Gotthold Ephraim Lessing Minna von Barnhelm

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Gotthold Ephraim Lessing Minna von Barnhelm
Gotthold Ephraim Lessing
Minna von Barnhelm
Vielleicht ist Ihnen die „Minna von Barnhelm“ noch aus der Schulzeit geläufig.
Das Stück gehört zu den klassischen Schullektüren und Generationen von Schülerinnen und Schülern haben sich an der Minna die Zähne ausgebissen und bei
der Lektüre nicht so recht erkennen wollen, warum die Deutschlehrer immer sagen, es sei eine geniale Komödie in der an guten Komödien armen deutschen
Literatur. In der Tat – da muss ich den Schülerinnen und Schülern recht geben –
wenn man die Minna nur liest, dann kann man die Komik nicht recht erkennen,
sie erscheint einem mühsam und gesucht und man fühlt sich ein wenig, wie man
sich Klassikern gegenüber oft fühlt: Unbedarft, ungenügend und ausgeschlossen,
weil man die überall hervorgehobene Grossartigkeit und Genialität nicht so recht
nachvollziehen kann. Das ist nun bei der Minna im Besonderen so. Geht dann
aber der Vorhang auf und man sieht das Stück, liest man es nicht nur, dann begreift man plötzlich und es wird selbstverständlich nachvollziehbar, warum das
ein grossartiges Stück ist. Das ist auch bei Lessings Nathan so. Erst auf der Bühne entwickelt er seine Gewalt. Darin liegt wohl die besondere Genialität des Theaterdichters Lessing: Seine Stücke werden erst auf der Bühne wirklich lebendig,
erst da entfalten sie ihre ganze Aussage und Kraft.
Minna von Barnhelm ist ein Stück der Aufklärung. Lessing entfaltet auf der Bühne
Aufklärung, er definiert Aufklärung, stellt sie dar und kritisiert sie auch. Aufklärung ist das Zentrum des Stücks. Wir müssen daher uns mit der Frage auseinandersetzen, was Aufklärung ist. Vor allem aber mit der Frage, was Vernunft für
den Aufklärer bedeutet.
Ich gehe aus von der berühmten Definition von Immanuel Kant und auch zurück
auf meine Einführung in Lessings Nathan von einigen Jahren:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. (…) Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist der Wahlspruch der Aufklärung.“
Tönt alles sehr einfach, ist es aber keineswegs. Kant spricht hier nicht von Vernunft, sondern von Verstand. Der Unterschied ist wichtig. Verstand meint für
Kant soviel wie „rationales, logisches Denken“. Verstand ist das, womit man am
leichtesten durchs Leben kommt. Wir brauchen heute die beiden Begriffe Verstand und Vernunft synonym. Wir sagen etwa:
„Sei ein wenig vernünftig“, iss nicht soviel!“ „Du musst jetzt vernünftig sein und
das einsehen!“ Diese Art Vernunft kann nun aber mit aufklärerischer Vernunft
nicht gemeint sein. Dann wäre Aufklärung nicht der Rede wert und wäre immer
schon gewesen. In diesem Sinne war auch der Mensch im Mittelalter vernünftig
und wohl auch schon der Höhlenbewohner. Das ist für Kant Verstand, eben rationales Denken, das zu Einsichten führt. Vernunft im Sinne der Aufklärung ist aber
weit mehr. Sie umfasst den Verstand zwar, geht aber darüber hinaus.
Vernünftig im Sinne der Aufklärung ist jener Mensch, der alle Projektionen zurücknimmt und im Bewusstsein seiner selbst handelt. Vernünftig handelt der,
welcher die volle Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Vernünftig sein
heisst Verantwortung für sein Tun übernehmen. Und nicht nur Verantwortung vor
der Welt, sondern vor allem Verantwortung vor sich selbst. Vernunft ist die
Handlungsform, die aus der Selbsterkenntnis resultiert. Für Kant ist Vernunft eine Kategorie, also eine Denkform, die a priori im Menschen vorhanden ist, die
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nicht aus der Erfahrung gewonnen werden kann. Der Verstand hingegen wird aus
der Erfahrung gewonnen, er ist für Kant a posteriori.
