Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung / Archiv der Rockumentaries

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Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung / Archiv der Rockumentaries
Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 5.4, 2011 // 586
www.filmmusik.uni-kiel.de
Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung / Archiv der Rockumentaries
Copyright für diese Ausgabe by Marco Gausmann.
Letzte Änderung: 15.4.2011.
Zuerst veröffentlicht in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 5.4, 2010, S. 586-590.
ISSN 1866-4768.
HAARP
aka: MUSE – HAARP
Großbritannien 2008
R: Matt Askem.
P: Dione Orrom, Sinead D‘Arci (für: Helium-3, Warner Bros.).
K: John Clarke, Kevin French, James Ramsay, Steve Desbow, Lincoln Abraham, Curtis Dunne, Dave Evans, Rob Mansfield, Derek
Pennel, Rob Sargent, Martin Schlote, Simon Bennet, Tom Stoddart, Max de Ponti, Stephen Orrit, Matia Amadori, Cristin Rathje,
Martin Read.
T: Mike Silverstone.
S: Thomas Kirk.
Beteiligte Musiker: Muse (Matthew Bellamy, Dominic Howard, Chris Wolstenholme), Morgan Nicholls, Dan Newell .
DVD-/Videovertrieb: WMI (Warner Music International).
UA: 17.3.2008 (Großbritannien; 14.3.2008 (BRD), 18.3.2008 (USA).
99min, 1:1,78, Dolby Digital 5.1.
Hinter der kryptischen Bezeichnung Haarp verbirgt sich ein Radiowellen-Forschungsprojekt, das vom
amerikanischen Militär initiiert wurde und in einer abgelegenen Gegend in Alaska zu Hause ist [1]. Es bietet
nicht nur genügend Stoff für zahlreiche Verschwörungstheorien – zum Beispiel die, dass das US-Militär mit
Hilfe dieser Anlage Naturkatastrophen auslösen oder Gedanken manipulieren könne –, sondern inspirierte
auch die Neo-Progrocker von Muse zum Bühnenbild und zum Titel ihrer beiden ausverkauften Konzerte im
just neueröffneten Wembley-Stadium in London. Diese beiden Konzerte brachten Muse unter dem Titel
Haarp als Set bestehend aus einer Audio-CD mit dem ersten Wembley-Konzert am 16. Juni 2007 und einer
Konzert-DVD mit dem zweiten am 17. Juni heraus.
Wer nun an zwei Tagen nacheinander eines der größten Stadien der Welt füllt, darf sich zweifellos im Olymp
der Rockmusik wähnen. Dementsprechend fällt der Aufritt der Band auch aus: In einem Konfettiregen
werden die drei Musiker Matthew Bellamy (Gitarre, Vocals), Dominic Howard (Drums) und Chris
Wolstenholme (Bass) von einem Auftzug auf ein Podium in der Mitte des Stadions gefahren. Von dort aus
betreten sie unter den Klängen von Tanz der Ritter aus Sergej Prokofjews Ballett Romeo und Julia über einen
langen Laufsteg und begleitet von einer Gruppe in so etwas wie Strahlenschutzanzügen Vermummter die
Bühne. Ein gigantisches Podium, flankiert von riesigen Antennen. Eine Videoleinwand im Hintergrund, die
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die gesamte Bühnenbreite in Anspruch nimmt und nebenbei auch noch einen Großteil der Bühnenbeleutung
übernimmt. Der Bühnenboden glänzt aus der Ferne wie schwarzer Klavierlack. Der futuristische Anstrich der
Show wird zudem dadurch unterstrichen, dass Bellamy seine Gitarren von einer Art „GitarrenständerRoboter“ gereicht bekommt.
Entsprechend großer Aufwand wurde auch für die Produktion des Konzertfilms betrieben. Geschätzte
fünfzehn bis zwanzig Kameras sind hierbei am Werk, darunter mehrere auf Kamerakränen, andere sind am
Mikrophonständer befestigt, sogar eine Helikopter-Kamera ist dabei, die das gefüllte Stadion aus der
Vogelperspektive zeigen kann. Kamera- und schnitt-technisch wird dann tatsächlich alles gemacht, was heute
zum Beispiel von MTV-Konzertmitschnitten oder der Eurovision de la Chanson als „zeitgemäß“ eingeführt
ist: Schnelle Zooms auf die Musiker, Jump Cuts, Froschperspektiven, wirre, nicht thematisch geführte
Kamerafahrten, dazu eine sehr schnelle Schnittfrequenz. Technisch wurde hier wohl alles realisiert, was
heute als State-of-the-Art gilt, in bestechender Bildqualität. Doch zeigt sich hier schnell, dass sich die Mittel
gegenüber dem, was gezeigt werden soll, verselbständigen, ein Eigenleben zu führen beginnen. Die schon
durch Kameraführung, die Vielzahl der Kamerapositionen und die unklare Linienführung des Schnitts
ungemein hohe Unruhe des Films wird noch zusätzlich durch weitere Materialbearbeitungen verstärkt, die in
der Postproduktion zugefügt worden sind – z.B. erscheint das Bild zu Beginn künstlich entfärbt, beinahe
schwarz-weiß, mit Ausnahme von Bellamys grell-rotem Anzug und Howards neongrüner Röhrenjeans, was
die Band wie Lichtgestalten aus der grauen Masse hervorstechen lässt. Nicht nur von der
Bühneninszenierung, sondern auch in der Bildgestaltung schließt der Film mit zeitgenössischen HochglanzSF-Inszenierungen kurz – der gleiche Effekt wurde unter anderem in der Comicverfilmung SIN CITY (USA
2005, Robert Rodroguez, Frank Miller, Quentin Tarantino) verwendet.
