abitur nrw 2016 prüfungstraining

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abitur nrw 2016 prüfungstraining
königs abi-trainer
Ralf Gebauer
abitur nrw 2016
prüfungstraining
deutsch leistungskurs
– alle Schwerpunktthemen in einem Band
– Wissen, Verknüpfungsaspekte und
Abiturübungsaufgaben mit Lösungen
– für Gymnasium und Gesamtschule
Über den Autor:
Ralf Gebauer, geb. 1945 in Kragelund (Dänemark), lehrte als Studiendirektor die Fächer
Deutsch, Philosophie und Kunst am Haranni-Gymnasium in Herne.
Bereits erschienen (Auswahl):
–– Abitur NRW 2015. Deutsch Leistungskurs mit allen Schwerpunktthemen: Wissen, Verknüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösungen, Hollfeld: Bange Verlag, 1. Aufl.
2013 (Reihe Abi-Trainer)
–– Abitur NRW 2015. Deutsch Grundkurs mit allen Schwerpunktthemen: Wissen, Verknüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösungen, Hollfeld: Bange Verlag, 1. Aufl.
2013 (Reihe Abi-Trainer)
Hinweise:
Die Rechtschreibung wurde der amtlichen Neuregelung angepasst. (Kafka-Zitate aus dem
Roman Der Proceß folgen allerdings der zitierten Reclam-Ausgabe, die die Schreibeigenheiten Kafkas bewahrt.)
Alle 20 Schaubilder des Bandes können Sie unter
https://www.bange-shop.de/abitur-nrw-2016-deutsch-leistungskurs
kostenlos im DIN-A4-Format downloaden.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen
als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung
des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine
solche Einwilligung eingescannt oder gespeichert und in ein Netzwerk eingestellt werden.
Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8044-3219-2
© 2014 by C. Bange Verlag GmbH, 96142 Hollfeld
Alle Rechte vorbehalten!
Druck und Weiterverarbeitung: Finidr, s. r. o., Český Těšín
inhalt
Teil I: Grundlagenwissen
1. Obligatorische Schwerpunktthemen
8
1.1Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert – unter besonderer
Berücksichtigung der Entwicklung des Dramas 8
1.1.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert 8
1.1.2 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe (1784) 13
1.2Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert – unter besonderer
Berücksichtigung der Entwicklung epischer Texte 26
1.2.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert 26
1.2.2 Franz Kafka, Der Proceß (1915/1925) 32
1.2.3 Literarische Beispiele der Neuen Sachlichkeit: Romanauszüge /
Erzähltexte von Erich Kästner, Hans Fallada, Marieluise Fleißer
oder Irmgard Keun 52
Die Neue Sachlichkeit 52
Hans Fallada (1893–1947) 53
Erich Kästner (1899–1974) 57
Marieluise Fleißer (1901–1974) 59
Irmgard Keun (1905–1982) 61
1.2.4 Joseph Roth, Hiob (1930) 64
1.3 Lyrik der Romantik, des Expressionismus und der jüngsten
Gegenwart (etwa ab 1990) 79
1.3.1 Lyrik der Romantik 79
1.3.2 Lyrik des Expressionismus 83
1.3.3 Lyrik der jüngsten Gegenwart (etwa ab 1990) 86
1.4 Spracherwerb und Sprachentwicklung 90
1.4.1 Phylogenetischer Spracherwerb: Ursprung der Sprache
Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung
der Sprache (1772) – Auszüge aus I. Teil, 1. und 2. Abschnitt 90
1.4.2 Ontogenetischer Spracherwerb: Sprachentwicklung 93
1.4.3Spracherwerbstheorien 93
1.5 Aspekte des Sprachwandels in der Gegenwart:
Einfluss neuer Medien, Mehrsprachigkeit 95
1.5.1Sprachwandeltheorien 95
1.5.2 Sprache – Denken – Wirklichkeit 98
1.5.3Mehrsprachigkeit 99
1.6 Sprachkritik, Sprachskepsis, Sprachnot 101
1.6.1 Hugo von Hofmannsthal, Chandos-Brief – in Auszügen
(als gemeinsamer Basistext) 102
1.6.2 Gedichte und Sachtexte zum Thema 104
inhalt
2.Verknüpfungsaspekte
2.1Psychologischer Aspekt: Individuation und Sozialisation 2.2Genderaspekt 2.2.1 Die Rolle des Mannes in der Gesellschaft 2.2.2 Die Rolle der Frau in der Gesellschaft 2.3 Literarhistorischer Aspekt: Die literarische Entwicklung als
Pendelbewegung zwischen Ratio und Sensus (Epochenmerkmale) 2.4Thematische Aspekte 2.4.1 Liebe als literarisches Motiv 2.4.2 Schuld als literarisches Motiv 2.4.3 Der Künstler als literarisches Motiv 2.4.4 Das Komische als literarisches Motiv 2.5 Gattungstheoretische Aspekte 2.5.1 Der Wandel der Dramentheorie im Epochenumbruch
18./19. Jahrhundert 2.5.2 Die Rolle des Erzählers 105
105
112
112
115
118
121
121
123
127
128
132
132
133
Teil II: Übungsaufgaben –
Hinweise, Tipps und Lösungsmöglichkeiten
1.Die Aufgabenstellungen im Abitur
136
2.Klausurübungen
140
2.1Klausuraufgaben 2.2 Lösungsvorschläge zu den Klausuraufgaben 3. Abiturprüfung
3.1
3.2
3.3
3.4
4
Abiturprüfung Übungspaket I Lösungsvorschläge zum Übungspaket I Abiturprüfung Übungspaket II Lösungsvorschläge zum Übungspaket II 140
148
167
167
174
189
196
Literaturverzeichnis
211
Stichwortverzeichnis
212
vorwort
Universitäre Forschung hat das natürliche Bestreben, sich zu erweitern; schulische
Bildung hingegen ist oft zum Gegenteil aufgefordert. Ihr soll der Spagat gelingen,
Fähigkeiten und Wissen des Einzelnen zu erweitern, indem sie das sich vermehrende
und differenzierende Wissen wieder reduziert auf kleine, handhabbare Module. Das ist
ohne Reduktionen, Vergröberungen und Auslassungen nicht möglich und gilt besonders für solch zugespitzte Situationen wie Prüfungen. Da unsere Merkfähigkeit sich am
ehesten durch bildhafte Gedankenverbindungen steigert, wird auch in diesem Bändchen versucht, das Disparate und Vielfältige der Wissensgegenstände in möglichst
griffigen und anschaulichen Erinnerungsmodellen und Schemata bildhaft miteinander
zu vernetzen.
Der vorliegende Band ist dreigeteilt: Im ersten Teil wird in komprimierter Form
ein Repetitorium aller Inhalte vorgelegt, die für die schriftliche Abiturprüfung im Leistungskurs Deutsch des Landes Nordrhein-Westfalen für das Abiturjahr 2016 verpflichtend vorausgesetzt werden. Dabei wird nach den Grunddaten der Texte zunächst ein
knapper Einblick in den biografischen Bezug des jeweiligen Werks gegeben und eine
gegliederte Inhaltsangabe des vorgegebenen Textes angeboten. Daran schließen sich
Hinweise auf stilistische Analysen und mögliche Interpretationsaspekte an. Sofern keine Einzelwerke vorgegeben sind, sondern nur Autoren bzw. Themen und Epochen,
werden die jeweils in Frage kommenden Werke und das notwendige Grundwissen zu
Themen und Epochen in Form eines gerafften Überblicks zusammengefasst. Dabei
wird von den Autoren der Neuen Sachlichkeit jeweils ein Werk in die Darstellung mit
aufgenommen. Die Umfangsbeschränkung dieses Bandes nötigt zudem, sich auch bei
dem aspektreichen Kafka-Roman Der Proceß mit raffenden Zusammenfassungen der
Analyse und der Interpretation zu begnügen.
Das Bändchen ist in diesem Teil bewusst als Repetitorium angelegt, d. h., es setzt
die unterrichtliche Erarbeitung der Stoffe, der literarischen Gattungen und stilistischen Epochen voraus und bietet eine verknappte Wiederholung. Deshalb wäre
es nicht ausreichend, wenn man sich nur auf die in der Reduzierung zwangsläufig
vergröbernde Darstellung verließe.
Der zweite Teil liefert eine Reihe von Aspekten, unter denen generelles Wissen merkfähig aufbereitet wird und die einzelnen Schwerpunktthemen miteinander verknüpft
werden können. Dieser Teil soll es den Benutzern erleichtern, sich die möglicherweise
auch im Unterricht als unverbundenes Nacheinander erlebten Inhalte aus einer distanzierten Perspektive anzueignen und bei einer vergleichenden Zusammenschau eine
stoffliche Souveränität zu gewinnen.
Der dritte Teil enthält Übungsaufgaben. Zunächst werden vier Klausuraufgaben gestellt, die sich inhaltlich an der Obligatorik orientieren, also nicht kursübergreifend
formuliert sind. Sie dienen der Vorbereitung auf die Klausuren der einzelnen Halbjahre
und die möglichen Aufgabenarten. Die jeweiligen Lösungsvorschläge orientieren sich
am Erwartungshorizont des Abiturs. Anschließend wird die Abiturprüfung in Form von
zwei Übungspaketen simuliert. Jede Übung enthält wie im Abitur drei Aufgaben in einer Formulierung, wie sie auch in den vergangenen Abiturjahrgängen gestellt wurde.
Die Aufgabenstellungen berücksichtigen die Vorgaben der gültigen Richtlinien und
5
Lehrpläne. Die Lösungsvorschläge orientieren sich in ihrem Profil an dem punktgestützten Bewertungsverfahren, wie es bei der schriftlichen Abiturprüfung zur Anwendung kommt. Alle Lösungsvorschläge erscheinen als stichpunktartiger Erwartungshorizont, wie ihn auch die korrigierende Lehrkraft vom Ministerium erhalten könnte.
Besonders das nach allen operationellen Erwartungen, die wegen ihrer Verbindlichkeit kursiv gedruckt sind, erscheinende „z. B.“ soll immer wieder ins Gedächtnis
rufen, dass die jeweils folgenden Lösungsvorschläge auch durch andere angemessene Lösungsinhalte ersetzt werden können. Sinnvolle Lösungsteile, die nicht unter die
operationellen Erwartungen zusammenfassbar sind, können im Rahmen eines oder
mehrerer weiterer aufgabenbezogener Kriterien durch Punktvergabe bis zur jeweiligen
Anzahl Berücksichtigung finden. Die Gesamtpunktzahl je Teilaufgabe darf aber nicht
überschritten werden.
