Probekapitel - Franz Steiner Verlag

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Probekapitel - Franz Steiner Verlag
1. EINLEITUNG
ZUR PROBLEMSTELLUNG
Woodrow Wilson, der 28. Präsident der USA (1913–1921), skizzierte in seiner
Kongressrede vom 8. Januar 1918 die Kriegsziele seines Landes im Ersten Weltkrieg und die Grundzüge einer Friedensordnung. Als 14. und letzten Punkt seines
Programms mahnte er die Errichtung eines „Völkerbundes“ an.1 Er dachte dabei
an eine „allgemeine Vereinigung von Nationalstaaten“, welche die politische Unabhängigkeit und die territoriale Integrität „für große und kleine Staaten zugleich“ garantieren sollte.2 Wilson musste nicht lange warten, bis sich seine Vision konkretisierte: Am 28. April 1919 verabschiedete die Vollversammlung der
Friedenskonferenz von Versailles die Völkerbundsatzung. Das Völkerbundprojekt
stellte den ersten Versuch in der Geschichte der Menschheit dar, den Frieden auf
der ganzen Welt durch die Errichtung einer auf Kooperation basierenden, universalen Ordnung zu sichern. Im Idealfall umfasste das neu gegründete Gebilde alle
formal souveränen Staaten unabhängig von ihrer Größe, wirtschaftlichen Entwicklung und inneren Konsolidierung. Die Mitglieder bekannten sich zum Grundsatz der Entschärfung von Konfliktquellen durch friedliche Beilegung von Streitigkeiten, Abrüstung und internationale Schiedssprüche.3 Mit dieser Sicherheitskonzeption, die militärisches Eingreifen nur als letzte Maßnahme in Betracht zog,
sollte der alte, von den Großmächten dominierte und durch den Weltkrieg kompromittierte Regulierungsmechanismus der balance of power überwunden werden.
Der Anspruch dieses neuen Ansatzes war umfassend: Es war ein fundamentaler
1
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3
In den folgenden Ausführungen verwende ich für den von Wilson benutzten Ausdruck
League of Nations die deutsche Vokabel „Völkerbund“. Die Architekten des Völkerbundes
übernahmen die Bezeichnung Wilsons. Das französische Wort für League of Nations lautete
Société des Nations. Im Spanischen wurden die Bezeichnungen Liga de [las] Naciones und
Sociedad de [las] Naciones verwendet. Die portugiesische Übersetzung lautete analog Liga
das Nações oder Sociedade das Nações.
Ray Stannard Baker (Hrsg.): Woodrow Wilson. Memoiren und Dokumente über den Vertrag
zu Versailles anno MCMXIX. Bd. I. Leipzig 1923, S. 182. Das Zitat lautet im Originalentwurf vom 6. Januar 1918: „A general association of nations must be formed under specific
covenants for the purpose of affording mutual guarantees of political and territorial integrity
to great and small states alike.“ Wilson’s Transcript of His Shorthand Draft. In: WWP, Bd.
45, S. 515.
Sogar die Revision von zwischenstaatlichen Verträgen war vorgesehen (Artikel 19 der Satzung). Die Satzung des Völkerbundes ist in englischer, französischer und deutscher Sprache
abgedruckt in: Auswärtiges Amt (Hrsg.): Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den
Alliierten und Assoziierten Mächten nebst dem Schlussprotokoll und der Vereinbarung betr.
die militärische Besetzung der Rheinlande. Amtlicher Text der Entente und amtliche deutsche
Übertragung. Volksausgabe in drei Sprachen. Charlottenburg 1919.
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Einleitung
Angriff auf das Prinzip der Machtstaaten, der Geheimdiplomatie und des Militarismus. Der Völkerbund sollte die angemessene politische Antwort auf die moderne Welt darstellen, die sich durch zunehmende Zirkulation von Menschen,
Waren, Kapital, Information und Ideen kennzeichnete. Die Matrix dieser Welt
bildeten weiterhin die Nationalstaaten, aber diese hatten von nun an die Vorgabe,
sich nicht zu bekämpfen, sondern mit Hilfe der Völkerbundmechanismen globale
Lösungen für ähnliche Probleme anzustreben.
Die Gruppe von Ländern, die aufgrund geographischer und historisch-kultureller Merkmale die Großregion Lateinamerika bildet,4 zeigte sich sehr interessiert
an diesem Ansatz. Die Entscheidungsträger, Publizisten und Akademiker in Lateinamerika hatten Wilsons Plädoyer für das friedliche Nebeneinander „großer“ und „kleiner“ Staaten ebenso wie chinesische, arabische und armenische
Meinungsführer genau registriert. Man rieb sich die Augen, und nicht wenige
skeptische, ja misstrauische Stimmen erhoben sich, doch insgesamt überwog ein
vorsichtiger Optimismus. Elf der an den Pariser Friedenskonferenzen anwesenden
lateinamerikanischen Teilnehmer 5 betrachteten das Verhandlungsergebnis als
Chance, als window of opportunity, und setzten daher ihre Unterschrift unter den
Versailler Vertrag, in den die Völkerbundsatzung auf Wunsch des Präsidenten der
Vereinigten Staaten als integraler Bestandteil eingefügt wurde. 6 Mit Ausnahme
Mexikos wurden diejenigen Regierungen aus der „Neuen Welt“, die während des
ganzen Krieges die Neutralität aufrechterhalten hatten und somit nicht zu den alliierten und assoziierten Mächten der Konferenz zählten, ebenfalls zur Teilnahme
4
5
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Als räumliche Einheit umfasst die Großregion Lateinamerika das Territorium südlich des Río
Bravo zwischen Atlantik und Pazifik. Aufgrund des gemeinsamen spanischen, portugiesischen oder (im haitianischen Fall) französischen kolonialen Erbes bildet Lateinamerika auch
eine historisch-kulturelle Entität. Formal abhängige Kolonien werden in dieser Arbeit nicht
zu Lateinamerika gezählt. Die Vokabel „Lateinamerika“ stammt aus den 1860er Jahren. Obwohl der Bezug auf die Latinität ursprünglich zur Rechtfertigung kultureller und politischer
Hegemonialansprüche (Europas über Amerika) diente und ungeachtet der Tatsache, dass diese Konstruktion indigene Traditionen ausblendet, hat sich die Bezeichnung „Lateinamerika“
zur Abgrenzung gegenüber Nordamerika und Europa durchgesetzt. Im Übrigen ist der Begriff
„Ausdruck einer multiplen und somit keineswegs eindeutigen Identität der Länder des südlichen Amerika“. Frank Ibold: Die Erfindung Lateinamerikas: die Idee der latinité im Frankreich des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Eigenwahrnehmung des südlichen
Amerika. In: Hans-Joachim König/Stefan Rinke (Hrsg.): Transatlantische Perzeptionen: Lateinamerika – USA – Europa in Geschichte und Gegenwart. [HISTORAMERICANA, hrsg.
von Hans-Joachim König und Stefan Rinke, Bd. 6]. Stuttgart 1999, S. 97; Esther Aillón Soria:
La política cultural de Francia en la génesis y difusión del concepto l’Amérique latine, 1860–
1930. In: Aimer Granados García/Carlos Marichal (Hrsg.): Construcción de las identidades
latinoamericanas. Ensayos de historia intelectual siglos XIX y XX. México 2004, S. 71–105.
Bolivien, Brasilien, Ecuador, Guatemala, Haiti, Honduras, Kuba, Nicaragua, Panama, Peru
und Uruguay. Ecuador ratifizierte den Vertrag erst 1934.
Der Völkerbund konnte daher seine Arbeit erst aufnehmen, nachdem der Versailler Vertrag
wirksam geworden war. Dies war am 10. Januar 1920 der Fall.
Einleitung
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aufgefordert.7 Als am 15. November 1920 die erste Vollversammlung der „Weltorganisation“ in Genf eröffnet wurde, stellte Lateinamerika mehr als ein Drittel
der vertretenen Länder.8 Außerdem nahm die erste Vollversammlung Costa Rica
auf; es galt damit ebenfalls als Gründungsmitglied.9
Die Beziehungen Lateinamerikas zum Völkerbund sind das Thema dieser Arbeit. Als übergeordnetes Motiv der Länder dieser Großregion für die Mitwirkung
im Völkerbund nannte Antonio Sánchez de Bustamante bei einer Zusammenkunft
während der Pariser Konferenzen die Bewahrung der „dignidad de la independencia y de la soberanía nacional de cada uno de nuestros países“.10 Der Präsident der
Kubanischen Gesellschaft für Internationales Recht brachte damit eines der vorrangigen außenpolitischen Ziele lateinamerikanischer Länder auf den Punkt: die
Sicherstellung der Territorialität und der politischen Autonomie, kurz der „Westfälischen Souveränität“.11
Souveränität ist eines der ältesten Gestaltungsprinzipien des Völkerrechts. Ihr
Inhaber setzt in einem bestimmten Raum gegen innen verbindlich Recht. Gegen
außen soll ihm seine Unabhängigkeit durch keine andere Macht – weder juristisch
noch tatsächlich – streitig gemacht werden. Souveränität bedeutet die grundsätzli7
Es handelte sich um Argentinien, Chile, El Salvador, Kolumbien, Paraguay und Venezuela,
welche die Einladung annahmen und damit laut Artikel 1 der Satzung ebenfalls als Gründungsmitglieder fungierten.
8 Insgesamt nahmen an der ersten Vollversammlung des Völkerbundes Delegationen aus 42
Staaten teil. Folgende lateinamerikanische Länder waren repräsentiert: Argentinien, Bolivien,
Brasilien, Chile, El Salvador, Guatemala, Haiti, Nicaragua, Kolumbien, Kuba, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela.
9 Hierzu war in der Vollversammlung eine Zweidrittelmehrheit ausreichend. Voraussetzung für
die Aufnahme war die vollständige Ausübung der Regierungsgewalt und die ernsthafte Absicht, den internationalen Verpflichtungen nachzukommen (Artikel 1 der Völkerbundsatzung).
10 Zitiert nach Antonio Burgos: Contrastes europeos y orientación americana. Madrid/Berlin/Buenos Aires 1924, S. 118.
11 Zur Herleitung der „Westfälischen Souveränität“ als Gestaltungsprinzip der internationalen
Politik, Stephen D. Krasner: Sovereignty. Organized Hypocrisy. Princeton/New Jersey 1999,
S. 3, 5, 20–25. Wenig ergiebig sind die begriffsgeschichtlichen Ausführungen von Reinhart
Koselleck, Werner Conze, Görg Haverkate, Diethelm Klippel und Hans Boldt zum Stichwort
„Staat und Souveränität“, da der Schwerpunkt auf der inneren Souveränität liegt. In: Otto
Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. 11. Bd.
VI. Stuttgart 1990, S. 1–154. Hilfreich ist die Dissertation aus dem Jahr 1927 von Josef
Decker: Souveränität und Völkerbund. Ein Beitrag zur Geschichte und Lehre von den zwischenstaatlichen Beziehungen. Köln 1933. Zum Souveränitätsbegriff als analytische Kategorie der internationalen Politik, Reimund Seidelmann: Souveränität. In: Andreas Boeckh
(Hrsg.): Internationale Beziehungen. [= Lexikon der Politik, hrsg. von Dieter Nohlen, Bd. 6].
München 1994, S. 493–495; ders.: Souveränität. In: Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik. Opladen 71998, S. 363–368. Zur neueren Diskussion, Manuel
Fröhlich: Lesarten der Souveränität. In: NPL, H. 1, 2005, S. 19–42. Zur Souveränitätskategorie im Entwicklungsprozess des Völkerrechts vor dem Hintergrund der Konfrontation zwischen europäischen Mächten und der „nichteuropäischen Welt“ – gemeint sind abhängige
Kolonien –, Antony Angie: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law.
Cambridge 2005.
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Einleitung
che Unabhängigkeit eines Staates von anderen. Souverän ist, wer die Verfügungsgewalt über Inhalte, Instrumente und Richtlinien der Politik ausübt. Dieses Prinzip
lag der Konstruktion von Nationalstaaten in Lateinamerika nach dem Erlangen der
formalen Unabhängigkeit (von Spanien, Portugal und Frankreich) in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts zugrunde. In Wahrheit lag aber in der Großregion, im
Sinne der von Stephen Krasner vorgenommenen Diagnose der internationalen
Politik, eine Situation der „organisierten Scheinheiligkeit“ vor, in der Normen und
Regeln der Souveränität ebenso oft bekräftigt wie verletzt wurden.12 Am Ende des
Ersten Weltkrieges präsentierte sich Lateinamerika immer noch als ein Ensemble
von Kleinstaaten und wenig konsolidierten Regionalmächten 13 mit geringer
Durchsetzungskraft. Ihre Schwäche war endogenen und exogenen Ursachen geschuldet.
Als innere Gründe für die außenpolitische Handlungsschwäche lateinamerikanischer Republiken nach dem Ersten Weltkrieg müssen die politische Instabilität sowie innergesellschaftliche Verteilungskämpfe genannt werden. Parteiensysteme und parlamentarische Strukturen hatten sich zwar in allen lateinamerikanischen Ländern zumindest ansatzweise herausgebildet. Aber oligarchische Tendenzen in der politischen Herrschaft waren weiterhin eher die Regel als die
Ausnahme. Der Machterwerb und -erhalt und die Entscheidungsfindung in den
Staaten basierten häufig auf einer politischen Kultur, die sich durch weitgehende
Einschränkungen im Wahlrecht, die Praxis von Wahlmanipulationen, die ständige
Gefahr von Putschen (pronunciamientos), Klientelismus und Patronage charakterisierte. 14 Die Verwaltungsapparate waren klein und zumeist ineffizient – zumindest, was die Eintreibung direkter Steuern und die Implementierung von Normen in der Gesellschaft und den Regionen anbelangte. Das führte dazu, dass die
meisten Regierungen Teile ihres Territoriums nicht wirklich kontrollierten und
wegen mangelnder Akzeptanz bei regionalen Eliten und Teilen der sozialen und
ethnischen Gruppen auch nicht in der Lage waren, Entscheidungen effektiv
12 Dies ist die zentrale These von Stephen D. Krasner: Sovereignty.
13 Die Vokabel „Regionalmacht“ (auch „Mittelmacht“) umschreibt wie „Kleinstaat“ einen Teilbereich der Restmenge, die sich aus der in den Teildisziplinen Diplomatiegeschichte und internationale Politik üblichen Bezeichnung „Großmacht“ erschließen lässt. Sie drückt aus, dass
ein Staat in einer Subregion Vormachtansprüche anmeldet, auf globaler Ebene aber hinter den
Großmächten zurückstecken muss. Seine Handlungsoptionen beschränken sich auf für die
Großmächte uninteressante oder verhandelbare Bereiche. Im lateinamerikanischen Kontext
bezieht sich die Bezeichnung „Regionalmacht“ lediglich auf eine Umgebung mit „Kleinstaaten“. Eine Untersuchung über die mexikanische Regionalmachtspolitik hat Jürgen Buchenau
vorgelegt. Jürgen Buchenau: In the Shadow of the Giant. The Making of Mexico’s Central
America Policy, 1876–1930. Tuscaloosa/London 1996.
14 Zu den oligarchischen Republiken, mit Hinweisen zu unterschiedlichen Entwicklungsverläufen, Walther L. Bernecker/Hans Werner Tobler: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Außenbeziehungen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert. In: Walther L. Bernecker u. a. (Hrsg.): Lateinamerika im 20. Jahrhundert. [= Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. III]. Stuttgart
1996, S. 9–14.
Einleitung
13
durchzusetzen. 15 Konservative Oberschichten leisteten gegen die umfassende
staatliche Penetration erfolgreich Widerstand. Vor allem in den ländlichen Gebieten blieben die Unterschichten (meistens Schwarze, Mulatten, indígenas oder
Mestizen), die in kein Schulsystem integriert waren, von politischer Partizipation
weitgehend ausgeschlossen. Mitunter wurden sie von den weißen und mestizischen Oberschichten in ihre klientelistischen Netzwerke eingebunden, um Stimmen zu beschaffen. Im Unterschied zu Europa, wo Konflikte oftmals zur Stärkung
von zentralen Institutionen beigetragen hatten, konsolidierten sich in Lateinamerika im Laufe des 19. Jahrhundert nur wenige Nationalstaaten wie Chile, Brasilien
und Argentinien. Die wichtigen Fragen der Finanzierung der öffentlichen Institutionen, des Verhältnisses von Kirche und Staat, des Föderalismus oder Zentralismus sowie der Repräsentation der Unterschichten und der ethnischen Gruppen
hatten zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, deren Wunden keineswegs verheilt waren.16
Obwohl in den meisten Ländern Lateinamerikas das Gewaltmonopol wackelig war, erfüllten die politischen Systeme Lateinamerikas nach wie vor die Funktion der Machterhaltung von weißen und mestizischen Latifundisten, Bergbauunternehmern, Großkaufleuten und Finanziers. Auch Diskurse über die unterstellte
Inferiorität nichtweißer Menschen, die hispanidad als wünschenswerte Leitkultur
sowie die Notwendigkeit der Modernisierung von oben nach dem Konzept des
Positivismus trugen dazu bei. Hinsichtlich des Machterwerbs traten die Offizierscorps wechselweise als Stütze oder Konkurrenz von Teilen der Elite in Erscheinung. Infolge der wiederholten inneren Auseinandersetzungen sowie aufgrund der
Grenzstreitigkeiten waren die Armeen dank deutscher, französischer und chilenischer Militärmissionen in den meisten Ländern professionalisiert worden. Sie
wurden zu einem wichtigen Vehikel für Aufsteiger aus den Provinzen und mittleren Bevölkerungssegmenten. Im Rahmen des wirtschaftlichen Wandels, begünstigt durch die weltmarktorientierten Bergbausektoren und die Landwirtschaft
sowie erste Versuche zum Aufbau von Industrien, formierten sich neue gesellschaftliche Gruppen – vor allem im Bereich der städtischen Mittel- und Unterschichten. Unter Bezugnahme auf liberale oder sozialistische Konzepte forderten sie eine verstärkte politische Partizipation ein. Aber zu einer tief greifenden
Umgestaltung führte diese Mobilisierung lediglich in Mexiko.
