Kleider machen Leute - Bildung-lsa

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Kleider machen Leute - Bildung-lsa
Kleider machen Leute
Von Gottfried Keller
bearbeitet von Karin Hohlweg
illustriert von Ferdinand Hartig
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Wenzels Ankunft in Goldach
Es war an einem kalten, regnerischen Novembertag. Ein armer
Schneider wanderte auf der Straße nach Goldach. Er kam aus Seldwyla,
wo er bei einem Schneidermeister gearbeitet hatte. Es gab aber zu wenig Arbeit, deshalb hatte der Schneidermeister ihn fortgeschickt. Nun
suchte der arme Schneider neue Arbeit, denn er hatte kein Geld, aber
großen Hunger.
Als er traurig und geschwächt (schlapp) bergan ging, überholte ihn eine schöne Kutsche1. Der Kutscher sah, wie elend der Schneider war.
Deshalb fragte er ihn, ob er sich in die Kutsche setzen wollte. Natürlich
war der Schneider dankbar. Nun kam er schnell und bequem nach Goldach.
Die Kutsche hielt vor dem Gasthaus „Zur Waage“. Als der Wirt und
sein Diener die herrliche Kutsche sahen, rannten sie schnell aus dem
Haus und rissen die Tür des Wagens auf. Sie dachten, ein reicher Graf
würde in der Kutsche sitzen.
Der Schneider stieg ganz erschrocken aus. Aber wie sah er aus? Wie
war er gekleidet? Der Schneider war groß und schlank, hatte lange,
schöne Haare, einen gepflegten Schnurbart und ein blasses, sehr hübsches Gesicht. Obwohl er so arm war, liebte er schöne Kleidung und hatte sich deshalb einen schwarzen Sonntagsanzug und einen weiten dunkelgrauen Radmantel genäht. Auf dem Kopf trug er eine feine polnische
Pelzmütze. Sah er aus wie ein Schneider?
Nein! Er sah wie ein vornehmer, reicher Herr aus. Alle mussten glauben, dass ihm die Kutsche gehören würde und er ein Graf oder sogar ein
Prinz wäre.
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Kutsche, die – ein Wagen, den Pferde ziehen
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Das Essen im Gasthaus
Der Wirt führte den Schneider sofort in seinen Speisesaal. Der
Schneider war so erschrocken und ängstlich, dass er auch mitging und
sich an den Tisch setzte.
Schnell lief der Wirt in die Küche und rief der Köchin zu: „Ein feiner,
reicher Herr ist angekommen, koche die besten Sachen. Ich hole unseren guten Wein aus dem Keller.“
Inzwischen hatte der Schneider sich von seinem Schrecken erholt. Natürlich war er sehr hungrig, aber er wusste, dass er keinen Pfennig in der
Tasche hatte. Er konnte das Essen nicht bezahlen. Deshalb nahm er
schnell seine Mütze und seinen Mantel. Er wollte heimlich aus dem
Gasthaus fliehen. Aber der Kellner sah ihn und dachte, er würde die Toilette suchen. Er zeigte dem Schneider die Toilette und dieser hatte nicht
den Mut, die Wahrheit zu sagen. So ließ sich der Schneider wieder an
seinen Tisch bringen und begann mit dem wunderbaren Essen.
Zuerst gab es eine kräftige Brühe. Das war das Richtige für den leeren
hungrigen Magen des armen Schneiders. Trotzdem aß er nur ganz langsam, denn er hatte ein schlechtes Gewissen2. Er hatte ja kein Geld. Wer
sollte das Essen bezahlen?
Danach brachte der Wirt eine Forelle3. In seiner Angst nahm der
Schneider nur die Gabel, um etwas von dem Fisch zu kosten.
Die Köchin schaute heimlich durch die Tür und sagte zu den anderen
Neugierigen: „Oh, ist das ein feiner Herr! Er weiß, dass man Fisch nicht
mit dem Messer schneiden darf. Schaut nur, wie schön er ist und wie
traurig er aussieht. Vielleicht ist er in ein Mädchen verliebt, dass er nicht
heiraten darf.“
Nach dem Fisch kam der Braten, aber auch davon aß der Schneider
nur wenig, deshalb wurde sein Hunger immer größer. Nun brachte der
Wirt eine herrliche Pastete von Rebhühnern. Der Schneider dachte:
„Jetzt ist mir alles egal, ich kann sowieso nicht bezahlen. Aber was ich
einmal gegessen habe, kann mir keiner mehr wegnehmen.“ Und das tat
er auch. Hastig und mit großen Bissen verschlang er fast die ganze
wunderbare Pastete. Dazu trank er mit großen Schlucken den besten
Wein.
