ins Warme. Am Bächlein hatte es ja noch
Spaß gemacht – und Sir Whitefoots Körperwärme war nicht zu verachten! -, aber vor allem
über Mittag war ihr klargeworden, wie müde sie bereits war.
Dieses Fotografieren schlauchte und sie hatte keine Ahnung, wie sie mit dieser Erschöpfung
den nächsten Tag überstehen sollte. Über all diesen Strapazen vergaß sie ihre ursprüngliche
Sorge über das Posing. Was aber genau das nicht besser machte.
„Du guckst so beklemmt! Du sollst aber stark gucken, wie eine Herrscherin des Schnees
eben!“, brüllte Jürgen. Er klang nicht böse, musste aber laut sein, um Kaya zu erreichen.
Dabei schlug ihm die Brille glatt an.
Leichter gesagt, als getan. Sie riss an Sir Whitefoots Zügel und bekam von Jürgen nur ein
„Nicht so grimmig, nicht so streng!“ zu hören. Frustriert schnaubte Kaya mit Sir Whitefoot,
der über die schnelle Bewegung jubilierte, um die Wette.
Kaya trabte an und begann, sich langsam an die Einschränkungen ihrer neuen Kleidung zu
gewöhnen. Ihre Absätze waren naturgemäß mehr als nur wackelig in den Steigbügeln. Das
sollte mal eine Turnierdisziplin werden!
Ihr Pony war recht unbeeindruckt davon, im Gegenteil – ihm schien es wohl zu gefallen, dass
ein weißer Stofffetzen wie eine Fahne hinter ihm her schwenkte. Zu ihm musste sie jetzt
Vertrauen zeigen – nicht nur, weil Jürgen das visualisieren wollte, sondern weil sie sonst
unfreiwillig absteigen würde.
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Währenddessen begannen ihre wild gestylten Haarsträhnen, an ihrem Lippenstift zu kleben.
Sie versuchte, eine Strähne zu entfernen, doch Jürgen rief: „Hände zurück an die Zügel!“
Die Sonne blendete sie.
„Du musst dich entspannen!“
Er hatte Recht! Nur wie? Kaya sprach sich selbst Mut zu, als sie den Galopp antrieb.
Sie musste sich wohlfühlen mit Sir Whitefoot. Und das tat sie doch eigentlich auch, oder? Es
kam jetzt auf andere Körperteile an, als wenn sie sonst in normaler Kleidung ritt. Aber was
das nicht gerade die Herausforderung, die sie so liebte?
Als Jürgen mit dem Fotografieren loslegte, besann sie sich auf die schönen Erinnerungen mit
ihrem Pferd. Auf diese Innigkeit und Zuneigung, ganz einzigartig.
„Genau so, ja, du hast es fast!“, hörte sie Jürgen von ganz weit weg. Sie befand sich in ihrer
eigenen, exklusiven Zone. Kaya ließ sich auf die Geschwindigkeit ein, die bekannten, wenn
auch gerade anders ausführbaren Bewegungen. Sie spürte die Muskeln im Körper ihres
Gefährten, seinen Atem, ihren Atem.
Und dann bremste sie vor Jürgen scharf ab, der Schnee stob, und sie ritt einfach davon in dem
gewünschten Kreis, der Wind in ihrem Haar.
Sie hörte Jürgen, Miki und sogar Inga vor Erstaunen kreischen – wobei Inga Angst zu haben
schien, ganz im Gegensatz zu einem völlig von der Blitzanlage unbeeindruckten Pony.
Anscheinend war das genau die richtige Tat gewesen. Und irgendwie machte es sogar süchtig.
Wenn ihr dann nicht fast die Kunstfellmütze vom Kopf gefallen wäre.
„Wie du aussiehst, fabelhaft!“, hatte Karin gerufen.
„Hoffentlich kannst du mit der Betonfrisur schlafen …“, hatte Harald gescherzt.
„Sag ja nicht, du wirst krank“, hatte Alexa angemerkt.