Vor dem Hintergrund innenpolitischer Instabilität war es für lateinamerikanische Entscheidungsträger schwierig, konsistente, dauerhafte außenpolitische
Grundpositionen zu entwerfen und aktiv zu vertreten. Umgekehrt waren äußere
Gefahren, vor allem weiterbestehende Konflikte mit Nachbarstaaten um die Beherrschung von Territorien sowie der Interventionismus des Imperiums im Norden, eine ständige Bedrohung für die mittel- und langfristige Effektivität im internationalen Kontext. Die innere Instabilität der lateinamerikanischen Staaten be15 Vgl. hierzu allgemein Thomas Risse/Ursula Lehmkuhl: Governance in Räumen begrenzter
Staatlichkeit. In: APuZ, Bd. 20, Nr. 21, 2007, S. 4 f.
16 Vgl. hierzu die Thesen von Miguel Angel Centeno: Blood and Debt. War and the NationState in Latin America. University Park 2002, v. a. S. 141 ff.
14
Einleitung
dingte die äußere, und die äußere Verletzbarkeit blieb nicht ohne Auswirkungen
auf die innere Konsolidierung. Auf diese wechselseitig bedingte Schwäche spielten lateinamerikanische Autoren an, wenn sie Bezeichnungen wie países, estados
oder auch pueblos débiles benutzten.17 Manchmal begnügten sie sich sogar ebenso
wie europäische Quellen, die von „Kleinstaaten“ ausgingen, mit der Vokabel pequeños estados. Das Reden über schwache Staaten diente allerdings keineswegs
dazu, zu resignieren und sich auf Ewigkeit mit der Opferrolle zu begnügen. Vielmehr verband sich mit diesem narrativen Konstrukt das Postulat, durch eigenes
Handeln und mittels der Unterstützung internationaler Akteure, mit stärkeren
Staaten gleichzuziehen.
In den folgenden Ausführungen wird das Kriterium der Schwäche als konstitutiv für das Selbstverständnis fast aller Staaten der Großregion Lateinamerika in
der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg betrachtet. „Schwache Staaten“ kennzeichnet,
dass sie die ihnen zugeschriebene Souveränität nach außen nicht aus eigener Kraft
durchsetzen können. Ihre politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität ist
gefährdet. Zur Entfaltung der Souveränität benötigen sie entweder den Schutz
durch eine Garantiemacht oder durch das Völkerrecht. Sie unterscheiden sich von
industrialisierten und politisch relativ stabilen Kleinstaaten, deren begrenzte außenpolitische Durchsetzungsfähigkeit sich aus der geringen Bevölkerungszahl ergibt, durch die erwähnten Mängel in der Institutionenbildung. Zur Erklärung von
„Schwäche“ sind außerdem Normen und Werte sowie das Selbstverständnis der
politischen Eliten des jeweiligen Landes, also kulturelle Faktoren, heranzuziehen.18
So wie der erwähnte Kubaner Sánchez de Bustamante waren auch viele andere lateinamerikanische Spezialisten des internationalen Rechts, Publizisten, Diplomaten und Politiker zuversichtlich, dass sich mit Hilfe des Völkerbundes die
Möglichkeiten zur Entfaltung der Souveränität verbesserten. Die Satzung des
Völkerbundes von 1919 bedeutete einen ersten Schritt zur Beschränkung des
(souveränen) Rechts von starken Staaten, aus freiem Willen andere Staaten anzugreifen. In Lateinamerika hoffte man, dass durch diese neue Form der internationalen Politik die Länder der Region stabilisiert würden. Die Ansicht, dass
funktionierende Staaten keinen Selbstzweck, sondern vielmehr ein nützliches In-
17 Brasilianische, argentinische, uruguayische und chilenische Autoren verwendeten diese Bezeichnungen eher selten.
18 Eine Pionierstudie über das Verhältnis von Großmächten und schwachen Staaten, die sich allerdings auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert, stammt von Marshall R.
Singer: Weak States in a World of Powers: The Dynamics of International Relationships.
New York/London 1972. Konzeptuelle Überlegungen zu kulturellen Faktoren bei der Bestimmung von Großmächten macht Ursula Lehmkuhl. Diese Betrachtungsweise lässt sich
auch auf die analytische Erfassung von Nichtgroßmächten übertragen: „Größe“ und „Selbstbehauptung“ als Formeln britischer Weltgeltung: Einige theoretische und methodische Überlegungen. In: Hans-Heinrich Jansen/Ursula Lehmkuhl (Hrsg.): Großbritannien, das Empire
und die Welt: Britische Außenpolitik zwischen „Größe“ und „Selbstbehauptung“, 1850–1990.
[= Arbeitskreis Deutsche England-Forschung, Bd. 25]. Bochum 1995, S. 3–29.
Einleitung
15
strument zur Perfektionierung der menschlichen Fähigkeiten darstellten, war weit
verbreitet.19
Bedeutete für Mittelamerika bereits das Epochenjahr 1898 eine erhebliche
Machtverschiebung zugunsten der neuen Führungsmacht USA, 20 so wandelten
sich von 1914–1918 die Handlungsspielräume auch für Südamerika dergestalt,
dass sich dieser Teil des Doppelkontinentes ebenfalls gezwungen sah, seine Außenbeziehungen zu überprüfen. Der sich abzeichnende Übergang von einer durch
mehrere Machtzentren geprägten Struktur der Außenbeziehungen zu einem einzigen dominanten Pol im wirtschaftlichen Rahmengefüge machte solche Anstrengungen unausweichlich.21Vor dem Hintergrund der zunehmenden Wichtigkeit der
nordamerikanischen Wirtschaft hinsichtlich der Abnahme von Rohstoffen und
landwirtschaftlichen Produkten aus Lateinamerika sowie der Bereitstellung von
Fertigwaren, Kapitalgütern, Dollars und Know-how für die südlich des Río Bravo
gelegenen Länder und aufgrund der Tatsache, dass die US-Armee auf dem Kontinent keine Gegner mehr zu fürchten brauchte, ist in der angloamerikanischen Literatur die These aufgestellt worden, dass die Vereinigten Staaten im Laufe des Ersten Weltkrieges den entscheidenden Schritt zur Etablierung der Hegemonie machten. Sie seien fortan in der Lage gewesen, in der „Western Hemisphere“ eine freihändlerische Wirtschaftsordnung sowie nach dem American Way of Life
modellierte Werte und Lebensformen zu implementieren. J. Fred Rippy konstatierte bereits 1928: „[...] the United States and its citizens virtually dominate
the economic and political life of the majority of the republics south of the Rio
Grande“.22 Historiker und Politologen, die sich ab den 1970er Jahren verstärkt mit
der Durchsetzung der US-amerikanischen Interessen auf dem amerikanischen
Kontinent beschäftigten, schlossen sich diesem Urteil an. Geradezu paradigmatisch formulierte diese „realistische“ Einschätzung Joseph S. Tulchin in der Einleitung zu seiner Überblicksdarstellung über die US-lateinamerikanischen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg: „With very few exceptions, the United States
government formulated and executed foreign policy without reference to the demands or responses to the Latin American nations.“23
19 Diese Denkform basierte vor allem auf dem durch Auguste Comte begründeten Positivismus,
der die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft postulierte. Der säkularisierte Staat sollte
von Eliten geführt werden. Charles A. Hale: Political and social ideas. In: Leslie Bethell
(Hrsg.): Latin America. Economy and Society, 1870–1930. New York 1986, S. 240 ff.
20 Zum Forschungsstand, Walther L. Bernecker (Hrsg.): 1898: su significado para Centroamérica y el Caribe ¿Cesura, Cambio, Continuidad? [= Lateinamerika-Studien, Bd. 39].
Frankfurt a. M. 1998.
21 Allgemein zur Wirtschaftsgeschichte während und nach dem Ersten Weltkrieg, Victor Bulmer-Thomas: The Economic History of Latin America Since Independence. Cambridge (UK)
1994, S. 156–193. Vgl. auch den Überblick von Bernecker/Werner Tobler: Staat, Wirtschaft,
Gesellschaft und Außenbeziehungen, S. 97–102.
22 J. Fred Rippy: Latin America in World Politics. An Outline Survey. New York 1928, S. 242.
23 Joseph S. Tulchin: The Aftermath of War: World War I and US policy toward Latin America.
New York 1971, S. vi. Der Autor wollte diesen Satz ausdrücklich als Warnung an die Leser
verstanden wissen. Vgl. ähnlich, Emily S. Rosenberg: World War I and the Growth of United
States Predominance in Latin America. New York/London 1987 [= gedruckte Fassung der
16
Einleitung
Die Vertreter der Hegemoniethese begnügten sich lange Zeit damit, Perspektiven, Interessen und Handeln des „Kolosses im Norden“ zu analysieren. Ihre
Prämisse lautete, dass sich die Geschichte der schwächeren Staaten aufgrund der
wirtschaftlichen Rückständigkeit und der militärischen Unterlegenheit lediglich
indirekt, durch die Analyse der Machtpolitik der stärkeren, erschließe.24 Seit den
1980er Jahren hat allerdings ein Umdenken stattgefunden, indem vermehrt gefragt
wird, wie die Akteure südlich des Río Bravo das wirtschaftliche und militärische
Machtgefälle wahrnahmen und mit welchen Politiken sie diese Herausforderung
beantworteten. Tulchin hat selbstkritisch diesen Perspektivenwandel angemahnt,
um die „developing nations“ in die Geschichte zurückzubringen und ihrer Realität
gerechter zu werden.25 Im Vordergrund der neueren Studien über die Zeit nach
dem Ersten Weltkrieg, welche die lateinamerikanische agency in der Auseinandersetzung mit Nordamerika betonen, stehen bisher jedoch vor allem Untersuchungen über kulturelle Beziehungen im Rahmen der „Nordamerikanisierung“.
Auch die antiimperialistischen Ligen der Linken sowie der von General Augusto
César Sandino angeführte Guerillakrieg gegen die Präsenz von nordamerikanischen Firmen und marines in Nicaragua sind ins Blickfeld der Forschung gerückt.26 Schließlich hat auch die Untersuchung des Völkerbundes als Referenz-
Dissertation von 1973]. Neuere Überblicksdarstellungen über die US-Beziehungen zu Lateinamerika sehen im Ersten Weltkrieg aus der Perspektive des „Kolosses im Norden“ keine klare
Zäsur und betonen Kontinuitäten in der Außenpolitik: Peter H. Smith hebt die Dollardiplomatie zwischen William H. Taft (1909–1913) und Franklin D. Roosevelt (1933–1945) hervor.
Lars Schoultz unterstreicht den allmählichen Rückzug von Marinesoldaten und die Einrichtung von Marionettenregimen sowie die Fortsetzung des Panamerikanismus. Lester D.
Langley setzt den Akzent auf das Nebeneinander von Interventionismus und paternalistischem Panamerikanismus. Peter H. Smith: Talons of the Eagle. Dynamics of U.S.-Latin
American Relations. New York/Oxford 1996, S. 54–62; Lars Schoultz: Beneath the United
States. A History of U.S. Policy Toward Latin America. Cambridge (Mass.)/London 1998, S.
253–289; Lester D. Langley: America and the Americas. The United States in the Western
Hemisphere. Athens/London 1990, S. 110–132.
24 Emily Rosenberg räumte ein, dass auch politische Instabilität und Rivalität zwischen einzelnen Ländern für die begrenzten außenpolitischen Optionen verantwortlich waren. Rosenberg:
World War I.
25 Joseph S. Tulchin: Preface. In: Ders./Heraldo Muñoz (Hrsg.): Latin American Nations in
World Politics. Boulder/London 1984, S. vii. Eine Studie aus der Sicht Lateinamerikas hatte
Lorenzo Meyer vorgelegt. Lorenzo Meyer: México y Estados Unidos en el conflicto
petrolero, 1917–1942. México 1972.
26 Zur Diskussion über die „Nordamerikanisierung“, Gilbert M. Joseph u. a. (Hrsg.): Close
Encounters of Empire: Writing the Cultural History of U.S.-Latin American Relations. Durham 1998. Zur antiimperialistischen Bewegung, Richard V. Salisbury: Anti-Imperialism and
International Competition in Central America, 1920–1929. Wilmington 1989. Zu Sandinos
Krieg, Michael J. Schroeder: The Sandino Rebellion Revisited: Civil War, Imperialism,
Popular Nationalism, and State Formation Muddied Up Together in the Segovias of Nicaragua, 1926–1934. In: Joseph u. a. (Hrsg.): Close Encounters, S. 268; Frank Nieß: Sandino. Der
General der Unterdrückten. Eine politische Biographie. Köln 1989; Volker Wünderich:
Sandino. Eine politische Biographie. Wuppertal 1995; Michel Gobat: Confronting the American Dream. Nicaragua Under U.S. Imperial Rule. Durham 2005, S. 233–266.
Einleitung
17
punkt für die Formulierung von Außenpolitiken lateinamerikanischer Staaten
Fortschritte gemacht.27
Gleichwohl weist unser Wissen über Perspektiven, Interessen und Handlungsweisen der lateinamerikanischen Außenpolitiken nach dem Ersten Weltkrieg
noch immer große Lücken auf. In diesem Zusammenhang ist von besonderem
Interesse, wie lateinamerikanische Akteure auf das Dilemma reagierten, dass sie
einerseits das Imperium im Norden benötigten, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, andererseits aber durch die Ausrichtung auf Nordamerika
keine Einschränkungen der Souveränität hinnehmen wollten. Aus dieser Fokussierung der Problematik stellt sich die Frage nach den vorhandenen Mechanismen
der internationalen Politik, die dazu beitragen sollten, die territoriale Integrität und
die politische Unabhängigkeit aller Staaten zu sichern.
Diese Studie zeigt, dass hierbei zu Beginn der 1920er Jahre auf dem Völkerbund, der in einer asymmetrisch strukturierten Welt auf Gleichbehandlung beruhende Beziehungen postulierte, große Hoffnungen lateinamerikanischer Intellektueller, Publizisten, Diplomaten und Politiker ruhten. Ihr Souveränitätsdiskurs
orientierte sich an der Wilsonschen Rhetorik sowie an der Institution des Völkerbundes. Sie zeigt aber auch, dass sich die Erwartung, die Souveränität der Nationalstaaten in der „Neuen Welt“ durch Diversifizierung der internationalen Kontakte, Erweiterung des Handlungsspielraums und Verbesserung der eigenen Kompetenz zu verteidigen und zu konsolidieren, lediglich zu einem geringen Teil erfüllte. Darüber hinaus soll dargestellt werden, wie lateinamerikanische Akteure
den „universalen“ Völkerbund benutzten, um die Verrechtlichung der interamerikanischen Beziehungen auf der Grundlage der Kooperation anzumahnen. Außerdem wird versucht, folgende Fragen zu beantworten: Warum traten nicht alle Länder der Großregion dem Völkerbund bei? Aus welchem Grund entschieden sich
einige Regierungen bereits in den 1920er Jahren für den Austritt? Welche Strategien wandte die lateinamerikanische Gemeinschaft, wenn es sie denn jemals gab,
im Völkerbund an, um eine bessere Repräsentation zu erreichen? Und: Wie sind
die Ergebnisse bei der Schlichtung zwischenstaatlicher Konflikte zu bewerten?
LATEINAMERIKA IM VÖLKERBUND ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND
Die Beziehungen der Großregion Lateinamerika zum Völkerbund sind in der Literatur unterschiedlich gewichtet worden. Während die Vertreter der Hegemonieperspektive die „Weltorganisation“ als konzeptionellen Orientierungspunkt und
Gestaltungsraum der Außenpolitik schlicht ignorieren, kommt ein Teil der Forschung zu einem anderen Urteil: F. Taylor Peck unterstreicht in seiner Diploma27 Man kann sich nur wundern, wie es Susan Pedersen in ihrem Versuch, die Bedeutung des
Völkerbundes neu zu bewerten, gelingt, Lateinamerika komplett auszublenden, zumal sie ausführlich auf den Widerspruch von „formally equal sovereign states, all operating according to
agreed administrative and ethical norms“ und „the reality of member states of very different
types“ sowie „vastly unequal geopolitical reach and power“ eingeht. Susan Pedersen: Back to
the League of Nations. In: AHR, Bd. 112, H. 4, 2007, S. 1099.
18
Einleitung
tiegeschichte von 1900 bis 1930, dass der Völkerbund in den 1920er Jahren für
Lateinamerika als Bezugsrahmen nicht minder bedeutsam gewesen sei als das
panamerikanische Projekt.28 Lars Schoultz gibt in seinem Standardwerk über die
US-amerikanische Politik gegenüber Lateinamerika zu bedenken, dass die Genfer
Organisation in den Erwägungen der Außenpolitiker des spanisch- und portugiesischsprachigen Teils von Amerika als Instrument zur Erhöhung der Souveränität
eine wichtige Rolle gespielt habe.29 Auch die Überblicksdarstellung über die interamerikanischen Beziehungen von Mark T. Gilderhus folgt dieser Argumentationslinie. 30 Außerdem betont der Handbuchartikel in der Encyclopedia of Latin
American History and Culture Souveränitätsbestrebungen der lateinamerikanischen Republiken im institutionellen Handlungsrahmen des Völkerbundes.31
Obwohl bisher keine übergreifende Monographie zum Thema vorliegt, stehen
der Forschung eine Reihe von Darstellungen zur Verfügung, die Teilaspekte abdecken. Diese Studien lassen sich in folgende Gruppen unterteilen: Abhandlungen über die Mitwirkung lateinamerikanischer Akteure im Völkerbund (1), Darstellungen der Völkerbundarbeit einzelner lateinamerikanischer Länder oder Ländergruppen sowie des lateinamerikanischen Personals im Völkerbundsekretariat
(2), Diplomatiegeschichten, welche die Bedeutung des Völkerbundes in der außenpolitischen Konzeption einzelner Länder berücksichtigen (3), Monographien
über den Völkerbund, die lateinamerikanische Akteure und Themen berücksichtigen (4), Untersuchungen über die Beziehungen von Großmächten zum Völkerbund, die lateinamerikanische Themen streifen (5), und die Chaco-Krieg-Literatur
(6).