Der Wirt staunte, lief zur Köchin und rief: „Köchin, er isst die Pastete
auf, von den anderen Sachen hat er nur gekostet. Er weiß, was gut
schmeckt. Oh, muss das ein feiner Herr sein!“
Der Kutscher hatte in dieser Zeit seine Pferde füttern lassen und in der
Gaststube für die armen Leute eine kräftige Suppe gegessen. Nun wollte
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3
Gewissen, das – Angst haben
Forelle, die – ein Fisch
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er weiterfahren. Der Wirt und seine Angestellten waren so neugierig und
fragten deshalb den Kutscher: „Wer ist dein Herr und wie heißt er?“
Der Kutscher wollte sich einen Spaß machen und sagte: „Das ist der
G r a f Strapinski. Er bleibt noch ein paar Tage hier.“ Damit fuhr er los.
Wenzel will aus Goldach fliehen
Nun war es so, dass der arme Schneider wirklich Strapinski hieß,
Wenzel Strapinski. Der Wirt aber glaubte, dass ein Graf bei ihm wohnen
wollte. Darauf war er sehr stolz. Das schönste Zimmer in seinem Gasthaus ließ er fertig machen. Darin sollte Wenzel Strapinski schlafen und
wohnen.
Wenzel wurde ganz blass vor Schreck, als der Wirt zu ihm G r a f
Strapinski sagte und ihn in das herrliche Zimmer führte. Aber er ließ alles
geschehen und sagte vor Angst wieder nicht die Wahrheit.
Inzwischen erzählten alle Leute in Goldach, dass ein feiner polnischer
Graf im Gasthaus angekommen war.
Die reichen Goldacher trafen sich nachmittags im Speisesaal um Karten zu spielen und zu würfeln. Bald konnten sie es vor Neugierde nicht
mehr aushalten und setzten sich an Wenzels Tisch. Sie boten ihm die
besten Zigarren an (anbieten – geben) und unterhielten sich.
Jetzt schien die Sonne und sie beschlossen, mit Pferden und Wagen
eine schöne Fahrt zu machen. Wenzel Strapinski war darüber froh, denn
er dachte: „Da kann ich mich ungesehen davonmachen (fortlaufen) und
weiterwandern.“ Er setzte sich in den Wagen und lenkte die Pferde. Alle
staunten, wie gut er mit Pferden umgehen konnte. Sie flüsterten: „Er ist
wirklich ein feiner Herr!“
Sie fuhren auf das Gut4 des Bürgermeisters. Nach kurzer Zeit waren
alle mit einem spannenden Kartenspiel beschäftigt. Sie spielten um Geld
und Wenzel hatte Glück. Er gewann viele Spiele. Zum Schluss hatte er
so viel Geld, wie er noch nie in seinem Leben besessen hatte.
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Gut, das – großer, reicher Bauernhof
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Als er das Geld in seine Tasche steckte, dachte er, alles wäre ein
Traum.
Vor dem Abendessen ging Wenzel im Garten spazieren. Er überlegte:
„Jetzt habe ich so viel Geld, dass ich auf meiner Wanderschaft5 nicht
mehr hungern muss. Aus der nächsten Stadt schicke ich dem Wirt das
Geld für das gute Mittagessen.“
Begegnung mit Nettchen
So ging er durch den Park. Er entfernte sich immer weiter von der anderen Gesellschaft. Gleich war er auf der Straße, die zur nächsten Stadt
führte. Aber da stand plötzlich der Bürgermeister mit seiner Tochter vor
ihm. Wenzel schaute Nettchen an. Sie war ein hübsches Fräulein mit einem feinen Kleid und reichem Schmuck.
„Wir suchen Sie, Herr Graf!“, rief der Bürgermeister. „Bitte essen Sie
mit uns Abendbrot. Die anderen Herren sind schon in meinem Haus.“
Wenzel nahm schnell die Mütze vom Kopf und begrüßte Nettchen höflich. Er war sehr aufgeregt und wurde ganz rot im Gesicht, weil Nettchen
ihm so gut gefiel. Nettchen schaute Wenzel an. Sie fand ihn sehr hübsch
und besonders nett. Es war ihr angenehm, dass Wenzel so schüchtern
und höflich war. Sie erzählten miteinander. Wenzel spielte immer mehr
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Wanderschaft, die – Suche nach Arbeit
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die Rolle des Grafen (er verhielt sich wie ein Graf). Er wollte Nettchen
gefallen. Nun dachte er nicht mehr daran, dass er fliehen (weglaufen)
wollte. Er ging mit Nettchen und dem Bürgermeister ins Haus.