Unter all diesen Wortbeiträgen hatte Kaya das Haus betreten, völlig geschafft. Karin hatte
extra Schnitzel vorbereitet und Kaya hatte es mit Weihnachtstee runtergespült, um wieder
Wärme in ihre Glieder zu bekommen.
In der Nacht schloss sie sich ins Bad ein, in der Hoffnung, dass niemand bemerkte, wie sie ein
ausgiebiges Fußbad nahm. Das heiße Wasser umspülte die geschwollenen Zehen unter einem
Berg aus weißem Schaum. Sie war so unglaublich müde und ihr Kopf dröhnte. Am liebsten
wäre sie am Wannenrand eingeschlafen, stattdessen bearbeitete sie parallel schon seit einigen
Minuten ihr Gesicht mit Abschminktüchern.
Warum war dieses Make-Up nur so hartnäckig? Wirklich gut fühlte sich ihre Haut darunter
auch nicht an. Inga trug doch nur marginal weniger, warum beschwerte sie sich nicht?
Die Assistenz hatte sie gefragt, ob sie mit jemand zusammen war.
Und Kaya hatte mit „Ja“ geantwortet, weil sie sich ja nicht getrennt hatte. Sie konnte nicht
mal sagen, dass sie sich gestritten hatten – denn wie auch, ohne Gespräche?
Auch, wenn sie trotz ihre Linie durchzog ihren Job ausführte … sie musste bald doch mit
Chris Kontakt aufnehmen. Sie mussten darüber sprechen. Erwachsen.
Aber jetzt musste sie sich erst einmal wieder besser fühlen. Jede Person, der sie von den
Qualen ihrer Füße erzählen könnte, würde sagen: „Aber du darfst nicht aufgeben! Du hast es
doch fast geschafft!“
Außer vielleicht … Chris? Aber doch nur, weil er sich um ihre Füße sorgen würde, oder?
In dieser Nacht träumte sie von nichts.
An die Müdigkeit inzwischen gewöhnt, schlug Kaya am nächsten Morgen wieder im MakeUp-Trailer auf. Die Anspannung war inzwischen von ihr abgefallen, dennoch freute sie sich
schon auf den Feierabend.
Inga trug heute einen Patchwork-Rock über den Thermostrumpfhosen, die sie auch gestern
schon angehabt hatte.
„Selbstgemacht!“, rief sie stolz.
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Aus alten Decken? Kaya sagte nichts, bewunderte nur verstohlen die verschiedenen Muster,
die Inga sich zeitgleich zu tragen traute. Aber Inga beklebte ja auch ihre Nägel selbst. Es
schien ihr Freude zu bereiten.
Mikako begann, Kayas Haare sanft zu flechten: „Damit du zu Sir Whitefoot passt!“
Dem hatte die Japanerin nämlich schon Zöpfchen in die Mähne und den Schweif geflochten –
und Blümchen. Davor wurde Kaya auch nicht verschont, doch statt kleiner Blüten, hatte
Mikako für sie mit richtig großen Blumen Floristin gespielt. Sie nannte ihre Kreation „Flower
Crown“ und verpasste Kaya dazu noch ein gelbes Sommerkleid, das erfreulicherweise ein
paar Lagen mehr als ein handelsübliches Kleid für wärmere Zeiten hatte.
Die Blumenkrone war äußerst umständlich zu tragen, noch schlimmer als der ständig herab
fallende Schneeköniginnenhut. Zudem ziepte ihre Kopfhaut – nur wollte Kaya sich nicht
beklagen. Zumal Miki ihr eh nicht helfen konnte – die blieb während des vorletzten Shootings
im Wohnwagen und nähte das letzte Outfit fertig.
So stapfte sie, noch in der schützenden, warmen Jacke, mit Inga, Jürgen und Sir Whitefoot
durch den Schnee zu einer Anhöhe inklusive Holzbank für Spaziergänger. Jürgen hatte ihr
schon den Schnee weggewischt. Dahinter ging es in die Böschung, wo tote Bäume mit
dickem Schnee beladen waren.