1) Zur ersten Gruppe gehören zwei gedruckte Texte, die allerdings keine abschließende Gesamtbeurteilung liefern können, und eine ungedruckte Lizentiatsarbeit, die aus einer großen zeitlichen Distanz geschrieben wurde: die 1929 von der
World Peace Foundation veröffentlichte Untersuchung des US-Amerikaners Warren H. Kelchner, die 1936 erschienene Pariser Dissertation des Venezolaners Manuel Pérez-Guerrero und die Lizentiatsarbeit des Schweizers Yannick Wehrli aus
dem Jahr 2003.32 Kelchners Studie entstand vor dem Hintergrund eines wachsenden Bewusstseins der Bedeutung internationaler Organisationen für Einzelstaaten
– allerdings ohne den Niedergang des Völkerbundes vorhersehen zu können. Im
Vordergrund der Arbeit, die zwar viele Mängel am Verhalten einzelner Länder im
Völkerbund aufdeckt, dafür aber nicht die Institution an sich verantwortlich macht,
28 Frederick Tylor Peck: Latin America Enters the World Scene, 1900–1930. In: Harald Eugene
Davis u. a. (Hrsg.): Latin American Diplomatic History. An Introduction. Baton Rouge/
London 1977, S. 180.
29 Schoultz: Beneath the United States, S. 284.
30 Mark T. Gilderhus: The Second Century. U.S.-Latin American Relations Since 1889. Wilmington 2000, S. 65.
31 Lesley R. Luster: League of Nations. In: ELAHC, Bd. III, S. 395.
32 Warren H. Kelchner: Latin American Relations with the League of Nations. [= World Peace
Foundation Pamphlets, Bd. 12, Nr. 6]. Boston 1929; Manuel Pérez-Guerrero: Les relations
des États de l’Amérique latine avec la Société des Nations. Paris 1936; Yannick Wehrli:
« Créer et maintenir l’intérêt »: la liaison entre le Secrétariat de la Société des Nations et
l’Amérique latine (1919–1929). Mémoire de licence ès Lettres. Genève 2003.
Einleitung
19
steht die Beschreibung der Beweggründe für den Eintritt in den Völkerbund, die
Nichtratifizierung der Satzung oder den Austritt. Kelchner bemängelt – vermutlich an die Adresse der US-Regierung gerichtet – die unterlassene Klärung des
Verhältnisses zwischen der losen Panamerikanischen Union, welche die Koordination von Wirtschaft, Kultur und Politik auf Kontinentalebene bezweckte, und
dem umfassenderen Völkerbund. Kelchner zieht ein ambivalentes Fazit: Einerseits unterstreicht er die „universale“ Organisation als sinnvollen Referenzpunkt
für die Außenpolitik lateinamerikanischer Staaten, andererseits verweist er aber
auf die Versäumnisse der Republiken der „Neuen Welt“. Seiner Meinung nach
schöpften lateinamerikanische Delegierte im Völkerbund die vorhandenen Möglichkeiten nicht ganz aus, um Konventionen mit zu gestalten, was zur Folge hatte,
dass diese oft im Ratifizierungsprozess „hängenblieben“. Er wünschte sich auch
bei der zwischenstaatlichen Konfliktschlichtung eine offensivere Einstellung der
lateinamerikanischen Republiken.
Im Unterschied zur Abhandlung von Kelchner erstreckt sich der Erfahrungshorizont der Untersuchung von Pérez-Guerrero bis in die Mitte der 1930er Jahre.33
Das hauptsächliche Verdienst dieser selten zitierten Arbeit besteht darin, dass das
Milieu der lateinamerikanischen Repräsentanten im Völkerbund thematisiert wird.
Der Autor sieht die „organisation du Groupe des États de l’Amérique“ als Grundlage für die Vertretung „lateinamerikanischer“ Positionen. Lateinamerikanische
Repräsentanten verabredeten sich vor den Versammlungen, um gemeinsame Haltungen zu ermitteln und Absprachen zu treffen. Er bezeichnet diesen Meinungsbildungsprozess als „formation spontané de bloc latinoaméricain“. 34 PérezGuerrero zufolge kam die lateinamerikanische Solidarität auch bei der Bestellung
von Repräsentanten im Rat und bei der Wahl von Vertretern in die Kommissionen
zum Tragen. Der Autor, der sich als Anhänger der Formalisierung des von ihm in
Ansätzen nachgewiesenen regionalistischen Denkens entpuppt, schätzt zweifellos
die Möglichkeiten lateinamerikanischer Interessenvertretung zu hoch ein; er ist
damit repräsentativ für den idealistischen Utopismus so mancher lateinamerikanischer Gelehrter in der Zwischenkriegszeit.
In seiner Lizentiatsarbeit rekonstruiert Yannick Wehrli, der im Unterschied zu
Kelchner und Pérez-Guerrero auf Quellenmaterial aus dem Völkerbundarchiv zurückgreifen kann, die Haltung des Völkerbundsekretariates zur Großregion Lateinamerika. Wehrli konzentriert sich auf zwei Gebiete: das Verhältnis lateinamerikanischer Staaten zum Völkerbund in der Anfangsphase und die Rekrutierung
lateinamerikanischen Personals für das Sekretariat. Während der Autor bezüglich
des ersten Aspekts inhaltlich kaum über die Forschung von Kelchner hinausgeht,
sind seine präzisen Beobachtungen über die Rekrutierung des lateinamerikanischen Völkerbundpersonals sehr anregend.35 Wehrli weist nach, dass der Generalsekretär, Sir James Erik Drummond (1919–1933), bei der Auswahl von Angestellten die entscheidende Figur war, wobei er der nationalen Herkunft großes Ge33 Der Chaco- und der Leticia-Krieg werden in der Analyse nicht berücksichtigt.
34 Pérez-Guerrero: Les relations, S. 54.
35 Wehrli: « Créer et maintenir l’intérêt », S. 101–113, 123–128, 159–172.
20
Einleitung
wicht beimaß. Die Rolle lateinamerikanischer Regierungen und Delegierter bei
der Auswahl von Personal aus dieser Region kann jedoch mit dem verwendeten
Quellenmaterial nicht ausreichend geklärt werden.
2) Zur zweiten Gruppe sind bisher acht Studien verfasst worden. Das benutzte
Quellenmaterial ist jeweils von Außenministerien produziert worden und ist daher
in erster Linie geeignet, diese Perspektive wiederzugeben. Freddy Vivas Gallardo
zeichnet unter Verwendung der Rechenschaftsberichte von Delegierten, die er
ausführlich zitiert und paraphrasiert, die Haltung der venezolanischen Regierung
und ihrer Repräsentanten in Genf zum Völkerbund nach. Die Ausgangsthese
Vivas Gallardos lautet, dass die außenpolitische Analyse und das darauf aufbauende Handeln unter dem Regime des venezolanischen Diktators Juan Vicente
Gómez (1908–1935) der Herausforderung internationaler Politik nicht genügten.
Neben dem Fehlen einer kohärenten außenpolitischen Leitlinie moniert der Autor
die unzureichende institutionelle Ausstattung und die fehlende Rekrutierung von
qualifiziertem Fachpersonal.36 Die Konstellation einer politischen Spitze mit unverkennbarer Entscheidungsschwäche veranlasste sowohl unterschiedliche Segmente aus den Eliten als auch ausländische Regierungen (vor allem die USA) dazu, Kampagnen zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen zu initiieren. Der
Völkerbund war nach Vivas Gallardo insofern von entscheidender Bedeutung, als
erstmals eine größere Auseinandersetzung über die außenpolitische Zielsetzung
stattfand. Die Ansicht, dass Venezuela in den Völkerbund eintreten solle, setzte
sich durch. Die Befürworter dieser Option machten geltend, dass dadurch das
Land aus der (zum Teil selbst verschuldeten) internationalen Isolierung herausgeführt werden könne. Außerdem hofften sie, dass der aufgrund der geopolitischen
Situation im Einflussbereich der USA begrenzte außenpolitische Handlungsspielraum erweitert werden könne. Im Völkerbund handelten die venezolanischen Delegierten nach dem Grundsatz des hispanoamericanismo. Vivas Gallardo erachtet
dieses Konzept wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit als untaugliche Basis
für die regionale Kooperation. Er weist nach, dass das Solidaritätsangebot an andere lateinamerikanische Staaten im Völkerbundalltag von einigen Delegationen
des Kontinentes ebenso desavouiert wurde wie die Anbiederungsversuche an
Spanien und Frankreich. Souveränitätsgewinne als Einzelstaat und als Teil der
Großregion Lateinamerika waren unter diesen Umständen kaum zu verzeichnen.
1938 zog die venezolanische Regierung daraus die Konsequenz und trat aus dem
Völkerbund aus. Positiv bewertet der Autor, dass der Völkerbund zur Herausbildung einer authentischen Außenpolitik Venezuelas beitrug.
Die zweite, von Jorge Rhenán Segura verfasste Arbeit widmet sich unter Berücksichtigung von Quellen aus dem Archiv des costaricanischen Außenministeriums und den Archives de la Ligue des Nations in Genf den zentralamerikanischen Beziehungen zum Völkerbund. Rhenán Segura geht davon aus, dass Costa
Rica, El Salvador und Honduras aus pragmatischen Erwägungen, aber auch aus
idealistischem Altruismus anfangs ein eminentes Interesse am Völkerbund zeigten.
36 Freddy Vivas Gallardo: Venezuela en la Sociedad de las Naciones: 1920–1939. Descripción y
Análisis de una Actuación Diplomática. Caracas 1981, S. 10.
Einleitung
21
Er betont die Notwendigkeit für die zentralamerikanischen Länder, sich mit diplomatischen Mitteln gegen die „Angriffe der imperialistischen Politiken der
USA“ („embates de las políticas imperialistas de los Estados Unidos“) zu verteidigen.37 Das Ziel, durch außerkontinentale Kontakte die Übermacht der USA abzuschwächen, sei infolge der mangelnden Erfahrung mit multilateraler Politik
nicht zu Stande gekommen. Der Rückzug der USA aus dem Völkerbund habe den
direkten Dialog lateinamerikanischer Republiken mit der Hegemonialmacht unter
den Auspizien des Völkerbundes verhindert. Rhenán Segura bedauert die Unterlassung einer professionellen Interessenvertretung in Genf und das Ausbleiben
eines kontinuierlichen Informationsstromes zwischen den Repräsentanten in Europa und den Außenministerien der zentralamerikanischen Kleinstaaten. 38 Den
USA unterstellt er hinsichtlich ihrer Völkerbundpolitik in Zentralamerika eine
Politik der Obstruktion, ohne diese These jedoch durch eine dichte Beweiskette zu
untermauern. Außerdem fehlt in dieser Arbeit eine konzeptuelle Verknüpfung des
im Vordergrund stehenden Costa Rica mit dem zentralamerikanischen Kontext.
Eine dritte Studie, zur brasilianischen Haltung gegenüber dem Völkerbund,
hat Stanley E. Hilton vorgelegt. Sein Aufsatz hebt sich insofern von den beiden
anderen Monographien ab, als er auf Quellen sowohl lateinamerikanischer als
auch britischer und nordamerikanischer Herkunft zurückgreift. Er wird damit der
in der modernen Diplomatiegeschichte zentralen Forderung nach multiarchivarischer Forschung gerecht. Hilton stellt den Völkerbund in den allgemeinen Kontext der brasilianischen Außenpolitik und zeigt, wie wichtig er für die Prestigepolitik der Eliten des größten südamerikanischen Landes war. Diese seien nach dem
Ersten Weltkrieg davon überzeugt gewesen, „that Machiavellian principles guided
the international behavior of states“.39 In dieser Welt der „Realpolitik“ sahen die
Führungsgruppen Brasiliens keinen Platz für moralische Politik. Für sie ging es
somit darum, im internationalen Machtgefüge die eigene Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.
Die vierte, von Eugênio Vargas Garcia vorgelegte Monographie, bestätigt diese These, weist aber auch auf einen deutlichen Kurswechsel zwischen der Regierung Epitácio Pessoa (1919–1922) und Artur Bernardes (1922–1926) hin. Die
Außenpolitik Pessoas, so der Autor, habe ein positivistischer Pragmatismus gekennzeichnet. Durch die abgewogene Haltung der brasilianischen Experten – etwa
im Rat – sei es gelungen, eine Mittlerfunktion zwischen den Großmächten und
den „potências menores“ einzunehmen. Es sei darum gegangen, sich in der internationalen Gemeinschaft durch Loyalität mit den europäischen Großmächten zu
profilieren und sich über kurz oder lang als unentbehrliche Macht im internationalen Gefüge zu positionieren.40 Bernardes und sein Außenminister Félix Pacheco
37 Jorge Rhenán Segura: Sociedad de las Naciones y la Política Centroamericana (1919–1939).
San José de Costa Rica 1989, S. 19. Vgl. ähnlich, ebenda, S. 104, 109 f., 168.
38 Ebenda, S. 18, 169.
39 Stanley E. Hilton: Brazil and the Post-Versailles World: Elite Images and Foreign Policy
Strategy, 1919–1929. In: JLAS, Bd. 12, H. 2, 1980, S. 342.
40 Eugênio Vargas Garcia: O Brasil e a Liga das Nações (1919–1926). Porto Alegre/Brasília
2000, S. 61.
22
Einleitung
dagegen hätten unter Realitätsverlust gelitten, indem sie den durch die europäischen Mächte zugestandenen Handlungsspielraum unterschätzten. Sie pokerten zu
hoch, als sie als Trittbrettfahrer im deutschen Aufnahmeverfahren einen permanenten Sitz im Rat des Völkerbundes forderten. Der außenpolitisch unbedarfte
Bernardes, dessen autoritäres Regime seit seinem Regierungsantritt von sozial und
demokratisch motivierten Unruhen in Frage gestellt wurde, versuchte, die „politisch-institutionelle Krise“ in seinem Land durch eine außenpolitische Prestigekampagne zu kompensieren.41 „Vencer ou não perder“ war die Devise, die er ausgab. Diese Einschätzung wurde Vargas Garcia zufolge keineswegs von allen einflussreichen Gruppen geteilt. Da die Großmächte 1926 die mit einer Vetodrohung
gegen die Aufnahme Deutschlands verbundene brasilianische Forderung ablehnten, sei das durch die Diplomaten des Landes zuvor erworbene Image auf einen
Schlag verspielt worden. Nach dem Misserfolg habe sich Brasilien ähnlich wie die
USA in eine kontinentale Isolation begeben. Vargas Garcia hat für seine Studie
das Arquivo Histórico do Itamaraty, die Coleção Afrânio de Melo Franco, das
Arquivo Ruy Barbosa und das Arquivo Epitácio Pessoa sowie zahlreiche brasilianische Zeitungen herangezogen. Der nicht auf eigener Quellenarbeit basierende
Text von Braz Baracuhy stützt im Wesentlichen seine Erkenntnisse.42 Allerdings
schwächt er unter Bezugnahme auf die neorealistische Theorie die verbreitete,
von Vargas Garcia bestätigte Fiasko-These ab.
Auch die sechste Studie, über die Haltung der Regierung Hipólito Yrigoyen
(1916–1922) gegenüber dem Völkerbund, beruht auf lateinamerikanischen Quellen. Hervorzuheben gilt insbesondere, dass die beiden Autoren, María Montserrat
Llairó und Raimundo Siepe, neben den spärlich vorhandenen Dokumenten des
Außenministeriums und dem gedruckten Material des Völkerbundes das reichlich
vorhandene publizistische Schrifttum auswerten. 43 Die Verfasser zeigen damit,
wie ergiebig die Einbeziehung der öffentlichen Diskussion um den Völkerbund in
die Analyse sein kann. Zentral ist der Nachweis, dass die Regierung Yrigoyen –
anders als viele zeitgenössische Diplomaten vermuteten – eine kohärente Völkerbundpolitik vertrat, die sich unmittelbar aus der Neutralität Argentiniens im Ersten Weltkrieg ableitete. Ángel Luis Benvenutto hat mit demselben Material eine
ähnliche These formuliert: Seiner Ansicht nach verfolgten Yrigoyen, sein Außenminister Honorio Pueyrredón, der Subsecretario im Außenministerium, Diego
Luis Molinari, sowie Argentiniens Botschafter in Frankreich, Marcelo T. Alvear,
eine idealistische Politik, die in Anbetracht des realistischen Verhaltens der Siegermächte zu einem großen Missverständnis führen musste, welche bereits 1920
zum Rückzug Argentiniens aus Genf führte.44
Schließlich ist die von Fabián Herrera León vorgelegte Lizentiatsarbeit über
die Haltung mexikanischer Regierungen zum Völkerbund bis zum Eintritt im Jahr
41 Ebenda, S. 72 f.
42 Braz Bahacuy: Vencer ao perder: a naturaleza da diplomacia brasileira na crise da Liga das
Nações (1926). Brasília 2005.
43 María Montserrat Llairó/Raimundo Siepe: Argentina en Europa. Yrigoyen y la Sociedad de
las Naciones (1918–1920). Buenos Aires 1999.
44 Ángel Luis Benvenutto: Intransigencia. Argentina en Ginebra (1920). Buenos Aires 2004.
Einleitung
23
1931 zu erwähnen. 45 Sein Text besticht, ähnlich wie derjenige von Vivas
Gallardos, durch extensive Quellenarbeit. Der Autor behandelt drei Problemkreise:
Erstens geht er der Frage nach, warum Mexiko als neutrales Land im Ersten Weltkrieg anfangs nicht zum Eintritt in den Völkerbund eingeladen wurde. Zweitens
wird ermittelt, warum das mexikanische Außenministerium in den 1920er Jahren
zahlreiche Aufforderungen, ein Beitrittsgesuch zu stellen, abschlägig beantwortete.