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Das Abendessen beim Bürgermeister
Am Tisch erhielt Wenzel einen Ehrenplatz neben Nettchen. Nettchens
Mutter war vor vielen Jahren gestorben und sie lebte allein mit ihrem Vater. Beim Abendessen wurde Wenzel wieder sehr traurig. Er dachte daran, dass er ja nur ein armer Schneider war und nicht bei dem reichen
Nettchen bleiben konnte.
Er durfte nicht lange in Goldach wohnen, sonst würden die Leute merken, dass er kein Graf war. Nach dem Essen wurde es immer lustiger.
Alle tranken Wein, sangen Lieder und machten viel Spaß.
Wenzel vergaß neben dem lieben Nettchen fast seinen großen Kummer. Es war schon spät, als die Gäste wieder abfuhren. Der Wirt wartete
auf Wenzel und führte ihn in sein schönes Zimmer. Er fragte: „Wo ist Ihr
Gepäck, Herr Graf? Ich befürchte, der Kutscher hat vergessen, es
auszuladen.“
Wenzel schwindelte, denn er hatte ja nur die Sachen, die er anhatte.
Der Wirt erzählte es überall.
Am nächsten Morgen brachten seine neuen Freunde ihm die feinsten
Sachen: Einen herrlichen Bademantel, feine Wäsche, Kleider, Bücher,
Zigarren, Stiefel, Schuhe, Pelze, Mützen, Strümpfe und anderes. Jeder
wollte mit dem hübschen, feinen „Grafen“ befreundet sein und alle wollten ihn am Nachmittag besuchen. Sie freuten sich, dass der Graf Strapinski angekommen war, denn oft war es etwas langweilig in Goldach.
Als Wenzel alle Reichtümer sah, glaubte er zu träumen. Er fasste in
seine Manteltasche. Aber da war sein Fingerhut, also war alles Wahrheit
und kein Traum.
So schön war das Leben für ihn noch nie gewesen. Alle verwöhnten
ihn. Wenn seine Freunde gewusst hätten, dass er nur ein armer Schneider war, hätten sie ihm nichts geschenkt und wären nicht so freundlich
zu ihm gewesen.
„Oh, wie wunderbar ist es, wie ein Graf behandelt zu werden!“, dachte
Wenzel.
Wie schön sah die Stadt jetzt aus, wenn man spazieren gehen konnte
und nicht Arbeit suchen musste. Die Häuser waren hübsch gebaut und
über jeder Tür standen Namen: Zur Freundschaft, zur Liebe, zur Hoffnung, zum Wiedersehen, zur Fröhlichkeit usw. An jeder Straßenecke
stand ein Turm mit einer hübschen Uhr. Die kleine Stadt war von einer
alten Mauer umgeben, die mit dichtem Efeu (grüne Kletterpflanze) überwachsen war. Goldach gefiel Wenzel sehr. Hier würde er gern als
Schneider arbeiten. Er ging weiter und kam wieder zu der Straße, die in
die nächste Stadt führte. Sollte er Goldach verlassen und wieder als ehrlicher Schneider leben?
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Wenzel hatte noch so viel Geld, dass er seine Schulden bezahlen
konnte. Ja, lieber wollte er wieder arm sein und nicht mehr so herrlich
leben. Er wollte nicht mehr lügen müssen, deshalb verließ er die Stadt.
Das Fest
In diesem Augenblick kam ihm eine kleine Kutsche entgegen. Er erkannte Nettchen, das hübsche Fräulein von gestern. Wenzel grüßte
ganz höflich und schaute dem schönen Nettchen hinterher. Nettchen gefiel ihm so sehr, dass er umkehrte und doch wieder nach Goldach zurückwanderte. Er wollte Nettchen noch einmal wiedersehen. Deshalb
spielte er weiter den Grafen.
Es gefiel ihm immer besser, wie ein reicher Graf zu leben. Aber oft,
besonders in der Nacht, hatte er Angst, dass die Leute in Goldach den
Schwindel bemerken würden. Immer wieder nahm er sich vor, Goldach
zu verlassen. Aber dann dachte er an das schöne Nettchen. Wenzel verliebte sich mehr und mehr in sie. Er merkte, dass Nettchen ihn auch gern
hatte. Aber was sollte daraus werden? Das konnte doch nicht gut enden!