„Dann setze dich mal … die Idee dahinter ist, dass du der Frühling bist!“, Jürgen ignorierte
Kayas klappernde Zähne.
„Offensichtlich“, erwiderte Kaya und grinste dennoch. Sie versuchte, sich elegant
hinzusetzen, doch Jürgen korrigierte sie: „Frühlingshafter! Verspielter!“
Als Kaya eine entsprechende Haltung gefunden hatte und Sir Whitefoot aufgehört hatte, zu
versuchen, ihren Kopfschmuck zu futtern, wollte Jürgen anfangen, zu fotografieren – und
wurde unter dem blauen Schatten seiner Brille kreidebleich: „Inga, wo ist mein Akku?“
„Im Transporter!“, erwiderte Inga fröhlich.
„Und die anderen Akkus?“ Kam da etwa Dampf aus seiner Nase?
„Natürlich auch!“ Inga gefror ihr Lächeln auf den Lippen.
Jürgen starrte sie wütend an: „Hol mir sofort … nein, warte, ich hole sie selbst. Ich kann dir
nicht trauen, dass du das diesmal kapierst … einmal mit Profis arbeiten! Ist das denn so
schwer? Wie lange bist du bitte schon meine Assistenz? Argh!“
Kaya war der kleine Fotograf noch nicht als aufbrausend aufgefallen, aber gerade rief er
ziemlich aufbrausend: „Das hier ist doch kein Kinderfasching!“
Kopfschüttelnd und die Hände in die Luft werfend, rannte Jürgen wutentbrannt von dannen.
Kaya sah Inga aufgebracht an: „Du lässt ihn so mit dir reden?“
„Na, er hat ja recht, ich tauge für diesen Beruf gar nicht“, Inga blieb unschlüssig stehen, man
sah ihr aber an, wie verstört sie war.
„Warum setzt du dich nicht und wir teilen uns meine Daunenjacke?“, bot Kaya an und hing
sich diese wieder über die Schultern.
„Ich traue mich nicht“, gab Inga kleinlaut zu.
„Wegen Sir Whitefoot?“, Kaya blinzelte irritiert.
„Jaaa, er ist so groß!“, Inga kaute auf ihrer Unterlippe.
„Wirklich?“ Kaya war er nach ihrer Rückkehr nach Deutschland sogar noch kleiner
vorgekommen. „Hast du nur Angst vor ihm oder vor Pferden generell?“
„Vor Pferden, Eseln, Zebras im Zoo … und ein paar Ziegenböcken …“, gab Inga bekannt.
„Ist es dann nicht ziemlich ironisch, dass du bei diesem Projekt mitmachst?“ Kaya verkniff
sich ein Kichern.
„Ja, schon … aber …“, Inga stockte, als Sir Whitefoot ihr direkt in die Augen sah, als würde
er sagen: „Na, komm doch her!“
Kaya lächelte. Es waren eben nicht alle Mädchen von klein auf fasziniert mit den Vierbeinern
– und das war auch gut so! Blieben mehr Vierbeiner für Kaya übrig. „Du kannst dich ruhig
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trauen, ihn zu streicheln. Wenn ich sage, dass er nichts tut und nicht beißt, meine ich das
wirklich so!“
Inga blickte das Pony nur erstaunt an.
„Am besten, du zeigst ihm, dass du keine Karotten in der Hand hast, sodass er keinen Hunger
bekommt, und dann fängst du mit den Nüstern an“, empfahl Kaya.
Doch Inga ging so umständlich an ihn heran, dass Kaya sich gewünscht hätte, gar nicht das
Thema der zu überwindenden Ängste angesprochen zu haben.