Autor und Verlag wünschen Ihnen viel Erfolg beim Umgang mit diesem Material und
im bevorstehenden Abitur!
6
Teil I: Grundlagenwissen
7
1. Obligatorische
Schwerpunktthemen
1.1 Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert –
unter besonderer Berücksichtigung der
Entwicklung des Dramas
1.1.1Erläuterungen zum Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert
in fo
Von der
Französischen Revolution bis zur
Frankfurter
Paulskirche
8
Übersicht: Epochenumbruch
Zeitspanne
1789 – 1848
Politische
Entwicklung
Französische Revolution 1789
Befreiungskriege gegen Napoleon: Wiener Kongress 1815
Streben nach republikanischen Nationalstaaten
Wirtschaftliche
Entwicklung
Beginn der industriellen Revolution
Arbeiterproletariat: soziale Bewegung
wirtschaftliche Einheit Deutschlands: Zollverein
Geistes­
geschichtliche
Entwicklung
philosophischer Idealismus
schneller literarischer Epochenwechsel:
Sturm und Drang:
Weimarer Klassik:
Romantik:
Biedermeier:
Vormärz:
Künstlergenie, Leidenschaft des Herzens
harmonischer Ausgleich, abstrakte Sittlichkeit
Verschmelzung von Realität und Irrealität,
Ironie
genügsames klassisches Idyll
publizistischer vorrevolutionärer Kampf
Die Epochenumbrüche des 18./19. Jahrhunderts wie des 19./20. Jahrhunderts werden
jeweils recht weit gefasst, bis fast zur Hälfte des neuen Jahrhunderts. Für das 18./19.
Jahrhundert bedeutet das demnach eine Zeitspanne von der Französischen Revolution
1789 bis zur Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848. Es
ist die Zeit zwischen dem ersten großen eruptiven europäischen Aufbegehren gegen
die feudalaristokratische Epoche des Absolutismus in Frankreich und dem ersten
Versuch einer Etablierung eines deutschen Nationalstaates. Dazwischen lag eine
wechselvolle und spannungsreiche historische Entwicklung.
Die Französische Revolution resultierte aus den Ergebnissen der Philosophie der
Aufklärung, die sich, ausgehend von einem natürlichen Selbstbestimmungsrecht des
Menschen, gegen alle Formen staatlicher und kirchlicher Unterdrückung und Bevor-
1.1 Epochenumbruch 18. / 19. Jahrhundert
1.1.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 18. / 19. Jahrhundert
mundung wandte. Kants berühmte Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ und sein Aufruf „Sapere aude!
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ wurden zur Losung dieser
Epoche. In Konsequenz dieses Denkansatzes sollten an die Stelle der überkommenen,
ständisch organisierten gesellschaftlichen Strukturen solche Systeme treten, die auf
dem freien Willen der Individuen beruhten. In Frankreich lautete die Parole der revolutionären Bewegung: „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“.
Der Erringung der individuellen wie nationalen Freiheit galt das vorrangige Bemühen. Doch die Französische Revolution ertrank im Blut der jakobinischen Terrorherrschaft und ermöglichte Napoleons restaurative Eroberungskriegszüge in Europa,
die in den Befreiungskriegen unter Friedrich Wilhelm III. erst 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig und dann 1815 mit Napoleons Niederlage in Waterloo ihr endgültiges Ende fanden. Der Wiener Kongress 1814/15 und die Karlsbader Beschlüsse 1819
stellten die alte repressive Ordnung in Europa wieder her, und es kam zur Unterdrückung der demokratisch-liberalen und nationalen Bewegungen.
Doch der Gedanke eines eigenen, in Bürgerfreiheit selbstbestimmten Nationalstaates ließ sich nicht mehr völlig zurückdrängen. Der Freiheitskampf in Griechenland 1821 weckte auch in anderen Ländern Begeisterung. Das Wartburgfest 1817, das
Hambacher Fest 1832, die Juli-Revolution 1830 in Frankreich waren nur Vorspiele zu
den aufständischen Bewegungen des Jahres 1848, die auch in Deutschland die Hoffnungen auf einen geeinten Nationalstaat bündelten. Wenn auch diese Hoffnungen zunächst nicht von Erfolg gekrönt wurden, so war Deutschland nach dem Aufgehen der
rund 300 souveränen deutschen Kleinstaaten durch den Regensburger Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und den Deutschen Bund von 1815 in letztlich nur noch
39 Einzelstaaten einen deutlichen Schritt zu seiner Vereinigung zum Deutschen Reich
im Jahre 1871 vorangekommen.
Im wirtschaftlichen Bereich finden erst gegen Ende der Epoche bemerkenswerte
Veränderungen statt. Aufgrund seiner weltweiten Handelsbeziehungen, gestützt auf
Kapitalismus und Freihandel, und seiner technischen Fortschritte (Dampfmaschine,
Spinnmaschine, mechanischer Webstuhl) breitet sich von England aus eine industrielle Revolution über Europa aus und lässt eine neue soziale Schicht heranwachsen: das
Arbeiterproletariat.
Geistesgeschichtlich wird dieser Zeitraum von der aus Frankreich kommenden Aufklärung und dem Deutschen Idealismus geprägt. Madame de Staël bezeichnete die
Epoche später als die Zeit der deutschen Dichter und Denker. Auf den Aufklärer
Immanuel Kant (1724–1804) folgen die idealistisch beseelten philosophischen System­
entwürfe von
–– Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der mit seinem Einheitsbestreben Kants
scharfe Differenzierung von Subjekt und Objekt aufhebt und mit seinen Reden
an die deutsche Nation in seinem Publikum eine Art deutsches Selbstbewusstsein
wecken will,
–– Friedrich Wilhelm von Schelling (1775–1854), der mit seiner Naturmetaphysik die
Romantik untermauert,
–– Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der in seiner Phänomenologie des
Geistes die Überlegenheit des Staates gegenüber dem Individuum begründet.
„Freiheit,
Gleichheit,
Brüderlichkeit“
Wirtschaftliche Veränderungen
Deutscher
Idealismus
9
1.1 Epochenumbruch 18. / 19. Jahrhundert
1.1.2 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe (1784)
1.1.2Friedrich Schiller, Kabale und Liebe (1784)1
Biografischer Bezug
Friedrich Schiller (1759–1805) stammte aus einfachen Verhältnissen. Als Sohn eines
Wundarztes, Hauptmanns und späteren Oberaufsehers über die Herzogliche Hofgärtnerei in Diensten Karl Eugens von Württemberg musste er acht Jahre an der verhassten, „Karlsschule“ genannten Militärakademie in Stuttgart verbringen, um für einen
Hungerlohn Feldscher und Regimentsmedicus (Militärarzt) zu werden. Aus seinen
wesentlich stärkeren literarischen Interessen erwuchs 1781 das revolutionäre Stück
Die Räuber, das aber nur jenseits der Landesgrenzen in Mannheim aufgeführt werden
konnte.
Als sein repressiver (unterdrückender) Landesherr von einer weiteren von ihm ungenehmigten Reise dorthin erfährt, bestraft er Schiller mit zwei Wochen Arrest. Während dieser Strafzeit im Juni/Juli 1782 entwickelt Schiller erste Pläne zum Stück Luise
Millerin, wie er sein Drama zunächst betitelt. Er beendet es aber erst zwei Jahre später,
nachdem er wegen eines absoluten herzoglichen Schreib- und Reiseverbots mit dem
Pianisten Andreas Streicher hochverschuldet aus Stuttgart über Mannheim, Frankfurt,
Oggersheim und Worms geflohen ist. Als gesuchter Deserteur kommt er in dem thüringischen Dorf Bauerbach nahe Meiningen auf dem Gut der Freifrau Henriette von
Wolzogen, der Mutter eines ehemaligen Mitschülers, als Dr. Ritter anonym zur Ruhe.
Schiller ist 25 Jahre alt, als sein mehrfach überarbeitetes Drama unter dem vom
Schauspieler Iffland vorgeschlagenen Titel Kabale und Liebe erscheint. In ihm hat er
viele der Erlebnisse und Erfahrungen seines jungen Lebens verarbeitet:
–– die Grundlagen des pietistischen Glaubens2 seines Pfarrers und Lateinlehrers
Moser,
–– die Charakteristika des sich in der Empfindsamkeit säkularisierenden (verweltlichenden) Pietismus, der im überschwänglichen Gefühl eine Ausdrucksform des
sittlichen Menschen vermutete, das Privatleben dem öffentlichen Leben vorzog,
die sinnliche Liebe zur Grundlage sozialer Institutionen erklärte und das Lesen
von Romanen (von konservativen Zeitgenossen als gefährliche „Sucht“ abgelehnt)
gesellschaftsfähig machte,
–– die Auswüchse des in Stuttgart erfahrenen Absolutismus mit seinem durch Ausbeutung und Verkauf des Volkes (z. B. als Söldner nach Amerika) ermöglichten Luxus, seiner maßlosen Verschwendungssucht, seinem Mätressenwesen und seinem
unbegrenzten brutalen Despotismus (Willkürherrschaft),
–– die in Schillers Karlsschulreden hergestellte Beziehung zwischen Liebe und Tugend: „Tugend ist das harmonische Band von Liebe und Weisheit“,
–– die kleinbürgerlichen Verhältnisse aus seinem Untermieterverhältnis im Haus
der Hauptmannswitwe Luise Dorothea Vischer in Stuttgart,
–– die emotionalen Erfahrungen seiner eifersüchtigen und unerfüllten Liebe zu der
16-jährigen Charlotte von Wolzogen,
1
2
Inspiration
im Arrest
Eigene Erfahrungen als
Grundlage
Ausführlich: Volker Krischel: Textanalyse und Interpretation zu Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Hollfeld: Bange Verlag, 4.
Aufl. 2014 (Königs Erläuterungen Nr. 31).
Pietismus: von lat. pietas: Frömmigkeit; eine im 17. Jahrhundert entstandene religiöse Bewegung des deutschen Protestantismus; im Zentrum standen die persönliche Verwirklichung des Glaubens und eine christliche Lebensführung.