Die Verlobung
Einmal war er zu einem großen Fest eingeladen. Als die ganze feine
Gesellschaft zusammen war, verkündete (sagen) er: „Ich muss leider
verreisen.“ Dabei schaute er Nettchen an. Sie wurde vor Schreck ganz
rot, dann ganz blass und war wie erstarrt. Dann tanzte sie nur mit den
anderen jungen Herren. Als Wenzel sie aufforderte (mit ihr tanzen wollen), sagte sie: „Nein, danke!“ Sie drehte sich schnell um und ging zu
den anderen zurück.
Darüber war Wenzel sehr traurig, er nahm seinen Mantel und ging in
den Garten hinaus. Nun wusste er, dass er das ganze „Grafenspiel“ nur
wegen Nettchen so lange mitgemacht hatte. Er wünschte sich immer
mehr, Nettchen zu sehen und in ihrer Nähe zu sein. Plötzlich hörte er
schnelle leichte Schritte hinter sich. Er drehte sich um und Nettchen und
Wenzel standen sich mit klopfenden Herzen gegenüber. Er streckte die
Hände nach Nettchen aus. Sie fiel ihm um den Hals (umarmte ihn) und
weinte ganz jämmerlich (weinte sehr). Es war wirklich ein schönes Bild,
wie die beiden dort im Garten standen.
Wenzel war so glücklich und verliebt, dass er sich keine Gedanken
mehr machte. Nettchen erklärte noch in der selben Nacht ihrem Vater:
„Ich werde den Grafen heiraten, nur den Grafen und keinen anderen
möchte ich haben.“ So sehr liebte sie Wenzel.
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Am nächsten Morgen ging Wenzel zu Nettchens Vater und bat ihn:
„Bitte, geben Sie mir Nettchen zur Frau, ich möchte sie heiraten.“ Und
der Vater antwortete: „Was soll ich da sagen? So ein dummes Mädchen!
Immer wollte sie etwas Besonders. Als Kind wollte sie sogar einen Räu-
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berhauptmann heiraten. Die Heiratsanträge von den jungen Männern in
Goldach hat sie abgelehnt und nun will sie einen Grafen heiraten. Ach,
was würde ihre tote Mutter sagen, wenn sie das noch sehen könnte:
Nettchen eine Gräfin.“
In ganz Goldach wurde nur noch von der Verlobung gesprochen.
Wenzel brachte Nettchen ein schönes Brautgeschenk. Nun hatte er nicht
mehr viel Geld von dem gewonnenen Geld. Von seinem letzten Geld
wollte er mit Nettchen ein großes Fest feiern.
Die Schlittenfahrt zum Gasthaus
Es war Faschingszeit und herrliches Winterwetter. Die Landstraße war
dick verschneit, deshalb wollte Wenzel alle Freunde zu einer Schlittenfahrt und danach zu dem großen Fest einladen. Zwischen Goldach und
Seldwyla lag ein schönes Gasthaus. Hier sollte gefeiert werden.
So fuhren dann die Goldacher Gäste mit ihren geschmückten Schlitten
und Pferden durch die Straßen der Stadt zum Stadttor hinaus. Im ersten
Schlitten saß Wenzel mit seiner Braut Nettchen. Wenzel hatte einen grünen Samtmantel an und Nettchen einen wunderbaren weißen Pelzmantel. Auf dem Schlitten stand in großen Goldbuchstaben „Glück“, denn so
hieß auch das Haus des Bürgermeisters.
Nettchens Schlitten folgten fünfzehn oder sechszehn andere Schlitten.
Alle Schlitten waren herrlich geschmückt. In jedem Schlitten saßen fröhliche Paare. Aber kein Paar war so schön wie das Brautpaar. Lustig und
mit fröhlicher Musik fuhren sie durch die verschneite Winterlandschaft.
Aber was geschah zu dieser Zeit in Seldwyla?
Einige Leute hatten auch einen Schlittenzug zusammengestellt. Aber es
waren nicht so feine, hübsche Schlitten, sondern große grobe Schlitten,
wie sie die Handwerker fuhren. Diese Schlitten waren wie zum Karneval
geschmückt. Man erkannte, dass das Handwerk der Schneider dargestellt war.
Beide Schlittenzüge trafen mit Lachen und Gesang zur selben Zeit vor
dem Gasthaus ein. Die Herrschaften von Goldach waren überrascht und
erstaunt über diese Begegnung. Die Seldwyler aber schadenfroh, denn
sie hatten sich einen schlechten Spaß ausgedacht. Sie hatten gehört,
dass ihr armer Schneider Wenzel Strapinski in Goldach als Graf lebte
und heute das Verlobungsfest sein sollte. Deshalb wollten sie ihn bestrafen. Ihr erster Schlitten hieß „Leute machen Kleider“.
Auf allen Schlitten saßen junge Leute, die wie Schneider verkleidet
waren.