Lassen Sie mich diesen zum Verständnis des Dramas eminent wichtigen Gedanken noch einmal einkreisen.
Der aufgeklärte Mensch ist autonom, er handelt nach den Massstäben in seinem
Innern, nicht nach äusseren Massstäben und Vorgaben. "Der gestirnte Himmel
über mir, das moralische Gesetz in mir!" wird Kant später formulieren. Das
braucht nun wirklich Mut! Sapere aude, wage zu wissen! Aber nicht, wie Du am
besten durchs Leben kommst, sondern wage zu wissen, wer du bist. Die Unmündigkeit, aus der der Mensch den Ausgang finden muss, ist der Mangel an Selbsterkenntnis. Wer Normen absolut setzt, sie nicht hinterfragt, nicht über sie hinausblicken kann, handelt nicht wirklich vernünftig, er handelt im Sinne einer
Scheinvernunft.
Ich bin mir bewusst - und sage dies wieder für die Spezialisten - dass diese Definition von Aufklärung und Vernunft eine Sicht ist des Idealismus und allenfalls
der Tiefenpsychologie der Moderne. Die Aufklärung selbst hätte sich selbst kaum
so definiert. Lessing aber möglicherweise schon.
Wenn aber - und jetzt kommen wir zu einem der wichtigsten Punkte für den heutigen Abend - wenn nun aber der autonome Mensch die Massstäbe nur in sich
selbst findet und nur nach seinen inneren Massstäben vernünftig handelt, wo ist
dann Wahrheit? Was ist dann wahr? Wonach soll er sich richten? Wie sollen Menschen zusammen leben, was ist Liebe, wie soll Gemeinschaft gestaltet werden,
wenn es keine äusseren absolut und felsenfest gültigen Regeln und Massstäbe
gibt, wenn wir die Wahrheit nur in uns finden können? Das ist das Thema des
Stücks heute Abend! Wie soll der Mensch Gemeinschaft gestalten, Liebe und Ehe
leben, wenn alle Ethik und Moral nur in seinem Innern zu finden ist? Wir müssen
uns das bewusst machen: Gäbe es absolute und unumstössliche Wahrheitsregeln, wäre die Wahrheit also ausserhalb unser, dann gäbe es keine Freiheit, keine Autonomie, der Verstand, die Ratio, würde den Menschen allein leiten. Einer
Vernunft bedürfte er nicht, weil sich alles aus der Erfahrung ableiten liesse.
Was wahr und richtig ist, muss sich in der Handlung, im vernünftigen Tun erweisen.
Darum geht es heute Abend! Menschen müssen ihre inneren Massstäbe erkennen
lernen, müssen lernen, auf ihre Vernunft als ihre innere Stimme zu hören. Und
vor allem: Sie müssen lernen, die Vernunft als höchstmögliche Wahrheit anzuerkennen. Erkennen, dass der Verstand allein nicht zur Einsicht und zur Erkenntnis
führt. Sie müssen lernen, dass gesellschaftliche Normen nur dann vernünftig
sind, wenn sich ein Mensch in Freiheit zu Ihnen bekennt. Nimmt er sie als absolut
hin, handelt er unvernünftig.
Lessing gestaltet dies alles nun nicht in einem tiefschürfenden Schauspiel, nein,
er wählt – sehr bewusst – die Form der Komödie. Darauf müssen wir noch kommen. Zuerst nun aber zu einer ausführlichen Inhaltsangabe:
Wir befinden uns in einem Wirtshaus in Berlin, kurz nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, also im Jahre 1763. Das Stück spielt also im Übergang vom
Krieg zum Frieden. Es gibt eine Vorgeschichte, welche in der Exposition der ersten beiden Akte durch die Handlung erklärt wird: Der Major vor Tellheim ist aus
der Armee verabschiedet worden, weil erstens der Krieg eben zu Ende ist, aber
auch, weil die Generalkriegskasse ein Verfahren gegen ihn eröffnet hat. Er hatte
im Krieg den Auftrag, Gelder, sogenannte Kontributionen, für den Unterhalt der
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Truppen einzutreiben. Natürlich mussten diese Zahlungen möglichst hoch sein.