Noch umständlicher war es, als sie sich streckte und reckte, so weit entfernt von ihm ihn doch
noch gerade so streichelnd zu erwischen. Und dabei nahm das Desaster seinen Lauf: Inga
rutschte auf dem eisigen Untergrund aus und direkt in die Büsche – und somit beinahe
komplett in den Graben, der sich etwas weiter unter der Anhöhe erstreckte.
„Inga!“, rief Kaya aus, als das andere Mädchen einen gellenden Schrei ausstieß. Ihre roten
Locken waren wie eine Pfütze Blut im Schnee.
Kaya hastete dorthin, wo Inga abgestürzt war, sich an dem robusten Sir Whitefoot festhaltend.
Sie wusste ja jetzt, wo sie nicht hintreten durfte. Hastig versuchte sie, sich mit einer Hand die
Flower Crown aus den Haaren zu fummeln und abzulegen. Sie zerstörte zwar Mikis
Kunststück, aber sie brauchte jetzt ihr Gleichgewicht.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kaya panisch die in der Böschung hängende Inga. Sie kannte das
Gelände – allzu viel konnte Inga zwar nicht passieren, aber das, was passiert hatte, war bereits
schlimm genug. Sie musste jetzt eine Kriegerin sein! Der Natur, der Freundschaft … der
Liebe?
„Ja, nur habe ich Angst, ganz zu fallen … und mein Knöchel tut unglaublich weh!“, kam es
von weiter unten.
Kaya sah sich um und fand schnell im Schnee das, was sie suchte. In ihrem Kopf pulsierte
alles. Sie musste Inga retten! Wenn es auch nicht dramatisch schien, aber sie waren alleine auf
weitem Feld, im Schnee, und sie wusste nicht, wann Jürgen ihr zur Hilfe eilen konnte.
Solange konnte Inga nicht in der kalten Luft rumhängen und ihren Knöchel verdreht lassen!
„Nimm den Ast, ich ziehe dich hoch!“, rief Kaya aus. Inga schüttelte sich ihre Locken aus
dem erblassten Gesicht und angelte nach dem Ast. Sie winkelte ihr Bein an, um es möglichst
nicht zu belasten, und ließ sich von Kaya unter geschmerztem Stöhnen bergen, die dabei
ordentlich ins Schwitzen kam. Schwer atmend lag Inga auf dem Boden, nachdem Kaya sie
vollends heraufgezogen hatte, darauf bedacht, nicht dank ihres komplizierten Kleides selbst
einen Sturzflug hinzulegen.
„Mein Knöchel! Aua!“, Ingas Augen waren ganz glasig und nass. Ihr selbstgemachter Rock,
ihr ganzer Stolz, war zur Hälfte abgerissen. Auf ihrer Stirn prangte ein Kratzer eines vereisten
Zweiges, aber sie war sonst nicht weiter lädiert. Kaya versuchte, sich zu beruhigen. Sie hatte
es geschafft. Inga war wohlauf, wenn auch verletzt.
„Das sieht …“ Es sah nicht gut aus und Kaya stockte. „Das wird schon. Komm, wir bringen
dich zurück zum Wohnwagen und du legst dein Bein hoch.“
„Aber ich kann unmöglich auftreten“, wimmerte Inga. „Mir ist so kalt!“
Ihr war Schnee in den Kragen geraten und es tat weh, sich diesen mit steifen Nacken aus der
Haarpracht zu schütteln.
„Es ist alles meine Schuld“, Kaya schürzte die Lippen.
„Nein, meine! Ich bin so tollpatschig“, wimmerte Inga.
„Ich hätte es besser wissen müssen“, Kaya schüttelte den Kopf. Sie hatte es doch nur gut
gemeint mit der ängstlichen Assistentin!
„Wir reiten“, meinte Kaya. Mit einem Blick auf den verrenkten Fuß korrigierte sie sich: „Du
reitest. Ich führe dich. Keine Sorge, wir bugsieren dich da hoch und du hältst dich einfach nur
am Hals fest, okay?“
Inga stand die Angst ins Gesicht geschrieben, aber auch der Schmerz, daher hatte sie keine
Wahl. Die junge Assistenz machte sich so leicht wie möglich und Kaya schob sie mit aller
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Kraft auf das Pony, das geduldig stehen blieb. Wackelig kam Inga oben an und löste ihre
Hände nur widerwillig von Kayas Schultern, um sie Sir Whitefoot umzulegen.