13
1.1 Epochenumbruch 18. / 19. Jahrhundert
1.1.2 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe (1784)
–– die aus der unglücklichen Aufnahme seines zweiten Dramas Fiesko (1783) gewonnene Einsicht, mit einem rührenden Familiendrama eher den trivialen (anspruchslosen) Publikumsgeschmack seiner Zeit zu bedienen,
–– die dramaturgische Strategie, durch eine Anpassung der Figuration (Figurendarstellung) an das Schauspielensemble in Mannheim den Theatererfolg zu befördern.
in fo
14
Daten zum Text
Textsorte
bürgerliches Trauerspiel in 5 Akten
Entstehungszeit
Juni 1782–Juli 1783
Veröffentlichung
März 1784 in der Schwan’schen Hofbuchhandlung in Mannheim
Erstauffüh­
rungen
13. 4. 1784 Bühne der Großmannschen Gesellschaft in Frankfurt;
15. 4. 1784 Nationaltheater Mannheim
Quellen
Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti (1772)
Otto Heinrich von Gemmingen, Der teutsche Hausvater (1782)
Einordnung
Sturm und Drang
Thema
Scheitern einer unstandesgemäßen und untugendhaften Liebe;
soziale Missstände eines absolutistischen Kleinstaates
Kontext
Karlsschulrede: Die Tugend in ihren Folgen betrachtet (1780)
Zeit der Handlung
Winter 1781/1782
Ort der Handlung
deutscher Fürstenhof (Ludwigsburg, Hof des Herzogs Karl Eugen
von Württemberg)
Hauptfiguren
Präsident von Walter, sein Sohn Ferdinand, sein Sekretär Wurm,
Hofmarschall von Kalb, Lady Milford (Johanna Norfolk); Stadtmusikant Miller, seine Frau, seine Tochter Luise
1.1 Epochenumbruch 18. / 19. Jahrhundert
1.1.2 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe (1784)
Funk tionale Oppositionen
Adel Lady Milford geplante Partnerin
Ferdinand rebellischer Sohn
Präsident von Walter autoritärer Vater
Hofmarschall von Kalb satirische männliche Nebenfigur
Bürger Sekretär Wurm werbender Partner
Luise gehorsame Tochter
Stadtmusikant Miller autoritärer Vater
Millerin (seine Frau)
satirische weibliche Nebenfigur
Schaubild 4: Figurenkonstellation (2): Funktionale Oppositionen
Übersicht: Interpretation
4
20
Aspekt
Thematik
Biografie
Widerspiegelung eigener Erfahrungen und Erlebnisse: des Glaubens (Pietismus), des Zeitgeistes (Empfindsamkeit), der Verhältnisse (Absolutismus), der Reflexion (Liebe), des Empfindens (Liebe),
des Bühnenerfolgs (Schauspieler, Publikum)
Wirklichkeitsbezug
(Realismus)
Präsident: Graf Montmartin, Ministerpräsident unter Herzog Karl
Eugen; Walter: Garteninspektor J. J. Walter, eifersüchtiger Denunziant; Lady Milford: Franziska von Hohenheim, Mätresse des
Herzogs; akkurates Lokalkolorit
Intertextualität
theatralisch bühnenwirksame Familientragödie
Politik
Anklage des despotischen Absolutismus in deutschen Duodez(Mini-)staaten (Tyrannei, Willkür, Korruption, Gewissenlosigkeit,
Höflings- und Mätressenwirtschaft4): politisches Tendenzdrama
(F. Engels)
Weltanschauung
Adel (absolute Herrschaftswillkür) vs. Bürgertum (stolzes Moralethos);
dualistisches Weltbild: Natur vs. Vernunft, Neigung vs. Pflicht;
Notwendigkeit vs. Freiheit
Religion
Folgen der Aufklärung: Gefahren der säkularisierten (verweltlichten) Liebesreligion der Empfindsamkeit; christliche Tragödie zum
Sündenfall
Vorhandensein von Mätressen (Geliebten des Fürsten) am Hof.
1.2 Epochenumbruch 19. / 20. Jahrhundert
1.2.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 19. / 20. Jahrhundert
1.2Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert – unter
besonderer Berücksichtigung
der Entwicklung epischer Texte
1.2.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert
in fo
26
Übersicht: Epochenumbruch
Zeitspanne
1848–1933
Politische
Entwicklung
Gründung des Deutschen Reiches 1871; Politik des Imperialismus
I. Weltkrieg: 1914–1918
Novemberrevolution 1918/19; Weimarer Republik: 1918–1933
Donaumonarchie Österreich-Ungarn: Zerfall der Nationengemeinschaft
Wirtschaftliche
Entwicklung
Aufschwung: Gründerjahre (1871–73), Fortschrittsoptimismus;
Kriegsnöte; wirtschaftliche Wirren: steigende Arbeitslosigkeit,
Weltwirtschaftskrise (1929)
Geistesgeschichtliche
Entwicklung
Fin-de-Siècle-Stimmung; Dominanz des naturwissenschaftlichtechnischen Denkens; wachsender Nationalismus (Chauvinismus)
und Antisemitismus
schneller literarischer Epochenwechsel:
Realismus:
ästhetisierte Wirklichkeitsdarstellung
Naturalismus:
Mensch als Produkt seiner Umwelt
Impressionismus:
Ausdruck subjektiven Sinnesempfindens
Symbolismus:
Betonung des Ästhetisch-Artifiziellen:
L’art pour l’art
Expressionismus/Dada: ekstatisch-radikaler Ausdruck existenzieller Befindlichkeit/anarchisch antiästhetischer Protest
Neue Sachlichkeit:
nüchterne Auseinandersetzung mit der
Wirklichkeit
1.2 Epochenumbruch 19. / 20. Jahrhundert
1.2.3 Literarische Beispiele der Neuen Sachlichkeit
1.2.3 Literarische Beispiele der Neuen Sachlichkeit: Romanauszüge / Erzähltexte von Erich Kästner, Hans Fallada, Marieluise
Fleißer oder Irmgard Keun
in fo
„So kann jeder, der nicht
kann.“
Übersicht: Neue Sachlichkeit
Zeit
1919–1932
Themen
soziale und ökonomische Wirklichkeit: Industrie, Wirtschaft,
Großstadt, Arbeit in Büro, Firma, Fabrik; Arbeitslosigkeit; technischer Fortschritt
Textsorten
literarische Gebrauchsformen: Reportage; Drama, Prosa, Lyrik
„Zeitroman“: Thematisierung der aktuellen politischen, ökonomischen und kulturellen Wirklichkeit und des alltäglichen Lebens
Stil, allgemein
anti-expressionistisch, entsentimentalisiert, nüchtern-sachlich,
kritisch-dokumentierend, präzise beobachtend, tatsachenorientiert, authentisch, nützlich
Stil, narrativ
an die mündliche Rede angepasste Schriftsprache; einfacher Ausdruck, distanzierte Subjektivität, humorvoll, satirisch bis zynisch,
sezierende Analyse
Autoren
–– Journalismus: Egon Erwin Kisch (1885–1948), Kurt Tucholsky
(1890–1935)
–– Drama: Bertolt Brecht (1898–1956), Carl Zuckmayer (1896–
1977), Ödön von Horváth (1901–1938)
–– Roman: Heinrich Mann (1871–1950), Alfred Döblin (1878–
1957)
–– Lyrik („Gebrauchslyrik“): Kästner, Brecht, Tucholsky
Vom Ausgang des I. Weltkriegs ernüchtert und desillusioniert, konstatiert man sachlich
registrierend oder kritisch dokumentierend die soziale und ökonomische Gegenwart,
sodass literarische Gebrauchsformen wie die Reportage an Bedeutung gewinnen. In
der erzählenden Literatur, die allerdings keine programmatische Gemeinsamkeit formuliert, ist der Erzählton von kühler Sachlichkeit über subjektive Erlebnishaftigkeit und
humorvolle Distanz bis zur spitzen Satire breit gefächert. Kurt Tucholsky fasst kurz und
despektierlich zusammen: „So kann jeder, der nicht kann.“13
Mit dem Ziel der Authentizität verzichten die Autoren auf Sentimentalitäten und ausufernde Bildlichkeit, wenn sie sich der alltäglichen Lebensumstände in der Familie und
am Arbeitsplatz, in Büros, Fabriken und Firmen annehmen. Zuweilen verfallen sie aber
einer naiven Begeisterung für die Amerikanisierung des Lebens durch die rasanten Fort13 Kurt Tucholsky: Auf dem Nachttisch. In: Die Weltbühne, 22. April 1930. Zitiert nach: Ders.: Gesammelte Werke. Reinbek: Rowohlt, 1975,
Bd. 8, S. 120.
52
1.2 Epochenumbruch 19. / 20. Jahrhundert
1.2.3 Neue Sachlichkeit: Hans Fallada (1893 – 1947)
schritte der technischen Zivilisation. Großstadt, Industrie und Arbeitslosigkeit sind die
bevorzugten Themen.
Neben den Journalisten Egon Erwin Kisch und Kurt Tucholsky und den Dramatikern
Bertolt Brecht, Carl Zuckmayer und Ödön von Horváth macht in dieser Zeit eine Vielzahl
von Erzählern von sich reden. Heinrich Mann mit seinen kritischen Romanen zur wilhelminischen Ära, allen voran Der Untertan (1918), und Alfred Döblin mit seinem epochalen Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (1928) zählen zu den bedeutendsten. Die hier
getroffene Auswahl der Autoren Kästner, Fallada, Fleißer und Keun beleuchtet dagegen
die zweite Linie – diejenigen, die zu ihrer Zeit viel gelesen oder beachtet wurden, doch
heute eher in Vergessenheit geraten sind. Für diesen Schwerpunkt können zwar keine
bestimmten Werke als gelesen vorausgesetzt werden, doch ist es durchaus möglich, dass
irgendein Textausschnitt aus einem Werk dieser Autoren im Abitur herangezogen wird.
In Frage kämen dafür jedoch auch andere Autoren dieser Zeit wie etwa Lion Feuchtwanger (1884–1954), der mit seinen Romanen Jud Süß (1925) und Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1930) ebenfalls der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen ist. Deshalb werden
im Folgenden wichtige mögliche Wissensstoffe nur in kurzen Übersichten dargestellt.