Tellheim aber, als Ehrenmann, hat nur Kontributionen in angemessener Höhe
verlangt und die Differenz zu den Forderungen der Kriegskasse aus der eigenen
Tasche bezahlt, um so die Bevölkerung der besetzten Gebiete zu schonen. Für
diese Differenz hat er einen Wechsel bekommen, welcher die Kriegskasse ihm
nun zurückzahlen sollte. Das verweigert sie aber, weil sie darin Bestechungsgelder vermutet. Das Edelfräulein Minna von Barnhelm ist aber durch diese Händel
auf den noblen Major aufmerksam geworden und die beiden haben sich verlobt.
Tellheim darf nun Berlin nicht verlassen, er sitzt in einem Gasthof, mittellos, unehrenhaft aus der Armee entlassen, dazu noch am Arm verwundet. Hier beginnt
das Stück.
Erster Akt: Just, der Bursche des Majors, ist in höchstem Masse wütend auf den
Wirt, der soeben Tellheims Zimmer hat räumen lassen, um eine soeben angekommene Dame einquartieren zu können. Die Dame ist natürlich Minna von
Barnhelm auf der Suche nach dem Major Tellheim. Da der Major während Monaten keine Miete bezahlt hat, fühlt sich der Wirt berechtigt, Tellheim in ein schäbigeres Zimmer umzuquartieren. Tellheim hätte zwar Geld, das ihm sein ehemaliger Wachtmeister Paul Werner zur freien Verfügung überlassen hat, aber Tellheim würde nie Geld eines Freundes für eigene Zwecke brauchen. Auch das
Hilfsangebot einer Dame, der Witwe seines Rittmeisters, lehnt er ab, obwohl der
Rittmeister ihm Geld geschuldet hat. Er will die Witwe nicht in finanzielle Not
bringen und streitet die Schuld ab. Er gibt nun aber Just einen kostbaren Ring,
den er beim Wirt zu Geld machen soll, damit dieser bezahlt werden kann.
Zweiter Akt: Minna und ihre Zofe Franziska suchen Tellheim, er hat ihr aus dem
Krieg nur ein einziges Mal geschrieben. Sie hofft, ihn in Berlin zu finden. Der Wirt
macht seine Aufwartung. Aus lauter Neugierde und Klatschsucht zeigt er Minna
den Ring, den er soeben von Just bekommen hat. Minna erkennt darin sofort den
Ring Tellheims und weiss, dass sie ihren Verlobten gefunden hat. Sie lässt Tellheim sofort holen, was nach einigem Hin und Her auch gelingt. Die Verlobten
stehen einander gegenüber. Es ist jedoch nicht mehr derselbe Tellheim, den Minna einst in ihrem sächsischen Vaterland gekannt hat als blühenden Mann voller
Ansprüche und Heldentum. Vor ihr steht ein entlassener Offizier, ein Krüppel, ein
Bettler. Trotzdem ist sie sofort bereit, ihr Heiratsversprechen einzulösen. Er aber
weigert sich, sie zu heiraten: „Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner
Ehre Gekränkte, der Krüppel, der Bettler.“ Er reisst sich los.
Dritter Akt: Just gibt Franziska, der Zofe Minnas, einen Brief des Majors. Paul
Werner erscheint und will Tellheim unter allen möglichen Vorwänden Geld geben
oder sogar schenken, um ihn aus seiner Verlegenheit zu befreien. Franziska
bringt Just den Brief wieder zurück, sie sagt, Minna möchte, dass der Major ihr
mündlich sage, was er auf dem Herzen habe. Sie hat aber den Brief sehr wohl
gelesen und darin den Tellheim ihrer Liebe, den aufrichtigen Ehrenmann wieder
gefunden. „Jede Zeile sprach den ehrlichen, edlen Mann. Jede Weigerung, mich
zu besitzen, beteuerte mir seine Liebe“. Aber Minna beschliesst, Tellheim wegen
seines unbändigen Stolzes mit ähnlichem Stolz ein wenig zu martern.
Vierter Akt: Riccaut de la Marlinière, ein Abenteuer und Falschspieler, tritt auf
mit der Nachricht, dass der Prozess gegen Tellheim wohl gut ausgehe. Minna –
eine lebenslustige Frau – gibt dem Falschspieler sogar Geld. Franziska, die Zofe,
schilt sie deswegen aus. Fräulein und Zofe stehen in einem freundschaftlichen
Verhältnis, keineswegs in einer ständischen Abhängigkeit.