Sobald die Musiker an ihren Instrumenten bereitstehen, wandelt sich das Bild zum Farbbild. Nach einer
kunstvollen Gitarrenfeedback-Orgie starten Muse mit dem hymnischen Knights of Cydonia (die Zitate der
Musik zu Steven Spielbergs Film CLOSE ENCOUNTERS
OF THE
THIRD KIND, USA 1977, intensivieren den
intertextuellen Bezug auf die Science-Fiction-Literatur, der schon dem Erstauftritt der Band anzusehen war).
Der Gitarrist und Sänger Bellamy entpuppt sich dabei im Laufe der Konzerts als musikalisches Multitalent.
Seine markant knallig-hohe Countertenorstimme [2], die beinahe als Karikatur einer Sängerknabenstimme
durchgehen könnte, ergänzt er um ein zappaesk anmutendes E-Gitarrenspiel. Auffällig ist die Menge
elektronischer Instrumente der Klangbearbeitung. Die Menge im Stadion ist ob Bellamys ausgedehnten
Rückkopplungsarien über Tapping-Soli und ausgeklügelte Gitarrenarrangements in einem technischtrashigen Fuzz-Sound [3] begeistert. Der futuristischen Inszenierung angepasst ist selbst seine farblich zum
Anzug passende Gitarre, auf der eine Art Touchpad (es handelt sich hierbeit um ein Kaosspad von Korg)
installiert ist, mit dem sich synthesizerartige Klänge modulieren lassen. Bei den Balladen schwingt sich
Bellamy dann hinter den Konzertflügel mit Plexiglasdeckel, den er bei passender Gelegenheit auch noch mit
dem Wahwah-Pedal bearbeitet. Das Fundament des Sounds legt der Bassist Wolstenholme mit seinen
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schnellen Arpeggios im charakteristisch verzerrten Sound und Schlagzeuger Howard hinter seinem
Plexiglasschlagzeug mit solide treibendem Beat. Außerdem haben Muse noch zwei Gastmusiker engagiert,
um den Studiosound im Konzert möglichst gut reproduzieren zu können. Diese übernehmen die Synthesizer
und den Backgoundgesang sowie einige kurze Parts von Trompete, Percussion, Bass und Glockenspiel.
Trotz des hohen technischen Aufwandes gerät das Konzert zur One-Man-Show von Bellamy, der aktiv auf
der Bühne unterwegs ist und vor allem den Bereich der Vorderbühne dominiert, der zudem ob seiner Position
als Leadsänger auch musikalisch meist im Vordergrund steht. Dagegen halten sich Wolstenholme und
Howard dezent im Hintergrund. Der Fokus der Kamera folgt dieser Globalstrategie und zeigt den Bassisten
und den Schlagzeuger stets nur in sehr kurzen Einstellungen, (von den beiden Zusatzmusikern ganz zu
schweigen, die in der visuellen Darbietung nur eine ganz nachgeordnete Bedeutung haben). Größere
Kommunikation mit dem begeisterten Publikum findet über das übliche „We love you guys“ so gut wie keine
statt (es drängt sich zudem die Frage auf, warum das Publikum stets als „guys“ bezeichnet wird). Optische
Opulenz, tontechnische Brillanz, verbunden mit einer ganz auf die Band zugeschnittenen Bühnenshow –
HAARP mag für eine Rockkultur der Show-Werte stehen, die sich ihres Publikums gewiss ist und sich darum
um eine eigentliche Interaktion mit den Zuschauenden nicht mehr zu kümmern braucht.
(Marco Gausmann)
Anmerkungen:
[1] Das H.A.A.R.P (engl.: High Frequency Active Auroral Research Program) ist ein US-amerikanisches ziviles und militärisches
Forschungsprogramm, bei dem hochfrequente elektromagnetische Wellen zur Untersuchung der oberen Atmosphäre (insbesondere
der Ionosphäre) eingesetzt werden.
[2] Ein Countertenor (von lat. contratenor) ist eine männliche Tenorstimme, bei der durch spezielle Kopfstimmen- und FalsettTechniken auch höhere Ton- und Stimm-Lagen erreicht werden.
[3] Ein Fuzz (auch: Fuzzbox) ist ein Gitarreneffekt, durch den mittels spezifischer Transistorschaltungen charakteritische
Verzerrungen erreicht werden.
Setliste:
1. Intro (Sergei Prokofiev - Tanz der Ritter) / 2. Knights of Cydonia (enthält Teile von John Williams - Close Encounters of the Third
Kind) / 3. Hysteria / 4. Supermassive Black Hole / 5. Map of the Problematique (enthält eine Anspielung auf das Rage against the
Machine-Cover von Bob Dylans Maggie's Farm) / 6. Butterflies and Hurricanes / 7. Hoodoo / 8. Apocalypse Please / 9. Feeling Good
(written by Leslie Bricusse and Anthony Newley) / 10. Invincible / 11. Starlight / 12. Improv / 13. Time Is Running Out / 14. New
Born (incorporates elements of "Microphone Fiend", as performed by Rage Against The Machine, originally written and performed
by Eric B. & Rakim and containing elements of "School Boy Crush", written by Hamish Stuart, Steve Ferrone, Alan Gorrie, Roger
Ball, Molly Duncan and Onnie McIntyre) / 15. Soldier's Poem / 16. Unintended / 17. Blackout / 18. Plug In Baby / 19. Stockholm
Syndrome / 20. Take a Bow
Kritiken:
Kritik der DVD auf laut.de (abgerufen am 29.6.2009), URL: http://www.laut.de/lautstark/cd-reviews/m/muse/haarp/index.htm.
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