Sie waren bescheiden und ließen die Goldacher zuerst ins Wirtshaus
gehen. An der Spitze ging das Brautpaar. Dahinter kamen die anderen
Herren und Damen aus Goldach. Sie gingen die breite Treppe nach
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oben in den geschmückten Festsaal. Sie lachten über die lustigen Leute
in den anderen Schlitten, die in den unteren Räumen feiern wollten. Nur
Wenzel wurde etwas ängstlich und misstrauisch, als er die vielen verkleideten Schneider sah. Aber er hatte nicht bemerkt, dass die Gesellschaft aus Seldwyla gekommen war. So vergaß er sie schnell wieder.
Bald saßen Nettchen, Wenzel und ihre Freunde an dem fein gedeckten Tisch. Sie waren fröhlich und machten viel Spaß. Nach dem Essen
wurde getanzt. Als sie alle im Kreis standen, kamen ein paar Leute aus
Seldwyla und fragten höflich: „Dürfen wir den Herrschaften von Goldach
einen Schautanz vorführen?“ Die Goldacher freuten sich auf diesen
Spaß. Ob Wenzel an etwas Schlimmes dachte?
Wenzel wird entlarvt
(Alle erfahren, dass Wenzel ein Schneider ist)
Nun traten die Schneidergruppen nacheinander auf. Sie zeigten, wie
Leute Kleider nähten, z. B. einen Fürstenmantel. Dann zog ein armer
Schneider diesen Mantel an. Und wie sah er aus? Ja, wie ein Graf! Dieses Verwandlungsspiel zeigten sie auch an Tieren. Eine hässliche Krähe
wurde mit Pfauenfedern geschmückt. Was geschah? Die Krähe sah wie
ein Pfau aus.
Oder, ein Esel wurde in einen Löwenpelz gesteckt. Nun sah der Esel
wie ein Löwe aus. Und alle tanzten so lustig umher.
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Plötzlich wurde die Musik leise und traurig. Als letzte Person trat ein
junger, schlanker Mann mit dunklem Mantel, schönen dunklen Haaren
und einer polnischen Mütze in den Kreis. Er sah genau so aus wie Wenzel Strapinski, als er an jenem Novembertag aus der Kutsche stieg.
Alle schauten gespannt auf den Mann. In der Mitte des Kreises setzte
er sich auf den Boden und begann mit geschickten Fingern an einem
Grafenmantel zu nähen. Es war genau so ein Mantel, wie ihn Wenzel
damals getragen hatte.
Dann stand der Mann auf, zog den anderen Mantel aus und den grünen Grafenmantel an. Nun war er Wenzel zum Verwechseln ähnlich.
Die Musik wurde lustig. Der Mann begann zu tanzen bis er vor Wenzel
stand. Er schaute Wenzel überrascht an. In diesem Moment hörte die
Musik auf zu spielen. Es war ganz still in dem großen Saal.
Mit lauter Stimme rief er: „Ei, ei! Ei, ei! Das ist ja unser Schneider
Wenzel Strapinski, der bei mir gearbeitet hat! Ich freue mich, wie gut es
Ihnen geht. Haben Sie Arbeit in Goldach?“
Nun kamen alle Leute aus Seldwyla und begrüßten Wenzel. Heimlich
lachten sie über ihn und freuten sich, dass sie mit Wenzel einen so bösen Scherz gemacht hatten. Mit lautem Lachen und Singen verließen sie
den Saal.
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Wenzel möchte sterben
Nettchen und Wenzel saßen ganz still und einsam auf ihren Stühlen.
Auch alle Freunde waren fortgegangen, denn mit einem Schneider wollten die feinen Herrschaften nicht befreundet sein.
Da stand Wenzel langsam auf und ging mit müden Schritten davon. Er
schaute auf den Boden. Er hatte so viele Tränen in den Augen. Wie ein
Toter ging Wenzel zwischen den Goldachern und Seldwylern, die noch
auf der Treppe und draußen standen, hindurch. Alle gingen ihm still aus
dem Weg. Keiner lachte mehr oder sagte böse Worte. Wenzel ging an
den Schlitten vorbei und wie im Traum in die Richtung nach Seldwyla.
Bald verschwand er in der Dunkelheit. Seine Mütze und seine Handschuhe hatte er im Gasthaus vergessen. Er fror in der kalten Winternacht
und nun dachte er über die Ereignisse nach. Er schämte sich. Oh, wie
sehr schämte er sich! Aber er glaubte auch, die Seldwyler hätten ihm
Unrecht getan, denn bis zu seinem Leben als Graf in Goldach hatte er
nie etwas Unrechtes getan. Er konnte sich nicht erinnern, dass er als
Kind und später gelogen hatte.