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Tellheim erscheint, seine Weigerung, Minna zu heiraten, kommt nicht aus seiner
Verabschiedung, auch nicht, weil sein rechter Arm gelähmt ist und auch nicht,
weil er verarmt ist. Sondern weil er seine Ehre verloren hat. Bevor nicht seine
Ehre wiederhergestellt ist, ist eine Heirat völlig ausgeschlossen. Minna versucht
mit allen Mitteln des Verstandes Tellheim davon abzubringen. Aber vergeblich.
Nun ist es Zeit, dem Hartnäckigen die vorbereitete Lektion zu erteilen. Minna
zieht den Ring vom Finger und gibt ihn Tellheim zurück. Es ist aber nicht der
Ring, den ihr Tellheim einmal geschenkt hat, sondern der Ring, den sie vom Wirt
gekauft hat. Sie gibt also nicht den Verlobungsring zurück und löst damit die
Verlobung, im Gegenteil, sie verlobt sich aufs Neue mit Tellheim, indem sie ihm
seinen Verlobungsring wieder gibt. Das durchschaut aber Tellheim keineswegs.
Minna spielt nun die Komödie weiter und lässt Tellheim durch Franziska ausrichten, dass sie von ihrem Onkel enterbt worden sei. Dieser habe einen Mann für sie
bestimmt gehabt, den sie aber nicht habe heiraten wollen. Nun sei sie völlig verarmt und verachtet und ohne Ehre. Und sie sei nur hierher geflohen, um bei Tellheim Schutz zu suchen. Sie greift also zu den gleichen Mitteln wie Tellheim. Für
ihn ist jetzt alles anders. Jetzt weiss er, was er zu tun hat.
Fünfter Akt: Tellheim ist nun voller Tatendrang. Er bittet Werner, soviel Geld als
möglich aufzutreiben. Minna will er den Ring sofort zurückgeben und er ist jetzt
wieder feuriger Liebhaber. Minna stellt sich aber taub gegen sein stürmisches
Werben.
Ein Feldjäger bringt das Schreiben des Königs, welches Tellheim gänzlich rehabilitiert. Seine Ehre und sein Vermögen sind wieder hergestellt, er kann auch wieder in den Dienst des Königs treten. Minna treibt ihr böses Spiel nun aber noch
weiter und es droht, ernst zu werden. Sie sagt, den verarmten Tellheim hätte sie
allenfalls heiraten können, um das Los des Freundes zu teilen. Jetzt aber, da er
ein reicher Mann sei, könne sie dies nicht mehr. Tellheim will den Brief des Königs zerreissen, und als er auch noch erfährt, dass Minna den Ring vom Wirt gekauft hat, ist er ausser sich. Er hegt den Verdacht, dass Minna nur gekommen
sei, um mit ihm zu brechen. Minna erkennt, dass sie den Scherz zu weit getrieben hat. Im Moment, in dem sich alles zur Tragödie wendet, erscheint der Oheim
von Minna, der Graf von Bruchsal, und alles klärt sich auf. Die Liebenden sind
versöhnt, Tellheim sieht, dass Minna ihm seinen Ring gegeben hat und der Graf
schliesst den Major als seinen Sohn in die Arme.
Was hat das nun mit der eingangs skizzierten Idee der Aufklärung zu tun? Ich
habe am Anfang gesagt: „Menschen müssen ihre inneren Massstäbe erkennen
lernen, müssen lernen, auf ihre Vernunft als ihre innere Stimme zu hören. Und
vor allem: Sie müssen lernen, die Vernunft als höchstmögliche Wahrheit anzuerkennen. Erkennen, dass der Verstand allein nicht zur Einsicht und zur Erkenntnis
führt.“
Tellheim leidet an einem völlig übertriebenen Ehrbegriff. Er ist öffentlich des Betrugs verdächtigt oder gar bezichtigt worden. Zwar zu Unrecht, und das macht
die Sache für ihn erst recht unerträglich. Als ein Entehrter eine Ehe mit Minna
einzugehen, ist für ihr undenkbar. Er will von der Bildfläche verschwinden, weil er
als einer, der die Ehre verloren, keine Daseinsberechtigung mehr hat in dieser
Gesellschaft. Dass er kein Geld mehr hat, stört ihn weniger, das wäre kein Hinderungsgrund für die Heirat, ebenso, dass er verwundet ist, ein Krüppel gar, wie er
sagt. Aber dass er seine Ehre verloren hat, das kommt für ihn dem Tode gleich.