Will man den besonderen Stil der narrativen Literatur der Neuen Sachlichkeit kennzeichnen, so lassen sich folgende Stilelemente zusammentragen:
Übersicht: Stilelemente der narrativen Literatur
Semantik
Umgangssprache, z. T. mit Vulgarismen, Wortverkürzungen,
falscher Fremdwortgebrauch
Syntax
Parataxe, Häufung von Konjunktionen; elliptischer Satzbau; grammatische Unkorrektheiten; Wortstellungsfehler
Pragmatik
Annäherung an mündliches Erzählen; assoziative Gedankenverknüpfung; Vorliebe für Wiederholungen: refrainartig, leitmotivisch, satirisch; Verwendung von Montagetechniken
Erzählperspektive
zurückgenommener auktorialer Erzähler, personaler Erzähler,
monologisierender Ich-Erzähler
Stoffwahl
eigenerlebte bzw. tatsachenorientierte Ereignisse
in f o
Hans Fallada (1893–1947)
Hans Fallada, als Rudolf Ditzen geboren, wächst wegen der juristischen Karriere seines Vaters in Greifswald, Berlin, Rudolstadt und Leipzig auf. Als 18-Jähriger kommt er
wegen eines tödlichen Duells und eines anschließenden Selbstmordversuchs in eine
psychiatrische Klinik, zwischen 1917–1919 wegen Alkohol- und Morphiumabhängigkeit mehrmals in Heilanstalten und zwischen 1923–1928 wegen Unterschlagungen als
landwirtschaftlicher Rechnungsführer zweimal ins Gefängnis. Als er 1930 im Rowohlt
Verlag eine Anstellung erhält, hat er bereits zwei expressionistische Romane geschrie-
Psychiatrieund Gefängnisaufenthalte
53
1.2 Epochenumbruch 19. / 20. Jahrhundert
1.2.3 Neue Sachlichkeit: Hans Fallada (1893 – 1947)
ben und ein Jahr zuvor seine erste Frau Anna Margarete Issel geheiratet. Aus seinen
spannungsreichen Erfahrungen beim Landvolk-Prozess in Neumünster 1929 – Fallada
war Gerichtsreporter einer deutschnationalen Zeitung und gleichzeitig als Angestellter
des Neumünsteraner Verkehrsvereins Untergebener des Bürgermeisters – resultiert sein
Roman Bauern, Bonzen und Bomben (1931). Seine junge Frau, genannt Lämmchen, und
die Geburt seines ersten Sohnes Ulrich (Spitzname Murkel) im Jahre 1930 inspirieren
ihn zu dem internationalen Bestsellerroman Kleiner Mann – was nun? (1932).
Kleiner Mann – was nun? (1932)
in fo
Daten zum Text
Textsorte
Zeitroman in zwei Teilen: Die kleine Stadt (12 Kapitel) und Berlin
(30 Kapitel) mit Vorspiel und Nachspiel (3 bzw. 6 Kapitel), alle
Kapitel betitelt
Entstehungszeit
19. 10. 1931–19. 2. 1932
Erscheinungsjahr
Vorabdruck 20. 4.–10. 6. 1932 in der Vossischen Zeitung, Berlin;
Buchausgabe: 1932, Berlin: Rowohlt-Verlag
Einordnung
Neue Sachlichkeit
Thema
Milieustudie über die alltäglichen Nöte des Kleinbürgers während
der Weltwirtschaftskrise
Zeit der
Handlung
Juni 1929–November 1931
Ort der
Handlung
Platz, Ducherow, Berlin
Hautfiguren
Johannes Pinneberg, Buchhalter; Emma Mörschel (Lämmchen),
seine Frau mit Sohn Horst (Murkel); Emil Kleinholz, Düngemittelhändler, mit Tochter Marie; Joachim Heilbutt, Kessler, Verkäufer;
Pinneberg, Mutter, Holger Jachmann, ihr Freund; Puttbreese
Inhalt
Als Emma Mörschel, genannt Lämmchen, klassenbewusste Arbeitertochter, schwanger ist, heiratet sie den Buchhalter Johannes Pinneberg und zieht von dem Ort Platz in
dessen vollgestopftes Logierzimmer nach Dacherow (Ostvorpommern). Dort muss die
Beziehung geheim bleiben, weil Pinneberg fürchtet, seinen Job nur so lange behalten
zu können, wie sein Chef Emil Kielholz hofft, seine Tochter Marie an ihn zu verheiraten.
Als Pinneberg letztlich trotz eines Solidarpaktes unter den Angestellten gekündigt und
54
1.3 Lyrik der Romantik, des Expressionismus und der jüngsten Gegenwart
1.3.1 Lyrik der Romantik
1.3
Lyrik der Romantik, des Expressionismus und
der jüngsten Gegenwart (etwa ab 1990)
Bei der Behandlung der Gattung Lyrik werden keine Einzelwerke, sondern nur drei Epochen vorgegeben, wobei die letzte nicht einmal die grobe stilistische oder thematische
Einheitlichkeit einer Epoche im engeren Sinne aufweist. Deshalb ist es schwierig, selbst
herausragende Gedichte der jeweiligen Zeitabschnitte als bekannt vorauszusetzen. Infolgedessen sollen in diesem Kapitel vor allem die strukturellen Wissenselemente angesprochen werden. Dazu gehören neben den Informationen zu den zeitgeschichtlichen und
historischen Hintergründen der vorausgesetzten Epochen Romantik, Expressionismus
und jüngster Gegenwart vor allem die kennzeichnenden stilistischen Strukturen sowie
thematischen Schwerpunkte der jeweiligen Lyrik.
1.3.1 Lyrik der Romantik23
Zur Epoche
Die Romantik (1795–1840) lässt sich verstehen als eine protesthafte Reaktion auf die
nach der Französischen Revolution als krisenhafte Enttäuschung empfundenen napoleonischen Kriege und die Wiederherstellung des absolutistischen Systems in Europa.
(Weiteres zum zeitgeschichtlichen und historischen Hintergrund vgl. Kap. 1.1.1.)
Die Romantik setzt die sich von der rationalen Einseitigkeit der Aufklärung wegbewegende Entwicklung des Sturm und Drang und der Klassik fort und erweitert sie bis an
die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Fichtes subjektiver Idealismus, der von einem absolut
autonomen, schöpferischen Ich ausgeht, und Schellings Identitätsphilosophie, nach der
Natur und Geist eine Einheit bilden, schaffen die Bedingung für die Welt- und Kunstauffassung einer allumfassenden Synthese. Romantische Literatur versteht sich als eine
„progressive Universalpoesie“, die das Ziel verfolgt, nicht nur „alle getrennten Gattungen der Poesie zu vereinen“ (Friedrich Schlegel), sondern auch alle anderen Bereiche
des Lebens. So dominiert die Vorstellung von der Aufhebung und Vereinigung der Gegensätze in einer mystischen Einheit, die an mittelalterlichem Wunschdenken anknüpft.
Überirdisches soll mit Irdischem, Ewiges mit Zeitlichem, Vergangenes mit Gegenwärtigem, Seelisches mit Körperlichem, Geist und Sinnlichkeit, Bewusstes und Unbewusstes,
Traum und Wirklichkeit zu einer harmonischen Vollkommenheit verschmelzen.
Die Epoche der Romantik wird in drei Phasen gegliedert:
–– die Frühromantik oder „Jenaer Romantik“ zwischen 1795 und 1805, die ihren
Schwerpunkt in der Herausbildung der romantischen Theorie und ihre Hauptvertreter in Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Novalis (Friedrich von
Hardenberg) und den Gebrüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel besaß,
–– die Hochromantik oder „Heidelberger Romantik“ zwischen 1805 und 1820, in der
man sich unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege auf das Patriotische, NationalHistorische und Völkische (Märchen, Volkslieder) konzentrierte und die vor allem von
Achim von Arnim, Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff repräsentiert wird,
Ideologie der
universellen
Einheit
23 Ausführlich: Gudrun Blecken: Lyrik der Romantik. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2. Aufl. 2014 (Königs Erläuterungen Spezial, Bd. 3032-7).
79
1.3 Lyrik der Romantik, des Expressionismus und der jüngsten Gegenwart
1.3.1 Lyrik der Romantik
–– die Spätromantik oder „Schwäbische Romantik“ zwischen 1820 und 1848, die
sich stärker dem Religiösen zuwandte und in Ludwig Uhland, Gustav Schwab und
Eduard Mörike ihre wesentlichsten Autoren fand.
Nicht die bevorzugte literarische Gattung dieser Epoche, aber jene, an der die Epochenmerkmale am leichtesten ablesbar sind, ist die Lyrik, weil sie am ehesten und
überzeugendsten erlaubt, subjektives Empfinden zum Ausdruck zu bringen und divergierende Sphären miteinander zu harmonisieren und zu verschmelzen.
Damit das Ich des Schriftstellers sich behaupten kann, wird das Mittel der Ironie
eingesetzt. Diese romantische Ironie unterscheidet sich von der rhetorischen Ironie
insofern, als sie weniger ein Ausdrucksmittel ist als ein Stilmittel der Verfremdung,
das die Illusion der Fiktion durchbricht, die Eindimensionalität des Geschriebenen im
Sinne der Romantik aufhebt, in Frage stellt und so Distanz schafft.
epochenübersicht Romantik
Politische Krise Revolutionskriege
Napoleonische Kriege/Befreiungskriege
Wiener Kongress
Restauration
Philosophischer Idealismus Fichtes Idealismus
Schellings Identitätsphilosophie
Krise des Individuums Stillstand der Emanzipation
Tendenz zum Eskapismus (Flucht): Mittelalterideal,
Naturidylle, Poetisierung der Welt, Subjektivismus
Romantik als Universalpoesie Frühromantik
Jenaer Romantik: 1795 –1805
Hochromantik
Heidelberger Romantik: 1805 –1820
Spätromantik
Schwäbische Romantik: 1820 –1848
Schaubild 17: Romantik
80
1.4 Spracherwerb und Sprachentwicklung
1.4.1 Phylogenetischer Spracherwerb: Ursprung der Sprache
1.4
Spracherwerb und Sprachentwicklung28
Spracherwerb kann unter zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden:
Spracherwerb der Menschheit (Phylogenese) oder Spracherwerb des einzelnen
Menschen (Ontogenese). Die Frage nach dem Ursprung der Sprache ist also
jene der Phylogenese, die der Ontogenese ist die Frage nach dem indi­viduellen
Spracherwerb und der Sprachentwicklung. Zu beiden Fragenkomplexen haben
sich unterschiedliche Theorien herausgebildet.