Drittens wird das Beitrittsverfahren 1930/31 rekonstruiert. Der Verfasser hebt einerseits hervor, dass mexikanische Regierungen wegen ihrer anfänglichen Exklusion tief gekränkt waren. Andererseits betont er die kohärente Argumentation der
mexikanischen Außenminister und Präsidenten der 1920er Jahre in ihrer distanzierten Position gegenüber dem Völkerbund. Den Beitritt zu Beginn der folgenden
Dekade führt er auf veränderte Rahmenbedingungen zurück. Leider ermöglicht
ihm die ausschließliche Bindung an offizielle mexikanische Quellen nicht ausreichend, Verlautbarungen der Regierung zu hinterfragen.
3) Das Fehlen von Untersuchungen über die Beziehungen einzelner lateinamerikanischer Länder zum Völkerbund, etwa der Andenländer Chile, Bolivien,
Peru, Ecuador und Kolumbien, wird durch Überblicksdarstellungen der Außenbeziehungen nicht ausreichend kompensiert. Bedauerlicherweise wird in den Diplomatiegeschichten der Völkerbund nicht immer ausführlich diskutiert. 46 Diese
Werke, die häufig von sich bereits im Ruhestand befindenden Diplomaten oder
Professoren an Diplomatenschulen verfasst wurden, beschränken sich zumeist auf
das Paraphrasieren von Rechenschaftsberichten der Außenminister. Nur selten
werden nichtstaatliche Dokumente herangezogen oder außerhalb Lateinamerikas
produzierte Quellen benutzt, was die Gefahr national verengter und staatsbezogener Wertungen in sich birgt. Neben den teilweise unwissenschaftlichen Arbeitstechniken und konzeptuellen Schwächen ist zu bemängeln, dass in manchen Fällen ganz auf Quellen- und Literaturnachweise verzichtet wird.47 Ansätze der Diplomatiegeschichte und der Theorie der internationalen Politik werden nur in wenigen Fällen, etwa von Amado Luiz Cervo und Clodoaldo Bueno oder Lorenzo
Meyer zu Grunde gelegt.48 Diese Darstellungen beleuchten das Handeln der mexikanischen und brasilianischen Entscheidungsträger hinsichtlich des Völkerbundes
vor dem Hintergrund der reduzierten Handlungsmöglichkeiten aufgrund des USamerikanischen Isolationismus und der innenpolitischen Situation. Eine diploma-
45 Fabián Herrera León: Proceso de integración de México en la Sociedad de Naciones (1919–
1931). Tesis para obtener el título de Licenciado en Historia. Morelia 2002.
46 Ein Beispiel einer lateinamerikanischen Diplomatiegeschichte, in welcher der Völkerbundpolitik verhältnismäßig viele Seiten gewidmet werden, ist José Honório Rodrigues/Ricardo A.
S. Seitenfus: Uma História Diplomática do Brasil (1531–1945). Rio de Janeiro 1995, v. a. S.
268–346.
47 Vgl. beispielsweise Arturo García Dalazar: Historia Diplomática del Perú. Bd. I. Lima 1930;
Raimundo Rivas: Historia diplomática de Colombia (1810–1934). Bogotá 1961; Antonio
Salum-Flecha: Historia diplomática del Paraguay de 1869 a 1938. Asunción 1983.
48 Lorenzo Meyer: México y el mundo. Historia de sus relaciones exteriores. México 1991;
Amado Luiz Cervo/Clodoaldo Bueno: História da política exterior do Brasil. São Paulo 1992.
24
Einleitung
tiegeschichtliche Debatte über den Untersuchungszeitraum unter Einbeziehung
der Völkerbundpolitik gibt es in keinem Land.
4) Aus der vierten Gruppe der Literatur ragen zwei Studien heraus. Das 1952
gedruckte Werk des ab 1919 im Völkerbundsekretariat angestellten britischen
Völkerbund-Insiders Francis P. Walters ist eine Gesamtschau aus der Sicht der
Völkerbundbürokratie.49 Der Autor würdigt die Verdienste der Genfer Organisation und lastet Misserfolge einzelnen Mitgliedern an. Wer sich mit der Völkerbundproblematik beschäftigt, wird immer mit diesem Standardwerk, das auch in einer
spanischen Übersetzung zugänglich ist, 50 den leichtesten Einstieg schaffen.
Walters untergliedert seinen Text in die Zeitabschnitte 1921–1923 (Anfänge und
Jahre des Wachstums), 1924–1931 (Jahre der Stabilität), 1932–1936 (Jahre der
Konflikte) sowie 1936–1939 (Jahre des Niedergangs). Diese Periodisierung wird
von den meisten Autoren übernommen. Von den 67 Kapiteln beschäftigen sich
lediglich drei ausdrücklich mit Lateinamerika, was die eurozentrische Perspektive
unterstreicht. In Kapitel 27 geht es um die 1926 erfolgte Zulassung Deutschlands
und den gleichzeitigen Rückzug Brasiliens. Der von Außenminister Gustav Stresemann (1923–1929) ausgehandelte Einzug der Weimarer Republik in den Rat auf
Kosten Brasiliens wird als unklug gewertet, da dadurch eine Verschiebung zulasten der kleineren Länder sowie außereuropäischer Regionen stattfand. Andererseits lässt der Autor anklingen, dass als Konsequenz aus diesem Fiasko der Weg
für die längst fällige Ratsreform frei wurde. Andere Länder wie Argentinien, so
Walters, hätten die von Brasilien hinterlassene Lücke würdevoll ausgefüllt.51 Im
33. Kapitel kommen die Auslegung der Monroe-Doktrin und die Klärung des
Verhältnisses zu den Amerikanischen Konferenzen zur Sprache.52 Das Thema des
43. Kapitels ist der Chaco-Krieg und der Leticia-Konflikt. Der Textumfang ist
deutlich geringer als derjenige über die Invasion in der Mandschurei und das italienische Eingreifen in Abessinien. Hervorgehoben werden die Anstrengungen
des Völkerbundes für eine völkerrechtskonforme Friedenssicherung. Die Einflussmöglichkeiten Lateinamerikas in der Weltpolitik schätzt Walters als gering ein.
Gleichzeitig betrachtet er die „Neue Welt“ als einen für das Weltgeschehen untergeordneten Konfliktherd. Diese Meinung wird auch in den übrigen Überblicksdarstellungen zum Völkerbund vertreten. Sie sind zumeist aus einer britischen, französischen, deutschen oder US-amerikanischen Perspektive verfasst, benutzen
Quellen aus dem Völkerbundarchiv nicht und streifen lateinamerikanische Themen – wenn überhaupt – nur am Rande.53 Auch Zara Steiners umfangreiche Dar49 Francis P. Walters: A History of the League of Nations. 2 Bde. London/New York/Toronto
1952.
50 Francis P. Walters: Historia de la Sociedad de Naciones. Madrid 1971.
51 Walters: A History, Bd. I, S. 324 f.
52 Warum Spanien und Lateinamerika im selben Kapitel behandelt werden, ist nicht ersichtlich.
53 Byron Dexter: The Years of Opportunity: The League of Nations, 1920–1926. New York
1967; Elmer Bendiner: A Time for Angels. The Tragicomic History of the League of Nations.
New York 1975; Gary B. Ostrower: The League of Nations from 1919 to 1929. Garden City
Park 1996; George J. Gill: The League of Nations from 1929 to 1946. Garden City Park
1996; Ruth H. Henig: The League of Nations. Edinburgh 1973; George Scott: The Rise and
Einleitung
25
stellung der europäischen internationalen Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg,
in welcher der Völkerbund eine zentrale Rolle spielt, geht überhaupt nicht auf die
Rolle Lateinamerikas ein. Die Autorin begnügt sich mit dem Hinweis, es habe
sich um eine „Eurocentric institution“ gehandelt. 54
Was die Bedeutung Lateinamerikas für den Völkerbund anbelangt, vermittelt
James Barros’ Office Without Power, eine personenzentrierte Studie über Eric
Drummond, ein anderes Bild. Barros bringt zahlreiche Quellenbelege dafür, dass
sich der erste Generalsekretär aufgrund des Auftrages des Völkerbundes ausgiebig
mit Lateinamerika beschäftigte. Drummond sei sich von Anfang an im Klaren darüber gewesen, dass eine „Weltorganisation“ nur mit der aktiven Beteiligung mittel- und südamerikanischer Staaten funktionieren konnte. Anders gewendet: Waren die lateinamerikanischen Staaten zwar schwach, so wurden sie doch als Verstärkung für den Völkerbund und damit für den Weltfrieden betrachtet. Drummond machte dafür nicht nur numerische, sondern auch funktionale Gründe geltend. Er verwies auf die ausgleichende Rolle, die Delegierte dieser Region in
europäischen Angelegenheiten spielen konnten. Hinsichtlich inneramerikanischer
Konfliktregelungen wandte er sich gegen eine Teilautonomie, wie sie der chilenische Botschafter in London, Agustín Edwards, zeitweise ins Auge fasste. Drummond hatte jedoch, Barros zufolge, ein offenes Ohr für die lateinamerikanischen
Forderungen nach einer besseren Repräsentation in den Organen des Völkerbundes. Beispielsweise schlug er dem Rat vor, untergeordnete Subkomitees mit starker lateinamerikanischer Repräsentation zu bilden. Er versuchte damit, für den
Völkerbund weltweit die oberste Konfliktregelungskompetenz zu retten. 55
Schließlich betont Barros, dass der Internationalist Drummond den Passus in der
Satzung über die Monroe-Doktrin als großes Hindernis für die Entfaltung einer
weltweiten Wirkung des Völkerbundes betrachtete.56
5) Eine weitere Gruppe von Texten untersucht den Völkerbund aus der Sicht
der Großmächte. Aus dieser Perspektive sind einzelne lateinamerikanische Republiken oder die Großregion lediglich von sekundärer Bedeutung. Es geht hierbei
vor allem um die Rolle, die den lateinamerikanischen Staaten in der Völkerbundsatzung zugewiesen wurde, und um die Repräsentation Lateinamerikas im Rat.
Die klassische Untersuchung von George Egerton über die Gründung des Völkerbundes verweist auf britische Bedenken hinsichtlich einer gleichberechtigten lateinamerikanischen Beteiligung. Auf die Haltung der Regierungen dieser Großre-
Fall of the League of Nations. London 1973; F. S. Northedge: The League of Nations – its
life and times 1920–1946. Leicester 1986; Pierre Gerbert u. a.: Société des Nations et Organisation des Nations-Unis. Paris 1973; Alfred Pfeil: Der Völkerbund. Literaturbericht und kritische Darstellung seiner Geschichte. [= Erträge der Forschung, Bd. 58], Darmstadt 1976.
54 Zara Steiner: The Lights that Failed. European International History 1919-1933. Oxford
2007, S. 350.
55 James Barros: Office Without Power. Secretary-General Sir Eric Drummond 1919–1933.
Oxford 1979, S. 210–214.
56 Ebenda, S. 215–218.
26
Einleitung
gion wird jedoch nicht eingegangen.57 Elmer Bendiner beschäftigt sich ebenfalls
mit der Entstehungsgeschichte des Völkerbundes, wobei er die Rolle der WilsonAdministration hervorhebt. Seine Ausführungen über die Einfügung der MonroeDoktrin in die Völkerbundsatzung verweisen auf unterschiedliche Positionen
Frankreichs und Großbritanniens.58 Die Ratsreformdebatte und die Ratsreformkrise bis zum deutschen Ein- und dem brasilianischen Austritt im Jahr 1926, ein zentrales Thema dieser Arbeit, behandeln David Carlton und Katharina Sophie Erdmenger.59 Carlton stellt die Sicht des Foreign Office dar, Erdmenger gibt einen
Einblick in das Denken britischer Sekretariatsbeamter. Die Standpunkte mittelamerikanischer und südamerikanischer Regierungen sowie die besondere Haltung
Brasiliens werden nur am Rande herausgearbeitet. Die vier entscheidenden Studien über die französische Völkerbundpolitik behandeln die Haltung Frankreichs
zu den lateinamerikanischen Mitgliedern nicht eingehend. 60 Immerhin ist aber
Christa Haas’ Untersuchung zur Bestimmung der französischen Position in der
Ratsreformdebatte, die sich von brasilianischen Vorstellungen deutlich unterschied, hilfreich.61 Die Haltung des deutschen Auswärtigen Amtes bis zum erfolgreichen Einzug in den Rat wird von Stefan Rinke auf der Basis des im Politischen
Archiv des Auswärtigen Amtes aufbewahrten Quellenmaterials nachgezeichnet.62
Auch das Standardwerk von Christoph M. Kimmich „Germany and the League of
Nations“ thematisiert die durch Stresemanns harte Linie verursachte Verstimmung
bei anderen Völkerbundmitgliedern; aufgrund seiner Fixierung auf Deutschland
behandelt er aber die Folgen für Brasilien nur am Rande.63
6) Eine besondere Gruppe innerhalb der Literatur bildet das wissenschaftliche
Schrifttum über den Krieg zwischen Paraguay und Bolivien (1932–1935). Es ist
das einzige lateinamerikanische Thema in Verbindung mit dem Völkerbund, das
eine vielfältige Literatur hervorgebracht hat. An dieser Stelle soll lediglich auf die
Themenschwerpunkte hingewiesen werden: Die Untersuchungen beschäftigen
sich mit den Konfliktursachen und der Eskalation64 der militärischen Dimension,65
57 George Egerton: Great Britain and the Creation of the League of Nations. Strategy, Politics,
and International Organization. Chapel Hill 1978.
58 Elmer Bendiner: A Time for Angels: The Tragicomic History of the League of Nations. New
York 1975, v. a. S. 111–113.
59 David Carlton: Great Britain and the League Council Crisis of 1926. In: The Historical Journal, Bd. 11, 1998, S. 354–364; Katharina Sophie Erdmenger: Diener zweier Herren? Briten
im Sekretariat des Völkerbundes 1919–1933. Baden-Baden 1998, S. 458–464.
60 Marie-Renée Mouton: La Société des Nations et les intérêts de la France (1920–1924). Bern
1995; John L. Hogge II: Arbitrage, Sécurité, Désarmement. French Security and the League
of Nations, 1920–1925. Ann Arbor 1996; Christa Haas: Die französische Völkerbundpolitik
1917–1926. Dortmund 1996; Christine Manigand: Les Français au service de la Société des
Nations. Bern 2003.
61 Haas: Die französische Völkerbundpolitik, S. 189–225.
62 Stefan Rinke: „Der letzte freie Kontinent“: Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918–1933. Bd. I. Stuttgart 1996, S. 176–180, 198–209.
63 Christoph M. Kimmich: Germany and the League of Nations. Chicago 1976, v. a. S. 78–91.
64 Michael Herzig: Der Chaco-Krieg zwischen Bolivien und Paraguay 1932–1935. [= HispanoAmericana, Bd. 12]. Frankfurt a. M. 1996.
Einleitung
27
den diplomatischen Aktivitäten aus der bolivianischen Perspektive,66 den Bemühungen zur Beilegung des Streites seitens der USA67 und des Völkerbundes68 sowie der Rolle des Internationalen Roten Kreuzes.69 Eine Studie über die Funktion
des Völkerbundes in diesem Konflikt, die das Genfer Archivmaterial berücksichtigt, hat bislang lediglich Fabián Herrera unternommen. Dieser Text, der sich auch
mit dem Leticia-Krieg (1932–1933) beschäftigt, beschränkt sich allerdings auf die
Darstellung der mexikanischen Position.70
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Forschung über Lateinamerika und
den Völkerbund mittlerweile auf eine Reihe von Untersuchungen zurückgreifen
kann, die wesentliche Teilbereiche abdecken. Sie zeigen, dass die Bedeutung des
Völkerbundes für lateinamerikanische Staaten nicht zu unterschätzen ist. Aber
eine kritische Aufarbeitung der Rolle des Völkerbundes als Referenzpunkt der
Außenbeziehungen der Länder Lateinamerikas steht noch aus. In diesem Zusammenhang fällt vor allem auf, dass bisher die Rolle des Völkerbundes zur Findung
und Verfestigung eigener außenpolitischer Positionen, als Bezugsrahmen zur
Formulierung und Gestaltung internationaler Politik in lateinamerikanischen Konflikten sowie als Druckmittel für die angestrebte Kooperation in den interamerikanischen Beziehungen nicht ausreichend erfasst wurde. Die Sicht der Entscheidungsträger der einzelnen Staaten bezüglich des Völkerbundes divergierte zum
Teil stark; aber es gab auch verbindende, kulturelle Elemente („schwache Staaten“), welche Lateinamerika als großregionale Staatengemeinschaft in der „Weltorganisation“ erscheinen ließen. Dieser Aspekt ist in der Literatur ebenfalls kaum
65 David H. Zook, Jr.: The Conduct of the Chaco War. New Haven 1960; Bruce W. Farcau: The
Chaco War. Bolivia and Paraguay, 1932–1935. Westport 1996; Dan Hagedorn/Antonio L.
Sapienza: Aircraft of the Chaco War, 1928–1935. Atglen, PA 1997; Adrian J. English: The
Green Hell. A Concise History of the Chaco War between Bolivia and Paraguay, 1932-35.
Stroud, Gloucestershire 2007.
66 Miguel Mercado Moreira: Historia diplomática de la Guerra del Chaco. La Paz 1966; Roberto
Querejazu Calvo: Masamaclay. Historia política, diplomática y militar de la Guerra del Chaco. La Paz 51992.
67 William R. Garner: The Chaco Dispute. A Study of Prestige Diplomacy. Washington, D.C.
1966; Bryce Wood: The United States and Latin American Wars 1932–1942. New York/
London 1966, S. 19–251; Leslie B. Rout, Jr.: Politics of the Chaco Peace Conference 1935–
1939. Austin/London 1970; Herzig: Der Chaco-Krieg.
68 Herzig: Der Chaco-Krieg; Fabián Herrera: La política mexicana en la Sociedad de Naciones
ante la Guerra del Chaco y el Conflicto de Leticia 1932-1935. México, D.F. 2009.