Er richtet also sein Leben und seine Zukunft nicht nach einem inneren Massstab
aus. Er hat sich ja nichts vorzuwerfen, er weiss, dass er kein Betrüger ist, im Ge-
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genteil, seine Motive waren grosszügig und selbstlos. Auch Minna weiss das. Hätte er nicht nur Verstand, sondern auch Vernunft, könnte er den Massstab für sein
Handeln in seinem Innern finden, dann wäre alles gut. Das kann er aber nicht. Er
ist abhängig von der Meinung der Gesellschaft, wie er sich diese ausmalt. Er
setzt den Ehrbegriff absolut, damit verhindert er jegliche persönliche Entwicklung. Er ist dabei aber keineswegs ein Hanswurst, eine lächerliche Figur. Er hat
wohl einen lächerlichen Ehrbegriff, ist aber auf der Bühne in jedem Moment ein
Mann von Charakter. Das ist neu im Lustspiel.
Die Komödie vor der Aufklärung war eine reine Typenkomödie, man lachte über
die schematischen Figuren, über den vertrottelten Alten, der einer jungen Frau
nachstellt, über den prahlerischen Soldaten oder den dummen intriganten Wirt.
Zwar sind in Lessings „Minna“ diese Typen immer noch präsent. Es gibt den
dummen, klatschsüchtigen Wirt, es gibt den „miles gloriosus“, den grossspurigen
Soldaten. Aber die Hauptpersonen, Tellheim und Minna, sind Charaktere. Man
verlacht sie nicht, man lacht über ihre menschlichen Schwächen. Lessing bestimmt die Komödie so: „Das Possenspiel will nur zum Lachen bewegen, das weinerliche Lustspiel will nur rühren, die wahre Komödie will beides.“ Der Zuschauer
kann den lächerlichen Ehrbegriff Tellheims zwar belachen, aber er lacht mit grosser Sympathie und Respekt.
Auch Minna hat grössten Respekt vor ihrem Verlobten. Aber sie weiss, dass eine
Heirat nur möglich ist, wenn Tellheim seinen Ehrbegriff überwindet.
Minna erfindet nun eine Intrige, eine List, die Tellheim zur Vernunft bringen soll.
Sie sagt, da sie sich mit einem gescheiterten Offizier verbunden habe, habe ihr
Onkel sie enterbt, sie sei nun genau so arm wie er. Das geht genau in die richtige Richtung. Tellheims formaler Ehrbegriff verlangt nun von ihm, dass er Minna
sofort heirate, weil sie ihn nun brauche, und er besteht auf einer sofortigen Heirat. Als Tellheim durch den Brief des Königs zum reichen Mann wird, verweigert
nun Minna die Heirat ihrerseits mit den gleichen Argumenten, mit denen Tellheim
sie verweigert hatte. Minna spielt eine Komödie in der Komödie, aber darin wird
der untadelige Charakter Tellheims offenbar. In der Komödie der Komödie zeigt
sich, dass Tellheim wirklich ein Ehrenmann ist und nicht einfach eine Komödienfigur. Er und Minna offenbaren sich in diesem Spiel als Individuen. Menschen, die
auf ihre innere Stimme hören können, sind Individuen. Menschen, die erkennen,
dass die Vernunft, nicht der Verstand der höchste Massstab ist, sind Individuen,
nicht Typen. Die Komödie der Aufklärung kann deswegen auch keine Typenkomödie mehr sein. Sie ist eine Charakterkomödie oder eine Komödie der Individuen. Die Aufklärung, das 18. Jahrhundert, entdeckt gleichsam das Individuum.
Nur Individuen können autonom handeln.