Aber in Goldach war er ein Betrüger geworden. Warum? Weil er Hunger hatte, als er nach Goldach kam. Und dann hatte er sich so sehr in
Nettchen verliebt, dass er in Goldach blieb.
Wenzel weinte sehr. Besonders als er an Nettchen dachte, schämte er
sich so sehr und wurde noch trauriger.
Plötzlich hörte er hinter sich Schlittenglocken läuten und lautes Lachen. Die Seldwyler kamen vom Fest zurück. Mit einem großen Sprung
sprang Wenzel in den Straßengraben und versteckte sich hinter einem
Baum. Die Schlitten fuhren vorbei. Keiner hatte Wenzel bemerkt (gesehen).
Wenzel wollte nicht mehr leben, deshalb blieb er im weichen Schnee
liegen. Traurig und verzweifelt schlief er ein.
Und was war in dieser Zeit mit Nettchen geschehen?
Nettchen findet Wenzel
Nettchen war ganz durcheinander. Sie hatte hinterhergeschaut, als
Wenzel aus dem Saal ging. Lange Zeit saß sie unbeweglich und still auf
ihrem Stuhl. Dann stand sie auf, weinte bitterlich und ging zur Tür. Zwei
Freundinnen wollten Nettchen trösten und brachten ihr die Sachen. Da
stellte sich ein anderer junger Mann zu Nettchen. Er hieß Melchior Böhni. Er wollte Nettchen schon früher gern heiraten. Er dachte: „Vielleicht
heiratet Nettchen mich jetzt doch.“ Er sagte zu ihr: „Ich bringe dich nach
Hause.“
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Aber Nettchen schaute ihn nur stolz und zornig an. Mit festen Schritten
ging sie zu ihrem Schlitten, stieg hinein, nahm die Pferdeleine und die
Peitsche. Sie fuhr schnell auf die Landstraße hinauf. Melchior Böhni
schaute sie überhaupt nicht an.
Aber auch Nettchen fuhr nicht nach Goldach, sondern auch in Richtung Seldwyla. Ganz genau beobachtete Nettchen die Straße rechts und
links.
Plötzlich sah sie eine längliche Gestalt am Straßenrand liegen. Es war
Wenzel.
Schnell hielt Nettchen die Pferde an, stieg aus dem Schlitten und ging
leise zu Wenzel.
Sie betrachtete sein schönes Gesicht, seine langen schwarzen Haare
und seine schlanke Gestalt. Als sie sich dicht zu ihm herunterbeugte, erkannte sie die Gefahr, in der sein Leben war. Sie bekam große Angst,
dass er vielleicht schon erfroren wäre. Sie griff nach seiner Hand, aber
diese war kalt und starr. Vor Schreck vergaß sie ihren Kummer. Sie
dachte nur noch: „Wenzel darf nicht sterben!“ Sie rief: „Wenzel! Wenzel!“
Umsonst, er rührte sich nicht. Da nahm sie beide Hände voll Schnee und
rieb damit sein Gesicht und seine Finger so stark sie konnte. Endlich erholte sich Wenzel, wachte langsam auf und hob den Kopf. Er blickte sich
um und sah Nettchen vor sich stehen. Er kniete vor ihr und rief: „Verzeih
mir! Verzeih mir!“ Nettchen sagte: „Komm, ich möchte mir dir sprechen
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und dich von hier fortbringen.“ Zusammen stiegen sie in den Schlitten
und Nettchen fuhr mit Wenzel davon.
Nicht weit von der Landstraße entfernt lag ein Bauernhof. Die Bäuerin
lebte allein dort. Sie war Nettchens Tante. Hierher fuhren sie. Es war
Licht hinter dem kleinen Fenster, denn die Tante war noch wach und
sehr erstaunt, als Nettchen und Wenzel so spät vor ihrer Tür standen.
Sie freute sich sehr über den Besuch und brachte schnell einen heißen
Kaffee.
Nettchen sagte zu ihr: „Liebe Tante, lass uns bitte allein. Wenzel und
ich haben uns gestritten. Wir müssen über Vieles sprechen.“ „Ich verstehe schon“, sagte die Tante und ging aus dem Zimmer.
Wenzels Leben
Wenzel trank langsam den heißen Kaffee. Er blickte Nettchen jetzt
schüchtern an. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Wer sind Sie? Warum haben Sie mich so angeschwindelt? Warum wollten Sie mich heiraten“?