1.4.1Phylogenetischer Spracherwerb: Ursprung der Sprache
Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) –
Auszüge aus I. Teil, 1. und 2. Abschnitt (als gemeinsamer Bezugstext)
Entdecker
des Volkslieds
Zum Autor
Johann Gottfried Herder (1744 –1803), in Ostpreußen als Sohn eines pietistischen Kantors und Volksschullehrers geboren, war einer der wesentlichen Wegbereiter für die
Entwicklung der bedeutendsten deutschen Literaturepochen. Nach autodidaktischer
Bildung durch eine örtliche Pfarrbibliothek und dem Studium der Medizin, Theologie
und Philosophie in Königsberg ließen vor allem die Erfahrungen einer Seereise von Ostpreußen nach Nantes und auf dem Landwege über Paris, Amsterdam und Hamburg
nach Eutin sowie einer Italienreise als Begleiter des holstei­nischen Prinzen in ihm die
Erkenntnisse wachsen, deren Vermittlung ihn bedeutend machte. Herder erkannte die
besondere Ästhetik der gotischen Baukunst und als einer der ersten die Bedeutung
Shakespeares; er rezipierte Jean-Jacques Rousseaus Kulturkritik, entdeckte die natürliche Ästhetik in den von ihm gesammelten Volksliedern (1778/79) und übertrug den
Gedanken einer organischen Entwicklung auf Sprache, Nationalkultur und Geschichte.
Damit beeinflusste er nicht nur nachhaltig den jungen Goethe, mit dem er 1770 in Straßburg zusammentraf, sondern wurde zum Anreger von Sturm und Drang, Klassik und
Romantik. Herder starb, nach einer Goethe verdankten Hofkarriere in Weimar, zuletzt
ver­bittert und vereinsamt aufgrund der Ablehnung seines ambitionierten philosophischen Spätwerks.
28 Ausführlich: Kerstin Prietzel: Inhaltlicher Schwerpunkt: Reflexion über Sprache, Deutsch-Abitur NRW 2013, 2014 und 2015.
Hollfeld: Bange Verlag, 2. Aufl. 2012 (Königs Abi-Trainer).
90
1.5 Aspekte des Sprachwandels in der Gegenwart
1.5.1 Sprachwandeltheorien
1.5
Aspekte des Sprachwandels in der Gegenwart:
Einfluss neuer Medien, Mehrsprachigkeit
Jede natürliche, lebende Sprache ist mit der Zeit auch dem Wandel unterworfen, die
gesprochene Sprache eher als die geschriebene. Die Gesamtentwicklung einer Sprache
wird in ihrer Sprachgeschichte dokumentiert. Da zu jeder Zeit unterschiedliche Einflüsse auf eine konkrete Sprache einwirken, seien sie politischer, sozialer oder kultureller
Natur, entwickeln sich in den überaus heterogenen Gruppen der Sprachgemeinschaft
auf allen Ebenen des Sprachsystems unterschiedliche Sprachvorlieben und -tendenzen
heraus, die – historisch betrachtet – einer neuen Phase der Sprachgeschichte den Grund
legen können. Dazu haben sich mehrere Theorien herausgebildet:
Unterschiedliche Einflüsse
1.5.1 Sprachwandeltheorien
Theorie
Beschreibung
Kritik/Beurteilung
Stammbaumtheorie
Jede Sprache ist aufzufassen als Zweig einer Sprachfamilie, die wiederum
gemeinsam einem Sprachstammbaum zugehören.
Grundlagenwissen
Superstrat-Theorie
(superstrat:
darübergestreutes)
Eine Sprache übernimmt
in einer Unterlegenheitssituation Bestandteile der
Sprache des überlegenen
Volkes (Transferenzen).
Interessant für Latinismen,
Gallizismen (18./19. Jh.) und
Anglizismen (20. Jh.)
Substrat-Theorie
(substrat:
daruntergestreutes)
Eine dominante Sprache
übernimmt Elemente der
ihr unterlegenen Sprache.
Interessant für regionalsprachliche Varietäten
(z. B. Übernahme von „Kanaksprach“ in die dt. Hochsprache)
Wellentheorie
Zwischen verwandten
Sprachen kommt es immer
wieder zu Wechseleinflüssen.
Interessant z. B. für den Einfluss des Deutschen auf das
Anglo-Amerikanische
Stadialtheorie
(stadial: stufenweise)
Jede Sprache entwickelt
sich organisch in Stadien
von einfacher zu komplexer
Struktur.
Umkehrtendenz in heutiger
Sprache beobachtbar: Pragmatismus (Telegrammstil,
SMS-, Comic-Sprache)
Theorie der unsichtbaren Hand
Sprachwandel vollzieht sich
evolutionär, d. h. ungeplant
und unbeabsichtigt (Trampelpfadtheorie).
95
1.6 Sprachkritik, Sprachskepsis, Sprachnot
1.6
Sprachkritik, Sprachskepsis, Sprachnot
Unter Sprachkritik versteht man im Allgemeinen die wertende Auseinandersetzung
mit der geltenden Norm und der aktuellen Verwendung einer Sprache. Ein aktuelles
Beispiel dafür wäre die bis heute anhaltende Kritik an der Einführung einer neuen
deutschen Sprachnorm durch die Rechtschreibreform zwischen 1996 und 2006. In
der Regel beziehen sich sprachkritische Äußerungen und Veröffentlichungen auf die
Veränderungen, Tendenzen und Auffälligkeiten im aktuellen Sprachgebrauch und alle
Formen der Sprachlenkung, die das Denken und die Einstellung der Sprachteilnehmer
beeinflussen sollen und die meist politisch motiviert sind. Dazu gehören:
–– offizielle Sprachregelungen in Bezug auf Einzelbegriffe mit meist wertender
Intention (so waren nach 1949 in der Bundesrepublik für die DDR Begriffe wie
„Zone“, „Mitteldeutschland“ oder „sogenannte DDR“ üblich; anderes Beispiel:
„Fremdarbeiter“-„Gastarbeiter“-„ausländischer Arbeitnehmer“),
–– die Definitionsbegrenzung (verordnete Begriffseinengungen: z. B. NS-Zeit: „Propaganda“ „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“),
–– die Tabuisierung (Verbot, Meidung von Einzelwörtern) und
–– der Euphemismus („Freistellung“ für Entlassung).
Sprachkritik richtet sich auch auf die Verwendungsgeschichte („Dirne“, „geil“) und
den Missbrauch einzelner Wörter.
Sinn dieser Kritik ist zumeist die Warnung vor einem oder der Hinweis auf einen
Sprachwandel mit dem Ziel, den Bestand der Muttersprache zu pflegen und diesen vor
für unangemessen gehaltenen Veränderungen zu bewahren (Sprachpurismus).
Hier ist zwischen der wissenschaftlichen Sprachkritik und ihrer populärwissenschaftlichen Tochter, die oft eher Unterhaltungscharakter hat, zu unterscheiden. So finden sich
auf dem Buchmarkt diverse populär gehaltene Stilratgeber (z. B. von Bastian Sick: Der
Dativ ist dem Genitiv sein Tod).
Sprachskepsis ist kein wissenschaftlicher Terminus, sondern ein literarhistorischer
und bezeichnet die am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Formen des Zweifels
an der Leistungsfähigkeit der Sprache (vgl. den Zusammenhang von Sprache-DenkenWirklichkeit). Daraus erwuchs auch die Sprachnot.
Sprachnot ist ebenfalls kein linguistischer Begriff. Er bezieht sich wie der Begriff
Sprachskepsis auf eine besondere sprachkritische und literarische Situation zu Ende
des 19. Jahrhunderts, in der Autoren ein Problem darin sahen, ihrer individuellen Sicht
der Wirklichkeit und ihren vermeintlich neuartigen Gedanken mittels einer allgemeinen,
verbrauchten, konventionellen und in ihren Nuancen bereits belasteten Sprache angemessenen Ausdruck verleihen zu können. Auslöser für diese Verunsicherung war neben
dem Siegeszug der Naturwissenschaften mit ihren Fachsprachen v. a. der Aufstieg des
Massenmediums Tageszeitung. Man fürchtete in dieser Krise, mit seiner Ausdrucksabsicht an den bereitstehenden Standardisierungen, Worthülsen und Denkschablonen
zu scheitern und ersehnte neue Ausdrucksformen. In diesen Zusammenhang ist der
Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal zu stellen.
Sprachpurismus
101
2.1 Psychologischer Aspekt: Individuation und Sozialisation
Individuation Sozialisation Entfaltung und Nutzung der eigenen Rollenfindung und Verantwortung
Anlagen und Möglichkeiten
in einem gesellschaftl. Miteinander
vorgegebenes weltanschauliches
Wertesystem
barock
naturbegründetes
Selbstbewusstsein
aufkl ärung
sturm und drang
autonome
Selbstbestimmung
Ausgleich von Autonomie und sozialer Pflicht
Klassik
Flucht in den
Individualismus
Romantik
Verpflichtung nur
gegenüber der Familie
Biedermeier
Kampf um
politische Ziele
Vormär z
individuelle Anpassung
an soziale Verhältnisse
Re alismus
Impressionismus
E xpressionismus
ästhetischer Rückzug auf
die Individualität
extrem individueller
Ausdruck
neue sachlichkeit
nach 194 5
heute
Verunsicherung
aller Werte
Ausweitung und Vertiefung
der Unsicherheit
wachsende soziale Fremdbestimmung
durch Medien u. soziale Zwänge
Schaubild 20: Individuation und Sozialisation
111
2.2 Genderaspekt
2.2.1 Die Rolle des Mannes in der Gesellschaft
2.2Genderaspekt
Dominanz
männlicher
Autoren in
der Literaturgeschichte
Die Stellung des Mannes in der Gesellschaft scheint über die Jahrhunderte relativ stabil. Religiös begründet, findet er im Patriarchat eine fest definierte privilegierte und
dominante Rolle, die ihm erst seit dem Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert ernstlich
streitig gemacht wird. Das ist allein an der Autorschaft von Texten ablesbar, obwohl
die Frauen bereits seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zu schreiben begonnen haben
(Hroswitha von Gandersheim, ca. 935 – 1002, wird als erste deutsche Dichterin angesehen) und sogar seither traditionell das Gros des Lesepublikums ausmachen. Dies
ist keine Frage der literarischen Qualität: Da auch die Literaturgeschichtsschreibung
männlich dominiert wurde, wurden selbst herausragende Texte von Autorinnen in der
Regel gar nicht erst kanonisiert. Selbst die zum Abitur obligatorisch zu lesenden Texte
entstammen überwiegend männlichen Federn. Erst Marieluise Fleißer und Irmgard
Keun bilden eine Ausnahme. Auch die Hauptfiguren der zu lesenden Texte sind überwiegend männlich. Lediglich Schillers Luise und die Romanheldinnen der Autorinnen
weichen davon ab: Gisela Kron (Gilgi), Doris und Frieda Geier. Hier wird erkennbar,
dass sich im 20. Jahrhundert eine Veränderung der geschlechtsspezifischen Wertung
vollzieht.