69 Walther L. Bernecker/ Florian B. Meister (Hrsg.): Der Kampf um die „Grüne Hölle“. Quellen
und Materialien zum Chaco-Krieg (1932–1935). Zürich 1993.
70 Herrera: La política mexicana. Der Erkenntnisgewinn aus den Arbeiten von Arturo Rahi ist
minimal. Dem Autor geht es lediglich darum, die alte Polemik gegen den liberalen paraguayischen Präsidenten, Eusebio Ayala (1932–1936), fortzusetzen und die Bemühungen des Völkerbundes zur Konfliktbeilegung als Verrat an den nationalen Interessen Paraguays zu diskreditieren. Arturo Rahi: La Liga de las Naciones en el Chaco Boreal y testimonios de guerra
del delegado francés Paul Daumas. Asunción 2007; ders.: El armisticio de Campo Vía: la
traición silenciada de las guerras del Chaco. Asunción 2006.
28
Einleitung
in den Blick genommen worden.71 Hinsichtlich des den vorliegenden Studien zu
Grunde gelegten Quellenmaterials ist zu bemängeln, dass nur wenige Autoren das
umfangreiche, in Zusammenhang mit dem Völkerbund verfasste Schrifttum
gründlich ausgewertet haben. Außerdem stützen sich die auf Archivforschung
beruhenden Arbeiten vorwiegend auf lateinamerikanische Quellen. Mit Ausnahme
Wehrlis hat bisher niemand Dokumente des Genfer Archivs systematisch ausgewertet. Veröffentlichte und ungedruckte außenpolitische Quellen, etwa aus dem
Quai d’Orsay, dem Foreign Office, dem Auswärtigen Amt oder dem Schweizerischen Bundesrat, sind im Hinblick auf das Verhältnis lateinamerikanischer Akteure zum Völkerbund übersehen worden. Zudem erstaunt, dass zu einigen bedeutenden Völkerbundländern, vor allen Dingen zu Chile, Uruguay und Kolumbien,
noch keine archivgestützten Monographien vorliegen. Schließlich fällt auf, dass in
die vorliegenden Untersuchungen öffentliche Debatten und Diskurse kaum einbezogen werden – auch hier liegt ein großes Desideratum vor. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Grundannahmen, welche die Ergebnisse über den Forschungsgegenstand entscheidend vorstrukturieren. Diese werden zumeist nicht
offengelegt und lassen sich somit nur indirekt erschließen. Wie Ursula Lehmkuhl
mit Recht beklagt, ist „Theorie- und Methodenabstinenz“ in der Diplomatiegeschichte noch immer häufig; befriedigend ist dies aber nicht.72 Bevor daher auf
den Aufbau der Arbeit und die verwendeten Quellen eingegangen wird, sollen
kurz theoretische Ansätze vorgestellt werden, die dazu beitragen, den gewählten
Gegenstand dieser Arbeit zu erschließen.
ANSÄTZE ZUR INTERPRETATION DER POSITION
LATEINAMERIKAS ZUM VÖLKERBUND
Elemente von vier Theorien, die jeweils in einer bestimmten Phase des zwanzigsten Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Debatten über internationale Politik eine Rolle gespielt haben, sind hilfreich zur Beschreibung und Erklärung der
Perspektiven, der Interessen und des Handelns lateinamerikanischer Akteure im
Völkerbund: der idealistische, der realistische/neorealistische, der dependenciaund der konstruktivistische Ansatz.
71 Diese Sichtweise wird vor allem von den Kulturwissenschaften und den Area Studies favorisiert. Sie betrachtet unterschiedliche Weltregionen und Kulturen als gleichwertig. Ein Vorzug
besteht darin, dass monolithische Nivellierungen vermieden und dezentrale Entwicklungen
angemessen berücksichtigt werden. Dieser Ansatz lädt zu Vergleichen, also zur Untersuchung
von Similarität und Alterität zwischen den Weltregionen ein. Vgl. das Plädoyer von Jeremy
Adelman für „lateinamerikanische Geschichte“ als Teil der „Weltgeschichte“. Jeremy Adelman: Latin American and World Histories: Old and New Approaches to the Pluribus and the
Unum. In: HAHR, Bd. 84, H. 3, 2004, S. 399–409.
72 Ursula Lehmkuhl: Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische
Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus. In: GG, Bd. 27, H. 3, 2001, S. 400.
Einleitung
29
Der idealistische Ansatz, der sich in den 1920er Jahren als dominante Richtung in Forschung und Lehre der internationalen Beziehungen etablierte, ist ohne
die zerstörerische Wirkung des Ersten Weltkrieges schwer nachzuvollziehen. Der
Hauptzweck bestand darin, die wissenschaftlichen Grundlagen für Konzeptionen
zur Vermeidung ähnlicher Katastrophen zu schaffen. 73 Herausragende Wissenschaftler, die mit dem Idealismus in Verbindung gebracht werden, sind Arnold
Toynbee, Alfred Zimmern, Norman Angell und William E. Rappard.74 In zahlreichen Monographien und Aufsätzen liefern sie die theoretische Begründung für das
Frieden stiftende Potenzial eines Kooperationsmechanismus wie des Völkerbundes.
Idealisten gehen davon aus, dass Prozesse der Entscheidungsfindung, wie sie
das institutionelle Gerüst des Völkerbundes vorsah, zur Domestizierung der reinen
Machtpolitik beitragen. Der Wettbewerb zwischen Nationalstaaten könne durch
konsensuale, öffentlich getroffene und universal gültige Entscheidungen gemildert
werden. Voraussetzung sei, dass sich die Entscheidungsträger – einem ethischen
Plan folgend – gemeinsam für Konfliktprävention und -beilegung einsetzten. 75
Solche Staatenvereinigungen kann man nach Karl W. Deutsch als „pluralistische
Sicherheitsgemeinschaften“ bezeichnen, welche die nationale Souveränität und
die Nichtintervention ermöglichen sollen.76 Der Weltfrieden soll durch die Internationalisierung des Rechtes gefördert werden.
Aus lateinamerikanischer Sicht ist festzuhalten, dass idealistisches Denken
Entwürfe subregionaler, lateinamerikanischer und kontinentaler Sicherheitsbünd73 Edward Hallett Carr: The Twenty Years’ Crisis, 1919–1939. An Introduction to the Study of
International Relations. New York 1999 [Erstauflage 1939], S. 7.
74 Toynbee versuchte zu beweisen, dass die uneingeschränkte Souveränität der Staaten als Prinzip der Gestaltung internationaler Politik den globalen Prozess der Zivilisation beeinträchtige.
Angell vertrat die Meinung, dass Machtpolitik durch den erreichten Stand der internationalen
Verflechtung obsolet geworden sei. Er setzte sich für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen des Handels auf Globalebene sowie für ein System kollektiver Sicherheit ein. Er appellierte an die Presse, sich nicht von nationalen Stimmungen leiten zu lassen, sondern verantwortungsvoll zu informieren. Ähnlich argumentierte Rappard, der die Schweiz bei den Pariser Friedensverhandlungen vertrat und später als Mitglied der Permanenten Mandatskommission des Völkerbundes fungierte. Zimmern, der im Dienst der britischen Regierung bei
den Pariser Friedensverhandlungen praktische Erfahrungen in internationaler Politik gesammelt hatte, reflektierte auch die Mängel der Nachkriegsordnung. Er wies auf institutionelle
Schwächen des Völkerbundes und das weiter bestehende Machtstreben und interessengeleitete Denken der politischen Akteure hin. Zu Toynbee und Zimmern, Kathleen Burk: Britische
Traditionen internationaler Geschichtsschreibung. In: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel
(Hrsg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten. München 2000, S.
51–53. Zu Angell, Louis Bisceglia: Norman Angell and Liberal Internationalism in Britain,
1931–1935. New York/London 1982. Zu Rappard, Ania Peter: William E. Rappard und der
Völkerbund. Ein Schweizer Pionier der internationalen Verständigung. Bern/Frankfurt a. M.
1973.
75 Vgl. etwa Reinhard Meyers: Idealistische Schule. In: Andreas Boeckh (Hrsg.): Internationale
Beziehungen. [= Lexikon der Politik, hrsg. von Dieter Nohlen, Bd. VI]. München 1993, S.
200–204.
76 Karl W. Deutsch: Die Analyse internationaler Beziehungen. Konzeptionen und Probleme der
Friedensforschung. Frankfurt a. M. 1968, S. 272–289, v. a. 287 f.
30
Einleitung
nisse inspirierte. Lateinamerikanische Juristen und Politiker hatten sich seit langem für die Konfliktprävention und -vermittlung sowie internationale Schiedsgerichte stark gemacht, um die beiden großen Bedrohungen des Friedens, den Interventionismus der USA (und lange Zeit auch europäischer Staaten) sowie den
Streit zwischen Nachbarn um Grenzen, zu eliminieren. Obwohl diese Friedensideen und -bemühungen nicht von der Hand zu weisen sind, belegen zahlreiche
eskalierende Konflikte zwischen lateinamerikanischen Nachbarstaaten, dass Eliten in der Praxis nicht immer nach idealistischen Maximen handelten. Erst in den
Grenzkriegen zwischen Kolumbien und Peru sowie zwischen Bolivien und Paraguay übernahm die Genfer Organisation – nach langem Zögern – auf Wunsch
lateinamerikanischer Repräsentanten eine Vermittlerrolle, die zur Konfliktbeendigung beitrug.77
Idealistisch geprägte Autoren nennen zwei Gründe für das Versagen des Völkerbundes: Einerseits war es den europäischen Großmächten bereits bei der Ausarbeitung der Zweckbestimmung, des institutionellen Gefüges und der Verfahrensregeln gelungen, ihre Partikularinteressen so zu verankern, dass der Gedanke
der kollektiven Sicherheit untergraben wurde. Andererseits waren ihr Einsatz für
die Einbindung möglichst aller souveränen Staaten in das globale Sicherheitsbündnis sowie ihre Bereitschaft, sich an die Spielregeln zu halten, gering. Anlässlich des Eindringens Japans in China ab 1931 und des italienischen Überfalls auf
Äthiopien im Jahr 1935 scheiterte die „Weltorganisation“ auf der ganzen Linie.
Nicht weniger groß waren die Enttäuschungen aus lateinamerikanischer Sicht:
Nichts geschah, als 1920 Peru und Bolivien die Vermittlung des Völkerbundes im
Tacna-Arica-Konflikt erbaten. Auch bei den 1921 eskalierten Auseinandersetzungen um die Grenzziehungen zwischen Costa Rica und Panama stellte sich die
Genfer Organisation taub. Der Völkerbund zeigte wiederum keine Reaktion anlässlich der militärischen Intervention der USA in Nicaragua im Jahr 1926. Der
idealistische Ansatz ist daher zwar hilfreich für das Verstehen von Diskussionen
über internationale Politik im Lateinamerika der 1920er Jahre; aber er steht auch
für eine Form des Denkens, welches das Fundament einer Institution der Friedenssicherung begründete, die ihrer Zielsetzung nicht gerecht wurde. Die Hoffnung, dass internationale Kooperation Vorteile für alle Beteiligten bringe, zerschlug sich schnell. Die nachhaltige Institutionalisierung der kooperativen Friedenssicherung setzte Einigkeit in Bezug auf die Probleme sowie die Regeln und
Normen zu deren Lösung voraus. Die Interessengegensätze und Ressourcenunterschiede der souveränen Staatenakteure sollten dadurch nicht beeinträchtigt werden.78
Vor dem Hintergrund der mangelnden empirischen Evidenz für die grundsätzliche Bereitschaft der Entscheidungsträger, zu Gunsten des globalen Friedens und
der Weltgesellschaft (und nicht persönlicher, schichtenbedingter oder nationaler
77 Ebenfalls erfolgreich war das Instrumentarium des Völkerbundes beim Wilna-Konflikt
(1920), beim Korfu-Konflikt (1923) und beim Mosul-Konflikt (1924/25).
78 Zur Institutionalisierung internationaler Kooperationsmechanismen aus theoretischer und
empirischer Sicht, Franz Urban Pappi u.a. (Hrsg.): Die Institutionalisierung internationaler
Verhandlungen. Frankfurt/New York 2004.
Einleitung
31
Interessen) zu handeln, häuften sich ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die
Stimmen, die dem idealistischen Paradigma die Gültigkeit absprachen und für
eine realistische Sicht plädierten. Die Vertreter dieser Richtung betrachteten den
idealistischen Ansatz als Utopismus, der wenig aussagekräftig über die tatsächlichen Bewegungskräfte der internationalen Politik war. Der realistische/neorealistische Ansatz geht davon aus, dass internationale Politik letztlich nicht durch Kooperation von, sondern durch Konkurrenz zwischen Staaten strukturiert wird.79
Dieser Wettbewerb lässt sich Hans J. Morgenthau, dem dezidiertesten Vertreter
des Realismus zufolge, aufgrund der zentralen Kategorie der Macht, in der sich jegliches „nationale Interesse“ manifestiert, entschlüsseln. Denn: „All politics, domestic and international, reveals three basic patterns, that is to say, all political
phenomena can be reduced to one of three basic types. A political policy seeks
either to keep power, to increase power, or to demonstrate power.“80 Die Souveränität der Staaten ist letztlich in Relation zu ihrer Macht zu beurteilen. Die
Grundlage der Macht bildet dabei die Summe von geographischen Faktoren, natürlichen Ressourcen, industrieller Kapazität, militärischem Potenzial, Bevölkerung, „Nationalcharakter“, „nationaler Moral“, Qualität der Diplomatie und Befähigung der Regierung. 81 Machtstreben („Imperialismus“) oder Machterhaltung
(„Status quo“) sind die Grundprinzipien der internationalen Politik; Positionsverschiebungen einzelner Staaten, veränderte Machtkonstellationen und Strukturwandel sind jedoch unausweichlich. Die Unterwerfung der Nationalstaaten unter
übergeordnete Instanzen wird als unerträgliche Souveränitätsbeschränkung betrachtet.82
Nach diesen Prämissen war der Völkerbund eine Ansammlung von Staaten
mit hierarchischer Hackordnung. Da innerhalb dieser Organisation die gleichen
Machtbedingungen wie außerhalb galten, war für Morgenthau die Aufspaltung in
eine an der Erhaltung des Status quo der Machtverteilung interessierte Fraktion
und in eine revisionistisch orientierte Gruppe der Völkerbundgegner (Italien,
Deutschland, Japan) unvermeidbar.83 Kurzum, der Misserfolg der „Weltorganisation“ war nach diesem Denken aufgrund falscher Grundannahmen über das Zusammenspiel von Staaten in der internationalen Arena vorprogrammiert. Das rei79 Michael Zürn: Neorealistische und Realistische Schule. In: Boeckh (Hrsg.): Internationale
Beziehungen, S. 309–322; James E. Dougherty/Robert L. Pfaltzgraff, Jr.: Contending Theories of International Relations. A Comprehensive Survey. New York 52001, S. 63–103.
80 Hans J. Morgenthau: Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace. New York
1948, S. 21.
81 Ebenda, S. 80–108.
82 Die Bezeichnungen Machtkonstellation und -struktur gehören nicht zum Vokabular Morgenthaus, sondern entstammen den neorealistischen Weiterentwicklungen Gottfried-Karl
Kindermanns und Kenneth Waltz’. Siehe Dougherty/Pfaltzgraff (Hrsg.): Contending Theories, S. 80–88; Zürn: Neorealistische und realistische Schule, S. 313–315.
83 Morgenthau: Politics among Nations, S. 368–378. Zu den Revisionisten müssten auch nationale Bewegungen gezählt werden, die in den Versailler Verträgen leer ausgegangen waren, d.
h. denen keine Staatlichkeit gegeben wurde. Diese Perspektive „von unten“ interessiert allerdings Morgenthau nicht, der fälschlicherweise von einer Kongruenz von Nation und Staat
ausgeht.
32
Einleitung
bungslose Funktionieren des Völkerbundes hätte die umfassende, weltweite Akzeptanz seiner Grundsätze durch die Staatsmänner und Politiker vorausgesetzt.
Dies war, wie man weiß, nicht der Fall.
Unter realistischen Prämissen erklärt sich das Auftreten der lateinamerikanischen Repräsentanten im Völkerbund weitgehend aus dem interessengeleiteten
Handeln der starken Nationalstaaten. Tatsächlich gelangten Delegierte aus Lateinamerika schnell zur Einsicht, dass Machtpolitik und Machtkalkül vor dem Völkerbund nicht Halt machten; dies schwächte die Durchsetzung ihrer eigenen Anliegen. Außerdem mussten lateinamerikanische Politiker und Intellektuelle zur
Kenntnis nehmen, dass die bloße Existenz des Völkerbundes das US-amerikanische Streben nach hegemonialer Macht keineswegs eindämmte. Auch wurde das
zwischenstaatliche Konfliktpotenzial (Grenzkonflikte) keinesfalls aus dem Weg
geräumt. Das musste die Realisten in ihren Grundannahmen bestärken. In Bezug
auf Chile und Brasilien kann realistisch begründetes, subregionales Prestige- und
Vormachtstreben sogar als eine der Konfliktquellen nachgewiesen werden. Doch
darf auch nicht übersehen werden, dass sich im Völkerbund Möglichkeiten der
Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit ergaben – sei es auch nur dadurch,
dass die eigenen Interessen mit denjenigen der Großmächte abgestimmt wurden.
Dadurch konnte auch die eigene Position gestärkt werden. Insgesamt hat die realistische/neorealistische Position erhebliche Schwierigkeiten, das Handeln der
Delegierten und Repräsentanten schwacher Staaten als eigenständige Akteure in
den Blick zu nehmen und zu erklären.