Wenzel antwortete traurig: „Ich bin ein armer, dummer Mensch. Ich
werde mich bestrafen. Ich werde nicht mehr lange leben. Aber zuerst
werde ich Ihnen die Wahrheit erzählen.“
Und er begann von seiner Ankunft in Goldach zu berichten, von dem
Wirt, von dem guten Essen. Er erzählte auch, dass er heimlich fliehen
wollte. Dann aber hatte er Nettchen kennen gelernt und sich so sehr in
sie verliebt.
Nettchen war auch sehr aufgeregt. Ihr Herz klopfte ganz laut. Sie fragte: „Haben Sie solche Streiche schon früher gemacht? Haben Sie andere
Mädchen auch schon so angeschwindelt?“
Wenzel erzählte leise: „Nein, ich bin noch nie ein Lügner gewesen. Ich
habe auch noch keine andere Frau geliebt.
Meine Mutter arbeitete bei einer feinen Dame. Sie war mit dieser Dame oft auf Reisen gewesen und hatte viele große Städte kennen gelernt.
Mein Vater war ein armer Lehrer und ich das einzige Kind. Meine Mutter zog mir immer besonders hübsche Sachen an, obwohl wir arm waren. Mein Vater starb früh. So hatte meine Mutter nur noch mich.
Als ich 16 Jahre alt war, zog die reiche Dame in eine andere Stadt. Sie
wollte mich mitnehmen, damit ich in eine gute Schule gehen konnte.
Aber meine gute Mutter wurde ganz traurig. Sie liebte mich sehr. Deshalb bin ich bei ihr geblieben. In unserem kleinen Ort konnte ich aber nur
den Beruf eines Schneiders erlernen.
Später musste ich zum Militär. Als ich nach einem Jahr zurückkam,
war meine liebe Mutter gestorben. Seit dem bin ich einsam von Stadt zu
Stadt gewandert. Und nun ist Goldach mein Unglück geworden.“
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Nettchen beobachtete aufmerksam Wenzels Gesicht und lächelte. Sie
schwieg. Nach einer kurzen Pause stand sie auf, ging zu Wenzel und
küsste ihn. Sie flüsterte: „Ich werde dich nicht verlassen. Ich liebe dich
auch sehr. Mögen die anderen Leute über uns reden! Das ist mir egal.
Auch wenn du nur ein armer Schneider bist, werde ich dich heiraten.“
So feierten sie die richtige Verlobung. Doch Nettchen war nicht dumm.
Sie musste klug überlegen und richtig handeln. Deshalb sagte sie: „Wir
wollen nach Seldwyla gehen. Dort werden wir mit Fleiß und Klugheit viel
Geld verdienen. Keiner wird mehr über uns lachen!“
Und so machten sie es auch. Herzlich verabschiedeten sie sich von
der Tante und fuhren nach Seldwyla.
Jetzt lenkte Wenzel die Pferde und Nettchen lehnte sich zufrieden an
ihn. Sie liebte Wenzel sehr.
Nettchen und Wenzel in Seldwyla
Als Nettchen und Wenzel im Gasthaus erschienen, waren alle Gäste
überrascht und aufgeregt. Doch Nettchen und Wenzel kümmerten sich
nicht darum. Nettchen bekam ein schönes Zimmer. Wenzel verabschiedete sich lieb von ihr. Er wohnte in dem anderen Gasthaus.
Die Seldwyler schauten erstaunt hinter ihm her. Auch in der Stadt Goldach erfuhren alle, dass Nettchen zusammen mit Wenzel in Seldwyla
war.
Nettchens Vater hatte sich schon große Sorgen gemacht. Deshalb
fuhr er am nächsten Morgen gleich nach Seldwyla. Er nahm den aufgeregten Böhni mit. Nun wollte der Vater auch, dass Nettchen unbedingt
Böhni heiraten sollte.
Nettchen kämpft um Wenzel
Nettchen hatte schon auf den Vater gewartet. Nachts hatte sie sich
einen Plan für ihr weiteres Leben gemacht.
Der Vater wollte Nettchen trösten. Er dachte: „Nun ist Nettchen traurig
und verzweifelt.“
Aber Nettchen war ganz ruhig. Sie sagte: „Lieber Vater, ich weiß, dass
du mich sehr lieb hast. Höre mir gut zu. Du weißt, was geschehen ist.
Deshalb möchte ich nicht mehr in Goldach wohnen. Alle würden mich
auslachen. Bitte gib mir das ganze Erbe (Geld) von meiner gestorbenen
Mutter. Ich werde Wenzel Strapinski doch heiraten, auch wenn er nur ein
armer Schneider ist. Wir wollen beide in Seldwyla wohnen. Zusammen
werden wir ein gutes Schneidergeschäft gründen (aufmachen). Ich wer-
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de ihm helfen. Und nun Vater, hab Vertrauen zu mir. Es wird alles gut
werden.“
Aber mit Nettchens Wunsch war der Vater nicht einverstanden. Er
glaubte jetzt nur noch Schlechtes von Wenzel.