2.2.1Die Rolle des Mannes in der Gesellschaft
Übersicht
Autor
Figur
Männerbild
Schiller
Präsident
absolutistische Position mit unbegrenzter
Machtgier
Wurm
serviler, skrupelloser Utilitarist39
Ferdinand
egomanischer Individualist
Miller
selbst- und sittenbewusster Kleinbürger
Josef K.
erst ungefestigter Mitläufer, dann selbstzweifelnder Kritiker
Huld, Titorelli
Direktor-Stellvertreter
schmierige Verteidiger des gesellschaftlichen
Systems
opportunistischer Karrierist, Repräsentant des
Zeitgeistes
unterwürfige sadomasochistische Anpassung
Kafka
Sonstige
39 Jemand, der nur auf den Nutzen achtet.
112
2.3 Literarhistorischer Aspekt: Ratio und Sensus
2.3 Literarhistorischer Aspekt: Die literarische
Entwicklung als Pendelbewegung zwischen
Ratio und Sensus (Epochenmerkmale)
Verstand und
Gefühl
Die Menschheitsgeschichte scheint sich manchmal zyklisch, also wie in einem Kreislauf, zu vollziehen oder einer Pendelbewegung zwischen zwei Extremen zu ähneln. So
kann man sich auch die literarische Entwicklung vorstellen. Die Extreme werden hier
durch zwei Pole gebildet, die sich nicht ausschließen, sondern kompensatorisch miteinander harmonieren können: die Ratio auf der einen und der Sensus auf der anderen
Seite. Der Verstand äußert sich dabei in logischen Kategorien, objektiven Kriterien und
abstrakten Begriffen, das Gefühl in Pathos, subjektiven Emotionen und expressiver
Bildlichkeit. Je nach der historischen Pendelstellung gestalten sich die stilistischen
Epochenmerkmale.
Überblick
118
Epoche
Akzent
Schreibstil
Barock
ausgeglichen
differenzierte Formartistik
Aufklärung
rational didaktisch
Diskurs abstrakter Begrifflichkeiten
Anakreontik
emotional
stilisierte Bildmuster
Pietismus
emotional
pathetisch-religiöse Empfindung
Sturm und Drang
emotional
genialisch-egoistische Subjektivität
Klassik
ausgeglichen
idealistisch-strenge Erhabenheit
Romantik
emotional
sehnsuchtsvolle Fantasie
Biedermeier
rational
wirklichkeitsnahe Idealität
Vormärz
ausgeglichen
leidenschaftliches politisches Engagement
Realismus
ausgeglichen
Betonung von Deskription und Figurenrede
Naturalismus
emotional
selektierender Verismus (schonungslose Wirklichkeitsdarstellung)
Symbolismus
rational
elitäre, vernunftbetonte Bildlichkeit
Impressionismus
emotional
sensible, sprachskeptische Subjektivität
Expressionismus
emotional
apokalyptische Wortgewalt
Neue Sachlichkeit
rational
wertungsarme, nüchterne Distanz
Trümmerliteratur
rational
skeptisch-misstrauische Zurückhaltung
2.4 Thematische Aspekte
2.4.1 Liebe als literarisches Motiv
2.4Thematische Aspekte
2.4.1 Liebe als literarisches Motiv
Die Liebe zählt zweifelsfrei zu den häufigsten literarischen Motiven, nicht nur in der
Lyrik. Es kann an dieser Stelle keine begriffliche Differenzierung dieses sehr vielschichtigen und deshalb vagen Begriffes geleistet werden. An dieser Stelle sollen unter
dem Begriff Liebe alle von Zuneigung geprägten zwischenmenschlichen Beziehungsformen gefasst werden, unabhängig davon, ob sie in den jeweiligen literarischen Werken Wunsch oder Realität sind oder Bestand haben bzw. hatten.
Übersicht:
Werk
Beziehung
Figur
Bild der Liebe
Kabale und Liebe
asymmetrisch
Ferdinand
Luise
subjektive Ersatzreligion
Harmonie von Sinnlichkeit
und Sittlichkeit
Persönlichkeitsbestätigung
Lady Milford
Der Proceß
asymmetrisch
Josef K.
schmutzig-animalische
Triebhaftigkeit
Hiob
asymmetrisch
Mendel
körperliche Attraktivität
asymmetrisch
Mirjam
Instrumentalisierung zum
Lustgewinn
Kleiner Mann…
symmetrisch
Johannes/
Lämmchen
partnerschaftliches Vertrauen
Fabian
asymmetrisch
Fabian
menschliche Wärme und
Trost
Cornelia
Liebe als Karrieremittel
Frieda
Partnerschaft
Gustl
Herrschaft
Doris
Instrumentalisierung der
Liebe als Mittel zum sozialen Aufstieg
Frieda Geier
Das kunstseidene
Mädchen
asymmetrisch
asymmetrisch
Bereits Schillers bürgerliches Trauerspiel Kabale und Liebe stellt die Liebe als Problemfeld ins Zentrum seiner Betrachtung. Ferdinand, der sich in seinem Gefühlsrausch ergebende und in Illusionen versteigende Sturm-und-Drang-Mensch, verdeutlicht, wie die
Liebe in Laster und Leid umschlagen kann, wenn sie nicht rücksichtsvoll partnerschaftlich angelegt ist, sondern einer subjektiven Ersatzreligion gleich zur Selbstapotheose
(Selbstvergöttlichung) missbraucht wird. Der Gewalt, mit der sich eine solch selbstsüch-
Verknüpfungsaspekt 1:
Kabale und
Liebe
121
2.5 Gattungstheoretische Aspekte
2.5.1 Der Wandel der Dramentheorie im Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert
2.5
Gattungstheoretische Aspekte
2.5.1Der Wandel der Dramentheorie im Epochenumbruch
18./19. Jahrhundert
Übersicht
Sturm und
Drang
132
Epoche
Merkmale
Theorie
Sturm
und Drang
Kabale und
Liebe
klassische Bauform
freie Prosa
expressive, selbstbewusste
Sprache als Ausdruck der
Leidenschaft
genialisch-kraftvolles Aufbegehren gegen subjektive
Unterdrückung
Kritik der Alltagsrealität
Anmerkungen übers Theater
(J. M. L.)
Im 18. Jahrhundert wurden die Vorstellungen von einem Drama beherrscht von zwei
unterschiedlichen Ansichten. Auf der einen Seite stand der an Regeln orientierte Traditionsstrang der Theorie, der sich von der antiken Poetik des Aristoteles bis zu den Werken
der französischen Klassiker erstreckte, auf der anderen Seite stand die regelfreie und
lebendige Theaterpraxis des ‚Genies‘ Shakespeare. Lessing hatte sich in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767/68) bereits um eine Entschlackung der Dramentheorie verdient gemacht und mit seinem bürgerlichen Trauerspiel den Weg bereitet. Goethe und
Schiller vollendeten den Prozess. In ihren shakespearehaften Jugenddramen setzten sie
sich über die strengen Vorschriften des herkömmlichen Theaters hinweg und gaben die
drei Einheiten des Ortes, der Zeit und der Handlung sowie die strenge Versgebundenheit der Figurenrede auf. Sie verwendeten stattdessen eine kraftvolle, ausdrucksstarke
Prosa, die geeignet war, die Leidenschaft des genialischen Aufbegehrens gegen alle
Formen der Unterdrückung des Subjektiven und Individuellen zu fassen. Bei Schiller
gerät dieser Stil, in dem er seine Zeitkritik formulierte, oft ins überzogen Schwülstige
und Pathetische.
In der Folgezeit wandelt sich die Zielsetzung des Dramas:
–– von der fiktionalen Ausmalung utopischer Ziele in der Klassik
–– über eine schonungslose Darstellung der schockierenden Wirklichkeitsfakten und
der Aufdeckung ihrer Ursachen im Naturalismus
–– hin zu einer mehr analytischen Dramaturgie im 20. Jahrhundert, die sich in immer
unübersichtlicher werdenden Zeiten um die Erhellung des Wechselverhältnisses
von individuellem Schicksal und zunehmend das menschliche Handeln bedingenden und beeinflussenden gesellschaftlichem Umfeld bemüht.
Teil II: Übungsaufgaben Hinweise, Tipps und Lösungsmöglichkeiten
135
1. Die Aufgabenstellungen im Abitur
Die Vorgaben
Für die Ablegung des schriftlichen Abiturs im Fach Deutsch gelten im Grund- und Leistungskurs die gleichen strukturellen inhaltlichen Anforderungen. Diese Anforderungen
umfassen die Verstehensleistung und die Darstellungsleistung. Bei der Verstehensleistung wird unterschieden zwischen der Reproduktionsleistung, der Wiedergabe von
Kenntnissen (Anforderungsbereich I), dem Transfer, der Anwendung von Kenntnissen
(Anforderungsbereich II) und der Problemlösung und Wertung (Anforderungsbereich III).
Jede Aufgabenstellung muss alle drei Anforderungsbereiche ansprechen. Dabei ist bei
den analytischen Aufgabenarten I (nichtfiktionale Texte) und II (fiktionale Texte) das Verhältnis dieser Anforderungen gleich, bei der argumentativen Aufgabenart III verschiebt
sich das Profil zugunsten des dritten Anforderungsbereichs. Seit 2011 wird die Zuordnung der Anforderungsbereiche zu den Punktbewertungen nicht mehr ausgewiesen.