Die dritte Richtung, die dependencia-Schule, entstand erst Mitte der 1960er
Jahre aufgrund des Unbehagens gegenüber der damaligen Dominanz der realistischen Sichtweise, die kleine und schwache Staaten als Restmenge der internationalen Politik betrachtet und folglich kaum berücksichtigt. Die Vertreter der dependencia-Perspektive rücken das asymmetrische Verhältnis zwischen „Metropolen“ und „Peripherien“ ins Zentrum ihrer Analyse.84 Im Unterschied zur realistischen/neorealistischen Schule begnügen sie sich nicht mit der Untersuchung der
Außenbeziehungen von Einzelstaaten und Machtkonstellationen, sondern berücksichtigen globale Verflechtungen, wobei der Fokus auf der internationalen Wirtschaftsstruktur liegt. Im Zentrum ihrer Forschungen steht die Offenlegung von
Abhängigkeitsstrukturen.
Nach einer Studie von Jeanne A. K. Hey können dependente Staaten nach folgenden außenpolitischen Mustern handeln:85 Erstens erachten es viele Regierungen als unausweichlich, die interessenbedingten Wünsche der Hegemonialmächte
zu erfüllen (compliance), auch wenn dies gegen die nationalen Interessen verstößt,
84 Alberto van Klaveren: The Analysis of Latin American Foreign Policies: Theoretical Perspectives. In: Heraldo Muñoz/Joseph S. Tulchin (Hrsg.): Latin American Nations in World Politics. Boulder/London 1984, S. 7–9. Einen Überblick über Grundannahmen, Erklärungsreichweite, Politiken und Kritik des Dependenzansatzes geben Walther L. Bernecker/Thomas
Fischer: Rise and Decline of Latin American Dependency Theory. In: Itinerario, Bd. 22, H. 4,
1998, S. 25–43.
85 Vgl. zur folgenden Unterscheidung, mit Literaturhinweisen, Jeanne A. K. Hey: Theories of
Dependent Foreign Policy and the Case of Ecuador in the 1980s. Athens 1995, S. 8–16.
Einleitung
33
da sie sonst mit militärischen und wirtschaftlichen Pressionen zu rechnen haben.
Eine zweite Möglichkeit besteht Hey zufolge in der bewussten und durch eigene
Überzeugung herbeigeführten Abstimmung der Außenpolitik mit derjenigen der
Zentren (consensus). Es komme eher selten vor, dass dadurch auch die Gesamtentwicklung des abhängigen Staates profitiere. Kooperation, so die Autorin, nütze
zumeist einer zahlenmäßig kleinen, aber reichen, häufig im Ausland ausgebildeten
Gruppe, der es vor allem um die eigene Bereicherung und die Konsolidierung der
Herrschaft gehe. Eine dritte Option ist nach Hey die Formulierung einer nicht auf
die Interessen der „Metropolen“, sondern auf die nationalen Prioritäten ausgerichteten Politik (counterdependence). Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Varianten wird der Weg des geringsten Widerstandes verlassen und die Hegemonialmacht, in unserem Falle die USA, durch ein häufig auch theoretisch begründetes Gegenprojekt herausgefordert. Die Akteure, die sich für diese Variante
entscheiden, entstammen meist nicht der traditionellen Oberschicht, sondern der
Mittelklasse. Sie gehen das Risiko ein, an internationalen Kontextbedingungen
und dem Druck externer Kräfte zu scheitern. Als erfolgreich erweisen sich counterdependence-Politiken dann, wenn die Abhängigkeit verringert wird und zugleich Entwicklungsfortschritte zu verzeichnen sind. Schließlich weist die Autorin
noch auf Motive für die Gestaltung der Außenpolitik dependenter Staaten hin, die
sich allerdings nicht unmittelbar aus der Dependenztheorie ableiten lassen. Zum
einen sind hier herausragende politische Figuren zu erwähnen, welche die Außenpolitik aufgrund der relativ schwachen politischen Institutionen persönlich zu prägen vermögen (leader preferences). Zum anderen ist die Rücksichtnahme politischer Führer auf innenpolitische Konstellationen zu nennen (domestic politics),
die in bestimmten Situationen eine wichtige Rolle spielen können.
Der unbestreitbare Wert der dependencia-Theorie besteht darin, auf die strukturell bedingte ökonomische und militärische Begrenzung des außenpolitischen
Handlungsfundus lateinamerikanischer Staaten aufmerksam gemacht zu haben.
Wie im realistischen Ansatz gehen Dependenzvertreter davon aus, dass der Beitritt zum und die Form der Mitwirkung in multilateralen Gebilden der Analyse der
jeweiligen Position im internationalen System entsprach. Sie insistieren außerdem,
dass das Machtgefälle zwischen starken und schwachen Staaten auch dort zum
Ausdruck kommt.86 Vor dem Hintergrund des Abhängigkeitsverhältnisses zu den
USA und anderen Märkten ist zu prüfen, welche Funktion die Genfer Organisation jeweils für die lateinamerikanischen Regierungen einnahm. Von der nahezu
uneingeschränkten Befürwortung der Regierung Baltasar Brum in Uruguay bis
zur Verweigerungspolitik des argentinischen Präsidenten Yrigoyen war ein breites
Spektrum an Positionen festzustellen. Diese beiden Fälle deuten aber auch an,
dass politische Führer und das Umfeld, in dem sie sich bewegten, eine wichtige
Rolle bei der Entwicklung und Implementierung außenpolitischer Konzeptionen
spielten. Mit anderen Worten, die (ökonomischen) Abhängigkeitsverhältnisse er-
86 Heraldo Muñoz: El estudio de las políticas exteriores latinoamericanas: temas y enfoques
dominantes. In: Estudios Internacionales, Bd. 20, Nr. 80, 1987, S. 408–417.
34
Einleitung
klären nicht hinreichend, für welche außenpolitische Option sich Entscheidungsträger in schwachen Staaten jeweils entscheiden.
Ab den 1980er Jahren wurden strukturalistische Deutungen internationaler
Politik durch konstruktivistische Konzepte ergänzt.87 Danach bedingen sich Strukturen und Akteure gegenseitig. Nationale Interessen, internationale Institutionen
und internationale Politik werden nicht als im Grunde genommen überall gleich
vorausgesetzt, sondern vielmehr auch als Ergebnis von sozialen Konstruktionsprozessen betrachtet. Dabei werden „Ideen“, „Diskurse“, „Kommunikationsgemeinschaften“ und „Identitäten“ vermehrt zur Erklärung von außenpolitischen
Perzeptionen, Leitlinien, Interessen und Handlungsweisen heranzogen.88 So gesehen ist politisches Handeln kommunikatives Handeln.89 Als hilfreiches Instrumentarium stellt sich in diesem Zusammenhang die Diskursanalyse heraus. Sie geht
davon aus, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt sowie in einem bestimmten Kontext nur eine beschränkte Anzahl Aussagen möglich und sinnvoll ist. Vertreter
dieser Richtung versuchen, Aussagefelder freizulegen, ihren Bedeutungsgehalt zu
erschließen und die Regeln des Sagbaren aufzudecken, wobei Machtverhältnisse
und soziale Bedingtheit als Erklärungsfaktoren berücksichtigt werden. 90 Da die
Meinungen über den Völkerbund von Anbeginn auseinander gingen, was sich in
einer äußerst intensiven Debatte niederschlug, kann dieser Ansatz dazu beitragen,
das Verständnis der internationalen Politik nach dem Ersten Weltkrieg aufzuhellen. Die kollektive Sicherheitskonzeption forderte nicht nur Vertreter der idealistischen Denkrichtung zu zustimmenden und Anhänger der traditionellen Machtpolitik zu ablehnenden Stellungnahmen heraus, sondern regte durch ihre bloße Existenz Debatten über die Abläufe internationaler Politik, deren Inhalte sowie die Implementierung von Normen an.
Entwürfe kollektiver Sicherheit waren für das relativ kleine, publizistisch jedoch äußerst aktive Segment von gebildeten Männern aus den weißen oder mesti87 Die Vor- und Nachteile konstruktivistischer Ansätze zur Analyse internationaler Beziehungen
werden von Emanuel Adler und Ted Hopf erörtert. Emanuel Adler: Seizing the Middle
Ground: Constructivism in World Politics. In: European Journal of International Relations,
Bd. 3, H. 3, 1997, S. 319-363; Ted Hopf: The Promise of Constructivism in International Relations Theory. In: International Security, Bd. 23, H. 1, 1998, S. 171–200.
88 Eine der wichtigsten Publikationen ist der von Judith Goldstein/Robert O. Keohane herausgegebene Sammelband „Ideas and Foreign Policy. Beliefs, Institutions, and Political Change“.
Ithaca/London 1993. Vgl. Auch Peter J. Katzenstein: The National Security: Norms and Identity in World Politics. New York 1996; Lehmkuhl: Diplomatiegeschichte; Dennis Merrill:
Conceptualizing the Third World: Language, Theory, and Method. In: DH, Bd. 26, H. 2,
2002, S. 317–324.
89 Vgl. hierzu, allerdings ohne Bezugnahme auf die Analyse internationaler Politik, Barbara
Stollberg-Rilinger: Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? In: Dies. (Hrsg.):
Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005, S. 9-26; Ute Frevert: Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen. In: Dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Neue
Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt a. M. 2005, S.
14-21.
90 Achim Landwehr: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse.
Tübingen 2001, S. 91–102; Hans-Jürgen Goerz: Unsichere Geschichte. Stuttgart 2001, S. 53–
82.
Einleitung
35
zischen lateinamerikanischen Oberschichten ein großes Thema. Nach den ernüchternden Erfahrungen lateinamerikanischer Delegierter anlässlich der Ausarbeitung
der Völkerbundsatzung gaben sich die meisten Teilnehmer an der Diskussion über
diese Institution keinen Illusionen über die globalen Machtverhältnisse und die
Konzessionswilligkeit der Großmächte hin. Trotzdem eröffnete die Gründung der
„Genfer Friedensorganisation“ eine Möglichkeit, Vorstellungen über die Gestaltung der Weltordnung zu artikulieren und die Rolle von schwachen Kleinstaaten
und Mittelmächten zu erörtern. Lateinamerikaner lancierten den Begriff des
„schwachen Staates” als Kontrastfolie zur Vokabel „Großmacht”. An diese verbale Innovation anknüpfend, ließen sich spezifische, auf die Großregion bezogene
Vorstellungen, Bedürfnisse und Forderungen, insbesondere die Respektierung der
nationalen Souveränität und der politischen Unabhängigkeit, formulieren. Anders
gewendet bedeutete dies den Versuch der durch Sprache vermittelten Bannung
des (in letzter Konsequenz) militärischen Interventionismus und des zwischenstaatlichen Krieges. Lateinamerikanische Teilnehmer an diesem Diskurs versuchten, die Problemwahrnehmung für die spezifischen Bedürfnisse der Großregion zu
schärfen, die Agenda der Völkerbundorgane zu beeinflussen und Entscheidungsprozesse in ihrem Sinne herbeizuführen. Hierzu forderten sie von Anfang an eine
angemessene Repräsentation in den „europäisch“ dominierten Genfer Institutionen. Es ging darum, den Völkerbund als Handlungsrahmen zu optimieren, um die
Souveränität der Schwachen (neu) auszuhandeln. Genf war eine Kontaktzone, ein
Ort verdichteter Kommunikation, der Artikulation von Meinungen und des Ideentransfers. Hier trafen Vertreter verschiedener Weltteile zusammen, die in zunehmendem Maße ineinandergriffen.
Die lateinamerikanischen Diskussionsbeiträge knüpften an den nach der Unabhängigkeit geführten postkolonialen Souveränitätsdiskurs „junger Nationen“,
d.h. wenig konsolidierter Nationalstaaten mit einer vielversprechenden Zukunft,
an. Sie misstrauten dem unilateralen Narrativ der Monroe-Doktrin, das antikoloniale Manifestationen mit Deklarationen imperialer Größe der USA und Hegemonialansprüchen gegenüber Lateinamerika verknüpfte.91 Sie konstruierten oftmals
ihre eigene Geschichte, indem sie Bezug auf das alte bolivarianische Konzept der
doppelten Nation (Amerika und Einzelnationen) nahmen. Dieser Ansatz implizierte ein gemeinsames Sicherheitsbedürfnis ehemaliger iberischer Kolonien, das
regionale Bündnisse begünstigte. Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang
war, ob der Bestand an kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten tragfähig genug war, um staatenübergreifende „Sicherheitsgemeinschaften“ zu bilden.92 Die schwelenden oder offen ausgebrochenen Grenzkonflikte, die
unterschiedlichen Außenwirtschaftsbeziehungen und die keinesfalls einheitliche
ethnische Zusammensetzung stellten diesen Zugang im politischen Alltag immer
91 Eine Studie über die verschiedenen literarischen und politischen Varianten der MonroeDoktrin hat Gretchen Murphy in ihrer 2005 in Durham veröffentlichten Monographie „Hemispheric Imaginings: The Monroe Doctrine and Narratives of U.S. Empire“ vorgelegt.
92 Vgl. hierzu allgemein, Emanuel Adler: Imagined (Security) Communities: Cognitive Regions
in International Relations. In: Millennium: Journal of International Studies, Bd. 26, H. 2,
1997, S. 249–277.
36
Einleitung
wieder auf eine schwere Probe. Ähnlich verhielt es sich mit dem in den USA erfundenen Panamerikanismus, der von lateinamerikanischen Experten ebenfalls
intensiv reflektiert wurde. Lateinamerikanische und kontinentale Konzepte konkurrierten mit dem universalen Zugang des Völkerbundes; diese regionalen Entwürfe waren aber mit der Idee des Völkerbundes nicht unvereinbar.
Die lateinamerikanische Diskussion dominierten Vertreter der akademischen
Leitdisziplin Jurisprudenz. Völkerrechtsexperten produzierten ein beträchtliches
Schrifttum, das internationale Einrichtungen als Stärkung der von den Großmächten bedrohten nationalstaatlichen Souveränität in der Großregion betrachtete.93 Im
Unterschied zur Politikwissenschaft und zur Diplomatiegeschichte war das als
Teildisziplin der Jurisprudenz entstandene internationale Recht bereits fest an den
Universitäten in den großen Städten verankert.94 Aber auch Berufspolitiker, Karrierediplomaten und Publizisten schalteten sich in die öffentlichen Erörterungen
ein und trugen zur Verklammerung von politischer Praxis und Theorie bei. Als
gruppenspezifisches Merkmal kennzeichnete viele, dass sie – wie überhaupt fast
alle Elitenangehörigen – ein juristisches Studium absolviert hatten. Wie Nicola
Miller unterstreicht, überlappten sich in dieser Phase in Lateinamerika mitunter
noch die „intellektuelle“ und die „politische Sphäre“ der Politiker und nationbuilder auf der einen und der finanziell unabhängigen Denker auf der anderen
Seite. Klar ausdifferenzierte kulturelle und ökonomische Sphären hatten sich noch
nicht herausgebildet.95 Als Orte für ihre Reden wählten die Teilnehmer an dieser
Diskussion neben den Organen des Völkerbundes und der Panamerikanischen
Union die Hörsäle in den Universitäten, Bankette bei Empfängen von hochrangigen Diplomaten und Politikern sowie Gedenkanlässe. Tageszeitungen, „Literaturmagazine“, Publikumszeitschriften, Universitätsorgane und Fachzeitschriften
veröffentlichten ihre Gedanken und brachten sie in Umlauf. Unabhängig von ihrer
nationalen Herkunft publizierten sie oftmals in denselben Organen, besonders im
Repertorio Americano aus San José de Costa Rica. Sie waren, mit anderen Worten,
nicht nur gedanklich, sondern auch hinsichtlich ihrer Medien gut vernetzt.96 Auch
in längeren Einzelpublikationen äußerten sie sich. Die Jahresberichte der Außenminister und Präsidenten an die Parlamente erzielten zumindest unter den Parlamentsabgeordneten eine Resonanz. Dadurch bekam die Diskussion eine gewisse
Breitenwirkung innerhalb der Eliten. Es entstanden grenzüberschreitende Netz93 Eine nahezu vollständige Bibliographie ist zu finden in: Daniel Antokoletz: Tratado de Derecho Internacional Público en tiempo de paz. Buenos Aires 1925, Bd. I, S. 132–139.
94 Dies dürfte der hauptsächliche Grund für die von Nikolaus Werz bedauerte „kurze Geschichte
des Faches Politikwissenschaft“ in Lateinamerika sein. Nikolaus Werz: Das neuere politische
und sozialwissenschaftliche Denken in Lateinamerika. [= Freiburger Beiträge zur Entwicklung und Politik, Bd. 8]. Freiburg i. Br. 1991, S. 194.
95 Nicola Miller: In the Shadow of the State. Intellectuals and the Quest for National Identity in
Twentieth-Century Spanish America. London/New York 1999, S. 3.
96 Vgl. hierzu Eduardo Devés Valdés: Del Ariel de Rodó a la CEPAL (1900–1950). Buenos
Aires 2000, S. 163–178; Alejandro C. Eujanian: Historia de las revistas argentinas 1900/
1950. La conquista del público. Buenos Aires 1999, v. a. S. 55 f.; Ana Cecilia Barrantes de
Bermejo: América/España en el Repertorio Americano. San José de Costa Rica 1996, v. a. S.
23–38.
Einleitung
37
werke. Die lateinamerikanische Diskussion war geprägt von einer juristischen
Sprache sowie der Übereinstimmung bezüglich der zentralen Kategorie der Souveränität (und des Interventionsverbots). Hinsichtlich der Ausrichtung auf die
USA und der Eingliederung in den Völkerbund divergierten allerdings die Ansichten.