„Keine Sorge, gleich sind wir da“, versprach Kaya. Sie zog die Daunenjacke fester zu – durch
die Aktion war ihr mächtig heiß geworden, aber sie durfte davon nicht krank werden -, und
schnappte sich das Halfter des Ponys.
„Sein Fell fühlt sich schön an“, bemerkte Inga.
Da waren sie eigentlich stehen geblieben, genau. Bei Ingas Angst vor Pferden und dem
unpassenden Job dafür. „Willst du eigentlich Fotografin werden?“
„Nein, nicht wirklich. Jürgen ist ein guter Freund meiner Mutter. Sie hat mir die Stelle
besorgt.“ Inga lief eine einzelne Schmerzensträne über die Wange, aber sie ließ sich gerne auf
Kayas Ablenkungsmanöver ein.
„Am liebsten mache ich Dinge per Hand – ich bastle super viel. Ich habe auch einen kleinen
Onlineshop für Schmuck, aber der läuft nicht so gut.“ Inga begann, sich langsam auf dem
Rücken des Pferdes zu entspannen. Das angelegte Bein war die beste Haltung für ihren vor
Schmerz hämmernden Knöchel.
„Weiß Mikako davon?“, fragte Kaya, während ihr durch den Trubel zerstreutes Hirn etwas
schlussfolgerte: Wäre Inga in deren Obhut nicht besser aufgehoben als bei Jürgen?
„Ja, schon. Nur glaube ich, Mikako mag mich nicht besonders und nimmt mich auch nicht
ernst, wenn ich ihr einen selbstgemachten Ring zeige oder so … sie hat mal gemurmelt, dass
ihr keine Hilfe sei und die Arbeit nicht sehe … ich meine, ich bin ja auch nicht ihre Assistenz
… aber ich wäre es schon gerne. Nur unterhält sie sich kaum mit mir“, Inga war mit einem
Mal noch trauriger als über ihren verstauchten Knöchel.
„Hmm ... ich glaube, du musst dir bei ihr ... bei vielen Erwachsenen generell ... Gedanken
machen, bevor du den Mund öffnest“, überlegte Kaya, einen Karinreifen Ratschlag zu geben.
„Du solltest ein Radar für dich haben! Ich habe auch irgendwie gelernt, ein Gefühl für diese
Situation hier zu bekommen, also, für das Shooting … weil ich mich auf mich verlassen kann,
weißt du? Ich weiß, was ich gut kann. Reiten. Also mache ich das Beste da draus.“
Doch wie fand Kaya ein Gefühl für ihre Beziehung? Mit einem Mal schlug Ingas Melancholie
auf sie rüber. Aber sie musste jetzt stark für zwei sein und Inga sicher nach Hause
transportieren!
„Siehst du, du brauchst keine Angst vor ihm haben“, sprach Kaya ihr Mut zu, denn bislang
war Inga nicht wieder abgestürzt. In diesem Moment kam Jürgen mit den Akkus angestapft:
„Was zum …?“
„Wir mussten die Lichtanlage zurück lassen … Inga hat sich verletzt!“, rief Kaya.
„Oh nein, wie hast du das denn angestellt?“ Er war wieder netter, das beruhigte beide
Mädchen. Inga zuckte mit den Schultern: „Das Eis …“
Kaya warf ein: „Das brauchst du auch gleich, um den Knöchel zu kühlen …“
Auch Miki war ganz bestürzt, als sie von Ingas Unfall erfuhr. Sie polsterte gleich einen der
Schminkstühle und rückte den anderen heran, sodass Inga ihr Bein aufbahren konnte.