Aber auch nur Individuen können einander gleich sein. Die Überwindung der sozialen Schranken setzt Menschen voraus, Individuen. Zwar haben Minna und ihre
Zofe weit mehr ein freundschaftliches, denn ein Untertanenverhältnis. Auch Major Tellheim verkehrt mit seinen Untergebenen auf freundschaftlichem Fuss. Aber
das sind Äusserlichkeiten. Eine echte Gleichheit der Geschlechter und die Überwindung der Stände setzt eine innere Freiheit voraus.
Lessings Minna ist noch mehr. Tellheim steht nicht nur sein Ehrbegriff, getragen
von Verantwortung, Grosszügigkeit und Prinzipien,
im Wege. Es ist für ihn
letztlich undenkbar, von einer Frau abhängig zu sein. Er will nicht „sein ganzes
Glück einem Frauenzimmer und ihrer blinden Zärtlichkeit verdanken“. Was er
anderen grosszügig anbietet, kann er selbst von niemandem annehmen. Er hat
also nicht nur einen übersteigerten Ehrbegriff, sondern leidet auch an einem
Übermass an Autonomie. Lessings Kritik an seiner Zeit richtet sich also nicht nur
gegen einen leeren Ehrenkodex, gegen einen überholten Sozialkodex, sondern
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auch gegen den Kerngedanken der Aufklärung – gegen die Autonomie, wenn sie
im Übermass eingefordert wird.
Aber auch Minna leidet an diesem Übermass an Autonomie! Sie nimmt unbekümmert an, dass ihre Person allein Tellheim für alles entschädigen könne, dass
ihr Angebot zur Ehe allein genüge, um Tellheim zur Vernunft zu bringen und das
„Gespenst der Ehre“ zu bannen. In ihrem Übermass an Autonomiegefühl geht sie
in ihrer Komödie, die Tellheim eine Lehre erteilen soll, über alle Grenzen hinaus
und verletzt Tellheim schwer.
Beide müssen ihre Autonomie beschränken, sie müssen die Schwächen des anderen erkennen und akzeptieren lernen. Lernen, die Situation auch mit den Augen des anderen zu sehen. Das kann Tellheim zu Beginn nicht. Er muss es durch
Minna lernen, Minna lernt es durch Tellheim. Erst die Beschränkung des Autonomieanspruchs zu Gunsten des anderen macht den Menschen zum Individuum,
macht ihn erst recht eigentlich autonom. Und erst auf dieser Grundlage ist die
echte Gleichheit der Menschen und die Überwindung der Stände möglich. Gleichheit ist aber auch die tragende Grundlage der gegenseitigen Liebe.
Menschen, die lernen, die Schwächen der Mitmenschen zu sehen, zu akzeptieren
und zu lieben, sind nicht mehr unbedingt; Minna von Barnhelm droht gegen
Schluss in eine Tragödie umzukippen. Könnte Tellheim sein Übermass an Ehrgefühl und Autonomie nicht überwinden, wäre er eine tragische Figur, die um dieser Prinzipien willen unterginge. Jetzt aber ist eine wunderbar menschliche, liebenswerte Komödienfigur, der wir mit tiefer Sympathie und Menschlichkeit begegnen.
Im Moment, in dem Minna und Tellheim diese Einsichten gewonnen haben, kann
der „deus ex machina“, der Oheim und Graf von Bruchsal im richtigen Moment
auftreten und alles zum Guten wenden. Es braucht keine weitere Entwicklung
mehr, die menschliche Reife ist erreicht.
Tragödie und Aufklärung schliessen einander aus. Nicht von ungefähr spielt Lessings Stück genau am Übergang des Krieges zum Frieden, am Übergang von der
heroischen, unbedingten, tragischen Lebensform des Krieges zur friedlichen Zivilität. Menschen, die gelernt haben, ihre Vernunft zu gebrauchen, führen keinen
Krieg.
Dies alles muss errungen werden. Menschen auf dem Weg zu einer wahren Autonomie sind immer gefährdet. Es kann dieser Weg in den Abgrund und in die Tragödie führen. Wenn die Autonomie aber einmal erreicht ist, dann ist die wahre
Komödie möglich. Sie zeichnet sich aus durch ein liebendes und ein menschliches
Lachen. Die wirkliche Komödie lacht mit den Menschen, nicht über sie.
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11. Februar 2012
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