Insgesamt ist zu betonen, dass dieser Zugang wertvoll für die Analyse der
Konstruktion der außenpolitischen Vorstellungen und Konzepte in Lateinamerika
ist. Auch erklärt er das Zustandekommen (oder das Ausbleiben) von „Diskurskoalitionen“ in Genf.97 Zur Untersuchung der Konstruktion von Außenpolitiken ist es
jedoch sinnvoll, auch den Handlungsspielraum für das konkrete außenpolitische
Handeln von Repräsentanten schwacher Staaten, d. h. das im realistischen Ansatz
und in der dependencia-Theorie zu Grunde gelegte interessengeleitete Handeln
der Großmächte, Rivalitäten zwischen benachbarten Staaten und internationale
Strukturen (der Abhängigkeit), zu berücksichtigen.98 Die folgenden Ausführungen
gehen davon aus, dass das Handeln der schwachen Staaten Lateinamerikas entscheidend durch solche Faktoren bestimmt wurde. Sie wurden auch im „idealistischen“ Völkerbund sichtbar. Gleichwohl bildete der Völkerbund einen Rahmen,
der als Plattform zur Artikulierung von Positionen einzelner Länder oder der
Großregion insgesamt von Nutzen war. Die rund um diesen Ort formulierte Sicherheitsrhetorik schuf zwar aus sich heraus noch keine Sicherheitsrealität. Aber
die diskursive Druckkulisse erzwang – neben anderen Kontext bestimmenden
Aspekten – in einigen Fällen die Neuformulierung bisheriger Standpunkte.
QUELLEN
Obwohl diese Studie auf eine bereits umfangreiche Literatur zurückgreifen kann,
ist zusätzlich die Auswertung des inzwischen zugänglichen Quellenmaterials erforderlich. Hierzu einige Bemerkungen: Wer über den Völkerbund forscht, greift
zuerst zum offiziellen Organ, dem zweisprachigen Journal Officiel/Official Journal (einschließlich der Suppléments/Supplements), sowie zu den Akten der ersten
vier Vollversammlungen (Actes de la première, deuxième, troisième et quatrième
Assemblée/The Records of the First, Second, Third, and Fourth Assembly).99 Die
97 Der Begriff der „Diskurskoalition“ von Akteuren, die hinsichtlich bestimmter Konzepte und
Ideen zusammenfinden und damit auf Entscheidungsprozesse einwirken, wurde erstmals von
Maarten Hajer verwendet. Maarten Hajer: Discourse Coalitions and the Institutionalization of
Practice. The Case of Acid Rain in Britain. In: Frank Fischer/John Forester (Hrsg.): The Argumentative Turn in Policy Analysis and Planning. Durham/London 1993, S. 43-76.
98 Dieser Aspekt geht im Überblick von Lehmkuhl: Diplomatiegeschichte, unter.
99 In den folgenden Ausführungen wird jeweils auf die Originalversion zurückgegriffen. Die
lateinamerikanischen Delegierten drückten sich überwiegend in französischer Sprache aus.
Sie waren maßgeblich daran beteiligt, dass sich Englisch nicht als dominante Sprache durchsetzte. Manchmal sprachen sie sogar in ihrer Muttersprache. In diesem Fall mussten sie selbst
für eine Übersetzung sorgen. Zur Statistik des Sprachgebrauchs im Völkerbund in den 1920er
Jahren, Herbert Newhard Shenton: Cosmopolitan Conversation. The Language Problems of
International Conferences. New York 1933, S. 383 f.
38
Einleitung
in diesen Veröffentlichungen gedruckten Debatten der Vollversammlung, Verlaufs- und Ergebnisprotokolle der Ratssitzungen, Kommissionen und Organisationen sowie Anträge, Resolutionen und Konventionen sind zentral, um lateinamerikanische Standpunkte und lateinamerikanisches Handeln im Völkerbund zu ermitteln. Im Journal Officiel sind außerdem wichtige Briefwechsel des Völkerbundsekretariates und – weniger oft – des Rates mit Regierungen wiedergegeben. Neben
den Periodika veröffentlichte der Völkerbund umfangreiche, thematisch orientierte Broschüren, etwa über den Chaco-Krieg oder die Abrüstungskonferenzen. Sie
bilden für das Kapitel über die Rolle der Genfer Organisation in den lateinamerikanischen Grenzkriegen eine wichtige Grundlage. Zu den gedruckten Völkerbundquellen wird auch die Berichterstattung im Journal de Genève gezählt, das
zwar formal unabhängig war, in der Praxis jedoch als dem Sekretariat nahe stehendes, stets gut unterrichtetes Sprachrohr fungierte.
Die Akteure im Völkerbund hinterließen auch eine Fülle von erstklassigem,
ungedrucktem Quellenmaterial. In den Archives de la Ligue des Nations in Genf
liegen solche wertvollen Dokumente aus dem Generalsekretariat.100 Für diese Arbeit sind vor allem die Bestände des 1923 errichteten Bureau de l’Amérique Latine zu nennen. Diese zum Zweck der besseren Koordination mit den lateinamerikanischen Regierungen 1923 gegründete und 1926 wieder aufgehobene Abteilung war direkt dem Sekretariat unterstellt und so in allen Fragen, mit denen
sich der Sekretär beschäftigte und die Lateinamerika betrafen, involviert. Die Angestellten verfassten beispielsweise Standpunktpapiere über die Monroe-Doktrin
und organisierten Sitzungen, in denen der Generalsekretär und die Sektionsleiter
mit dem lateinamerikanischen Völkerbundpersonal „lateinamerikanische“ Probleme erörterten. Im Genfer Archiv wird auch ein Teil des Nachlasses des uruguayischen Mitglieds der Informationssektion Julián Nogueira aufbewahrt. Weitere
wichtige Quellenbestände sind die Dokumentationen zum Chaco- und zum Leticia-Krieg. Die Politische Abteilung des Generalsekretariates, deren Stellvertretender Sekretär ab 1928 der Uruguayer Juan Antonio Buero war, beschäftigte sich
mit der Eskalation und der Konfliktregelung. Hierbei sind vor allem die Berichte
über die Sitzungen des Rates, an denen der Generalsekretär ex officio teilnahm,
sowie Kommissionsprotokolle von großem Interesse. Schließlich wurden in Genf
zu den Personen des Sekretariates persönliche Akten angelegt.
Auf lateinamerikanischer Seite stellen die Jahresberichte von Regierungen
und Ministerien eine wichtige gedruckte Quelle dar. Aus den memorias, informes
oder relatórios geht die große Bedeutung hervor, die alle staatsnahen Akteure
dem Völkerbund zumaßen. Vor allem umstrittene Themen wurden oft durch einen
ausführlichen dokumentarischen Anhang ergänzt. Ein Teil der Korrespondenz der
Außenministerien mit dem Völkerbundsekretariat, den eigenen Delegierten oder
anderen lateinamerikanischen Regierungen wurde gedruckt. Zu einzelnen Kon100 Als Einstieg bietet sich die Lektüre des 1999 in Genf publizierten Archivführers „United
Nations (Hrsg.): Guide to the Archives of the League of Nations” an. Auf den Seiten 75 bis
77 wird explizit auf die verwirrende Archivsituation hinsichtlich der Erforschung der Beziehungen zwischen dem Generalsekretariat und Lateinamerika eingegangen.
Einleitung
39
flikten veröffentlichten die Regierungen eigenständige Dokumentationen und
Rechtfertigungsschriften. Diese publizierten Dokumente sind allerdings nur ein
partieller Ersatz für die schlechte Archivsituation in manchen lateinamerikanischen Ländern: Der Besuch im Nationalarchiv von Guatemala war wenig ermutigend; ein großer Teil der den Völkerbund betreffenden Akten ist nicht aufbewahrt
worden. Dieser Befund dürfte auch für andere zentralamerikanische Archive zutreffen. Was das kubanische Nationalarchiv, das Historische Archiv des salvadorianischen Außenministeriums und das außenpolitische Archiv Panamas anbelangt, so liegen dort möglicherweise noch einige, für meinen Forschungsgegenstand interessante Berichte, aber die zuständigen Stellen konnten mir dazu keine
Auskunft geben. Die lediglich teilweise vorhandenen Findmittel gaben jedenfalls
keine Hinweise. Im uruguayischen Historischen Archiv des Außenministeriums
dagegen wurde ich fündig; für zahlreiche Jahrgänge ist die Korrespondenz rund
um den Völkerbund jedoch sehr spärlich. Auch im Archiv des Außenministeriums
in La Paz kam ich an Materialien heran, die den Völkerbund betreffen. Da sie nie
inventarisiert wurden, kann jedoch nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, dass
meine Recherche umfassend war. Einzig in Chile, Mexiko und Kolumbien konnten nahezu vollständige Dokumentensammlungen gesichtet werden. Die Rechenschaftsberichte chilenischer und kolumbianischer Delegierter, die in diese Arbeit
ebenso wie die uruguayischen und bolivianischen zum ersten Mal einfließen, erreichen die Qualität der ebenfalls überlieferten venezolanischen. Auf die neuerliche Konsultation der bereits hinreichend ausgewerteten Archive Venezuelas, Argentiniens und Brasiliens wurde verzichtet.
Ein wichtiges Dokument, das leider nur in einer Übersetzung vorliegt, ist das
Tagebuch des Franzosen Paul Daumas, der im Auftrag der paraguayischen Regierung die Völkerbundkommission im Chaco begleitete.101 Ähnliche Quellen zu anderen Aspekten der Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem Völkerbund
konnten nicht aufgefunden werden.
Vor diesem Hintergrund gewinnen die lateinamerikanischen Pressekommentare über einzelne Themen wie der Eintritt in oder der Austritt aus dem Völkerbund, der US-amerikanische Interventionismus in Mittelamerika sowie die verhinderte oder zu Stande gekommene Konfliktprävention und -schlichtung mithilfe
des Völkerbundes eine große Bedeutung. Die hauptstädtische Presse nahm Analysen vor, markierte Standpunkte, druckte Interviews ab und fasste Reden zusammen; sie bediente die politischen Meinungsführer und wurde von ihnen als
Sprachrohr zur Beeinflussung ihres Publikums genutzt. Regelmäßig wurde über
die Tätigkeit des Völkerbundes informiert, wobei jedoch – wie etwa das Beispiel
des kolumbianischen Tiempo zeigt – häufig keine Eigenberichte akquiriert wurden. Vielmehr lieferten die französische Havas Agence, die US-amerikanische
American Associated Press oder der United Press Service den Rohstoff, an den
sich oft ein redaktioneller Kommentar anschloss. Die Prensa und die Nación (beide Buenos Aires) sowie der Comercio (Lima) unterhielten Büros in Paris und verfolgten von dort aus das Geschehen rund um den Völkerbund. Andere Zeitungen
101 Abgedruckt in: Rahi: La Liga de las Naciones, S. 31–48.
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Einleitung
sicherten sich für die Berichterstattung über die Vollversammlung die Dienste
freier europäischer oder lateinamerikanischer Journalisten. Ein breites Spektrum
an Zeitungen, die über den Völkerbund schrieben, gab es in Argentinien, Uruguay,
Brasilien und Kolumbien, wobei in Betracht gezogen werden muss, dass Einfluss
und Reichweite sehr unterschiedlich waren. In Mexiko, Nicaragua, Honduras,
Venezuela, Ecuador und Peru konnte sich der Journalismus nicht frei entfalten.
Für das Verständnis der kolumbianischen Presse ist von Bedeutung, dass die führenden Verlagshäuser strikt liberal und daher in den 1920er Jahren oppositionell
und den 1930er Jahren regierungskonform waren. In Chile stand zu Beginn der
1920er Jahre die tägliche Informationsvermittlung weitgehend unter dem Einfluss
der Familie Edwards mit ihrem wichtigsten Organ, dem Mercurio. Darüber hinaus
spielte noch die 1917 vom liberalen Politiker Eliodoro Yáñez zur Vermittlung
alternativer Information gegründete Nación – sie wurde nach der Verstaatlichung
unter dem autoritären Regime Carlos Ibáñez Campos im Jahr 1927 zum Sprachrohr der Regierung – eine bedeutende Rolle. 102 Für die Beurteilung der Meinungsbeiträge der Presse ist daher jeweils nicht nur die Berichterstattung an sich,
sondern auch der nationale Kontext politischer Kommunikation zu berücksichtigen. Unzweifelhaft aber bildete der Völkerbund einen Teil der öffentlichen Themenstruktur Lateinamerikas. Insgesamt scheint die südamerikanische Presse, vor
allem die Bonaerenser Publizistik (La Nación, La Prensa, La Razón), deutlich
mehr als die mittelamerikanische um die Formulierung von reflektierten Standpunkten bemüht gewesen zu sein.
Hilfreich sind auch die politischen Texte lateinamerikanischer Intellektueller,
Professoren und „Fachleute“. Nahezu alle Schriftsteller und Publizisten nutzten
damals die Textsorte des Essays, der sich für den Entwurf skizzenhafter Identitätsprojekte in Zeiten des Umbruchs und des noch nicht fertigen Neuen anbot.103 Viele von ihnen setzten sich – was die auf den sozialistischen Internationalismus und
102 Zur Presselandschaft und Charakterisierung einzelner Verlagshäuser und Zeitungen in Lateinamerika in den 1920er und 1930er Jahren, Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Bd. I. Argentinien, Brasilien, Guatemala, Kolumbien. Frankfurt a. M. 1992, S.
28 f., 92, 152, 201 f., 272 f.; ders. (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Bd. II. Chile, Costa Rica, Ecuador, Paraguay. Frankfurt a. M. 1994, S. 34, 113, 153, 200; ders. (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Bd. III. Bolivien, Nicaragua, Peru, Uruguay, Venezuela. Frankfurt a. M. 1996, S. 35, 103 f., 157, 204. Vgl. außerdem Luis Reed Torres: La Prensa durante
Obregón, Calles y Cárdenas (1917–1940). In: Ders./María del Carmen Ruiz Castañeda: El periodismo en México. 500 años de historia. México, 31995, S. 287–307; Eduardo Santa Cruz
A.: Análisis histórico del periodismo chileno. Santiago de Chile 1988; Aníbal Orué Pozzo:
Periodismo y nación. Paraguay a inicios del siglo XX. Asunción 2008; Juan Crichigno:
Diarios del Paraguay. Asunción 2010, S. 211-357; Eleazar Díaz Rangel: La prensa
venezolana en el siglo XX. Caracas 22007, S. 38-70; Ilka Stern Cohen: Diversificação e
segmentação dos impressos. In: Ana Luiza Martins/Tania Regina Luca (Hrsg.): Historia da
imprensa no Brasil. São Paulo 2008, S. 103-130; A Guide to the Press of Central and South
America. Part I. Brazil. Paraguay. Guiana (French). London [hrsg. Foreign Office] 21921.
103 Sabine Horl: Amerika als Identität. Utopisches Denken im hispanoamerikanischen Essay
(1900–1935). In: Titus Heydenreich (Hrsg.): Der Umgang mit dem Fremden. Beiträge zur Literatur aus und über Lateinamerika. München 1986, S. 47–64; José Miguel Oviedo: Breve
historia del ensayo hispanoamericano. Madrid 1990.
Einleitung
41
den US-amerikanischen Imperialismus fixierte Literatur bisher nicht zur Kenntnis
genommen hat –, mit dem, dem Völkerbund zu Grunde liegenden liberalen Internationalismus auseinander. Neben Tageszeitungen benutzten sie dafür zumeist
spezifische Medien wie die von der offiziellen Politik unabhängigen literarischen
und politisch-philosophischen Zeitschriften El Mercurio Peruano (Lima), Amauta
(Lima), SOCIAL (Havanna), Repertorio Americano (San José de Costa Rica) und
Nosotros (Buenos Aires). Die akademischen Zeitschriften wie etwa die argentinische Revista de Derecho internacional veröffentlichten wissenschaftliche Aufsätze, deren Grenzen zum Essay fließend waren. Mit diesen beiden Textsorten verwandt sind die Pamphlete und Traktate, die lateinamerikanische Völkerbundbefürworter oder -gegner in großen Mengen produzierten. Fast zu jedem Land liegen
solche Schriften, welche die Argumente für den Beitritt zum Völkerbund sowie zu
einzelnen, den Völkerbund betreffenden Fragen zusammenfassten, vor. Häufig
wurden diese Kommentare in Paris oder Madrid gedruckt. Die Essayisten, Akademiker und politischen Publizisten waren, wie bereits erwähnt, Impulsgeber zur
Konstruktion von Vorstellungen der Eliten über die Position Lateinamerikas in
der internationalen Politik – sei es in nationalistisch-abgeschlossenen, kosmopolitischen, regionalistischen oder kontinentalen Varianten. Eine wertvolle gedruckte
Quelle stellt außerdem die Interviewsammlung eines belgischen Journalisten mit
lateinamerikanischen Völkerbundsdelegierten dar, die 1934 unter dem Titel
L’Amérique Latine à la Société des Nations veröffentlicht wurde.104
Aus europäischer Sicht erweisen sich vor allem die Archives du Ministère des
Affaires Étrangères in Paris als hilfreich. Die Materialien dokumentieren ab der
zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Bemühungen des französischen Außenministeriums, die lateinamerikanischen Regierungen unter dem Vorwand der latinité für die eigenen Ziele zu gewinnen. Hier werden auch die (erfolglosen) Versuche französischer Diplomaten, die brasilianische und die argentinische Regierung
verstärkt für die Genfer Organisation zu interessieren, festgehalten. Von den Documents Diplomatiques Français über die Untersuchungsphase sind erst wenige
Jahrgänge editiert. Von großem Erkenntniswert sind sodann die (zum Teil von lateinamerikanischen Autoren verfassten) Aufsätze in den Zeitschriften Bulletin de
la Bibliothèque Américaine sowie Revue de l’Amérique latine. Auch im Schweizerischen Bundesarchiv finden sich Berichte von Diplomaten über die Position lateinamerikanischer Regierungen. Zur Entschlüsselung der Haltung des britischen
Außenministeriums gegenüber der lateinamerikanischen Präsenz im Völkerbund
sind die British Documents on Foreign Affairs, 1914–1936 hilfreich. Die als Faksimile abgedruckten Jahresberichte der britischen Repräsentanten in Lateinamerika und internen Gutachten des Foreign Office – etwa zur Tacna-Arica-Frage oder
zur Chaco-Kommission – enthalten wertvolle Hinweise über die außenpolitischen
Haltungen und Problemstellungen lateinamerikanischer Regierungen sowie zur
Tätigkeit des Völkerbundes in Lateinamerika. Quellen aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin erwiesen sich besonders zur Rekonstruktion des Diskussionsverlaufs in der Kommission zur Ratsreform von 1926, zur Ermittlung der un104 Herbert van Leisen: L’Amérique Latine à la Société des Nations. Genève 1934.