Während Mikako Ingas Knöchel mit einer Tüte Tiefkühlbambussprossen, die eigentlich zum
mittäglichen Ramen gehört hätten, kühlte, schienen sich die beiden jungen Frauen mehr
anzunähern – und Kaya war froh. Das bedeutete, dass für Inga doch noch eine Möglichkeit
bestand, zu erkunden, was ihr wirklich beruflichen Spaß bringen konnte.
Mikako klebte auf Ingas Schramme sogar eines ihrer privaten Hello-Kitty-Pflaster und beide
jungen Frauen lächelten über ihre Sorgen hinweg.
Kaya, die Sir Whitefoot für die verfrühte Pause in die Box gebracht hatte, nutzte zurück im
aufgeheizten Wohnwagen die Gelegenheit, ihr Handy zu checken.
Sie hatte beschlossen, sich bei Chris zu melden, sobald der Tag überstanden war. Da half kein
Trotz, denn man musste eine Beziehung ja realistisch bewerten – wie alles im Leben, egal, ob
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Hobby oder Job oder Schule, gab es up und downs. Und das Leben war an und für sich eh
nicht immer ein lustiger Ritt. Darum musste man als Paar auch zusammenhalten!
Die Erfahrungen der letzten Tage waren für sie der Boden der Tatsachen, auf den sie
zurückgewollt hatte – wenn es auch erst einen Unfall gebraucht hatte, um an den Kern ihrer
Gefühle zu gelangen.
Die Kontaktaufnahme wurde ihr jedoch abgenommen: Chris hatte ihr am Vormittag eine
reuevolle Mail geschrieben. Er hatte sich entschieden, nicht länger zu bleiben, da Kaya ihn an
dem einen ganzen Tag ohne jegliche Gespräche schon so gefehlt hatte und die Distanz
zwischen ihnen sich erstmals greifbar für ihn angefühlt hatte. Chris hatte schließlich nur, wie
von Kaya gewünscht, seine Gedankenwelt geteilt. Und mit der Aussprache war es ein Stück
weit wirklicher geworden. Das hatte nicht nur Kaya Angst gemacht. Und bei all seinem
Träumen von der großen Hilfe – sein Liebestraum war nun mal ebenfalls nicht ganz
unwichtig.
Zu guter Letzt erklärte er ihr noch seine Betreffzeile – eine merkwürdige Nummer. Die die
Vorbestellungsnummer für den Bildband war, in dem Kaya bald zu sehen sein würde.
Kaya konnte gar nicht mehr aufhören, zu grinsen.
Garniert war seine Nachricht mit einem Foto eines Elefanten im Anhang. Kaya fiel natürlich
sofort ein, dass der Elefant ein Symbol für Glück, Weisheit und, vor allem, Treue war. Chris
hatte das Foto selbst geschossen und zeitaufwendig in einer App seines Handys mit Kitsch
verziert: Fliegender Glitter, klopfende Herzen, ein Regen aus kleinen Sonnen und aus dem
afrikanischen Boden schießende Kleeblätter. Kaya lachte.
Während sich ihre Glieder und vor allem Finger erwärmten, erwärmte sich auch ihr Herz.
„Ich war nie wirklich böse, nur in Eile“, erwiderte Kaya. „Danke für den virtuellen
Glücksbringer!“
Sie erzählte, dass sie diesen eher am Tag schon gut hätte brauchen können, aber dass sich
dennoch alles zum Guten gewendet hatte. Der Terminvorschlag fiel ihr leicht – sie würde sich
die Zeit nehmen, so, wie er es tun würde, bis er endlich zurück zu Hause war. Wie geplant.
Inga hatte in der Zwischenzeit die Musik angemacht und Taylor Swift sang: „Like any great
love, it keeps you guessing, like any real love, it’s ever changing, like any true love, it drives
you crazy, but you know you wouldn’t change anything, anything, anything …“
Kaya lächelte. Genau so war es. Es war einfach perfekt.
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