Die Art der im Abitur zulässigen Aufgabenstellungen ist auf drei Aufgabenarten
festgelegt; im Falle der analytischen Aufgabenarten ist eine Differenzierung durch
Kennbuchstaben vorgesehen. Der Kennbuchstabe A bezeichnet dabei die Analyse
eines einzigen Textes, die Buchstaben B und C weisen auf einen Vergleich zweier
gleichartiger Texte hin oder auf eine spezielle Anforderung. Hier fehlt leider eine Bezeichnungssystematik. Alle Aufgabenstellungen bestehen aus mindestens zwei Aufgabenteilen, die je nach Aufgabenart unterschiedlich gewichtet werden. Die Aufgabenstellung selbst enthält keine Kennzeichnung der vorliegenden Aufgabenart. Diese
treten seit 2012 ohnehin zunehmend zugunsten von üppig formulierten Aufgabenstellungen in den Hintergrund. Deren Formulierung ist ebenfalls reglementiert, sodass vor
allem an den auffordernden Verben (Operatoren) erkennbar ist, welche Leistung genau
erwartet wird. So ist heute vor allem das Augenmerk auf diese bis zu fünf Operatoren
zu lenken, die den Vorteil besitzen, die Prüflinge meist einer Reflexion des methodischen Vorgehens zu entheben.
Die Operatoren
In der Tradition mancher Schulen und sogar einiger Regierungsbezirke des Landes
NRW liegt es, manchmal andere Operatoren als die vom Ministerium festgelegten zu
verwenden, weil sie leider auch innerhalb der Fächer unterschiedlich definiert sind.
Deshalb hat die Konferenz der Kultusminister sich im Oktober 2012 geeinigt, auf eine
Operatorenliste zu verzichten und die Arbeitsaufträge so zu formulieren, „dass sie von
Schülerinnen und Schülern aller Länder auch ohne Operatorenliste verstanden werden
können.“41 Danach ist der übergreifende Operator „interpretieren“ wieder für die Er41 www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf, S. 40
(Stand: Februar 2014).
136
1. Die Aufgabenstellungen im Abitur
schließung fiktionaler Texte verwendbar. Gleichwohl ist in NRW die am 26. 10. 2007
vom Schulministerium veröffentlichte Operatorenübersicht42 noch nicht zurückgenommen.
Die formalen Anforderungen sind im Leistungskurs und im Grundkurs etwas unterschiedlich. Klausuren im Leistungskurs werden für viereinviertel Zeitstunden angesetzt, im Grundkurs beträgt die Bearbeitungszeit drei Zeitstunden. Da drei Aufgaben
zur Auswahl vorgelegt werden, kommt zu dieser Bearbeitungszeit eine halbe Stunde
Auswahlzeit hinzu. Es stehen im Leistungskurs also insgesamt 285 Minuten Gesamtarbeitszeit zur Verfügung.
Anforderungsprofil der Aufgabenarten
Die punktgestützten Bewertungen der Lösungsbögen folgen den Abiturvorgaben und
wurden auf der Grundlage der in den zurückliegenden Abiturprüfungen in Grund- und
Leistungskursen verteilten Punktwerte erstellt. Die Aufgabenart I C und II B wurden
bislang noch nicht angeboten. Das ist allerdings nur für die Aufgabenart II B nachvollziehbar.
Die Gesamtpunktzahl beträgt im LK und GK z. Zt. 100 Punkte. Die Teilpunktsumme
für die Darstellungsleistung beträgt immer 28 Punkte. Die einzelnen Punktsummen bei
den Teilaufgaben können je nach Aufgabe variieren und werden in Abhängigkeit von
der Aufgabenformulierung zunehmend flexibler gehandhabt.
Punkteverteilung bei den Aufgabenarten
Aufgabenart
IA
IB
IC
II A
II B
II C
III A
1. Teilaufgabe
39/42
36
36
42
42
33/39
24/30
2. Teilaufgabe
30/33
36
36
30
30
33/39
48/42
Darstellung
28
28
28
28
28
28
28
Summe
100
100
100
100
100
100
100
Die Bewertung der Klausurarbeiten geschieht für Grund- und Leistungskurs vergleichbar durch einen punktgestützten Bewertungsbogen, der aus einem Raster besteht, das
den erwarteten Lösungskriterien eine maximal zu vergebende Punktzahl zuordnet.
Dieser Bewertungsbogen berücksichtigt alle inhaltlichen Anforderungen und weist sie
differenziert aus. Er lässt auch einen individuellen Bewertungsspielraum von bis zu 6
Punkten für nicht vorhergesehene, aber sinnvolle Lösungsbeiträge zu, sofern dadurch
die Gesamthöchstpunktzahl der Teilaufgabe nicht überschritten wird. Die der Leistung
zuzumessende Note wird durch Addition aller erreichten Punkte ermittelt und einer
Bewertungstabelle entnommen. Es gehört m. E. zu den Vorbereitungen zum Abitur,
auch in dieser Hinsicht einen möglichst differenzierten Kenntnisstand zu besitzen.
42 www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur-gost/fach.php?fach=1 (Stand: Februar 2014).
137
1. Die Aufgabenstellungen im Abitur
Übersicht: Darstellungsleistung
Anforderungen
Der Prüfling
138
Maximal
erreichbare
Punktzahl
1
strukturiert seinen Text kohärent, stringent und gedanklich klar:
–– angemessene Gewichtung der Teilaufgaben in der Durchführung
–– gegliederte und angemessen gewichtete Anlage der Arbeit
–– schlüssige Verbindung der einzelnen Arbeitsschritte
–– schlüssige gedankliche Verbindung von Sätzen
6
2
formuliert unter Beachtung der fachsprachlichen und fachmethodischen Anforderungen:
–– Trennung von Handlung und Metaebene
–– begründeter Bezug von beschreibenden, deutenden und wertenden ­Aussagen
–– Verwendung von Fachtermini in sinnvollem Zusammenhang
–– Beachtung der Tempora
–– korrekte Redewiedergabe (Modalität)
6
3
belegt die Aussagen durch angemessenes und korrektes Zitieren:
–– sinnvoller Gebrauch von vollständigen und gekürzten Zitaten
in begründeter Funktion
3
4
drückt sich allgemein präzise, stilistisch sicher und begrifflich
differenziert aus:
–– sachlich-distanzierte Schreibweise
–– Schriftsprachlichkeit
–– begrifflich abstrakte Ausdrucksfähigkeit
5
5
formuliert lexikalisch und syntaktisch sicher, variabel und komplex (und zugleich klar)
5
6
schreibt sprachlich richtig
3
Summe
28
1. Die Aufgabenstellungen im Abitur
Übersicht: Notenfindung
Für die Zuordnung der Notenstufen zu den Punktzahlen wird folgende Tabelle verwendet:
Note
Punkte
Erreichte Punktzahl
sehr gut plus
15
95 –100
sehr gut
14
90 – 94
sehr gut minus
13
85 – 89
gut plus
12
80 – 84
gut
11
75 – 79
gut minus
10
70 – 74
befriedigend plus
9
65 – 69
befriedigend
8
60 – 64
befriedigend minus
7
55 – 59
ausreichend plus
6
50 – 54
ausreichend
5
45 – 49
ausreichend minus
4
39 – 44
mangelhaft plus
3
33 – 38
mangelhaft
2
27 – 32
mangelhaft minus
1
20 – 26
ungenügend
0
0 –19
139
2. Übungsaufgaben
2.1 Klausurübungen
Im Folgenden werden zunächst vier Klausurübungen angeboten. Sie beziehen sich
auf die einzelnen obligatorischen Themen und können auch einzelnen Halbjahren der
Qualifikationsphase zugeordnet werden. Im Unterschied zu den Abituraufgaben dürfen
sie jedoch inhaltlich nicht kurs- und damit themaübergreifend formuliert sein. Ansonsten unterliegen alle Klausuren der Qualifikationsphase demselben Anforderungsprofil
wie die Abiturklausuren. Sie sind also eine gute Übung, sich auf die Aufgabenarten
und das Bewertungssystem im Abitur vorzubereiten.
Die Abfolge der Übungsaufgaben orientiert sich an der vom Ministerium gewählten
Reihenfolge der inhaltlichen Schwerpunkte. Die tatsächliche Abfolge der Inhalte im Unterricht kann je nach Fachcurriculum der Schulen davon abweichen. Die Klausurdauer
kann je nach schulischer Organisation mit vier Unterrichtsstunden und den eingeschlossenen Pausen zwischen 180 und 210 Minuten schwanken. Eine Auswahlzeit steht den
Prüflingen selbst dann nicht zu, wenn mehrere Aufgaben zur Wahl vorgelegt werden
sollten. Lediglich die letzte Klausur vor der Zulassung in Q 2 – von Schülern und Lehrern
gern als „Vor-Abiklausur“ bezeichnet – setzt eine Wahlmöglichkeit zwischen mindestens
zwei Aufgaben voraus und unterliegt den gleichen zeitlichen Vorschriften wie die Abiturklausur, dauert also viereinviertel Zeitstunden plus einer halben Stunde Auswahlzeit.
Die Bewertung der Klausuren in der Qualifikationsphase unterscheidet sich auch
von der zentralen Klausur der Einführungsphase, in der der ersten Teilaufgabe dreißig
und der zweiten Teilaufgabe sowie der Darstellungsleistung jeweils fünfzehn Punkte,
insgesamt also maximal nur sechzig Punkte zugeordnet werden.
2.1.1 Aufgabe 1 (K 1)
Bezüge zu den Vorgaben 2016
Epochenumbruch 18./19. Jh. – unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung
des Dramas: Friedrich Schiller, Kabale und Liebe
AUFGABENSTELLUNG
1. Analysieren Sie die achte Szene des vierten Aktes aus Schillers Drama Kabale
und Liebe. (42 Punkte)
2. Stellen Sie im Anschluss dar, inwieweit in dieser Szene Epochentypisches
zutage tritt. (30 Punkte)
140
2.1 Klausurübungen
2.1.1 Aufgabe 1 (K 1)
Materialgrundlage:
Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel. 4. Akt, 8. Szene.
Stuttgart: Reclam, Durchgesehene Ausgabe 2001, S. 90 f.
Zugelassene Hilfsmittel:
Wörterbuch zur Deutschen Rechtschreibung
Unkommentierte Ausgabe von Fr. Schillers Kabale und Liebe
Text
Friedrich Schiller
Kabale und Liebe (1784)
LADY allein, steht erschüttert und äußert sich, den starren Blick nach der Türe gerichtet,
durch welche die Millerin weggeeilt, endlich erwacht sie aus ihrer Betäubung.