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Einleitung
terschiedlichen Positionen in der Stellungnahme des Rates zur Monroe-Doktrin
im Jahr 1928 und zur Aufhellung der Aktivitäten des Rates in den Konflikten
Südamerikas in den 1930er Jahren als hilfreich.
An US-amerikanischen Quellen wurden vor allem Aussagen zur MonroeDoktrin und zum Panamerikanismus herangezogen. Ein Großteil der Stellungnahmen ist in James W. Gantenbeins The Evolution of Our Latin-American Policy.
A Documentary Record wiedergegeben. 105 Hinweise geben auch der gedruckte
Nachlass von Wilson sowie programmatische Reden und schriftliche Stellungnahmen des Präsidenten Herbert Hoover (1929–1933). Von großer Bedeutung sind
die programmatischen Reden des Außenministers (1921–1925) und Delegationsführers Charles Evans Hughes. 106 Das Memorandum des Völkerrechtsexperten
Reuben Clark wurde ebenfalls veröffentlicht. Der Diskussionsverlauf auf dem
wichtigen Kongress der Amerikanischen Staaten in Havanna von 1928 ist im
Diario de la VI Conferencia Internacional Americana sowie in der mexikanischen
Memoria de la Secretaría de Estado von 1928 fast vollständig dokumentiert. Außerdem ist in den Papers Relating to the Foreign Relations of the United States
ein Teil der Korrespondenz des State Department mit den US-Diplomaten in Lateinamerika abgedruckt. Von Interesse sind hier vor allem die Ausführungen über
Zentralamerika, zu den Amerikanischen Konferenzen sowie zu den beiden Konflikten im Chaco und in Leticia.
Schließlich soll auf die verwendeten Bilder, Karikaturen und Porträtzeichnungen verwiesen werden, die professionelle Fotografen und Künstler aus Lateinamerika sowie Europa produzierten. Die Abbildungen lateinamerikanischer Delegierter im Völkerbund illustrieren vor allem eines: dass die zur gente decente ihrer
Länder gehörenden lateinamerikanischen Diplomaten im Völkerbund sich hinsichtlich der Hautfarbe und des Kleidungsstils kaum vom Diplomatenhabitus in
Europa unterschieden.107 Das vornehme, bürgerliche nüchterne Erscheinungsbild
wurde durch eine häufig perfekte Beherrschung des Französischen und manchmal
auch des Englischen oder sogar Deutschen unterstrichen; diese Qualitäten hatten
sich lateinamerikanische Delegierte oftmals in langen, durch den Beruf oder die
Ausbildung bedingten Aufenthalten in Europa erworben. Die Vertreter der „Neuen Welt“ im Völkerbund waren damit nicht repräsentativ für die große Mehrheit
der Bevölkerung Lateinamerikas. Im Gegenteil: Ihre Körperpraktiken signalisierten eine bewusste Abgrenzung vom pueblo, während die Annäherung an den
Kleidungsstil der männlichen europäischen Eliten gesucht wurde.108 Das Gleiche
105 James W. Gantenbein (Hrsg.): The Evolution of Our Latin-American Policy. A Documentary
Record. New York 1971, v. a. S. 340–417.
106 Sein Nachlass erwies sich dagegen als wenig ergiebig.
107 Hinsichtlich der Hautfarbe bildeten der Mestize Franz Tamayo (Repräsentant Boliviens
1920), sowie die schwarzen Vertreter Haitis Frédéric Doré (1920, 1925) und Louis Dantès
Bellegarde (1922, 1930, 1931) die Ausnahme, welche die Regel bestätigte.
108 Vgl. allgemein zur in zunehmendem Maße grenzüberschreitenden Uniformität von Kleidungsgewohnheiten und körperlichem Verhalten im Prozess der Moderne, Christopher A.
Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte, 1780-1914, Frankfurt a.
M./New York 2006, S. 28-35.
Einleitung
43
gilt für das junge lateinamerikanische Sekretariatspersonal, das ebenfalls fotografisch und zeichnerisch dokumentiert wurde. Zwei Fotografien halten wichtige
Momente in der Arbeit des Rates fest: die Redaktion der Stellungnahme zur Monroe-Doktrin im Jahr 1928 sowie die Unterzeichnung des peruanisch-kolumbianischen Friedensvertrages im Jahr 1933. Drei weitere Bilder zeugen vom Einsatz
europäischer Waffen im Chaco-Krieg. Ein Foto zeigt die Mitglieder der LeticiaKommission. Eine Karte verdeutlicht die Haltung des Völkerbundes hinsichtlich
der Grenzziehung im kolumbianisch-peruanischen Streit um den Amazonashafen
Leticia, eine weitere den Vorschlag der Chaco-Kommission zur Grenzziehung
zwischen Boliven und Paraguay. Die kolumbianischen Hoffnungen auf den Völkerbund, das Entsetzen in Argentinien über den Auftritt Pueyrredóns bei der ersten Assemblée, das Konfliktpotenzial in der Tacna-Arica-Frage aus chilenischer
Sicht, die brasilianische Perzeption des interessengeleiteten Völkerbundalltags
sowie die kolumbianischen Befürchtungen hinsichtlich der Rolle des Völkerbundes bei der Konfliktregelung im Leticia-Krieg werden mit politischen Karikaturen
aus satirischen Magazinen und Publikumszeitschriften aus diesen Ländern illustriert. Außerdem wurden in das Kapitel über die Monroe-Doktrin-Debatte zwei
politische Karikaturen aus humoristischen Zeitschriften eingefügt, die meines
Erachtens die Wahrnehmung der USA als Hegemonialmacht im nördlichen Südamerika treffend zum Ausdruck bringen. Diese Zeichnungen zeigen im Übrigen,
dass der Völkerbund in Lateinamerika die Inkorporation von Außenpolitik und
internationalem Recht in den nationalen Referenzrahmen des Politischen förderte.
Eine weitere Karikatur deutet aus der Warte des Völkerbundes kritisch das brasilianische Veto gegen den Eintritt Deutschlands in die „Genfer Organisation“.
Insgesamt kann man festhalten, dass die Quellenlage durchaus erfreulich ist.
Die zukünftige Forschung wird mit Sicherheit noch zusätzliches Quellenmaterial
finden, das zur Vertiefung des einen oder anderen Aspektes beiträgt; aber es ist
nach dem jetzigen Kenntnisstand nicht davon auszugehen, dass durch solche Funde die Gesamtinterpretation dieser Arbeit erschüttert werden kann.
AUFBAU DER ARBEIT
Die anschließenden fünf Kapitel (2 bis 7) folgen einer thematischen Einteilung.
Jedes Kapitel endet mit einem kurzen Fazit. Kapitel 2 analysiert die außenpolitischen Optionen und Positionen lateinamerikanischer Staaten gegen Ende des Ersten Weltkrieges. Es wird nachgewiesen, wie sich durch den Krieg in Europa die
wirtschaftlichen Außenbeziehungen aller lateinamerikanischen Staaten entscheidend änderten, indem eine zunehmende Ausrichtung auch der südamerikanischen
Staaten auf den Markt der USA erfolgte. Das schwindende europäische Engagement in dieser Großregion erhöhte den Einfluss der Vereinigten Staaten von Amerika. Dies äußerte sich konkret in der Zunahme der Interventionsneigung von dieser Seite zur angeblichen Schaffung von Ordnung und zur Durchführung regulärer
Wahlen. Zugleich spitzten sich die Grenzstreitigkeiten zwischen Costa Rica und
Panama, Bolivien und Chile sowie Peru und Chile gefährlich zu, wobei unter den
44
Einleitung
gegebenen Machtverhältnissen die USA versuchten, in die Konfliktregulierung
einzugreifen. In diesem Zusammenhang werden die diskursive Begründung und
die Funktionsweise möglicher Alternativen zur Stärkung der Souveränität lateinamerikanischer Staaten aufgezeigt: Vor allem werden der Bolivarianismus (als
lateinamerikanische Lösung) und der Panamerikanismus (als kontinentales Projekt unter der Führung der USA) untersucht. Beide Ansätze basierten auf dem
Mechanismus der Kooperation; die Zusammenarbeit wurde aber seitens der USA
ebenso wie durch lateinamerikanische Nachbarländer immer wieder in Frage gestellt. Im Laufe des Ersten Weltkrieges wurden lateinamerikanische Regierungen
gezwungen, sich in der internationalen Politik zu positionieren. Dies hatte Auswirkungen auf ihre Haltung bezüglich des universalen Völkerbundes, was die
Kommentare zur Ausarbeitung der Satzung sowie zu den Zielen, der Ausstattung
und dem Handlungspotenzial dieser Institution deutlich machten.
In Kapitel 3 werden die Beweggründe und die Formen der Mitwirkung oder
des Abseitsstehens lateinamerikanischer Staaten im Völkerbund erörtert. Es wird
gezeigt, dass neben dem übergreifenden Interesse als Erdteil jedes Land zusätzlich
seine eigenen Gründe und Ziele hatte. Der argentinische Vorschlag zur Reform
der Völkerbundarchitektur und das uruguayische Panamerikanismusprojekt werden einer gesonderten Analyse unterzogen. Auch die Rolle des Völkerbundes im
Tacna-Arica-Konflikt wird in einem eigenen Teilkapitel behandelt. Außerdem
wird auf das Profil und die Rolle der Delegierten in den ersten Völkerbundversammlungen eingegangen. Es wird gezeigt, dass die Interessen und Zielvorstellungen der einzelnen Länder sowie die Möglichkeiten, diese umzusetzen, zuweilen stark voneinander abwichen. Dies erschwerte eine gemeinsame Politik der
Gruppe schwacher Staaten Lateinamerikas. Für einige Themen konnte aber ein
gemeinsamer Nenner gefunden werden, was zur Konstituierung einer lateinamerikanischen Gemeinschaft in Genf beitrug.
Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen dem Völkerbundsekretariat und den Regierungen sowie der Öffentlichkeit in lateinamerikanischen Ländern. In diesem Zusammenhang wurden unterschiedliche Maßnahmen, unter anderen ein Verbindungsbüro in Südamerika und ein Lateinamerikabüro in Genf,
angedacht. Das Bureau de l’Amérique Latine, das Anfang 1923 seine Arbeit aufnehmen konnte, wurde 1926 bereits wieder aufgehoben. Das aus der Sicht der Delegierten aus der „Neuen Welt“ grundsätzliche Problem der Repräsentation lateinamerikanischer Republiken in den Institutionen und Mechanismen der Entscheidungsfindung des Völkerbundes harrte jedoch einer Lösung. Lateinamerikanische
Delegierte in der Calvinstadt forderten und erreichten teilweise mehr Personal aus
mittel- und südamerikanischen Ländern im Sekretariat.
Die Repräsentationsfrage stellte sich darüber hinaus auch bei der Bestimmung
der Vertreter im Rat. Dies ist das Thema des folgenden Kapitels. Die brasilianische Regierung Bernardes akzeptierte nicht, dass sie keine feste Vertretung im
wichtigsten Organ des Völkerbundes hatte. Dieses Problem eskalierte, als 1926
Deutschland auf Betreiben Großbritanniens einen permanenten Sitz erhielt, während die Bitten Brasiliens (sowie Spaniens, Polens und Chinas) um Permanenz abschlägig beantwortet wurden. Der brasilianische Präsident ordnete daraufhin den
Einleitung
45
Rückzug aus dem Völkerbund an. Die kleinen Länder Lateinamerikas erfassten
die Chance, die sich für sie aufgrund der institutionellen Krise ergab, rasch. Die
britische Regierung, die sich verunsichert über den nicht zuletzt von ihr selbst verursachten Schaden zeigte, war bereit, die Anzahl der zeitlich begrenzten Vertretungen im Rat zu erweitern, um eine weitere Erosion des Völkerbundes zu verhindern. In einem Gentlemen’s Agreement erhielt „Lateinamerika“ eine regionale
Quote. Mexiko eröffnete sich eine Möglichkeit, in die von Brasilien aufgegebene
Führungsrolle zu schlüpfen. Erst als dieses Land 1931 dem Völkerbund beitrat,
wurde die durch den Austritt Brasiliens hinterlassene Lücke ganz aufgefüllt.
Kapitel 6 kreist um Bedeutung und Inhalt der Monroe-Doktrin. Die Gültigkeit
dieser außenpolitischen Leitlinie der USA wurde in der Völkerbundsatzung ausdrücklich bestätigt: Nach Artikel 21 handelte es sich um eine regionale Konzeption, die sich mit den Zielen des Völkerbundes vereinbaren ließ. Dies erregte in den
lateinamerikanischen Staaten Anstoß. Vor allen Dingen wollten Vertreter lateinamerikanischer Republiken nicht ihre Zustimmung zu einem Grundsatz geben, der
gewissermaßen „den ersten Zugriff“ der USA auf die Großregion Lateinamerika –
auch mit militärischen Mitteln – meinte. Vor dem Hintergrund der US-Invasion in
Nicaragua im Jahr 1926 erreichte die Diskussion über die Monroe-Doktrin und
den US-amerikanischen Interventionismus in Lateinamerika einen Höhepunkt. In
einem Schreiben vom 18. Juli 1928 an den Völkerbundrat machte der costaricanische Außenminister das Verbleiben des zentralamerikanischen Landes in der Genfer Organisation von einer inhaltlichen Klärung des Artikels 21 abhängig. Der Rat
kam dieser Aufforderung nach einigem Zögern in einer Weise nach, die für die
USA nicht kompromittierend war. Obwohl keine Neuformulierung vorgenommen
wurde, reichte die Interpretationshilfe aus, um den Bruch mit Lateinamerika zu
verhindern. Ein solcher hätte den Anspruch des Völkerbundes, eine Weltorganisation zu verkörpern, vollends unglaubwürdig gemacht. Die lateinamerikanischen
Republiken benutzten die „lauwarme“ Antwort aus Genf als Legitimationshilfe in
ihrem Kampf gegen den von den USA praktizierten Unilateralismus in Form von
militärischen Interventionen und paternalistischem Panamerikanismus. Der Artikel 21 hatte somit für die Reflexionen über die Neuverhandlung des Verhältnisses
der Staaten Lateinamerikas zu Nordamerika eine katalysatorische Wirkung. Es
lässt sich sagen, dass die in der Arena des Völkerbundes angestoßene Diskussion
zur Abstimmung gemeinsamer Positionen beitrug und den Transfer in die Konferenzen Amerikanischer Staaten begünstigte. Allerdings gelang die angestrebte
Verrechtlichung der Respektierung der nationalen Souveränität im Rahmen einer
interamerikanischen Konvention erst 1933.
Kapitel 7 beschäftigt sich mit der Rolle des Völkerbundes in den beiden großen zwischenstaatlichen Konflikten im Lateinamerika der Zwischenkriegszeit:
zwischen Peru und Kolumbien (1932–1934) und zwischen Bolivien und Paraguay
(1932–1935). Für die Genfer Organisation, die in der Konfliktprävention versagt
hatte, bestanden insofern gute Chancen, wirksam zur Konfliktregelung beizutragen, als sich alle vier direkt involvierten Staaten als Mitglieder des Völkerbundes
dazu verpflichtet hatten, sich den Regeln dieser Organisation, angefangen bei einem generellen Angriffsverbot, zu beugen. Möglichkeiten und Grenzen des Völ-
46
Einleitung
kerbundes zur Regelung des Chaco-Krieges und der Auseinandersetzung um Leticia werden aufgezeigt. Die Konfliktbeilegung wurde unter anderem durch formale
Vorgaben eingeschränkt, denn damit der Völkerbund aktiv werden konnte, mussten Kriegserklärungen vorliegen. Diese trafen nach langem Insistieren durch Genf
im Chaco-Krieg erst ein, als die Kampfhandlungen bereits Tausende von Menschenleben gefordert hatten. Im peruanisch-kolumbianischen Konflikt konnte
Schlimmeres jedoch verhindert werden. Neben den Vermittlungsbemühungen des
Völkerbundes in diesen beiden Grenzkriegen liegt das Augenmerk auf den Bestrebungen, aufgrund von Artikel 16 der Völkerbundsatzung Waffenembargos zu
erlassen. Hier zeigte sich deutlich der Zwiespalt zwischen Anspruch und Wirklichkeit, etwa wenn einzelne Industriestaaten nicht auf Waffen- und Munitionsgeschäfte verzichten wollten. Schließlich werden die Interessenkonstellationen in
den Nachbarstaaten sowie die nationalen Diskurse analysiert, die beim Zusammenstoß von Peru und Kolumbien eine schnellere Beendigung der Kampfhandlungen als im Chaco-Krieg ermöglichten. Insgesamt zeigt sich, dass die Erfolgschancen des Völkerbundes vom Kooperationswillen der Mitgliedsländer abhängig waren. Den selbst erteilten Auftrag zur Friedenssicherung konnte diese
Organisation nur wahrnehmen, wenn sie von den Mitgliedern genügend Unterstützung erhielt.
Ein abschließender Teil (Kapitel 8) zieht ein Fazit der ersten Erfahrungen Lateinamerikas mit dem Genfer Multilateralismus. Diese Bilanz wird in den Kontext
des Scheiterns des Völkerbundes gestellt, das den Massenrückzug lateinamerikanischer Staaten aus dem Völkerbund im Jahr 1936 zur Folge hatte. Der Niedergang der Genfer Organisation wird anhand der ungeahndeten aggressiven Kriegshandlungen der revisionistischen Mächte Deutschland, Italien und Japan gedeutet.
Diese Krise brach ohne das Zutun lateinamerikanischer Staaten aus. Sie führte
diesen vor Augen, dass sie den Frieden in Lateinamerika nicht durch Partizipation
in einer maroden „Weltorganisation“ erhalten konnten. Als die USA 1936 einen
Interamerikanischen Friedenspakt anboten, setzten lateinamerikanische Regierungen vermehrt auf kontinentale Friedensbestrebungen.