Er sagte zu Nettchen: „Sei froh, dass dich Melchior Böhni jetzt noch
heiraten will. Nur mit ihm kannst du wieder ein ordentlichen Leben führen.“ Da wurde Nettchen aber böse. Sie rief: „Niemals heirate ich Melchior Böhni! Ich kann ihn nicht leiden! Ich liebe Wenzel!“ Es gab heftigen
Streit. Nettchen weinte nun doch noch.
Plötzlich gab es ein großes Durcheinander, denn Wenzel und Böhni
trafen sich vor Nettchens Zimmer.
Zum Glück kam auch der Rechtsanwalt, den Nettchen bestellt hatte.
Er sagte: „Wir wollen in Ruhe verhandeln.“ Er schickte Wenzel in sein
Hotel zurück und Herr Böhni sollte im Gasthaus warten.
Der Kampf zwischen Seldwyla und Goldach
Der Rechtsanwalt hatte in Seldwyla erzählt, dass Nettchen viel Geld
hätte. Nun wollten die Seldwyler, dass das junge Paar, Nettchen und
Wenzel, in ihrer Stadt bleiben sollte. Sie dachten: „Wenn wir einen guten
Schneider haben, ist es für uns alle ein Vorteil.“ Sie wollten die beiden
Liebenden beschützen. Deshalb versammelten sich alle vor dem Gasthaus. Die Leute von Seldwyla waren sogar zu einem Kampf bereit.
Der Amtsrat wollte Nettchen mit Gewalt wieder nach Goldach bringen.
Aber als er die vielen Menschen sah, bekam er Angst.
Schnell schickte er Böhni nach Goldach. Er sollte dort starke Männer
zur Hilfe holen. Am nächsten Tag kamen die Goldacher mit ihren stärksten Männern, mit ihrer Polizei und mit Waffen.
Die Goldacher und die Seldwyler standen sich drohend gegenüber.
Der Rechtsanwalt verhandelte. Aber Nettchen blieb fest. Auch Wenzel
war nicht mehr schüchtern und ängstlich.
Der Rechtsanwalt untersuchte auch, was Wenzel früher für ein Leben
geführt hatte. Alle Menschen berichteten nur das Beste über Wenzel. In
seinem Heimatdorf hatten ihn alle gern. Er hatte wirklich nur in Goldach
falsch gehandelt. Der Rechtsanwalt bewies auch, dass Wenzel ja nie
gesagt hatte: „Ich bin ein Graf.“ Seine Unterschrift überall war auch nur
„Wenzel Strapinski“. Niemals hatte er „G r a f Wenzel Strapinski“ geschrieben.
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Der Schneidermeister Wenzel Strapinski
So endete dann der Streit mit einer Hochzeit.
Der Amtsrat gab Nettchen ihr ganzes Erbe (Geld). Davon gründeten beide ein Schneidergeschäft.
Wenzel war bescheiden, sparsam und fleißig. Er nähte für die Seldwylaer wunderschöne Sachen aus Samt und Seide. Die Seldwylaer wollten
nicht bezahlen. Sie machten Schulden bei Wenzel. Aber lange musste
Wenzel nicht auf sein Geld warten.
Wollten die Seldwylaer etwas Neues, noch Schöneres haben, so
mussten sie erst die Schulden bezahlen.
Wenzel war klug. Er ließ sich von den Seldwylaern nicht betrügen.
Heimlich schimpften sie über ihn.
Wenzels Rache
Bei diesem Leben wurde Wenzel rund und kräftig. Er träumte nicht
mehr so oft. In seinem Geschäft bekam er immer mehr Erfahrung. Bald
wurde der Amtsrat, der ja jetzt sein Schwiegervater war, wieder sein
Freund. Wenzel verdiente immer mehr und mehr Geld. Er wurde reich,
weil er fleißig, geschickt und klug war.
Nun war er zwölf Jahre glücklich mit Nettchen verheiratet. Sie hatten
10 schöne, liebe Kinder.
Aber nun zogen sie um. Sie wollten wieder in Goldach wohnen. In
Seldwyla ließ Wenzel keinen Pfennig zurück. So rächte (rächen – die
Rache) er sich an den Seldwylaern, weil sie ihm damals beim Fest so
einen bösen Streich gespielt hatten.