5
10
15
20
25
LADY. Wie war das? Wie geschah mir? Was sprach die Unglückliche? – Noch, o Himmel! Noch zerreißen sie mein Ohr die fürchterlichen mich verdammenden Worte:
N e h m e n S i e i h n h i n ! – W e n , Unglückselige? Das Geschenk deines Sterberöchelns – das schauervolle Vermächtnis deiner Verzweiflung! Gott! Gott! Bin ich so
tief gesunken – so plötzlich von allen Thronen meines Stolzes herabgestürzt, dass ich
heißhungrig erwarte, was einer Bettlerin Großmut aus ihrem letzten Todeskampfe mir
zuwerfen wird? – N e h m e n S i e i h n h i n , und das spricht sie mit einem Tone, begleitet sie mit einem Blicke – – Ha! Emilie! Bist du d a r u m über die Grenzen deines
Geschlechts weggeschritten? Musstest du d a r u m um den prächtigen Namen des großen britischen Weibes buhlen, dass das prahlende Gebäude deiner E h r e neben der
höheren Tugend einer verwahrlosten Bürgerdirne versinken soll? – Nein, stolze Unglückliche! Nein! – B e s c h ä m e n lässt sich Emilie Milford – doch b e s c h i m p f e n nie!
Auch ich habe Kraft zu entsagen. (Mit majestätischen Schritten auf und nieder.)
Verkrieche dich jetzt, weiches leidendes Weib – Fahret hin, süße goldene Bilder der
Liebe – Großmut allein sei jetzt meine Führerin! – – Dieses liebende Paar ist verloren,
oder Milford muss ihren Anspruch vertilgen und im Herzen des Fürsten erlöschen!
(Nach einer Pause lebhaft.) Es ist geschehen! – Gehoben das furchtbare Hindernis – Zerbrochen alle Bande zwischen mir und dem Herzog, gerissen aus meinem Busen diese
wütende Liebe! – – in deine Arme werfe ich mich, Tugend! – Nimm sie auf, deine reuige
Tochter Emilie! Ha! Wie mir so wohl ist! Wie ich auf einmal so leicht! so gehoben mich
fühle! Groß wie eine fallende Sonne, will ich heut vom Gipfel meiner Hoheit heruntersinken, meine Herrlichkeit sterbe mit meiner Liebe, und nichts als mein H e r z begleiten
mich in diese stolze Verweisung*. (Entschlossen zum Schreibpult gehend.) Jetzt gleich
muss es geschehen – jetzt auf der Stelle, ehe die Reize des lieben Jünglings den blutigen
Kampf meines Herzens erneuren. (Sie setzt sich nieder, und fängt an zu schreiben.)
Anmerkungen:
Verweisung
Ausweisung, Verbannung
141
2.2 Lösungsvorschläge zu den Klausurübungen
2.2.1 Lösungsvorschlag Aufgabe 1 (K 1)
2.2 Lösungsvorschläge zu den Klausurübungen
2.2.1 Lösungsvorschlag Aufgabe 1 (K 1)
Aufgabenart
Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag (II A)
ERLÄUTERUNGEN DER AUFGABENSTELLUNG
Es liegt die im Leistungskurs häufig verwendete Aufgabenart II A vor. Sie erfordert
hier formal nach einer kurzen kontextuellen Einordnung in den Dramenzusammenhang und zusammenfassenden Wiedergabe des Szeneninhalts eine Analyse der Szene
unter den textsortentypischen Kriterien. Es gilt also, den Text hinsichtlich der Figurenkonstellation und der Dialogform zu beschreiben, die verwendeten Darstellungsmittel
funktional zu untersuchen, die Aussagen der Figuren zu deuten und die Szene im Hinblick auf ihre Funktion für das Gesamtdrama zu bewerten.
Der weiterführende Schreibauftrag fordert dazu auf, die in der inhaltlichen, sprachlichen und funktionalen Analyse gewonnenen Ergebnisse daraufhin zu prüfen, inwieweit sie epochentypisch sind. Das erfordert eine umstrukturierte Darstellung der eigenen Ergebnisse nach Maßgabe der jeweiligen epochentypischen Bewertungen. Am
wirkungsvollsten gliedert man diese Darstellung so, dass man die Stärke der Argumente steigert, um sie in der zusammenfassenden Schlussthese gipfeln zu lassen.
SCHREIBPLAN ZU TEILAUFGABE 1
148
BAUSTEIN
ERLÄUTERUNG
OPERATION
Einleitung
Die Einleitung muss zum Text der
Szene hinführen.
formuliert eine aufgabenbezogene Einleitung
Kontextuelle
Einordnung
Einordnung der Szene in den Handlungsverlauf des Dramas
ordnet die Szene korrekt
in den Kontext ein
Gegliederte
Reproduktion
logisch gegliederte Textwiedergabe
in eigenen Worten
gibt inhaltliche Zusammenhänge in eigenen
Worten sachlich korrekt
wieder und fasst inhaltliche Aussagen strukturiert
zusammen
Analyse der
Dialogform
Bestimmung der Gesprächsart: Erscheinungsform des Monologs oder
Dialogs
untersucht die Dialogform der Szene
Analyse des
Szenenaufbaus
Darstellung der internen Szenengliederung und ihres Zusammenhangs
untersucht den Aufbau
des Textes
2.2 Lösungsvorschläge zu den Klausurübungen
2.2.1 Lösungsvorschlag Aufgabe 1 (K 1)
Analyse der
sprachlichen
Mittel
funktionale Untersuchung von
Phonetik, Semantik, Syntax und
Pragmatik des Textes
untersucht die stilistische
Darstellung des Textes
Deutung der
Aussagen
Interpretation der Aussagen
deutet die Funktion der
Aussagen
Bewertung der
Szenenfunktion
Bewertung der Szene vor dem Hintergrund des Gesamtdramas
formuliert eine reflektierte Schlussfolgerung
vor dem kontextuellen
Hintergrund
LÖSUNGSMÖGLICHKEIT ZU TEILAUFGABE 1
Anforderungen
Der Prüfling
maximal
erreichbare
Punktzahl
1
formuliert eine aufgabenbezogenen Einleitung, z. B.:
Dramendaten, Verweis auf Szene IV,8; eleganter: Epocheneinstieg
3
2
ordnet die Szene korrekt in den Dramenkontext ein, z. B.:
gibt Gedanken und Entscheidungen der Lady Milford nach dem
Gespräch mit ihrer vermeintlichen Konkurrentin Luise um die
Liebe zu Ferdinand wieder
3
3
fasst die inhaltlichen Aussagen der Szene strukturiert zusammen.
z. B.:
Milford ist erschüttert über den selbstbewussten Auftritt und
moralischen Verzicht Luises und ringt sich zur ethischen Entscheidung eines doppelten Verzichts (Ferdinand, Herzog) durch.
3
4
untersucht die Dialogform der Szene, z. B.:
Mischform des Monologs: Reflexionsmonolog (Auftritt Luises),
lyrischer Monolog (Ausdruck der eigenen Gefühlssituation),
dramatischer Monolog (Entschlussfindung)
6
5
untersucht den Aufbau der Szene, z. B.:
Reflexionspause (1–2) – Aufarbeitung des Gesprächs mit Luise
(3–10) – Ausdruck der eigenen Situation (10–15) – Konsequenz
und Entscheidungsalternative (16–18) – Entscheidungspause
(19) – Ausdruck der Entscheidung (19–22) – Rückwirkung der
Entscheidung auf die eigene Gefühlslage (22–25) – Handlungskonsequenz und Absicherung der Entscheidung (25–27)
6
149
2.2 Lösungsvorschläge zu den Klausurübungen
2.2.1 Lösungsvorschlag Aufgabe 1 (K 1)
6
untersucht die stilistische Darstellung des Textes, z. B.:
–– phonetisch: Assonanzen auf o (4 ,7), i (5, 9) und ei (16): Intensitätssteigerung
–– semantisch: Oppositionelle Wortfelder (Thron, groß, prächtig,
prahlend, Sonne, Hoheit, Herrlichkeit – Bettlerin, verwahrlost,
Dirne): Spannungssteigerung; Hochwertwörter (Leitwerte):
„Ehre“ (12), „Großmut“ (8, 17), „Tugend“ (13, 19): ethisches
Entscheidungsfeld
–– syntaktisch: Ausrufesätze, Fragesätze, Imperative (16 f.),
Interjektionen (6, 10, 13 f., 22), Parallelismen (10 ff., 18 ff.),
Anaphern (3, 22, 25 f.), Inversion (4), Ellipse (5 f., 9 f.): pathetische Steigerung
–– pragmatisch: insistierende Wiederholungen (4, 9, 10, 11),
Gegensätze (14, 21), elliptische Parenthesen (3, 6, 7, 9 f., 14,
16, 17, 19, 21, 26): pathetische Steigerung
9
7
deutet die Funktion der Aussagen, z. B.:
Pausen und Parenthesen verweisen auf eine emotionale Sprachlosigkeit. Die Adlige Lady Milford fühlt sich von der bürgerlichen Luise moralisch verurteilt (verdammende Worte), in ihrem
sozialen und menschlichen Wert diskreditiert („herabgestürzt“,
„ver-„, „heruntersinken“). Ihr Selbstwertgefühl zwingt sie, zur
Rehabilitierung des eigenen Ethos dem Vorbild Luises zu folgen
und auf Ferdinand wie auf den Herzog zu verzichten. Das reißt
sie aus allen bestehenden sozialen Bezügen (gebrochen, zerrissen).
6
8
formuliert eine reflektierte Schlusswertung, z. B.:
Milford unterstreicht ihren moralischen Anspruch (Einsatz beim
Fürsten für bessere Bedingungen der Untertan, Hilfe für Katastrophenopfer) und bleibt als einzige Adlige (jedoch Engländerin)
von den Negativa des Absolutismus distanziert.
6
9
erfüllt ein weiteres aufgabenbezogenes Kriterium (max. 4 Punkte)
Summe 1. Teilaufgabe
42
SCHREIBPLAN ZU TEILAUFGABE 2
150
BAUSTEIN
ERLÄUTERUNG
OPERATION
Überleitung
Notwendigkeit der Darstellung des soziohistorischen
und -kulturellen Hintergrunds
formuliert eine Überleitung,
die Aspekte der Aufgabenstellung sinnvoll aufnimmt
literarhistorische
Einordnung
literarhistorische Einordnung
des Dramas
ordnet das Drama korrekt in
den literarhistorischen Kontext ein

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